Frankreich im 19 Jahrhundert Ludwig XVIII. von Frankreich Während der Französischen Revolution war der spätere Ludwig XVIII., ein Bruder des während der Revolution gestürzten und hingerichteten Königs Ludwig XVI., einer der Führer der französischen Émigrées. Bis 1814 lebte er im Exil, dann übernahm er nach Napoleons erster Abdankung vorläufig, nach Napoleons Niederlage bei Waterloo 1815 endgültig den französischen Thron. Er errichtete eine konstitutionelle Monarchie mit einer vergleichsweise liberalen Verfassung, geriet jedoch zunehmend unter den Einfluss reaktionärer Ultraroyalisten, vor allem seines Bruders Karl, der ihm 1824 als Karl X. auf dem französischen Thron folgte.Roger-Viollet Nach Napoleons Abdankung kamen mit Ludwig XVIII. (1814/15-1824) die Bourbonen auf den französischen Thron zurück (siehe Restauration). Durch die Charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814 wurde in Frankreich die konstitutionelle Monarchie eingeführt (die erste auf dem europäischen Kontinent) – ein Kompromiss aus dem vorrevolutionären monarchischen Prinzip und einigen der Errungenschaften aus der Revolution. Die neue Verfassung führte ein Zweikammersystem ein, wobei die Mitglieder der ersten Kammer ausschließlich vom König ernannt und die Mitglieder der zweiten Kammer durch Zensuswahlrecht gewählt wurden, d. h. allein Adel und Besitzbürgertum waren an der Macht beteiligt. Die Minister waren der Kammer verantwortlich, die Kammer hatte Mitspracherecht bei Budgetentscheidungen. Die Wirtschaft nahm einen raschen Aufschwung, so dass die Kriegsentschädigungen zügig bezahlt werden konnten. Auf dem Aachener Kongress 1818 erreichte Frankreich den vorzeitigen Abzug der Besatzungstruppen und seine Wiederaufnahme in den Kreis der europäischen Großmächte. War die Regierung unter Ludwig XVIII. anfangs noch vergleichsweise liberal und um die innere und äußere Konsolidierung bemüht, so geriet sie ab 1820 zunehmend unter den Einfluss der reaktionären Ultraroyalisten. Zu deren Spitze gehörte auch Ludwigs Bruder Karl, der spätere König Karl X., der sich bereits während der Revolution als Führer der Émigrés hervorgetan hatte. Unter dem Druck der Ultraroyalisten wurde z. B. die Pressezensur wieder eingeführt und das Wahlrecht weiter eingeschränkt, eingezogene Kirchengüter wurden der Kirche zurückerstattet. 7.19.1 Die Julirevolution Karl X. Karl X., der 1824 seinem Bruder Ludwig XVIII. auf dem französischen Thron gefolgt war, griff sowohl in seiner Politik wie auch in seinem Habitus – wie auch das Gemälde von François Gérard (1825, Museo del Prado, Madrid) zeigt – auf die Traditionen des Ancien Régime zurück. Die Julirevolution zwang ihn 1830 zur Abdankung und Flucht aus Frankreich.Archivo Fotografico Oronoz Nach Ludwigs Tod 1824 übernahm dessen Bruder Karl X. (1824-1830) den Thron. Unter ihm verschärfte sich die Reaktion; so wurden z. B. die Émigrés für ihre während der Revolution erlittenen Verluste entschädigt, und die Kirche erhielt einige ihrer alten Privilegien zurück. Im Gegenzug gewann die Opposition im liberalen Bürgertum erheblich an Zulauf. Bei den Neuwahlen zur zweiten Kammer verloren die Ultraroyalisten 1830 schließlich ihre Mehrheit an die Liberalen. Noch vor ihrem ersten Zusammentreten löste Karl am 26. Juli 1830 auf Betreiben der Ultraroyalisten die neu gewählte Kammer auf und erließ die so genannten Juliordonnanzen, mit denen die Pressefreiheit völlig aufgehoben und das Wahlrecht zuungunsten des liberalen Bürgertums eingeschränkt wurde. Für die Liberalen mit Adolphe Thiers an der Spitze war dies nichts anderes als ein Staatsstreich. Am 27. Juli 1830 brach in Paris die vor allem vom Pariser Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft getragene Julirevolution aus, an deren Ende die Aufständischen die Hauptstadt in ihre Hände gebracht hatten. Karl musste abdanken. Während Kleinbürgertum und Arbeiterschaft die Wiedererrichtung der Republik forderten, wählte die besitzbürgerliche Kammer den „Bürgerkönig” Louis Philippe (1830-1848) aus der bourbonischen Nebenlinie