Joachim Becker / Gerald Hödl / Peter Steyrer (Hrsg.) Krieg an den Rändern Von Sarajevo bis Kuito 1. Krieg an den Rändern Akteure, Konfliktlinien, Verläufe Joachim Becker-Gerald Hödl-Peter Steyrer „ Der Mensch ist von Natur friedfertig und furchtsam. (…) Erst wenn er mit anderen Menschen eine Gesellschaft bildet, entschließt er sich, einen anderen anzugreifen; er wird erst Soldat, nachdem er Bürger war.“ (Rousseau) Verbreitete Sichtweise: Krieg ist eine anthropologische Konstante aufgrund des in der menschlichen Natur verankerten Aggressionstriebes (Lorenz) Definitionen von Krieg Völkerrechtlich: bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten Strategieforschung (Clausewitz): idealtypischer, strategisch festgelegter, bewaffneten Wettstreit zweier oder mehrerer politischer Parteien Sozialwissenschaftlich(AG Kriegsursachenforschung Hamburg; Istvan Kende): gewaltsamer Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweist: a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt u. mindestens eine Seite ist eine reguläre Streitkraft der Regierung. b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle. c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität – operieren nach planmäßiger Strategie. das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI fügt dieser Definition noch an: d) 1000 Kriegstote pro Jahr Die Anfänge des modernen Kriegs Der Krieg in und zwischen bürgerlichen Staaten entwickelte sich in einem allmählichen Prozess aus Formen feudaler Herrschaft. Erster Meilenstein: Entstehung des absolutistischen Territorialstaates - Bäuerliches Mehrprodukt wurde mit unmittelbarem politischen Zwang abgepresst. - Die Bauern wehrten sich, was die feudale Gegenseite dazu trieb, ihre militärischen Anstrengungen zur Niederhaltung der Bauern zu zentralisieren. - Die Kriegsführung verschlang immer größere Mittel, die hauptsächlich aus der Landwirtschaft gewonnen wurden. Militärischer Landgewinn bedeutete also Ausweitung der Besteuerungsquelle. 1 - - Die Zentralisierung der Staatsgewalt durch den Landesfürsten bedeutete Enteignung der Ritterklasse. In den Kämpfen mit lokalen Feudalherren stütze sich der Herrscher politisch auf das städtische Bürgertum, militärisch auf Söldnerheere, die „verstaatlicht“ – zu stehenden Heeren gemacht wurden. Diese Veränderung wurde durch technologische Innovationen (Feuerwaffen, Artillerie) unterstützt. Stehendes Heer und neue Militärtechnologien erforderten jedoch eine florierende, besteuerbare Ökonomie. Der absolutistischen Staatsspitze bot sich die koloniale Expansion als Mittel zur Erschließung zusätzlicher Staatseinnahmen an. Im Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) eskalierten die militärischen Konflikte in Europa. Der Westfälische Friede brachte neue Regeln des zwischenstaatlichen Verkehrs: - Es wurden die Prinzipien der Gleichberechtigung der europäischen Staaten und der wechselseitigen Anerkennung ihrer vollen Souveränität festgeschrieben. Diese Anerkennung galt nicht für außereuropäische Territorien. Gesellschaftliche Konfliktlinien und Krieg - - - Der absolutistische Staat war zwar ein Territorialstaat mit klarer Grenzziehung aber kein bürgerlicher Staat. Kapital war vorwiegend in Handel und Finanzgeschäften zu finden nicht aber in der Produktion. Dadurch bildete das Bürgertum noch nicht die zentrale gesellschaftliche Kraft. Die Änderung kam nach und nach und regional sehr unterschiedlich. Kapitalistische Investitionen in die Produktion erforderten disponible (verfügbare) Arbeitskräfte. Diese wurden im Rahmen der Erosion der feudalen Ordnung und der allmählichen Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse durch staatliche Politik „freigesetzt“. Es entstand nach und nach ein weitgehend eigentumsloses Proletariat und eine besitzende, akkumulationsfähige Bourgeoisie. Die Abpressung des Mehrprodukts im Kapitalismus erfolg nicht mehr über unmittelbaren politischen Zwang sondern ist staatlich vermittelt. Strukturelle materielle Ungleichheit ist dialektisch verbunden mit allmählich durchgesetzter formeller staatsbürgerlicher Gleichheit. S. 16 ??????? Vertikale Konfliktachse: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit Horizontale Konfliktachse: Konkurrenz um z.B. Einzelkapital, Arbeitsplätze … Konkurrenz ist ein ganz zentrales gesellschaftliches Prinzip in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform, die sich dadurch auch von anderen unterscheidet. Der Staat spielt sowohl bei der vertikalen als auch bei der horizontalen Konfliktachse eine Rolle. Durch Festlegung unterschiedlicher Normen für in- und ausländisches Kapital, bestimmte Staatsangehörige auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt. Der Staat hat eine zentral regulative Bedeutung für beide Konfliktachsen. Kriege sind die extreme Form politischer Konfliktaustragungen entlang dieser beiden Konfliktachsen. Beide Konfliktachsen können sowohl bei inner- wie zwischenstaatlichen Kriegen eine Rolle spielen. (genauer S. 17) 2 Staat, Zivilgesellschaft, politisch-militärische Gruppen und Kriegsmobilisierung - - - - - - Zumindest „große“ Kriege im Kapitalismus erfordern eine extreme Mobilisierung der gesellschaftlichen Ressourcen: a) breite Rekrutierung von Soldaten b) Ausrichtung d. Ökonomie auf die Kriegsanstrengung c) Loyalität der Bevölkerung Ein Regierungsbeschluss zur Kriegsführung genügt dafür nicht, es muss ein gesellschaftliches Klima geschaffen werden. Materielle Kriegsziele werden meist kaschiert und stattdessen a) die dämonischen Züge des Feindes b) die erhabenen Motive der eigenen Nation c) „humanitäre“ Anliegen des Krieges hervorgestrichen. In den innereuropäische Kriegen des 19. und 18. Jhdts erwies sich der Nationalismus als ausreichend, um die erforderliche gesellschaftliche Mobilisierung zu erreichen. (The White Man`s Burden – heute humanitäre Interventionen) Oft wird die Scheinalternative Krieg oder Zurückweichen vor dem Feind aufgebaut, um Alternativoptionen aus dem Spiel zu nehmen. Reine Repression gegen KriegsgegnerInnen zur erfolgreichen Kriegsmobilisierung reicht nicht aus, sondern es muss mit Hilfe von Feindbildern und Rechtfertigungsmustern um Akzeptanz für den Krieg geworben werden. Bei „kleineren“ grenzüberschreitenden Militäreinsätzen versuchen die kreigsinteressierten Gruppen zuweilen aber auch, eine öffentliche Debatte gänzlich zu vermeiden und die eigene Bevölkerung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Selbst im 21. Jhdt gilt, dass wesentliche Bereiche der Außenpolitik von öffentlicher Depatte abgeschottet bleiben und es Versuche gibt, die erforderliche parlamentarische Bewilligung für Militäreinsätze im Ausland zu unterlaufen z.B. durch verstärkten Einsatz von privaten „Sicherheitsfirmen“. Bürgerkriege setzten eine starke politische Polarisierung und Mobilisierung voraus. Sowohl für Bürgerkriege als auch für Koloniale- und Unabhängigkeitskriege und eine Teil der nachkolonialen Kriege gilt, dass ein Teil der Kriegsparteien nicht Staaten, sondern politischmilitärische oder militärisch-politische Bewegungen sind. Frühe antikoloniale Widerstand Zur Mobilisierung wurden im frühen antikolonialen Widerstand auf: a) vorkoloniale politische Institutionen b) Loyalitäten und c) Deutungsmuster zurückgegriffen. Dies funktionierte jedoch nur mit der Ergänzung durch weiterreichende a) soziale Perspektiven und im Zusammenhang mit b) neuen Allianzen und c) neuen Formen der Kriegsführung (z.B. Guerillakrieg) Die nationalen antikolonialen Befreiungsbewegungen verstanden sich als Embryo eines Gegenstaates. Auffällig ist, dass vielfach nicht nur Männer, sondern auch Frauen von Befreiungsbewegungen für militärische Aktivitäten rekrutiert wurden. postkoloniale Ära Veränderung der Formen der Kriegsmobilisierung: a) Militärische Gruppen (mit schwachem politischem Profil, aber dem Ziel der Übernahme von verbliebenen Resten der Staatsgewalt) rekrutierten arbeits- und 3 perspektivlose Jugendliche mit dem Versprechen, dass sie sich mit Waffengewalt die erwünschten Güter verschaffen könnten. b) In anderen Fällen stand bei der Rekrutierung von Kämpfern eher der Zwang im Vordergrund. - - Sowohl bei Contra-Gruppen als auch bei Bürgerkriegsparteien mit schwacher sozialer Verankerung zeichnete sich die Kriegsführung oft durch ein sehr hohes Maß an Grausamkeit aus. Neben der internen Mobilisierung ist auch die Bildung äußerer Allianzen von großer Bedeutung für die politische Legitimierung des Kriegs, aber auch für dessen materielle Grundlagen. Militär, Technik, Industrie Beim Militär war Lohnarbeit schon vor der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise üblich. Die Durchsetzung der bürgerlichen Staatlichkeit und die Verfestigung der kapitalistischen Produktionsweise bedeutete im militärischen Bereich paradoxerweise, dass die „freie“ Lohnarbeit zu einem großen Teil durch die „unfreie“ Zwangsarbeit von männlichen Kriegsdienstpflichtigen ersetzt wurde. Grund war die finanzielle Bürde von Söldnerheeren und die von ihnen ausgehende Gefahr für den Herrscher die Kontrolle über sie zu verlieren. Die militärische Zwangsrekrutierung der männlichen Bevölkerung wurde im Rahmen der staatsbürgerlichen „Pflichten“ ermöglicht. Die Soldaten wurden in solchem Maß gedrillt, dass es ihnen schwer fiel, ein Bewusstsein ihrer staatsbürgerlichen Rechte oder bestehender Klassenunterschiede zu entwickeln. Damit war das Militär ein wichtiges Instrument sozialer Disziplinierung. Die Muster militärischer Organisation wurden auf die Kolonien übertragen und später von den postkolonialen Staaten fortgesetzt. Ende 20. Jhdt Tendenz in allen westlichen IL hin zum Militär auf Basis von Lohnarbeit – Berufsarmee. Gründe: a) technische Anforderungen an das Militärpersonal gestiegen b) militärischer Erfolg beruht nur noch selten auf einer großen Zahl an Soldaten c) Seit Ende des Kalten Krieges werden hauptsächlich Interventionskriege geführt, deren Legitimation in der Bevölkerung auf Probleme stößt. Beim Tod von Kriegsdienstpflichtigen anstelle von Berufssoldaten würden kritische Fragen noch schärfer gestellt. In Kolonial- und Destabilisierungskriegen wurden neben Kriegsdienstpflichtigen oft auch Söldner eingesetzt. Diese Art der Privatisierung verstärkte sich noch mit dem Ende des Kalten Kriegs. Das 19. Jhdt: Industrialisierung des Krieges Das industrielle Potenzial eines Staates wurde zu einem kriegsentscheidenden Faktor. Im 19. Jhdt unterlagen in Europa, bis auf eine Ausnahme, stärker agrarisch geprägte Staaten den stärker industrialisierten. Etliche Waffensysteme erlebten ihre Premiere auf kolonialem Terrain z.B. das Kampfflugzeug. Rüstungsbeschränkungen erfolgten zuweilen selektiv – gemäß den doppelten Standards – der „Zivilisierung“ des Kriegs zwischen europäischen Staaten, während sie ihn gegen 4 völkerrechtlich nicht anerkannte Akteure von allen Fesseln befreiten. Bsp.: Dum- DumGeschoss. In der Zeit des Manufakturkapitalismus wurden die staatlichen Rüstungsanstrengungen zu einem wesentlichen Motor der Wirtschaftsentwicklung. Die Verflechtung der Rüstungsindustrie mit dem Staatsapparat ist bis heute außerordentlich eng. Die Rolle der Rüstungsindustrie in der Gesamtökonomie verändert sich entsprechend den vorherrschenden Akkumulations- und Regulationsbedingungen. (Bsp. S. 22 unten 23 oben) Wandel der Struktur der Rüstungsindustrie in den 1990er-Jahren Mit dem Bedeutungsgewinn finanzgetriebener Akkumulation engagierten sich institutionelle Investoren auf der Suche nach Finanzgewinnen verstärkt in der Rüstungsindustrie. Aus dem Duo Rüstungsindustrie-Staat wurde ein „sozialer Block“ aus Rüstungsindustrie Finanzwelt und Staat. Revolutionen und Nationalstaatenbildung in Europa Mit der Französischen Revolution 1789 wurde eine neue Form – bürgerlicher – Staatlichkeit, die aus Untertanen Staatsbürger machte und der kapitalistischen Akkumulation neue Möglichkeiten öffnete geschaffen. - - - - Napoleon fegte „[…] jenseits der französischen Grenzen […] überall die feudalen Gestaltungen weg, soweit es nötig war, um der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich eine entsprechende, zeitgemäße Umgebung auf dem Kontinent zu verschaffen“ (Marx) Andererseits mobilisierten die bedrohten Herrscherhäuser all ihre Kräfte. Sowohl die revolutionäre als auch die konterrevolutionäre Kriegsführung veränderte sich radikal. Die junge Französische Republik erfand den totalen Krieg: a) Mobilisierung aller nationalen Ressourcen durch die Wehrpflicht b) Rationierung und rigid kontrollierte Kriegswirtschaft c) faktische Aufhebung der Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten Auch die reaktionären Kräfte organisierten ihre Armeen neu und 1815 gelang ihnen die endgültige Niederwerfung des revolutionären Frankreichs. Der Wiener Kongress leitete eine Periode der Restauration ein. Den „anciens régimes“ war daran gelegen nicht nur revolutionäre Bewegungen, sondern auch zwischenstaatliche Kriege innerhalb Europas zu verhindern, da man von ihnen starken Impuls für einen gesellschaftlichen Umsturz befürchtete. 