Orléans und fällten damit die Entscheidung für die Fortsetzung der konstitutionellen Monarchie. Seit den zwanziger Jahren hatte die Industrialisierung in Frankreich rasche Fortschritte gemacht, besonders seit unter Louis Philippe das Großbürgertum die Politik entscheidend mitbestimmte. Ebenso rasch wuchs das Arbeiterproletariat und das Potential an sozialer Unzufriedenheit. Die Frühsozialisten wie Pierre Joseph Proudhon, Louis Blanc und Louis Auguste Blanqui fanden mit ihren Ideen dementsprechend breiten Anklang bei der Arbeiterschaft. Mehrere (rasch niedergeschlagene) Aufstände wie die Weberaufstände in Lyon 1831 und 1834 offenbarten die sozialen Missstände, bewogen den König jedoch nicht zu Reformen, sondern im Gegenteil zur Umorientierung auf einen konservativen, autoritären Kurs. Forderungen nach einer Erweiterung des Wahlrechts wurden mit der Aufforderung „Enrichissez-vous” – „Bereichert Euch” (wenn Ihr wählen wollt) – beantwortet. 7.19.2 Februarrevolution und Zweite Republik Sir Joshua Reynolds: Portrait des Louis-Philippe, Herzog von Orléans Sir Joshua Reynolds war der bevorzugte Maler der europäischen Aristokratie des 18. Jahrhunderts. Sein Porträt des Herzogs von Orléans und späteren Bürgerkönigs Louis Philippe zeigt diesen in lässiger Pose in freier Natur, so wie es in dieser Phase der Porträtmalerei zeitweise üblich war.The National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty In den Jahren 1845 bis 1847 verschärften eine Wirtschaftskrise und Missernten die Spannungen; die Rufe nach einer Erweiterung des Wahlrechts wurden immer lauter. Anfang 1848 verbot die Regierung unter Ministerpräsident François Guizot öffentliche Veranstaltungen der Republikaner für eine Ausweitung des Wahlrechts; daraufhin brach am 22. Februar 1848 in Paris die Februarrevolution aus, die vor allem von Arbeitern und Studenten getragen wurde. Regierung und König mussten abdanken. Unter Alphonse de Lamartine konstituierte sich eine provisorische Regierung, der Republikaner und Sozialisten (u. a. Louis Blanc) angehörten; sie rief die Zweite Republik aus. Die provisorische Regierung schlug einen sozialistisch orientierten Kurs ein, was sich u. a. in der Errichtung der Nationalwerkstätten, in denen Arbeitslose eine Beschäftigung finden konnten, offenbarte. Die ersten allgemeinen und gleichen Wahlen zur Nationalversammlung im April 1848 brachten dann allerdings den gemäßigten, bürgerlichen Republikanern die Mehrheit. Die neue Nationalversammlung beschloss am 21. Juni 1848 die Schließung der unrentablen Nationalwerkstätten, woraufhin sich die Pariser Arbeiter im Juniaufstand erhoben. Die neue Regierung ließ den Aufstand, die „rote Gefahr”, blutig niederschlagen. Im November 1848 wurde die Verfassung der Zweiten Republik verabschiedet, die u. a. nur eine Kammer vorsah und einen direkt vom Volk für eine einmalige, vierjährige Amtszeit gewählten Präsidenten an der Spitze der Regierung stellte. In Reaktion auf die vergangenen Unruhen und aus einem Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit entschied sich im Dezember 1848 die deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten für Louis Napoléon, einen Neffen Napoleons I., als Präsidenten. Mit seinem antiparlamentarischen, autoritären Kurs fand Louis Napoléon nicht nur Unterstützung bei konservativ-monarchistischen Kreisen wie vor allem der Kirche, sondern auch Rückhalt bei den nichtradikalisierten Kreisen der unteren Schichten. Als es ihm nicht gelang, in der Kammer seine Wiederwählbarkeit durchzusetzen, löste er am 2. Dezember 1851 in einem Staatsstreich die Kammer auf, ließ die führenden Oppositionspolitiker verhaften und im Januar 1852 per Plebiszit eine neue Verfassung mit u. a. einer zehnjährigen Amtszeit des Präsidenten verabschieden. Durch ein weiteres Plebiszit ließ er im November 1852 die Umwandlung der Zweiten Republik in das Zweite Kaiserreich bestätigen und sich selbst am 2. Dezember 1852 als Napoleon III. (1852-1870) zum Kaiser der Franzosen ausrufen. 