1830 und 1848 kam es zu neuen revolutionären Wellen. 1848 spalteten sich die revolutionären bürgerlichen Kräfte entlang der nationalen Linien. Die nationale Konkurrenz gewann die Vorherrschaft über den sozialrevolutionären Prozess und besiegelte die Niederlage der bürgerlichen Revolutionäre. Als europäisches Projekt war die bürgerliche Revolution damit erledig. Imperialistische Kriege Das 19. Jhdt. – zumindest nach 1815 – wird zuweilen als Epoche des relativen Friedens gesehen. Dies galt jedoch nur im Hinblick auf zwischenstaatliche Kriege innerhalb Europas. 5 Europäische Mächte führten einen Großteil der Kriege in Übersee z.B. GB: 50 Kolonialkriege zwischen 1803 und 1901. Ziel der Kolonialkriege war die Öffnung neuer Räume für die kapitalistische Akkumulation. Wissenschaftliche Rechtfertigung: Die Völker des Orients (oder auch Afrikas) wären durch politische Despotie (Gewaltherrschaft) und wirtschaftliche Rückständigkeit gekennzeichnet und damit zur zivilisierten Selbstregierung nicht befähigt. Daher müsse der Westen sie unter seine erzieherische Vormundschaft stellen. Imperialismustheoretiker (Hilferding, Luxemburg, Lenin …) brachten territoriales Expansionsstreben mit kapitalistischer Akkumulation in Zusammenhang. Rudolf Hilferding: Immer engere Bande zwischen Banken und Industire entstanden und daraus bildeten sich Kartelle. Vermachtung und ungleiche Einkommensverteilung setzten der Binnenmarkterschließung Grenzen. Daraus entsteht das Bedürfnis, Kapital zu exportieren und große, exklusive Wirtschaftsgebiete zu schaffen. Kolonialkriege - Sofern dies möglich war, machen sich die europäischen Mächte im Zuge der kolonialen Okkupation bestehende Rivalitäten zwischen verschiedenen Gruppen der einheimischen Bevölkerung zunutze und gingen temporäre Bündnisse ein. - Die für innereuropäische Konflikte geltenden Normen fanden in Übersee keine Anwendung. Insofern waren a) die Asymmetrie der Kriegsführung und b) die fehlende Anerkennung der staatlichen Souveränität des Kriegsgegners zentrale Charakteristika der Kolonialkriege. - Damit weisen die Kolonialkriege Züge auf, die Kaldor oder auch Münkler, den „neuen Kriegen“ an der Wende vom 20. zum 21. Jhdt zuschreiben. - Weitere Merkmale, die Münkler an den „neuen Kriegen“ diagnostiziert, etwa die primär ökonomische, nicht politische Motivation der Kämpfer wie auch ihr Interesse an der endlosen Weiterführung des Konflikts, nicht an seiner Beendigung, lassen sich ebenfalls in früheren Epochen nachweisen. - Kolonialkriege zeichneten sich zudem durch ihren zum Teil genozidären Charakter aus. (Siedlerkolonien wie z.B. Deutsch-Südwestafrika; Krieg gegen die Herero 1904) - Die Radikalisierung der europäischen Kriegsführung hin zum Vernichtungskrieg erfolgte also zunächst in außereuropäischen Gebieten. Die Spannung und Konkurrenz zwischen den europäischen Großmächten eskalierte schließlich und mündete in den Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) - Die Kriegsparteien unterschätzten zu Kriegsbeginn die Folgen des Kriegs gewaltig. - Die wirtschaftliche Lage der europäischen kriegführenden Länder verschlechterte sich dramatisch, womit auch die gesellschaftliche Stimmung umzuschlagen begann. - Der Krieg brachte das Ende mehrerer Herrschaftsdynastien und eine bürgerliche Form der Herrschaft: in Deutschland, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und Russland. - In Russland bereitete der Krieg zudem den Boden für die erste antikapitalistische Revolution. Damit war der Keim für eine allmählich an Bedeutung gewinnende Systemkonkurrenz gelegt. Die 1920er- und 1930er- Jahre prägte eine wirtschaftliche Instabilität, die sich in der großen Weltwirtschaftskrise 1929 zuspitzte. Die Kolonialmetropolen wälzten einen Teil der Kriegsfolgen auf ihre Kolonien ab. Deutschland und Japan fanden den Weg aus der Krise in brachialer Unterdrückung der Arbeiterbewegung und äußerer Expansion. 6 Sie versuchten ihr außenorientiertes Wirtschaftsmodell durch Gewinnung kolonialen „Lebensraums“ wieder in Schwung zu bringen. Ihren maßlosen Kriegszielen entsprach die extreme Art der Kriegsführung und Besatzung. Heiße Kriege im Kalten Krieg - - - - - - Die Sowjetunion ging politisch gestärkt aus dem Krieg hervor. Osteuropa wurde entsprechend des Kompromisses zwischen den Alliierten der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. In diesen Staaten, mit der Ausnahme Jugoslawien, unterdrückte die Sowjetunion Reformbestrebungen und mögliche Absetzbewegungen. Die Konkurrenz des staatssozialistischen Lagers hatte auch Konsequenzen für die westlichen IL. Die dominanten Kreise waren nun geneigt, einen sozialen und politischen Kompromiss mit der gemäßigten Sozialdemokratie zu schließen. Dieser ermöglichte eine starke binnenwirtschaftlich getragene Entwicklung. Die Kolonien verloren an Bedeutung. Die Uhr des klassischen Kolonialismus war abgelaufen. Nicht allen Regierungen gelang es, die Entkolonialisierung in gewünschte Bahnen zu lenken. Dies galt für jene Territorien, in denen die Machtübernahme durch sozialrevolutionäre Kräfte drohte, was der Westen mit militärischen Mitteln zu verhindern versuchte als auch für Siedlerkolonien, in denen sich die europäische Siedler gegen eine Entkolonialisierung wehrten. In diesen Fällen war die Entkolonialisierung meist von bewaffneten Aufständen oder langen Unabhängigkeitskriegen begleitet. Die Kriege nahmen ihren Anfang in Ost- und Südostasien. (Philippinen, Indochina, Malaya und Indonesien) In mehreren Ländern war gegen die japanische Bestatzung eine von kommunistischen Parteien getragene Widerstandsbewegung entstanden. Einer Dekolonisierung widersetzten sich das faschistische Portugal und die siedlerkolonialen Regime, im Besonderen Südafrika u. Israel, deren Entstehung eng mit der britischen Kolonialherrschaft verbunden war. In beiden Fällen hat die Siedlerbevölkerung zum Großteil kein „Mutterland“ mehr, auf das sie sich beziehen könnte. (genauer S. 29) Als Resultat fortgesetzter Kolonialherrschaft entstanden Guerilla-Bewegungen- oft mit stark ländlicher Basis -,und auf der anderen Seite eine ausgefeilte koloniale Aufstandbekämpfung. Wegweisend für die späteren Kriege waren die Aufstandsbekämpfungsstrategien in Algerien, Malaya und auf den Philippinen. Die Unabhängigkeitsbewegungen erhielten ihrerseits Anregungen von den erfolgreichen Guerilla-Bewegungen in China und Indochina. Waren die Befreiungsbewegungen erfolgreich, so war meistens die militärische Destabilisierung seitens westlicher Länder, die sich wirtschaftlichen Drucks, aber auch der Formierung von Contra-Truppen bedienten, die Folge. (Bsp. Nicaragua-USA, 1980er Afghanistan: Sowjetunion unterstützt Linkspartei nach Machtübernahme, USA Aufbau von militärischen Gegenkräften) Nur ein Teil dieser Kriege wurden von westlichen Medien wahrgenommen. Im Einflussbereich des Westens kam es unter der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ regelmäßig zum präventiven Eingreifen des Militärs gegen jene politischen Kräfte, die als Gefahr für die gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet wurden. (Bsp. Türkei, Lateinamerika 7 - Militärputsche leiteten oft eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik ein, in deren Verlauf einheimische Eliten und ausländisches Kapital begünstigt wurden. Relativ selten verfolgen die Putschisten die Herstellung von mehr sozialer Gleichheit und die Betonung von nationaler Souveränität und Blockfreiheit. Nach dem Kalten Krieg - - - - - Nach der Implosion des staatssozialistischen Lagers gelang die politische Lösung einiger Konflikte, deren Dynamik zumindest zum Teil durch die Konfliktlinien des Kalten Kriegs geprägt war. Der krisenbedingte territoriale Zerfall mehrerer exsozialistischer Staaten entfachte jedoch auch neue Kriegsherde z.B. Jugoslawien. Konkurrenzgetriebene Konflikte erhielten durch den wirtschaftlichen und sozialen Verfall in verschiedenen Regionen der Dritten Welt neuen Auftrieb. In einigen geopolitisch oder rohstoffmäßig interessanten Regionen intervenierten westliche Länder nun weit ungehinderter als während der Systemkonkurrenz. (Jugoslawien, Afghanistan, Irak) In westlichen Ländern ist der Trend erkennbar, politische und soziale Probleme in Staaten der Dritten Welt nicht mehr politisch, sondern militärisch lösen zu wollen. Der Krieg ist die Extremform des Zwangs. a) Das deutet auf einen Verlust an Hegemoniefähigkeit (Oberherrschaft eines Staates über andere) für den international am stärksten normbildenden Staat und die herrschende Gruppierung hin. b) Andere Interpretation: Formen der Konsensbildung in Staaten des kapitalistischen Zentrums vor allem der Systemkonkurrenz geschuldet gewesen. Mit deren Wegfall hätte die – für die besitzende Klasse – teure Konsensbildung durch Formen des Zwangs ersetzt werden können. Besonders stark ist die Militarisierung der Außenpolitik in den USA. Krieg und militärische Interventionen richten sich speziell gegen die Peripherie. Diese Politik wird damit gerechtfertigt, dass bestimmte Völker in der Dritten Welt nicht von innen heraus entwicklungs- und demokratiefähig sind. Der Wegfall der Systemkonkurrenz leistet derartigen interventionistischen Ambitionen Vorschub. Gleichzeitig nahm die Blockdisziplin unter den westlichen IL ab. In der NATO und der EU gibt es erkennbare Spannungen und offene Konflikte über das Vorgehen gegenüber spezifischen Ländern. Rasche Konsequenzen hatte das Ende des Kalten Kriegs für einige Dekolonialisierungskonflikte, Bürger- und Destabilisierungskriege, deren Verlauf die Bolckkonfrontation maßgeblich mitbestimmt hatte. Bsp. o 1980er Jahren politische Konfliktlösung im Südlichen Afrika erkennbar. (genauer S. 32) o Afghanistan: Linksregierung trat zurück. In das Machtvakuum traten die Taliban. USA soll diese zuerst mit Wohlwollen betrachtet haben (erhoffte sich Genehmigung für Bau einer Pipeline). Das Kalkül der westlichen Länder ging in Afghanistan nicht auf. 2001 griff eine Allianz westlicher Länder Afghanistan unter Berufung auf terroristische Verbindungen des Taliban-Regimes und die Menschenrechtssituation an und etablierte ein faktisches Protektoratsregime. 8 - - - Auch bei einem Teil der konkurrenzgetriebenen Kriege, speziell im subsaharischen Afrika, gelang keine Restabilisierung der Situation, zumal der anhaltende wirtschaftliche und soziale Niedergang die Verteilungskonflikte verschärfte. z.B. Kongo. Zum Teil wird die These vertreten, dass sich Bürgerkriegsökonomien entwickelt hätten. Das Andauern des Konflikts garantiere den „Kriegsherren“ Gewinne aus den von ihnen kontrollierten Handelsverbindungen, mit denen sie in internationale Wirtschaftsnetze eingebunden seien. Politische Ziele und Strategien sind nicht losgelöst von materiellen Interessen. Insofern sind Krieg, Politik und Ökonomie miteinander verbunden. Jugoslawien - Kriege sind auch aus der Implosion des Staatssozialismus heraus entstanden, primär in Jugoslawien und in einzelnen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. - Oft wird argumentiert, dass der Staatssozialismus ethnische Konflikte eingefroren habe, die sich beim Auftauen dann bis zum Krieg erhitzten. - Die Ethnisierung der Konfliktperspektive greift jedoch zu kurz, übersieht sich doch die mit ethnischen Konflikten verbundene Konkurrenz. - Vertreter der Teilrepubliken aber auch Sektoren der abhängigen Beschäftigten suchten in ethnischen Netzwerken einen Schutzmechanismus gegenüber sozialem Abstieg. Damit erhielten nationalistische Tendenzen beträchtlichen Auftrieb. - Verschärft wurde der Konflikt durch das frühzeitige diplomatische Anerkennung einzelner Republiken durch westliche Staaten, im Besonderen durch die BRD u. Österreich. - Die westlichen Staaten ergriffen zunehmend einseitig Partei zu Ungunsten (Rest)Jugoslawiens. Grund: - Das Milošević-Regime öffnete dich gegenüber dem Auslandskapital weniger stark. Alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens zeigten ähnliche Tendenzen, die in Richtung ursprünglicher Akkumulation zu Gunsten einer kleinen, mit der politischen Führung eng verbundenen Personengruppe ging. - Die äußere Einmischung in die Kriege nahm zunehmende offene militärische Formen an und gipfelte 1999 – unter Berufung auf menschenrechtliche Anliegen – im völkerrechtswidrigen Angriff der NATO. Generell ist erkennbar, dass koloniale Praktiken und Begrifflichkeiten – wie jene des Protektorats – aus dem 19. Jhdt derzeit eine Aktualisierung erfahre. Die Kriege an den Rändern, die der Westen führt, werden wie zu den Hochzeiten des Imperialismus mit der Unmündigkeit von Völkern an der Peripherie begründet. 9 2. PlayStation Cordoba. Yugoslavia. Afghanistan etc. Ein Kriegsmodell Klaus Theweleit Das „Theorem der erpressten Loyalität“ „Die Politik der kulturellen Identität besteht darin, Minoritäten innerhalb von Majoritätsgesellschaften anzustiften, ihre je kulturelle Autonomie zu behaupten, zur Not mit Gewalt. (…) Die Begriffserfindung der kulturellen Identität hat keine reale Entsprechung, sie ist (…) ein Konstrukt zur Erpressung der zu ihr Gehörigen und zur ausbeuterischen Ausgrenzung aller nicht zu ihr Gehörigen.“ Ein Beispiel, der Film Nachsaison von Pepe Danquart und Miriam Quinte ° Die Filmemacher begleiten Hans Koschnik, europabeauftragter Koordinator, der versucht, in Mostar eine Einigung zwischen Kroaten auf der einen und den Muslimen, aber auch Serben und Sinti auf der anderen Seite des Flusses Neretva, herzustellen. In dem Film sagen eine Reihe alter Muslime aus, dass sie nach der Zwangseinteilung, alles – die Religion als Alltagsverrichtung – erst wieder lernen mussten, gezwungener maßen, unter dem Druck der Ereignisse. Früher waren sie Mostarer unter Mostarern. ° Eine kroatische Frau beklagt ihre Rückversetzung zur Zwangskroatin. Nachdem ihr serbischer Mann gestorben war, musste sie ihre Wohnung verlassen. „Jetzt muß ich unter Kroaten hocken, mit denen habe ich eigentlich nichts zu tun, also ich verlange bestimmt nicht nach deren Nationalismus …“ Was in diesem Krieg durchgesetzt hatte, bzw. durchgesetzt wurde mit ideologischer und mit Waffengewalt, ist die zuerst schlicht behauptete und dann erpresste kulturelle Identität, Religion oder Ethnie; daraus dann die Forderung nach neuen Grenzen in neuen Nationalstaaten. „Das Schicksal“. Cordoba um 1200 Der Film Das Schicksal von Youssef Chahine Analyse des Films. Handlung ist nach eigenem Wunsch im Buch selbst nachzulesen S. 40 - 42 Das Kriegsmodell Der Film ist von Chahine als Erörterung eines politischen Modells angelegt: händlerisch, wissenschaftlich und artistisch ausgerichtete Mischgesellschaften zerstört man, indem man die Schuldgefühle der Einzelnen wegen ihrer Übertretungen schürt und religiös organisiert; indem man die inneren Konfliktlagen, die zwischen verschiedenen Gruppierungen einer Gesellschaft immer auch bestehen, durch Intrigen anheizt und intensiviert, mit einem fundamentalistischen Orden eine militarisierte Gegenkraft aufbaut, 10 nach und nach alle irgendwie konfliktbereiten Teile bewaffnet, und schließlich zu ethnischen Prognomen bläst. Die Prognome richten sich zunächst gegen einzelne, nun diffamierte (verleumdete) und verfolgte Gruppen dieser Gesellschaft, zielen aber letztendlich auf die Herrschaft selber, die schließlich errungen wird. Dies gelingt allerdings nicht ohne äußere Hilfe; sie kommt von Leuten, die eigentlich Feinde sind, nämlich Angehörige einer feindlichen Religion. In Chahines Film holen sich die Islamisten z.B. die Kreuzritter zu Hilfe, auf dem Weg zur Macht ist es ihnen egal. Sie bedienen sich der Kreuzritterhilfe, in der Annahme, letztlich stärker zu sein als diese. Dass es historisch anders kam, war ihr Pech. Wichtig und zentral ist die Verbündung der Fundamentalisten beider Seiten zur Beseitigung der weltlich orientierten Mischkultur. Ein Weltmodell: PlayStation Afghanistan So ziemlich alle bedeutenden Entmischungen während der Kriege auf dem Balkan oder auch die „Entmischung“ eines Landes wie Afghanistan sind nach Zügen dieses Modells abgelaufen. Künstliche Ethnisierung künstliche Re-Religionisierung Bewaffnung der verschiedenen Seiten mit dem Ziel bürgerkriegsähnlicher Auseinander-setzungen Bei der primären Zerstörung Jugoslawiens spielte der Westen, exakt die Rolle der Kreuzritter aus Chaines Film. Afghanistan Vergleichbar die UdSSR und dann die Amerikaner in Afghanistan: Fundamentalistisch Leute verbinden sich mit einer Kraft von außen, lassen sich von ihr bewaffnen und bekämpfen den „gemeinsamen inneren Feind“. Für die USA gleichzeitig die Fortsetzung des Kampfes gegen den Feind im Kalten Krieg. Über die Klinge springt dabei die afghanische Zivilgesellschaft, das teilsäkularisierte Afghanistan mit seinen verschiedenen Ansätzen des Austritts aus der islamistisch diktierenden Männergesellschaft der Scharia. Der Krieg gegen die UdSSR wird gewonnen, es etabliert sich ein fundamentalistisches Regime die Taliban. Die Regel wäre, als Gegenleistung die Geld- und Waffengeber ins Land zu lassen. Der Westen, in diesem Fall die USA, fingern nicht in diesen Ländern herum, um Demokratiebestrebungen zu stärken, im Gegenteil: sie schwächen sie; sie destabilisieren vernünftige Infrastrukturen der betreffenden Gesellschafen. Noam Chomsky antwortet auf die Frage vieler Amerikaner, nach dem 11. September, warum hassen sie uns? mit einem Verweis auf das Wall Street Journal. Dieses befragte nichtwestliche Banker und Wirtschaftsvertreter: Sie hassen uns, weil wir die Demokratie und die wirtschaftliche Entwicklung behindern. Und weil wir brutale, terroristische Regime unterstützen. Die Taliban waren diesmal so schlau, ihr Land den Amerikanern weder militärisch noch ökonomisch zu öffnen. Sie wollten sich den Sieg von den Kreuzrittern aus Amerika nicht wieder nehmen lassen, wie es die letzte Stufe des Modells vorschreibt. Im Gegenteil, mit Hilfe der Islambrüder des Iran, Pakistan und Saudi-Arabiens wurden die USA in Afghanistan zum Weltfeind Nr. 1. 11 - Erfüllt wurde der Teil der Regel, dass sich zwei Sorten eines religiös-militaristischen Fundamentalismus, christlich und islamisch, gegen einen gemeinsamen äußeren Gegner verbünden und zugleich gegen eine tendenziell säkularisierte Gesellschaft im Aufbruch im Inneren dieses Landes - Nicht erfüllt wurde der Teil, dass die Islamisten aus Dankbarkeit den amerikanischen Christen ihre Tore öffneten. Insofern schreiben die Taliban ein Stück der Regeln neu und wurden nun entsprechend korrigiert. Youssef Chahine: L`Autre Das Schicksal ist nicht der einzige Film, den Youssef Chahine der Darstellung dieses Politikmodells gewidmet hat. in seinem Film L`autre, der Andere, spielt die Sache im modernen Ägypten. Handlung ist nach eigenem Wunsch im Buch selbst nachzulesen S. 44 Auf dem Balkan lief das Modell jeweils mit voller westlicher Unterstützung bzw. Duldung ab; immer nach dem humanitären Prinzip, gewachsene Mischformen nicht zu unterstützen. Mischung & Gewaltabbau. Entmischung und neue Gewalt Überall, ganz gleich wo auf der Welt, sieht man die öffentliche Gewalt und Kriegsbereitschaft zurückgehen, wo verschiedene Bevölkerungen und Lebensweisen sicht mischen. In Kriegszeiten ist das natürlich ein Nachteil: °Die Bereitschaft, mit der Waffe für das Erreichte zu kämpfen, geht vielen kulturell vernünftig gewordenen Leuten ab. °Sie verlassen dann eher die Orte des aufgezwungenen Krieges, statt sich von irgendwem für irgendetwas abschlachten zu lassen, dass sie dann nicht mehr leben können °Sie ziehen es vor, woanders zu leben, in Ländern ohne offene innere Kriege. °Dafür strömen mit der Kriegssituation immer mehr Menschen herein, die gegen die gewachsenen Mischformen agitieren, „die Stadt“ zuerst von außen, sozusagen „richtungslos“, kaputt schießen, um dann besatzungsmäßig in die Macht- und Orientierungsvakuen hineinzugehen; Religionskämpfe anzuzetteln, bis die verschiedenen Großkirchen und Moscheen, brennen. Wer weiß von wem? Niemand weiß. Der anonyme Mörder °Den „im Prinzip“ anonymen, anonym tötenden und sogar interessenlosen Soldaten-Killer, hat Theo Angelopoulos in Der Blick des Odysseus „ins Bild gesetzt“. Eine Hinrichtung in Sarajewo wird gezeigt, ohne dass der/die Vollstrecker vom Publikum gesehen werden. Sie werden von einer dicken Nebelschicht verdeckt. Nur die Geräusche verraten, was passiert. In Didi Danquarts Film Wundbrand aus dem Sarajewo von 1995 gibt es einen jungen Mann, er ist keine zwanzig, der von sich vor der Kamera sagt, er habe mehrere Männer getötet, fünf Frauen vergewaltigt … er ist emotionslos wie die Männerstimmen im Nebel … er weiß nicht, warum er das getan hat … er weiß schlicht nicht, warum … er weiß nur: da waren Kameraden … die auf dem Zimmer … die auf der Straße … und alle taten es … wieso sollte er nicht … er vollzog das Gesetz … Er ist einer der Leute, die vorher überwiegend nicht in der Stadt lebten … 12 Machtvakuum und Mafiotisierung °Paolo Rumiz beschreibt die Mafiotisierung der Balkanstaaten überall da ,wo eine dominante zivile Mischkultur zerschlagen, zerstört worden ist von Söldnergruppen, angeheuerten BergIrren einer anderen … °Hans Koschnik: … sie sind nicht vertraut mit den Städten, dort hineingeschickt … angeheuert und nach erledigter Arbeit wieder rausgeschickt, den Raum schaffend für die sch neu bildenden örtlichen oder auch importierten Wirtschafts- und Schmuggelmafias, die die Stellen der leer gewordenen Machtorte besetzen. Diese Sorte Mafia gibt es noch nicht in Youssef Chahines Cordoba-Modell: die sind ein neues europäisches Kaliber … gewachsen in den Geldströmen des internationalen Under Cover Kapitals. Die Genscher Games Es wäre falsch anzunehmen, dies alles habe sich „naturwüchsig“ aus dem Chaos des zusammenbrechenden Vielvölkerstaates heraus entwickelt. Dieser „Zusammenbruch“ hatte seinen Vorlauf in der westlichen Finanzpolitik: Westkredite von den europäischen Banken und der Weltbank bekam Jugoslawien die ganzen 80er Jahre durch mit der Auflage, die angefangene Sozialisierung von Fabriken nicht weiter voranzutreiben bzw. zu stoppen. Geld wurde gegeben an jugoslawische Betriebe, die schon auf einer vorkapitalistischen Ebenen arbeiteten, andere bekamen nichts; was unter anderem die Mentalität, die Betriebe auszuplündern, solange noch was zu holen war nicht unerheblich förderte. °Insbesondere Deutschland hat die späteren Probleme in Jugoslawien z.T. selbst produziert durch die frühzeitige Anerkennung der Unabhängigkeit von Kroatien und Slowenien durch den damaligen Außenminister Genscher. °Die deutsche Politik hat also die Probleme z.T. selber hergestellt, die sie später glaubte, militärisch bekämpfen müssen. ° Intellektuelle und Künstler überall in Europa antworteten auf die Frage, ob die Zerschlagung des Staates Jugoslawiens notwendig war, mit Nein. Sie sehen in ihr den Grund für die folgenden, unnötigen Kriege und nennen als Auslöser einhellig den Genscher Act. Gene Hackman im Iran; oder: zwei Sorten „Recht“ Es gibt für diese Kriegssorten eine doppelte Sprache – „doppelte Standards“ – nämlich die sehr unterschiedlich Bewertung ähnlicher Ereignisse in Abhängigkeit von den jeweiligen Schauplätzen und Akteuren: Ein Beispiel Für die Ansprüche der Kruden in der Türkei gilt: die Türkei ist ein NATO-Staat; d.h., die Kurden, die an den Grenzen dieses Staates rütteln, werden als Feinde des aktuellen Nationalstaates Türkei, damit als Feinde der NATO behandelt; d.h. die türkische Regierung hat freie Hand, gegen sie als „Terroristen“ vorzugehen. Wäre die Türkei kein NATO-Staat würde die Politik der NATO-Ländern gegenüber den Kurden ganz gegensätzlich gewesen. Davon können wir ausgehen. 