7.20 Das Zweite Kaiserreich Napoleon III. Reiterdarstellung Napoleons III. von Alfred Dedreux.THE BETTMANN ARCHIVE Zwar existierten im Zweiten Kaiserreich auch weiterhin aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Parlamente; eine wirksame Kontrolle der Regierung fand jedoch nicht mehr statt. Gestützt auf Kirche, Armee und Polizeiapparat, der jegliche Opposition unterdrückte und u. a. mittels Pressezensur die öffentliche Meinung kontrollierte, errichtete Napoleon III. eine plebiszitäre Diktatur und regierte nahezu autokratisch. Aus Furcht vor neuerlichen sozialistischen Unruhen oder Revolutionen akzeptierte das Volk diese autoritäre Herrschaft. Um durch Arbeitsbeschaffung die Arbeiterschaft ruhig zu stellen, leitete Napoleon umfangreiche Bauprogramme ein, so etwa die großzügige Neugestaltung der Hauptstadt Paris durch den Baron Haussmann. Die Wirtschaft florierte, Frankreich wurde zu einer der führenden und kapitalstärksten Industrienationen. Seine Prosperität bewies Frankreich auf den Weltausstellungen 1855 und 1867 in Paris. Außenpolitisch suchte Napoleon III. Frankreich wieder als Führungsmacht in Europa zu etablieren – zunächst mit großem Erfolg. Durch sein Engagement im Krimkrieg (1853-1856), der die Vormachtstellung Russlands beseitigte, führte er Frankreich nicht nur aus der außenpolitischen Isolation, sondern sogar zu einer neuen Machtposition in Europa: Auf dem Pariser Friedenskongress 1856 zur Beendigung des Krimkrieges fungierte er als Vermittler. Durch sein Eingreifen im Italienischen Krieg 1859 erwarb Frankreich Nizza und Savoyen. Die Kolonialpolitik war ebenso erfolgreich: Algerien wurde zur Kornkammer und zum französischen Siedlungsgebiet ausgebaut, der Senegal wurde erweitert, Syrien kam unter französischen Einfluss, und Indochina wurde annektiert. Belagerung von Paris 1870/71 Gegen die deutsche Belagerung im Herbst und Winter 1870/71 verteidigte sich Paris mit zum Teil improvisierten Mitteln und rasch errichteten Verteidigungsanlagen; am 19. Januar musste die Stadt auf Grund der katastrophalen Versorgungslage schließlich Kapitulationsverhandlungen mit den Belagerern aufnehmen.Roger-Viollet Nach 1860 jedoch war die französische Außenpolitik von Fehlschlägen geprägt: 1867 scheiterte der Versuch, in Mexiko ein Kaiserreich zu errichten, endgültig. Ebenso erfolglos verliefen Napoleons Versuche, unter Ausnutzung des preußisch-österreichischen Gegensatzes im Deutschen Bund Territorium in Belgien oder Luxemburg zu erwerben. Nach dem preußischen Sieg im Deutschen Krieg 1866 sah Napoleon zudem Frankreichs Großmachtposition durch den preußisch dominierten Norddeutschen Bund bedroht. Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Misserfolge verschärfte sich in Frankreich wieder die Opposition und mehrten sich die Forderungen nach Reformen. Der Kaiser sah sich zu verschiedenen Zugeständnissen und schließlich zur Umwandlung seines Regimes in ein Empire libéral (liberales Kaisertum) gezwungen; nach dem Wahlsieg der Opposition 1869 berief er ein liberales Reformkabinett. Um sowohl im Inland wie im Ausland sein Ansehen zurückzugewinnen und vor allem auch, um seinen Großmachtanspruch zu verteidigen, ging Napoleon III. 1870 bewusst einen Krieg mit Preußen ein, den von Otto von Bismarck ebenso bewusst herbeigeführten Deutsch-Französischen Krieg. Bereits eineinhalb Monate nach Kriegsbeginn, am 1. September 1870, musste Napoleon mit seiner Armee nach der Schlacht von Sedan kapitulieren; am 2. September ging er in preußische Gefangenschaft. Das Zweite Kaiserreich war zusammengebrochen. 7.21 Die Dritte Republik Barrikade in Paris Nationalgardisten auf einer Barrikade in der Rue de Flandres in Paris während ihres Aufstandes 1871 gegen die Regierung Thiers am 17./18. März.Harlingue/Roger-Viollet Am 4. September 1870 riefen die Republikaner unter der Führung von Léon Gambetta und Jules Favre in Paris die Republik aus. Die neugebildete republikanische „Regierung der nationalen Verteidigung” setzte den Krieg gegen Preußen fort; aber im Januar 1871 sah sich Frankreich – trotz massiver Rekrutenaushebungen im ganzen Land – nach der Einschließung von Paris durch preußische Truppen schließlich doch zur Kapitulation gezwungen. Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 8. Februar 1871 gewannen die monarchistischen Kräfte die Mehrheit; Adolphe Thiers wurde zum Regierungschef gewählt. Er unterzeichnete am 26. Februar 1871 den Präliminarfrieden von Versailles mit dem Deutschen Reich und akzeptierte damit die Abtretung des Elsass und Lothringens und die Zahlung von Kriegsentschädigungen in Höhe von fünf Milliarden Francs an das Deutsche Reich. Sowohl aus Protest gegen diese als demütigend empfundenen Friedensbedingungen als auch aus Opposition gegen die konservative Regierung kam es am 17./18. März 1871 in Paris zur Erhebung und zur Errichtung der Pariser Kommune. Ende Mai 1871 hatten Regierungstruppen unter Marschall MacMahon die Kommune blutig niedergeschlagen. Die Verfassungsfrage blieb vorerst offen. Den Republikanern in der Nationalversammlung gelang es nicht, sich gegen die monarchistische Mehrheit durchzusetzen; die Monarchisten, in Legitimisten, Orléanisten und Bonapartisten gespalten, fanden ebenfalls keinen mehrheitsfähigen Konsens. 1873 hatte Frankreich die Reparationen an das Deutsche Reich abbezahlt und damit den vorzeitigen Abzug der deutschen Besatzungstruppen erreicht. Vor dem Hintergrund der noch immer nicht gelösten Verfassungsfrage wurde Thiers, der eine republikanische Staatsform anstrebte, nun von den Monarchisten gestürzt; zum Präsidenten wurde der Legitimist Mac-Mahon gewählt, unter dem die Restauration der Monarchie in greifbare Nähe zu rücken schien. 1875 stimmte die Nationalversammlung jedoch mit einer Stimme Mehrheit für eine parlamentarisch-republikanische Verfassung, die dem Präsidenten eine herausragende Stellung einräumte und so einen Kompromiss zwischen Präsidialverfassung und parlamentarischem System darstellte. Der daraus resultierende Verfassungskonflikt beruhigte sich erst 1879, nachdem Mac-Mahon nach den Wahlerfolgen der Republikaner – 1876 hatten sie die Mehrheit in der Kammer, 1879 auch im Senat erlangt – zurückgetreten war. 7.21.1 Die „Republik der Opportunisten” Émile Zola: J’Accuse In seinem berühmten offenen Brief J’Accuse an den Präsidenten der französischen Republik in der Zeitung L’Aurore vom 13. Januar 1898 ergriff der französische Schriftsteller Émile Zola leidenschaftlich Partei für den unschuldig verurteilten Alfred Dreyfus.RogerViollet Die nun regierenden gemäßigten Republikaner unter Staatspräsident Jules Grévy (1879-1887) verzichteten auf tief greifende, die Gesellschaftsordnung des Zweiten Kaiserreiches revidierende Reformen – Großbürgertum und Adel behielten weiterhin die Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Armee – und handelten sich damit den Vorwurf des Opportunismus ein. Dennoch wurden in den achtziger Jahren im Interesse des inneren Ausgleichs einige wichtige Reformen eingeleitet, wie etwa die Liberalisierung des Pressegesetzes, die Zulassung von Gewerkschaften, vor allem auch die Laisierung der Bildung. Ebenfalls im Interesse des inneren Ausgleichs (bzw. der Ablenkung von den inneren Spannungen) wie auch im Interesse des nationalen Prestiges, das im DeutschFranzösischen Krieg enorm gelitten hatte, forcierte die republikanische Regierung den Ausbau des französischen Kolonialreiches in Nordafrika und Indochina. Damit konnte sich Frankreich zwar wieder als Großmacht etablieren, geriet mit seiner Kolonialpolitik aber zugleich in Konflikt mit Großbritannien, der 1898/99 in die Faschodakrise mündete. Bei den Wahlen von 1885 verloren die Republikaner ihre stabile Position vor allem zugunsten der Monarchisten. Ursache für diesen Stimmungsumschwung war sowohl die Wirtschaftskrise Mitte der achtziger Jahre, wie auch die wachsende Unzufriedenheit mit der Ausgleichspolitik gegenüber dem Deutschen Reich, aber auch der Unmut über das Ausbleiben sozialer Reformen. In dieser Situation sammelte der chauvinistisch-revanchistische General Georges Boulanger die antiparlamentarischnationalistische „Partei der Unzufriedenen” um