13 Das Prinzip ist so simpel wie verlässlich in seiner Anwendung: politisch, kulturelle, religiöse Loslösungsbestrebungen von Minoritäten werden immer dann von den westlichen Industrieund Militärmächten unterstützt, wenn sie den westlichen Bündnissen nicht angehören, wenn also ihre politische Schwächung oder Zerschlagung der Erzeugung von Machtvakuen dient, in die die geballte Power westlichen Militärs und/ oder westlicher Ökonomie vorstoßen können. In dem Film Staatsfein Nr. 1 schwärmt Gene Hackman von seinen schönen alten Zeiten in der NSA im „National Security Service“: „Wie schön damals, wir saßen im Iran an der Grenze zu Afghanistan … und belieferten die aufständischen Afghanen mit Waffen und Informationsmaterial gegen die Russen …“ Nach dem 11. September wäre diese Passage nicht mehr ins Kino gekommen, die schöne Modellstory, wie die NSA Afghanistans Islamisten, die Vorläufer der Taliban vom Iran aus gepäppelt und gesponsert hat. Das Gesetz lautet: auswärts wird destabilisiert; anderswo bestehende Nationalstaaten sind zu unterwandern; zu Hause wird stabilisiert, der bestehende Nationalstaat ist zu stützen und, wo immer möglich, weiter zu zentralisieren. - - - Es geht nicht um „Recht“, es geht, wie G.W. Bush jeden Tag erklärt, darum „wer für uns ist und wer gegen uns“. Wer „gegen uns“ ist, hat keine Rechte. – siehe Guantánamo „Gut ist, wer für uns ist“; dass das ein prinzipieller Unrechtssatz ist, sieht jeder; niemand kann das übersehen. Aber der Satz wird akzeptiert als Grundlage des momentan hier geltenden politisch-militärischen Rechts. Regierungen des Westens folgen momentan der MenschenrechtsinterventionismusKriminalität, die vorgegeben ist durch die maßgebenden bewussten Rechtsbrüche der Dominanzmacht USA: o Aushebelung der UNO zugunsten der NATO-Macht im Jugoslawienkrieg o Weigerung der USA, sich der Rechtssprechung internationaler Gerichtshöfe zu unterstellen. In Chile gab es, wie in Nicaragua, keine „Ethnie“, keinen „Islam“, die man zu einer „unterdrückten Minderheit“ hätte hochschüren können gegen die unliebsame Demokratie. Also stürzt man Allende direkt, ohne jeden Vorwand. Die muss man beim Modell der Zusammenarbeit der Fundamentalismen aller Länder vor Augen haben: wo es keine passenden Bundesgenossen gibt, deren man sich zum Sturz störender gewählter Regierungen bedienen kann, bedient man sich des einheimischen Militärs. Who do you love? Nach einer Weile tatsächlicher Vertreibung und des Mordens glaubt man, glauben alle Beteiligten, dass man zu dieser oder jener „Ethnie“ oder „Religion“ tatsächlich gehöre, auch wenn das vorher für die meisten nicht so wichtig war, zweitrangig, drittrangig. ein Beispiel Aus den nördlichen Gebieten Ex-Jugoslawien wird berichtet, dass ein großer Teil der dort lebenden Jugoslawen ungarischer Herkunft über die Tatsache ihrer vormals ungarischen „Abstammung“ überhaupt erst informiert werden mussten. Ziel des Modells der bewaffneten Entmischung von Mischkulturen ist immer die Restituierung religiöser, ethnischer, kultureller Dogmen; ist die Zurückdrängung von Mischehen; ist die Zurückdrängung der Frauen. 14 Der Globalisierungs- Faschismus der zivilisatorischen Art bedient sich des älteren, des traditionellen Rasse- & Männergewalts-Faschismus überall auf der Welt zur Durchsetzung seiner globalen Interessen. Deren Erfolg wird damit bezahlt, dass viele betroffene despotisch regierten Länder der Peripherie gerade dadurch der historischen Chance beraubt werden, die die industrialisierten Länder der Welt im Lauf des 20. Jhdts genutzt haben: sich in ihrem Innern, jedenfalls partiell, zu demokratisieren. Post Scriptum 1. Achsen des Bösen Bahman Nirumand Durch G.W. Bushs rede von der Achse des Bösen – durch die neuen amerikanischen Attacken - werde die Position der Reformer im Iran geschwächt. Chahines Modell: Was hat die USA gewogen, den Iran zu attackieren – ein Land, in dem sich derzeit ein innerer Wandel vollzieht, den man aus demokratischer Sicht allen islamischen Staaten wünschen würde? Die Antwort: gerade deshalb wir der Iran von Bush attackiert. °Erstmals seit längerer Zeit gelang es den Konservativen wieder, hunderttausend Gläubige auf die Straßen zu locken. ,Tod den USA`, ,Tod Israel` skandierten die Massen mit geballten Fäusten. °Den rechten Islamisten müssen die Drohgebärden des US-Präsidenten wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein, denn gerade in diesen Wochen haben sie in der Auseinandersetzung mit den Reformern einige Niederlagen einstecken müssen. Post Scriptum 2. Afghanistan wird demokratisch - - - Der afghanische Krieg ist einige Monate alt, die Taliban gestürzt, Kabul befreit, eine Interimsregierung eingesetzt. Aber man erfährt: die internen Nachfolgekriege zwischen verschiedenen Gruppen und „Stämmen“ Afghanistans flakern neu auf oder gehen weiter. Der Militärsprecher des US-Stützpunktes erklärt: „Wir wissen nicht, wer auf uns geschossen hat und aus welchem Grund.“ Mit diesem zentralen Satz aus den jugoslawischen Kriegen beginnen die Berichte aus Afghanistan jenen zu gleichen, die wir jahrelang aus Bosnien hörten. Kofi Annan und Hamid Karsai bekommen nicht das Mandat zur potentiellen Kontrolle ganz Afghanistans. Die USA und NATO wollen es auf die Kabul-Region beschränkt halten. Das restliche Afghanistan wird freigegeben als Gegenstand und Landschaft für Herrschaftsnachfolgekriege. Sven Hansen: „die Strategie des Pentagons, in Afghanistan die Truppen von Warlords für sich kämpfen zu lassen, verschärft die lokalen Machtkämpfe und breitet den Boden für neue Verbrechen … die Warlords nutzen die Verbindung mit den USA als Freibrief, ihre eigenen Interessen rücksichtslos durchzusetzen.“ 15 Post Scriptum 3. Palästina Es muss nicht immer Das Schicksal laufen. Es war einmal beinahe soweit. - Eine Schlüssel-Szene: Ende 2000, Bill Clinton und Sharm el Sheik unterbreiten Arafat in Camp David ein Angebot. Sie hatten Barak dazu bewogen dem Rückzug der israelischen Siedler aus den besetzten Gebieten und die Teilung Jerusalems in verschieden verwaltete Distrikte zuzustimmen. - Arafat bringt nur ein knappes Nein über die Lippen. Die arabische Liga hat nicht zugestimmt … man könne sich nicht zufrieden geben mit zur Teilen Jerusalems. - Dass die Palästinenser von den Fundamentalisten des arabischen Lagers missbraucht werden … instrumentalisiert für die schicksalsmäßige Kriegs-Co-Produktion mit israelischen und anderen Fundamentalisten, ist seitdem deutlich. - Schon lange sichern arabische Staatschefs die Herrschaft in ihren eigenen Despotien durch Aufputschung ihrer Untertanen gegen Israel. - Die arabischen Emirate nähren und unterstützen den palästinensischen Selbstmordterror zur Sicherung eigener Herrschaft im Innern. Sie fürchten demokratische Entwicklungen und Machtverlust bei sich. Sie brauchen den Konflikt zwischen Israel und Palästina als Fundamental-Konflikt zum Erhalt der eigenen Sicherheit. - - Das Modell Chahine war noch viel direkter wirksam zwischen Israelis und Palästinensern, bei der Gründung der Hamas; genauer gesagt, zwischen israelischem Geheimdienst und palästinensischen Fundamentalisten, um eine religiös fundierte Gegenkraft gegen Arafats verhältnismäßig säkulare Milizen zur Spaltung der Palästinenser ins Feld führen zu können. Erst nach Bruch mit dem israelischen Geheimdienst infolge des Oslo-Abkommens schwenkte die Hamas um auf anti-israelische Attentatspolitik. Entstanden sei die Organisation aber als Co-Produktion der religiösen bzw. militaristischen Fundamentalisten beider Seiten. Postscriptum 4. Algerien In Algerien im Jahr 1997 wird die Französischlehrerin Atyka F. in ihrer Schule ermordet von fünf Islamisten, die in den Unterricht einbrechen. Da der fundamentalistische Terror in Algerien nicht an der Regierung ist, kann er offiziell von anderen Staaten nicht unter Druck gesetzt werden. Französischlehrerinnen, die arbeiten wie vor 800 Jahren Ibn Ruschd sind in Algerien Staatsangestellte und genießen den Schutz ihre Staates, den dieser bloß nicht immer geben kann. °Man kann deutscher Human-Politik nicht ohne weiteres vorwerfen, dort untätig zu bleiben, wo sie anderswo vor Menschenrechtsaktivitäten so wenig zurückschreckt. °Sie bedient sich ja auch eines wirksamen Mittels zur Eindämmung des algerischfundamentalistischen Terrors. °Deutschland unterstützt die algerische Mischgesellschaft durch große Zurückhaltung bei der Gewährung politischen Asyls für Antragsteller aus Algerien. Mit dem Hintergedanken, dass dies eine starke Front dort gegen die islamistischen Entmischer gewährleiste. 16 3. Asymmetrische Kriege Herfried Münkler Die Charakterisierung von Konflikten und Kriegen als symmetrisch bzw. asymmetrisch hat in jüngster Zeit einige Verbreitung gefunden. Damit geht das Risiko einher, dass sich mit diesen Begriffen allerlei verschwommene Vorstellungen und Assoziationen verbinden und ihre analytische Kraft ausgewaschen wird. Symmetrische Konfliktlagen, wie sie durch das so genannte Westfälische System hervorgebracht wurden, tendieren zu gesteigerter Konfliktintensität, aber auch zu reziproker (wechselseitiger) Risikoperzeptionen (Risikowahrnehmung) und tendenziell gleichen Rationalitätsstandards. Asymmetrische Konflikte, wie wir sie vermehrt seit dem Ende des 20. Jhdts beobachten können, tendieren zu gegenteiligen Merkmalen: geringe Konfliktintensität mit der Folge, dass sie sich oft über Jahrzehnte hinziehen unterschiedliche Risikoperzeptionen deutlich verschiedene Rationalitätsstandards der Akteure. I. Die Charakterisierung von Konfliktlagen und der Akteure als symmetrisch bzw. asymmetrisch muss sich auf eine Vielzahl von Merkmalen konzentrieren. Allein die Staatsqualität (spezifische Form ihrer politischen Verfasstheit) zweier Akteure eines Konflikts herauszugreifen genügt nicht. Zwischenstaatliche Konflikte sind nämlich keineswegs immer symmetrische Konflikte, wie das Schicksal Polens zeigt. Das Verschwinden Polens - - - Ende des 18. Jhdts verschwand Polen, für mehr als ein Jahrhundert. Man hat das Verschwinden Polens von der europäischen Staatenbühne vor allem auf die Habgier und Expansionsdynamik der an der polnischen Teilung beteiligten Mächte Russland, Preußen und Österreich zurückgeführt. Andere Mächte waren nicht weniger habgierig, was sie jedoch daran gehindert hat ihre kleinern Nachbarn zu verschlucken war das europäische Staatensystem, das zwar immer graduelle Expansionen zuließ, ein gänzliches Verschwinden eines Beteiligten mit Ausnahme Polens aber verhinderte. Zur unbestreitbaren Gefräßigkeit Russland, Preußens und Österreichs müssen also noch andere Faktoren hinzugekommen sein. Diese Faktoren lassen sich unter dem Stichwort der erodierenden Staatlichkeit Polens zusammenfassen. o Im Verlauf des späten 17. und frühen 18. Jhdts hatte Polen den Anschluss an die politischen Modernisierungsprozesse in Europa verloren. o Polen war kein symmetrischer Akteur im europäischen Staatensystem, sondern wurde von seinen Nachbarn als failing state behandelt. o Es war vor allem die militärorganisatorische und waffentechnische Rückständigkeit Polens, die seine Staatsqualität erodierte und es schließlich zur Beute seiner Nachbarn machte. 17 o Bis zu seiner definitiven Zerrstörung blieb Polen formell ein Staat. Die Fähigkeit, sich als gleicher Akteur, d.h. reziproker Akteur anerkannt zu werden, hängt also nicht nur an formalen Attributen, sondern auch an faktischen Fähigkeiten, die im europäischen Staatensystem vor allem militärisch ausgemünzt waren. Der Fall Polen ist dazu geeignet, ein Grundprinzip von Symmetrie und Asymmetrie deutlich zu machen: Die Fähigkeit, sich gegenüber Freund wie Feind als gleichartiger – was nicht unbedingt heißt: gleich starker – Akteur ins Spiel zu bringen. Napoleon - Kurz nach der Auslöschung Polens drohte Preußen, Österreich und Spanien ein ähnliches Schicksal. Gestützt auf den politischen Modernisierungsschub der Französischen Revolution eilten die napoleonischen Truppen von Sieg zu Sieg. Hier haben wir es mit einer Genau umgekehrten Form der Auflösung von Symmetrie zu tun: Schieden die Polen infolge ihres Verzichts auf den Mitvollzug der militärischen Revolution als symmetrischer Akteur aus, so gewann Frankreich infolge der Ergebnisse der Revolution gegenüber seinen Konkurrenten einen Vorsprung, der als asymmetrisch bezeichnet werden kann. Es sind waffentechnologische bzw. militärorganisatorische, aber Entwicklungen, die zur Herausbildung von Asymmetrie führen könne. auch politische Die unterschiedliche Reaktion Preußens und Spaniens auf die Ungleichheit Preußen entschied sich durch politisch-militärische Reformen seine Fähigkeiten zu resymmetrieren. - Durch entsprechende Reformen im Inneren Preußens sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, dass man Napoleon auf dem Schlachtfeld entgegentreten und ihn dort besiegen könne. - Die preußische Strategie der Resymmetrierung setzte also darauf, politisch-militärisch gleichartige Voraussetzunge zu schaffen, um Napoleon auf seinem ureigensten Terrain, dem Schlachtfeld, niederwerfen zu können. Spanien hingegen beschritt mit der Guerilla, dem nach 1808 eröffneten Partisanenkrieg gegen die napoleonischen Truppen, den Weg der Asymmetrierung. - Die Spanier entwickelten eine Kriegsführung, in der sie den so genannten Kleinen Krieg, der im 18. Jhdt ein untergeordneter Begleiter des Großen Krieges geworden war, vom Großen Krieg entkoppelten, also bewegliche kleinere Verbände und die Versorgungslinien des Gegners operierten und sich der mit großen Truppenmassen und schweren Waffen geführten Schlacht entzogen. - An die Stelle der Konzentration der Kräfte in Raum (Schlachtfeld) und Zeit setzten sie auf deren Dislozierung (Verlegung, Versetzung) im Raum und die Ausdehnung des Krieges in der Zeit. - Die Spanier agierten nicht mit militärischem Kräftemessen, sondern gegen den Durchhaltewillen und die Durchhaltefähigkeit des Gegners. - Vorraussetzung hierfür war, dass sie den Krieg auf die gesamte Bevölkerung als o logistische Basis o Tarnung und Deckung sowie 18 - - o permanente Rekrutierungsbasis der Partisanen zurückgreifen konnten. Die Asymmetrie, dehnte sich dementsprechend von der Strategie auf die gesamte politische Organisation der Kriegsführung aus. Damit diffundierte (durchdringt) die zuvor auf dem Schlachtfeld konzentrierte Gewalt in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Der Partisanenkrieg fordert einen hohen Preis, denn er ist nur auf der Grundlage einer hohen Leidens- und Opferbereitschaft der Bevölkerungen zu führen. Diese verstanden die Spanier unter Rückgriff auf religiöse Motive zu mobilisieren. Wenn man von einer gegebenen Symmetrie der politisch-militärischen Akteure ausgeht, so können Asymmetrien auf zwei Wegen entstehen: dem politischer Veränderung und dem waffentechnisch-militärorganisatorischer Innovation. Bei den hier gewählten Beispielen, dem Herausfallen Polens aus der europäischen Symmetrie und dem zeitweiligen französischen Überschuss an politischer Energie, ist die Symmetrie in je unterschiedlicher Richtung verlassen worden: waffentechnisches bzw. militärorganisatorisches Zurückbleiben und Vorsprung aufgrund politischer Modernität. Asymmetrie kann sich jedoch auch in genau umgekehrter Richtung entwickeln, und in der Regel ist dies gerade bei technologischen Innovationen der Fall: Die asymmetrische Überlegenheit, die etwa die USA heute besitzen, ist nicht nur eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, sondern sie ist vor allem aus der frühzeitigen und umfassenden Nutzung der mikroelektronischen Revolution für die Entwicklung neuer Waffen erwachsen, in deren Gefolge die „alte“ Waffentechnologie entwertet wurde. Aber während die Resymmetrierung im Falle Preußens zu einer politischen Modernisierung führte, läuft Resymmetrierung im waffentechnischen Bereich auf eine Abfolge von Rüstungswettläufen hinaus. Die europäische Staatenordnung wurde durch, der auf Symmetrie begründeten Antwort den verbündeten Mächte Russland und Preußen, Österreich und Großbritannien zuzuschreiben. Der Fall Spanien - Spanien dagegen, obwohl es auch zu Napoleons Niederlage beigetragen hatte, blieb in dem Verlauf des Wiener Kongresses wiederhergestellten Staatensystems peripher. - Die Art, in der Napoleon von den Spaniern bekämpft und geschwächt worden war, war mit den auf Symmetrie gepolten Ordnungsprinzipien der europäischen Staatenwelt nicht kompatibel – weder rechtlich noch ethisch. In der völkerrechtlichen Ordnung nämlich waren als Rechtssubjekt nur Staaten, aber keine Guerillaführer vorgesehen. - Ein länger währender Partisanenkrieg hätte Dynamiken freizusetzen vermocht, in deren Gefolge die gerade wiederhergestellte sozio-politische Ordnung bedroht gewesen wäre. Die Wiederherstellung des europäischen Staatensystems - Die Ordnung des Westfälischen Systems beruhte auf einem hochgradig professionalisierten Militär, das ein Instrument der politischen Führung war und dies auch blieb. - Die Symmetrie der Akteure hing daran, dass das Militär in gleicher Weise rekrutiert, bewaffnet und ausgebildet wurde. 19 - Der Ausgleich waffentechnischer Unterlegenheit durch eine gesteigerte Opferbereitschaft der Bevölkerung, wie sie dem Partisanenkrieg zugrunde lag, hätte nach einiger Zeit zur Auflösung dieser Ordnung geführt. II. Das symmetrische Ordnungsmodell - - - - - - Symmetrische Konfliktlage und symmetrische Kriegsführung beruhen auf einer wesentlichen Gleichartigkeit der politischen Akteure und der von ihnen jeweils bereitgestellten militärischen Kräfte. Wer sich in einem Bereich Vorteile verschafft, zwingt die anderen der symmetrischen Ordnung angehörenden Akteure, ähnliche Anstrengungen zu unternehmen und entsprechend nachzuziehen. Das ist das Lästige und Teure, das womöglich auch Gefährliche symmetrischer Ordnungen: Waffentechnische bzw. militärische Innovationen einer einzigen Seite müssen umgehend zu entsprechenden Nachrüstungen der anderen führen. Wer sich dem verweigert, scheidet, wie Polen, mittelfristig aus dem System aus, und wer, wie Spanien, eine mit den Prinzipien der Symmetrie inkompatible Strategie wählt, erlangt dafür keine wirkliche Anerkennung. Das an Symmetrie orientierte europäische Staatensystem war also eine Ordnung, die den ihr Angehörenden strikte Imperative auferlegte. Diese Imperative umfassten: o die Ebenen der strategischen Kreativität, o der politischen Rationalität und o der völkerrechtlichen Legitimität Entstanden auf einer dieser Ebenen Ungleichartigkeiten, die in sich die Gefahr der Asymmetrien bargen, so gingen von den je anderen Ebenen Anreize zur Resymmetrierung aus. Man sollte jedoch die symmetrischen Ordnungsmodelle, wie sie in Europa entstanden nicht idealisieren. Seit der Französischen Revolution haben sie den Krieg zu einer Intensität geführt, wie dies weltgeschichtlich sonst kaum der Fall gewesen ist. Andererseits sind diese Ordnungsmodelle keineswegs notorisch auf Krieg angelegt. Die Gleichartigkeit der beteiligten Akteure muss nicht zwangsläufig auf Konkurrenz stimulieren, sondern kann auch Formen vertrauensvoller Kooperation hervorbringen. Modelle für den Frieden Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ beruht auf der Rationalität symmetrischer Akteure, die zueinander in reziproken Beziehungen stehen. Die Alternative hierzu ist eine imperiale Friedensordnung, in der eine den anderen asymmetrisch überlegene Macht die Rolle des Friedensgaranten übernimmt. Dementsprechend spricht man von einer Pax Romana, Pax Britannica oder Pax Americana. Beide unterschiedlichen Modelle, das der Symmetrie wie das der Asymmetrie, sind gleichermaßen in der Lage, die Utopie eines stabilen und dauerhaften Friedens zu formulieren. Das Imperium nämlich will den Frieden, weil es davon profitiert, und es hat die Mittel und Möglichkeiten, seinen Willen durchzusetzen. 20 Die gleichartigen Akteure symmetrischer Ordnungen dagegen, die einander aus Prinzip misstrauen, müssen allesamt vom Nutzen des Friedens überzeugt sein. Das fortbestehende Misstrauen nur eines Akteurs ist eine beständige Unruhequelle. Deswegen ist der reziproke Frieden symmetrischer Akteure prekärer und unwahrscheinlicher als sein imperiales Pendant. Dafür ist es, wenn er denn erreicht ist, stabiler und zustimmungsfähiger als der imperiale Friede. Es sind also spezifische Rationalitätsstandards und unterschiedliche Arten von Risikoperzeption (Wahrnehmung) durch die sich symmetrische und asymmetrische Modelle politischer Ordnung voneinander unterscheiden. Es sind die politischen Großkonstellationen, angesichts entsteht, und an deren Vorgaben sich dann die Rationalität der Akteure bemisst. Die Römer regierten Europa über Jahrhunderte nach den Vorgaben der Asymmetrie, aber nach dem Untergang des Römischen Reichs bildete sich keine Machtagglomeration mehr heraus, die eine dauerhafte Asymmetrie behaupten konnte. Europa wurde zum Musterfall einer symmetrischen Staatenordnung, Was spricht für Symmetrie, was für Asymmetrie? - In asymmetrischen Ordnungen könnt es sein, dass die Steuerungs- und Planungsanforderungen für die Imperialmacht zu umfangreich und komplex sind, dass sie diese nicht zuverlässig bewältigen kann. - Ist bei asymmetrischen Ordnungen die Rationalität im Zentrum die knappe Ressource des Systems, so ist bei symmetrischen Ordnungen die knappe Ressource Vertrauen. - Kriege sind in beiden Fällen Ordnungsstörungen, die aus einem Mangel an der entscheidenden Ressource der jeweiligen Ordnung resultieren. III. Carl von Clausewitz: „Vom Kriege“ Die drei Typen eskalatorischer Wechselwirkungen: 1. Es gewinnt derjenige die Überhand, der sich der Gewalt rücksichtslos und ohne Schonung des Blutes bedient. Demgemäß sehen sich beide Akteure dem Imperativ einer permanenten Gewaltintensivierung ausgesetzt. 2. Solange wir den Gegner nicht niedergeworfen haben, müssen wir damit rechnen, dass er uns niederwirft, was uns wiederum zwingt, die Gewalt weiter zu steigern. 3. Es ist uns nicht möglich, die Stärke der gegnerischen Motive zu durchschauen, sind wir auch aus diesem Grund gehalten, die Gewaltanwendungen bis zum Äußersten voranzutreiben. Zusammengefasst: Unser begrenztes Wissen über unseren Gegner zwingt uns, den Krieg bis zum Äußersten zu steigern – „der absolute Krieg“ Die drei Typen moderierender Wechselwirkungen: 1. Wir kennen den Gegner seit langem. Weil wir beobachten können, wie sich ein Gegner früher verhielt, glauben wir beurteilen zu können, wie er sich heute oder morgen verhalten wird. Anhaltspunkte, die wir durch Beobachtung gewinnen sind nach Clausewitz die Basis dafür, dass wir den Krieg nicht auf der Stelle bis zum Äußersten eskalieren. 21 2. Der zweite moderierende Faktor ist die Zeit: Jeder feindselige Akt, der zunächst unterbleibt, kann die andere Seite dazu veranlassen, sie ihrerseits zu unterlassen. 3. Keine militärische Entscheidung ist absolut und wir nehmen sie möglicherweise zum jetzigen Zeitpunkt hin, weil wir davon überzeugt sind, unseren Willen zu einem anderen Zeitpunkt besser durchsetzen zu können. Zu beachten ist, dass Clausewitz hat die Moderierungsfaktoren unter den Bedingungen einer strikten Symmetrie entwickelt. Bei Asymmetrie würden die Moderationsfaktoren nicht bestehen: Wir können nur aus dem vergangenen Verhalten unseres Gegners auf sein zukünftiges schließen, wenn es sich um einen gleichartigen Akteur handelt. Wir können das Dilemma der Wissensdefizite nur bewältigen, weil diese Defizite in symmetrischer Form beide Parteien betreffen. Wir müssen nicht davon ausgehen, dass die Gegenseite über Mittel und Wege verfügt, die ihr Wissen deutlich steigern. Bei asymmetrischen Konfrontationen kann das nicht angenommen werden. Der Gegner wird darum viel eher geneigt sein, zum Mittel des Präventivkrieges zu greifen. Auch der Faktor der Zeit, spielt unter den Bedingungen der Asymmetrie eine andere Rolle. Zeitgewinn konnte z.B. im Kalten Krieg, in Vertrauenszuwachs konvertieren. Bsp. dazu Seite 69 oben. Auch steht bei asymmetrischer Konfliktlage die Ressource Zeit nicht beiden Seiten im gleichen Maße zur Verfügung, wie das Beispiel Spanien gegen Napoleon zeigt. Terrorismus und Partisanenkriege, die wichtigsten Formen einer Asymmetrierung aus Schwäche beziehen ihre Stärke nicht zuletzt aus dem fehlenden Zeitdruck. Die überlegene Seite muss ihre Kriege schnell und entscheidend beenden, weil es sehr teuer ist, diese Überlegenheit auf längere Zeit aufrecht zu halten. Im Wesentlichen ist es die erhöhte Leidens- und Opferbereitschaft der Bevölkerung, die den Partisanen die erforderliche Zeit verschafft. Bsp.: Vietnamkrieg: USA verlor 50000 Soldaten, die Gegenseite 2 Millionen. Die Voraussetzung für die erfolgreiche Führung eines aus der Position der Schwäche aufgenommenen asymmetrischen Krieges ist somit ein politischer Wille, der in dramatisch höherem