sich, forderte die Revanche gegenüber dem Deutschen Reich und die Abschaffung des parlamentarischen Systems und stand 1889 kurz vor einem Staatsstreich. Die innenpolitische Krise um den Bestand der Dritten Republik beruhigte sich erst nach dem Tod Boulangers 1891; die innenpolitische Polarisierung, die in der Boulanger-Krise offensichtlich geworden war, schwelte jedoch weiter. Die Polarisierung manifestierte sich erneut in der Krise um den Panamáskandal 1892/93, und sie eskalierte in der Dreyfus-Affäre 1894. Die Dreyfus-Affäre führte auf der einen Seite zur Verfestigung des nationalistisch-antisemitistischen Blocks aus Armee, Adel, Kirche und Bürgertum, auf der anderen Seite zu einem engeren Zusammengehen der Linken von den Republikanern bis zu den Sozialisten im Interesse der Verteidigung der Republik. Langfristig führte die Affäre zur Konstituierung der beiden Linksparteien Parti radical et radical-socialiste (Radikalsozialisten) und Parti socialiste (Sozialisten). Aus den Wahlen von 1898 gingen – nicht zuletzt aufgrund der Dreyfus-Affäre – die Radikalsozialisten als stärkste Kraft hervor. 7.21.2 Die „radikale Republik” Clément Armand Fallières Clément Armand Fallières (1841-1931) war von 1906 bis 1913 Staatspräsident von Frankreich. In dieser Funktion bemühte er sich vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Spannungen in Europa vor allem um den Ausbau der Beziehungen zu Großbritannien und Russland.Collection Viollet/Roger-Viollet In der Folgezeit waren die Radikalsozialisten, die vor allem beim mittleren Bürgertum Rückhalt fanden, die bestimmende politische Kraft; zugleich gewannen die Sozialisten unter Jean Jaurès zunehmend an Einfluss, näherten sich den Radikalsozialisten an und bildeten zeitweise eine Koalition mit ihnen. Das wichtigste Reformprojekt in den ersten Jahren der radikalen Regierung war die endgültige Trennung von Kirche und Staat, die 1905 gemeinsam von Radikalsozialisten und Sozialisten vollendet wurde. Außerdem konnten die Sozialisten die Einführung einer Sozialversicherung und verschiedene Arbeitsschutzgesetze durchsetzen. Die Zusammenarbeit zwischen Radikalsozialisten und Sozialisten fand unter den Ministerpräsidenten Georges Clemenceau (1906-1909) und Aristide Briand (1909-1911 und 1913) ihr Ende: Clemenceau und Briand waren kaum mehr zu sozialen Reformen bereit, ließen Streiks gewaltsam niederschlagen und suchten die Annäherung an das rechte Lager. Die Außenpolitik der „radikalen Republik” war geprägt vom Gegensatz zum Deutschen Reich. Bereits 1894 hatte Frankreich ein Bündnis mit Russland geschlossen, nachdem der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag ausgelaufen war; 1902 versicherte sich Frankreich der Neutralität Italiens für den Fall eines deutschen Angriffs auf Frankreich, und 1904 schloss es die letztendlich gegen das Deutsche Reich gerichtete Entente cordiale mit Großbritannien. Die Entente cordiale trug mit zum Ausbruch der deutsch-französischen Marokkokrisen bei, die wiederum zur Verfestigung des französisch-britischen Bündnisses führten und vor allem auch in Frankreich die revanchistische Stimmung gegenüber dem Deutschen Reich anheizten. 1907 wurde die Entente cordiale um Russland zur Tripelentente erweitert, als Gegenbündnis zur deutsch-österreichisch-italienischen Tripelallianz. Der seit der ersten Marokkokrise 1905 wiedererwachte antideutsche Revanchismus bzw. Nationalismus, der zusätzliche Nahrung durch das allgemeine Wettrüsten erhielt, begann nun die politische Stimmung in Frankreich zu dominieren, und 1913 wurde mit Raymond Poincaré ein expliziter Vertreter des Revanchegedankens an die Staatsspitze gewählt. Er konzentrierte sich in der Außenpolitik auf die Stärkung der Tripelentente und nicht, wie von einigen Radikalsozialisten wie dem ehemaligen Ministerpräsidenten Joseph Caillaux (1911/12) sowie den Sozialisten gefordert, auf eine Verständigung mit dem Deutschen Reich. Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003. © 1993-2002 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.