Maße Opfer in Kauf zu nehmen bereit ist als die attackierte Gegenseite. Henry Kissinger: Partisanen gewinnen, wenn sie nicht verlieren, Reguläre verlieren, wenn sie nicht gewinnen. IV. Symmetrische Ordnungen sind also nicht nur durch die Gleichartigkeit des Militärs bei Rekrutierung, Bewaffnung und Ausbildung gekennzeichnet, sondern auch dadurch, dass die Leidens- und Opferbereitschaft der beteiligten Bevölkerung tendenziell gleich groß ist. Asymmetrische Ordnungen zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass im Zentrum der Macht die Ressource Opferbereitschaft knapp wird, während dies an der Peripherie nicht der Fall ist. Heroische Gesellschaften, so wird man zusammenfassend sagen können, zeichnen sich dadurch aus, dass Opfer und Ehre in ihnen zentrale Werte darstellen Die Rolle als Krieger ist mit Prestige verbunden. In postheroischen Gesellschaften ist das nur marginal der Fall und 22 Werte wie Wohlstand und Arbeit sind hier zentral Sie sind nur kriegführungsfähig unter der Vorraussetzung, dass sie ihre eigenen Verluste sehr niedrig halten und der Krieg nach kurzer Zeit erfolgreich beendet ist Sie haben die Neigung, Kriege nach den Vorgaben einer erfolgreichen Investition zu beurteilen. In Europa, zumindest in Westeuropa, erfolgte der Übergang von heroischen zu postheroischen Gesellschaften gleichmäßig und tendenziell linear. In den imperialen Strukturen, in deren Zentrum die USA stehen, ist dies nicht der Fall. Die USA sind eine weitgehend postheroische Gesellschaft, aber die Feinde agieren heroisch. Die äußerste Steigerung dieser Form des Heroismus ist der Selbstmordattentäter. Damit postheroische Gesellschaften unter diesen Umständen kriegsführungsfähig bleiben können, müssen sie Waffentechnologien entwickeln, die ebenfalls asymmetrische Überlegenheit verschafft, indem sei sich unangreifbar – unverwundbar macht. Das Mittel hierzu sind Distanzwaffen. Es muss permanent in eigene Rüstungssysteme investiert werden, um bei minimalen eigenen Verlusten interventionsfähig zu bleiben. In der postheroischen Kriegsführung tritt an die Stelle der symmetrischen Konfrontation der Kämpfer die „Bewirtschaftung“ eines Gefechtsfelds aus großer Distanz. Asymmetrie bekommt hier eine konkrete Gestalt: Der Kampf über eine so große Distanz, dass sie für den Angegriffenen unüberwindbar ist, hat eine Asymmetrierung des Gefechtsfeldes zu Folge, bei der die eine Seite zum eher wehrlosen Opfer und die andere zum tendenziell unverwundbaren Akteur wird. Man kann dies als Begleiteffekt einer „Verpolizeilichung“ des Krieges begreifen, bei der jegliche Reziprozität der konfligierenden Akteure geschwunden ist und es nur noch um die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit mit militärischen Mitteln geht. Es hat jedoch den Anschein, als würde dieses Konzept der Verwandlung von zwischenstaatlichen Beziehungen in „Weltinnenpolitik“ nicht aufgehen. GRÜNDE: 1. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der als einzige Institution die Transformation internationaler Politik in „Weltinnenpolitik“ betreiben könnte, leidet an Glaubwürdigkeits- Durchsetzungsdefiziten. 2. Weil die USA die einzige Macht sind, die weltweit interventionsfähig ist, sodass jeder Entschluss zu einer militärischen Durchsetzung weltinnenpolitischer Entscheidungen von der Bereitschaft der USA abhängt. 3. Es geht Darum, nach effektiven Widerstandsmöglichkeiten zu suchen, mit denen man die Durchsetzung des US-Empire blockieren kann. Der Terrorismus, der lange Zeit eine Art „Anlasser“ für den revolutionären Motor des Volksaufstands oder des Partisanenkrieges war, hat einen Funktionswandel erfahren und ist an die Stelle des Partisanenkrieges als bevorzugte Form der Asymmetrierung aus Schwäche getreten. Die asymmetrische Grundierung der jüngsten Formen des Terrorismus lässt sich wie folgt beschreiben: Die terroristische Organisation löst sich von jeglicher Territorialität, weil daraus eine gefährliche Verletzlichkeit erwachsen würde. Die Alternative: geheime Netzwerkverbindungen 23 Minimalisierung der eigenen Logistik, damit die Angreifbarkeit durch die Gegenseite verringert und zur Kostenverringerung. Sie greifen so genannte weiche Ziele an, die sich in der Regel in ungeschützten und auch nicht zu schützenden Zusammenballungen von Zivilbevölkerung finden: von Flugzeugen über Vorortzüge bis zu Hochhäusern. Asymmetrische Kriege In asymmetrischen Konfliktlagen wird der Krieg auf niedrigem Niveau permanent. Die Permanenz des Krieges ist der eigentliche Kern dessen, was die Bush-Administration als War against Terrorism bezeichnet. Asymmetrische Kriege können nicht in der Form von Sieg und Niederlage entschieden werden. Es dürften Kriege sein, die sich über sehr lange Zeiträume hinziehen. Sie werden das 21. Jhdt prägen. 24 4. Von der Rückkehr des Krieges in das Recht Das Konzept des Präventivkrieges als Versuch der Re-Etablierung des bellum legale Franz Leidenmühler Prolegomena Im klassischen Völkerrecht bestand ein liberum ius ad bellum, also das unbeschränkte Recht zum Kriege, selbst zur bloßen Interressendurchsetzung. Am 24. Oktober 1945 in Kraft getretenen UN-Charta wurde jedwede zwischenstaatliche Gewalt verboten und der Krieg damit endgültig kriminalisiert. Mit dem Konzept des Präventivkrieges wird von den Vereinigten Staaten, aber seit kurzem auch durch die Russische Föderation, versucht, den Krieg wieder als rechtlich zulässiges Instrument zu etablieren – mit dem Unterschied zum Verständnis vom Krieg im klassischen Völkerrecht, findet der Präventivkrieg unter Diskriminierung des Feindes, unter seiner Erklärung zum Schurkenstaat statt. Bellum iustum und bellum legale a) Die Lehre der Scholastiker vom bellum iustum Die Schule der Scholastiker entwickelten bellum iustum-Lehre wird die Zulässigkeit eines Krieges von drei Voraussetzungen abhängig gemacht. 1. Zum einen erfordert ein gerechter Krieg, dass er von einer zuständigen Autorität (auctoritas principis) unternommen wird. 2. Zweitens muss ein gerechter Grund (iusta causa) vorhanden sein. Krieg darf also immer nur der Wiedergutmachung eines Unrechts dienen: „Fundamentum iusti belli est iniustitia“ 3. Zum Dritten ist schließlich ist die rechte Absicht (intentio recta) für die Zulässigkeit eines Krieges vonnöten. Als man nun versuchte das Konzept des bellum iustum in die im 17. Jhdt entstehende klassische europäische Völkerrechtsordnung einfließen zu lassen, traten seine Mängel, insbesondere die Unklarheiten der Definition dessen, was ein gerechter Grund sei, offen zutage. Über das Vorliegen der iusta causa entschied keine objektive Instanz sondern derjenige Souverän und so war der Krieg in der Regel, subjektiv betrachtet, auf beiden Seiten gerecht. b) Die klassische europäische Völkerrechtsordnung Am 24. Oktober 1648 schlossen Frankreich und Schweden auf der einen Seite und das Römische Reich sowie die deutschen Fürsten auf der anderen Seite mittels zweier Verträge den Westfälischen Frieden. Damit wurde das Ende des 30-jährigen Krieges besiegelt und das Fundament für ein neues internationales Staatensystem gelegt. Den rechtlichen Rahmen für das „Westfälische Staatensystem“ bildete das klassische europäische Völkerrecht mit den Grundsätzen der absoluten Souveränität der neu gebildeten Territorialstaaten und ihre Gleichheit unabhängig von Größe und Macht. 25 Diese klassische Völkerrechtsordnung entstand zunächst als Sonderordnung des europäischen Raumes, als das Völkerrecht des christlich-abendländischen Kulturkreises. Erst ab Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Universalisierungsprozess beschleunigt. Die Zahl der Staaten hat sich mittlerweile um 200 vermehrt. c) Das liberum ius ad bellum des klassischen europäischen Völkerrechts Die schon erwähnte Schwäche der bellum iustum-Lehre, das Problem der unparteiischen Entscheidung über das Vorliegen einer iusta causa, verunmöglichte ihre direkte Übernahme in die klassische Völkerrechtsordnung. Wer sollte diese Frage auch entscheiden, wenn die allseits anerkannte geistige Autorität fehlt? Der Ausdruck „gerecht“ wurde im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit des Krieges zwar beibehalten, doch stellte die Gerechtigkeit letzten Endes nicht mehr auf die causa ab, sondern lediglich darauf, dass die betreffende Krieg führende Partei die Souveränität besaß und gewisse Formvorschriften einhielt. Der Ausdruck bellum iustum besagte somit nur mehr, dass ein Krieg in den Formen des Rechts von jenen erklärt wird, die das Recht zur Kriegsführung besitzen. Auf das Vorliegen einer iusta causa wurde explizit verzichtet. Als iustus hostis, als gereichter Feind galt jeder somit jeder Souverän. Der von iusti hostes geführte Krieg wurde bellum solenne genannt, Krieg in Form. Das Modell von iustus hostis wird ohne Rücksicht auf iusta oder iniusta causa die Gleichheit der Krieg führenden Mächte hergestellt und so ein nicht-diskriminierender Kriegsbegriff gewonnen. Die Antwort darauf, wieso das klassisch europäische Völkerrecht Krieg ohne Rücksicht auf die iusta causa gestattet, gab Johann Jakob Moser am Ausgang des 18. Jhdts: 1. Weil meistens darüber gestritten wird, welches die wahre Ursache sei, wieso zu den Waffen gegriffen wird. 2. Weil der Gegenteil die angegebene Ursachen nie für gerecht und hinlänglich erkennt. 3. Weil kein Richter da ist, der es entscheiden kann. Der Krieg hatte im Westfälischen Staatensystem wichtige Funktionen zu erfüllen: 1. Rechtsdurchsetzung 2. Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Mächte 3. Herbeiführung eines „just change“, einer Änderung des Rechts in Absenz eines internationalen Legislativorgans Um Kriege jedoch auf das notwendige Minimum in Quantität und Qualität zu beschränken, wurden Grundsätze aufgestellt: Das Recht auf Kriegsführung war auf souveräne Staaten beschränkt Herausbildung von Regeln des Kriegsvölkerrechts (ius in bello) Die Krieg Führenden hatten das Staatsgebiet der nicht am Kriege Beteiligten, also der Neutralen, zu achten. d) Kriegsverbrechen nach altem Verständins Da der Krieg zwischen souveränen Staaten im klassischen europäischen Völkerrecht nicht verboten war, hatte auch der Begriff der Kriegsverbrechen nicht den Sinn, den Krieg selbst als Verbrechen zu kennzeichnen. 26 Daher wurde nach dem klassische europäischen Völkerrecht unter Kriegsverbrechen lediglich bestimmte, während des Krieges begangenen Handlungen verstanden, die gegen das so genannte Recht im Kriege, das ius in bello verstoßen. Dieses Kriegsvölkerrecht wurde anlässlich der Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 entwickelt. Das Gewaltverbot der UN-Charta a) Bestrebungen zur Einschränkung des Krieges vor 1919 Für die Völkerrechtstheorie und –praxis des beginnenden 20. Jhdt waren Frieden und Krieg gleichermaßen als eine Art Naturzustand. Krieg war ein Mittel zur Regelung der internationalen Beziehungen. Im Zuge der Haager Friedenskonferenzen wurde auch kein Verbot des Krieges normiert, sondern lediglich die Humanisierung durch Regeln des Kriegsvölkerrechts und durch Verregelung durch Verfahrensbestimmungen: Kriegserklärung: Feindseeligkeiten unter den Vertragsparteien dürfen nicht beginnen ohne eine vorausgehende unzweideutige Benachrichtigung. Die Eintreibung von Vertragsschulden darf nicht mit Waffengewalt geschehen, es sei denn, der Schuldnerstaat lässt sich nicht auf ein Schiedsverfahren ein oder fügt sich nicht der Schiedsentscheidung. Fortführung dieses Modells durch die Bryan Verträge: Streitigkeiten irgendwelcher Art sollten zunächst einer ständigen Kommission zur Prüfung unterbreitet werden. Freilich war der Krieg in all diesen Fällen nach dem Scheitern des Versuchs, den streit friedlich beizulegen, noch keineswegs verboten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich die Auffassung durch, dass der Friede der vom Völkerrecht erstrebte Normalzustand und der Krieg nur ein von dieser Rechtsordnung ausnahmsweise erlaubtes Gewaltmittel zur Wahrung dieser Rechte und Pflichten sei. b) Der Völkerbundpakt 1919 Einen ersten Fortschritt brachte die Satzung des Völkerbundes. Streitfragen waren friedlich zu regeln, scheiterte dies, so durfte erst nach Ablauf einer so genannten „cooling-off“-Frist von drei Monaten zum Kriege geschritten werden. Ein Krieg der sich gegen die Unversehrtheit des Gebiets (Eroberungskrieg) oder die politische Unabhängigkeit eines Völkerbundmitglieds richtete, durfte überhaupt nicht geführt werden. Damit hat auch der Völkerbundpakt 1919 noch nicht den Krieg als solchen für unzulässig erklärt, sondern nur bestimmte Kriege. c) Der Briand-Kellogg-Pakt 1928 Der französische Außenminister Briand und dem amerikanischen Staatssekretär Kellogg hervorging, enthielt die feierliche Verpflichtung der Vertragspartner, auf den Angriffskrieg als Werkzeug der nationalen Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen zu verzichten. Der Briand-Kellogg-Pakt wurde von den meisten der damals existierenden Staaten der Welt ratifiziert, jedoch war für den Fall seiner Verletzung keine Sanktion vorgesehen. d) Die UN-Charta 1945 aa) Das Gewaltverbot Die UN-Charta 1945 als System kollektiver Sicherheit macht es den Mitgliedsstaaten der Weltorganisation zur Pflicht, sich in ihren internationalen Beziehungen jeder 27 Gewaltanwendung, ja sogar der Drohung mit Gewalt zu enthalten. Verboten ist damit erstmals jede zwischenstaatliche Gewaltanwendung, nicht nur der Krieg. bb) Die Ausnahmen vom Gewaltverbot Die UN-Charta lässt die Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt nur mehr zu, wenn es sich dabei um die Mitwirkung an einer durch den UN-Sicherheitsrat als zuständigem Organ mandatierten „Polizeiaktion“ der Staatengemeinschaft zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens handelt. Ausnahme: dem Fall der Selbstverteidigung in Notwehrsituationen. Also nur im Falle eines gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Angriffs und nur bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Der Präventivschlag, der einem lediglich für die unbestimmte Zukunft denkmöglichen Angriff entgegenwirkt, lässt sich selbst unter extensiver Auslegung der Bestimmung der Selbstverteidigung mit ihr nicht in Deckung bringen. cc) Zwischenergebnis Zwischenstaatliche Gewaltanwendung ist nach geltendem Völkerrecht nur mehr in Ausübung des – eng begrenzten – Rechts auf Selbstverteidigung oder als „Polizeiaktion“ der Staatengemeinschaft in Vollziehung einer Anordnung bzw. Ermächtigung des UNSicherheitsrates zulässig. dd) Die Rückkehr des bellum iustum? Die Lehre vom bellum iustum fand in der islamischen und vor allem in der marxistischleninistischen Völkerrechtslehre weiterhin ihren Platz. Kriege sozialistischer Staaten wurden im Allgemeinen als „gerechte“ Kriege wieder in das Völkerrecht einzuführen versucht. Und mit dem islamischen Dschihad hat das Konzept vom bellum iustum sogar Eingang in die Verfassung mancher arabischer Staaten, z.B. Syriens, gefunden. Das Konzept des bellum iustum wurde aber auch bei der Beurteilung der NATO-Operation „Allied Force“ gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien bemüht. Die Luftangriffe wurden zwar als „humanitäre Intervention“ dargestellt, die zwar rechtwidrig nach dem Buchstaben des Gesetzes aber moralisch zu rechtfertigen seien. „Preemptive strikes“ und „regime change“ – Re-Etablierung des bellum legale? a) Der Paradigmenwechsel: Zurück zum bellum legale Das Prinzip der Illegalität eines Krieges, der nicht der Abwehr eines gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Angriffs dient, ist seit 1945 Grundpfeiler der modernen Völkerrechtsordnung. Seit Beginn des 21. Jhdts versuchen die Vereinigten Staaten durch „regime change“ und „preemptive strikes“ den Krieg wieder als legales, offen erklärtes und geführtes Instrument zu etablieren (Afghanistan 2001, Irak 2003) b) Der Hintergrund: „Krieg gegen den Terror“ Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 wurde ein „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgerufen, mit dem ein sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel einherging. Viele Elemente der Strategie, die auch als „Bush-Doktrin“ bekannt werden sollte, wurdeschon im vorpolitischen Prozess und weitgehend unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle von konservativen Denkfabriken vorbereitet und entscheidungsreif gemacht, lange vor dem Amtsantritt G. W. Bushs. 28 Der 11. September 2001 sollte sich als Wendepunkt herausstellen, an dem alle vormalige Skepsis in der öffentlichen Meinung und in den oppositionellen Eliten in sich zusammenbrach. c) Die Formulierung: The National Security Strategy of the USA 2002 Bedrohungsanalyse: Durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Raketentechologien können selbst schwache Staaten und terroristische Gruppen in den Besitz der Mittel für Schläge gegen große Staaten gelangen. Es könnte erforderlich werden, dass die Vereinigten Staaten einer Bedrohung ihres Landes durch einen militärischen Präventivschlag zuvorkommen. Ein solcher Präventivschlag kann sich nicht nur gegen Terroristen, sondern auch gegen nach Massenvernichtungswaffen strebenden oder solche mutmaßlich besitzenden „Schurkenstaaten“ richten. Die Vereinigten Staaten nehmen damit explizit in Anspruch, künftig militärische Gewalt entgegen den klaren Bestimmungen der UN-Charta auch ohne bewaffneten Angriff gegen das eigene Territorium einzusetzen. Es wird auch den mutmaßlichen Unterstützungsstaaten der Krieg erklärt. Dabei wird auch das Vorhaben des gewaltsamen „regime change“ offen ausgesprochen. d) Die Gegner: Schurkenstaaten Das Präventivkriegskonzept ist eng mit den so genannten „Rogue states“ verknüpft. Das Recht auf Führung eines Präventivkriegs soll nur den Vereinigten Staaten und allenfalls ihren Alliierten gegen diese „Schurkenstaaten“ zustehen, nicht hingegen diesen gegenüber der „zivilisierten Welt“, sodass der Kriegsbegriff ein diskriminierender ist. Schurkenstaaten sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Unterdrückung der Bevölkerung und Vergeudung der nationalen Ressourcen für den persönlichen Gewinn der Führer. Keine Respektierung internationalen Rechts Entschlossenheit, Massenvernichtungswaffen zu erwerben, um sie als Bedrohung oder offensiv im Dienste aggressiver Absichten einzusetzen. Unterstützung des Terrorismus weltweit Ablehnung grundlegender humanitärer Werte und Hass gegen die Vereinigten Staaten und das, was sie repräsentieren. Idealtypische „Schurkenstaaten“ wurden zur „Achse des Bösen“ (Iran, Irak und Nordkorea) gemacht. e) Der Anwendungsfall: Irak 2003 Der erste Anwendungsfall der Präventivdoktrin war/ ist der Irakkrieg. Das derzeit geltende Völkerrecht lässt zwischenstaatliche Gewaltanwendung nur in zwei Fällen zu: Als Verteidigungskrieg gegen einen bewaffneten Angriff oder als UN-Sicherheitsrat autorisierte Polizeiaktion der Staatengemeinschaft gegen einen Friedensbrecher. Keine dieser beiden Grundlagen war für den Irak-Krieg gegeben. Die einschlägigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates haben keine Mandatierung zur Anwendung von Zwangsgewalt gegen den Irak enthalten. Die Vereinigten Staaten haben auch nicht behauptet, dass der Irak eine unmittelbare Bedrohung wäre. Die Mehrheitsmeinung in der einschlägigen Literatur ist, dass der Irakkrieg ein mit rechtlichen Argumenten entschieden abgelehnter Angriffskrieg war, der als völkerrechtliches Verbrechen eingestuft werden muss. 29 Würdigung In der National Security Strategy wird versucht, durch die Bezugnahme auf das Selbstverteidigungsrecht als Präventivkriegskonzept in die geltende Völkerrechtsordnung einzupassen. Wie jedoch oben schon erwähnt, findet die präventive Selbstverteidigung gegen ungewisse Bedrohungen im Rahmen der UN-Charta keine Grundlage. Als Rechtfertigung für einen Militärschlag soll nicht nur der Verdacht genügen. Vielmehr beanspruchen die Vereinigten Staaten das Recht für sich, jeden Staat anzugreifen, der in einigen Jahren eine Bedrohung sein könnte – eine Entscheidung, die in ihrer alleinigen Verfügungsmacht liegt. Krieg wird, völlig losgelöst vom Selbstverteidigungskonnex, wieder zu einem Mittel der nationalen Politik, zumindest der Vereinigten Staaten. Die Doktrin vom Präventivkrieg, so die Regierung Bush, kann anderen Staaten keinen Präzedenzfall bieten, da die Vorschriften, die für andere gelten, für die Vereinigten Staaten nicht bindend sind. Das Recht auf Präventivkriegsführung nehmen die Vereinigten Staaten exklusiv für sich in Anspruch. Dennoch haben in der Zwischenzeit auch andere Staaten die Führung von Präventivkriegen nicht mehr ausgeschlossen (Australien, Russische Föderation) Der Versuch der Legitimierung von Präventivkriegen rüttelt an den Grundfesten der internationalen Ordnung. So kann tatsächlich der Krieg gegen den Irak durchaus als Krieg gegen das Völkerrecht, wie wir es zur Zeit kennen, verstanden werden. Die Reaktion der Staatengemeinschaft auf den Völkerrechts(um)bruch gestaltet sich indes sehr zurückhaltend. Grund: Kein „zivilisierter“ Staat hat zu befürchten, Opfer eines Präventivschlages zu werden. 30 5. Zur Zukunft des Krieges Zwischen Schattenglobalisierung und US-Militärstrategie Peter Lock Globalisierung: Dialektik der herrschenden Ideologie Die Globalisierung hat ein Janusgesicht: die reguläre Weltwirtschaft auf der einen Seite und die notwendig verdeckte Schattenglobalisierung auf der anderen. Die Globalisierungsdynamik ist wahrscheinlich irreversibel und wird sich unausweichlich weiter vertiefen. Es sind die politischen Machtverhältnisse vor Ort, die die konkrete Gestaltung der jeweiligen dualen Integration in die globale Zirkulation von Waren und Dienstleistungen und deren verteilungspolitische Auswirkung bestimmen. Die Parolen des neoliberalen Konsens lauten: Dabei sein, sich fit machen für die Globalisierung, wer zu spät kommt, den bestraft die Globalisierung. Einzig Marktöffnung kann zur Armutsreduzierung beitragen! Dieser Befund beruht vor allem auf dem statistischen Gewicht Chinas. Der politische Preis für diese vorgebliche Bestätigung der gegenwärtigen dominanten neoliberalen Wirtschaftspolitik ist bekanntlich hoch. Die so gedachte Arena der Globalisierung umfasst lediglich reguläre ökonomische Transaktionen aller Art, an denen wahrscheinlich weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung teilhat. Nur wenig mehr als 40% aller Beschäftigten sind in der regulären Wirtschaft tätig. Sie alleine jedoch sorgen für die Reproduktion von Staatlichkeit, denn es gilt: ohne Steuern kein Staat. Die offensichtlich steigende Zahl schwacher oder bereits gescheiterter Staaten ist ein Indiz für die begrenzte Reichweite dieser Globalisierung, in der die OECD-Welt dominiert. Der siamesische Zwilling: Schattenglobalisierung Eine genauere Betrachtung der (Über-)Lebensweisen der Menschen in den Katakomben der Wohlstandsarena lenkt den Blick auf ein breites Band symbiotischer Tauschbeziehungen zwischen den „regulären Lebenssphären“ und der ausgeschlossenen Mehrheit in deren Schatten. Armut überwinden heißt daher nicht Anschluss an die Globalisierungsdynamik gewinnen, sondern es geht um eine andere Gestaltung der Globalisierung. Denn diese Lebenswelten sind auf oft verschlungene Weise bereits in globale wirtschaftliche Netzwerke eingebunden, die allerdings im Schatten der regulären Globalisierung liegen. Die schattenökonomischen Lebenswelten werden regelmäßig von staatlicher Seite zumeist arbiträr (willkürlich) kriminalisiert. Allerdings erlahmt die Verfolgung immer dann, wenn wirtschaftliche Nachteile für die Privilegierten zu gewärtigen sind. Die unterschiedliche Strafverfolgungsintensität gegenüber der Drogenszene, illegalem Dienstleistungspersonal und sonstigen Arbeitskräften, vor allem in den USA, machen dies deutlich. 31 Schattenglobalisierung als rechtsfreier Raum im Krieg gegen den Terror Im Gefolge des 11. September 2001 sind die schattenökonomischen Lebenswelten plötzlich in das Blickfeld amerikanischer Kriegsführung gegen den Terror geraten. Sie werden als Operationsraum des Terrorismus wahrgenommen. Die amerikanische Strategie ist darauf ausgerichtet, dem vorgestellten Gegner diesen Operationsraum zu verwehren. Eine Unterstützung zur Ausbildung von leistungsfähiger Staatlichkeit ist nicht Teil dieses amerikanischen interventionistischen Engagements. Der amerikanische Krieg gegen den Terror hat Rechtsgrundsätze wie „in dubio pro reo“ in ihr Gegenteil verkehrt, er lautet nun „in dubio contra reum“. So sind ohne jeden haltbaren Beweis leistungsfähigen informellen Finanzdienstleistern wegen des Verdachts der Unterstützung von Terroristen die Geschäfte geschlossen worden. Überleben sichernde transnationale Solidaritätsnetzwerke haben mit dieser Schließung ihre operative Infrastruktur verloren, was zum Beispiel in Somalia zu gravierenden Einschnitten bei den Lebensbedingungen führte. Der Krieg gegen den Terror Der Krieg gegen den Terror und die Einbettung des Irak-Krieges in dieses Paradigma überlagern eindeutige Tendenzen der Transformation kriegerischer Gewalt. Bislang ist keines der Vorgetragenen Kriegsziele erreicht worden. Daher wird man sorgfältig untersuchen müssen, wie es dazu kommen konnte, dass die USA die Welt in einen Krieg gezogen haben, bei dem es überwiegend Verlierer gibt. Aufgrund der engen weltwirtschaftlichen Verflechtung ist bereits absehbar, dass die USA einen Teil der Kosten spätestens dann auf die übrige Welt abwälzen werden, wenn das horrende Handelsbilanzdefizit durch eine weitere Abwertung des Dollars korrigiert wird. Dies wird zu Lasten vor allem Chinas und Japans gehen. Seit Jahren gleichen sie das amerikanische Handelsbilanzdefizit durch massiven Kauf von amerikanischen Staatsanleihen aus, um den Zugang zu den amerikanischen Märkten zu erhalten. Vor die Aufgabe gestellt, sich einen Reim auf die Ereignisse im Irak zu machen, würde ein Besucher vom Mars wahrscheinlich einen genialen strategischen Hinterhalt vermuten, den die USA mit Ausdauer und Geduld im Irak aufbauen, der alle Terroristen dieser Welt anziehen soll, um sie, schließlich in diese Falle gelockt, mit einem Schlag erledigen zu könne. Es dürfte die einzige mögliche, rationales handeln unterstellende Hypothese für eine Erklärung der chaotischen Politik der amerikanischen Regierung sein. Drei Strömungen haben sich zum präemptiven Krieg gegen den Irak vereinigt: 1. Die Fraktion traditioneller Sicherheitspolitiker, die für die Bewahrung des weitgehenden Monopols auf Massenvernichtungswaffen steht. 2. Die Nationalisten in der Tradition Jacksons , die amerikanische Interessen mit militärischen Mitteln durchsetzen. 3. Die, die in der Tradition Wilsons stehende, missionarisch eine Demokratisierung des Mittleren Ostens nach amerikanischen Vorstellungen verfolgen. Die Repräsentanten dieser Strömungen sind längst dazu übergegangen, den jeweils anderen Gruppierungen vorzuwerfen, eine falsche Politik verfolgt zu haben und so die offensichtlichen Schwierigkeiten nach dem militärischen Blitzkrieg gegen den Irak heraufbeschworen zu haben. 32 Die amerikanischen Dinosaurier im Krieg gegen den Terrorismus Gänzlich widersprüchlich und geradezu orientierungslos ist die militärische Dimension des amerikanischen Krieges gegen den Terrorismus. Machtkartelle von Industrie und Teilstreitkräften in Zusammenarbeit mit regionaler Industriepolitik sichern bislang die Fortführung von letztendlich nicht finanzierbaren Beschaffungsprogrammen, die der längst obsolet (veraltet) gewordenen Abschreckungsdoktrin des Kalten Krieges geschuldet sind. Die High-Tech-Modernisierungsvisionen der Teilstreitkräfte sind weder miteinander kompatibel, noch sind sie angemessene Antworten auf sicherheitspolitische Herausforderungen. Der amerikanische Strategiediskurs ist weit von den tatsächlichen Gefährdungen des 21. Jhdts entfernt. Das militärische Beschaffungswesen in den USA weißt nach wie vor Merkmale auf, die eher an die ökonomischen Strukturen der Sowjetunion als an marktwirtschaftliche Regulierung erinnern. Die Rüstungsindustrie im Gesamtkontext der amerikanischen Volkswirtschaft ist nicht bedeutend. In bestimmten Regionen jedoch wie auch im Kongress hat sie großes politisches Gewicht. Der Rüstungshaushalt ist eine letzte Nische, in der die Regierung interventionistisch Wirtschaftspolitik gestalten und Arbeitsplätze vor Ort schaffen bzw. erhalten kann, da militärische Güter nicht dem Regelwerk der WTO unterliegen. Es kommt hinzu, dass der Rüstungssektor die Möglichkeit eröffnet, international vereinbarte Subventionsobergrenzen, z.B. beim zivilen Flugzeugbau, zu unterlaufen, indem amerikanische Unternehmen voluminöse Forschungsaufträge aus dem Rüstungsetat erhalten. Der Rüstungskomplex ist isoliert von Marktmechanismen. Die eindeutigen Befunde unbedrängter militärischer Überlegenheit haben unter der Regierung Bush nicht zu einer wirklichen Rationalisierung und Anpassung an veränderte Anforderungen der vorgehaltenen militärischen Kapazität geführt. Vielmehr wurden speziell nach dem 11. September visionäre, Wissenschaftler sagen illusionäre, milliardenteure Konzepte aus den 80er-Jahren reaktiviert. Sie stellen längst suboptimale technologische Lösungen für militärische Aufgaben dar. Einem Verbund aus den weitgehend eigenständigen vier Teilstreitkräften (Army, Air Force, Navy, Marines) und der etablierten Rüstungsindustrie ist es gelungen, den Absatz von weitgehend noch im Kalten Krieg konzipierten Nachfolgegenerationen der wichtigsten Waffenplattformen trotz der völlig veränderten Sicherheitslage der Vereinigten Staaten für die nähere Zukunft abzusichern. Neu hinzugekommen ist eine Homeland Security mit 170 000 Mitarbeitern. Sie manipuliert das innenpolitische Klima, indem sie terroristische Bedrohungsszenarien konstruiert, in deren Natur es liegt, unwiderlegbar zu sein. In dem so erzeugten politischen Klima virtueller Bedrohung ist es möglich, sich auch lange nach dem Ende des Kalten Krieges weiterhin einer aufgabengerechten Rationalisierung der eingesetzten Mittel zu entziehen. 33 Transformation der Doktrin nationaler Sicherheit RMA Die „Revolution in Military Affairs“, kurz RMA, bildete eine neue Handhabe für die fortgesetzte Hochrüstung der USA und die Aufrechterhaltung der politisch mangelhaft kontrollierten, oft geheimen militärischen Forschungsinfrastruktur auch nach dem Kalten Kriege. Dies betrifft den Zeitraum, bevor der 11. September der amerikanischen Regierung neue Beweggründe für die Schaffung eines absoluten nationalen Sicherheitsstaates präsentierte. Die RMA steht für eine Zukunft amerikanischer Kriegsführung, die eine beliebige Skalierung der Gewaltmittel unter Ausschluss eigenen Risikos verspricht. „network centric warfare“ Dieses neue Schlagwort suggeriert die Möglichkeit jederzeitiger zentraler politischer Feinsteuerung zunehmend automatisierter militärischer Gewalt. Beides zusammen wurde in den Vereinigten Staaten als Signal des Pentagon verstanden, dass alle erdenklichen militärischen Herausforderungen erfolgreich gemeistert werden können, wenn nur die notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt würden. Bei den politischen Entscheidungsträgern und vor allem im rechtskonservativen Umfeld von Präsident Bush herrscht die Vorstellung, dass mit dieser technischen Revolution der Politik ein stufenloses, beliebig eskalierbares Getriebe zur Steuerung militärischer Gewalt mit einer granierten Erfolgsperspektive zur Verfügung stehe. Um das Potenzial der RMA voll zur Entfaltung zu bringen, ist es attraktiv, auch frühzeitig niedrigschwellige interventionistische Gewalt ins Kalkül zu ziehen, was zwangsläufig zu permanenten Interventionen führt und gleichbedeutend mit der Aufhebung rechtlich markierten Schwellen zum Krieg ist. Das Panoptikum ferngesteuerter, niedrigschwelliger Gewaltmittel erscheint nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil es suggeriert, politische Ziele könnten mit diesen Mitteln erreicht werden, ohne die bei traditioneller Kriegsführung wahrscheinlichen eigenen Verluste gewärtigen müssen. Die RMA stell die Möglichkeit von Kriegsvermeidungsstrategien durch präventive, auch unsichtbare chirurgische Eingriffe auf dem Territorium andere Staaten in Aussicht. Der „Krieg gegen den Terror“ transformiert die amerikanische Sicherheitspolitik von der Kriegsführung zu weltweiter Kriminalitätsbekämpfung, wobei die Exekutive eine nahezu willkürliche Definitionsmacht darüber hat, was denn als kriminell zu betrachten sei. Das bestehende humanitäre Völkerrecht läuft bei dieser Entwicklung völlig ins Leere. Die doppelte Privatisierung Scheinbar im Widerspruch zu den hohen und steigenden Aufwendungen für umfassende militärische Sicherheitspolitik steht die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten bereits über einen langen Zeitraum zur Durchsetzung ihrer Ziele vorzugsweise die Unterstützung von lokalen bewaffneten Gruppen in Anspruch nehmen. Die Faszination der militärischen Hochtechnologien lenkt davon ab, dass solche Gruppen, oft verdeckt im amerikanischen Sold stehend, die formulierten amerikanischen politischen Interessen gewalttätig verfolgen, während das milliardenteure Militär, Verluste fürchtend, im Hintergrund bleibt. 34 Die Analyse militärischer Gewalt als Instrument der amerikanischen Außenpolitik darf sich nicht allein auf die Streitkräfte beschränken, sondern muss den Blick auf verdeckte und weniger verdeckte Unterstützung von Gewaltakteuren zur Durchsetzung als strategisch begriffener Interessen richten. Der erklärte Kriegszustand gegen den internationalen Terrorismus erleichtert die Expansion verdeckten Regierungshandelns durch Special Operations Forces (SOF). Sie bilden das operative Bindeglied zu bewaffneten Handlangern amerikanischer Interessen. Das (national-)staatliche Gewaltmonopol vor allem in Ländern der Dritten Welt wird jedoch nicht nur durch konspirative SOF-Operationen unterlaufen. In zunehmendem Maß engagieren auch große multinationale Konzerne private Militärfirmen oder leisten verdeckt Zahlungen an lokale Streitkräfte, um ihre Produktions- bzw. Extraktionsanlagen zu schützen. Wenn große internationale Konzerne Sicherheit selbst organisieren, so entstehen politisch nicht legitimierte Sicherheitsexklaven. Es ist eine Reaktion auf staatliches Versagen, Sicherheit zu gewährleisten, die ihrerseits die Auflösung von Staatlichkeit befördert. Die Leistungsfähigkeit von Staatlichkeit als notwendiger Rahmen demokratischer Rechtsstaatlichkeit wird durch das jeweilige Mischungsverhältnis regulärer, informeller und krimineller Sphären der Ökonomie bestimmt. Das öffentliche Gut Sicherheit wird zur Ware bzw. zu privatwirtschaftlicher Dienstleistung, die sich viele nicht leisten können. Daher bedeutet Armut immer auch verstärkte Unsicherheit. Die private Sicherheitsindustrie hat sich zu einer Boombranche entwickelt. Die in dieser Branche erbrachten wirtschaftlichen Leistungen tragen nicht zur primären Wohlfahrt der Gesellschaft bei. Sie sind ungleich, d.h. einkommensabhängig verteilt und markerein die Abwesenheit von gesellschaftlicher Kohäsion (Zusammenhaften). Es handelt sich um hohe wohlfahrtsmindernde gesellschaftliche Transaktionskosten. Dies gilt auch für die staatlichen Aufwendungen für Sicherheit, wenn die Leistungen ausschließlich zu Gunsten sozialer Eliten erbracht werden. Globaler sozialer Wandel und gewaltsame Konflikte Die menschliche Lebenswelt ist irreversibel von Urbanisierung und Marktorientierung sowie Industrialisierung der Landwirtschaft geprägt. Nur in Ausnahmefällen hat die relative reproduktive Autonomie von bäuerlichen Lebenswelten noch Bestand. Damit ist tendenziell der größte Teil der Weltgesellschaft durch infrastrukturelle Störungen, die kaum vermeidbar durch kriegerische Handlungen ausgelöst werden, und die damit verbundenen Unterbrechungen des Warenflusses unmittelbar und in kurzer Frist in seiner Überlebensfähigkeit bedroht. Dies gilt besonders für die Megastädte. Dieser globale soziale Wandel reduziert die „Überlebenselastizität“ von Gesellschaften erheblich. Die strukturelle Minderung gesellschaftlicher „Überlebenselastizität“ als Folge gesellschaftlicher Modernisierung kann man auch als Tendenz zu struktureller Unmöglichkeit traditioneller territorialer Kriegsführung interpretieren. Denn territorial geführte Kriege müssen unter den Bedingungen von Modernität tendenziell unmittelbar in totale humanitäre Katastrophen umschlagen. 35 Irak Krieg lenkt von dieser strukturellen Entwicklungstendenz ab. (siehe S. 102 unten) Die ländlichen Räume haben ihre Absorptionsfähigkeit zur Sicherung von Überleben verloren, weil die heutigen Produktionsweisen als Folge der Modernisierung auf ständigen Zufluss von Inputs angewiesen sind. Noch im Zweiten Weltkrieg wurden große Teile städtischer Bevölkerung in Deutschland und Österreich „aufs Land verschickt“ und dort weitgehend lokal versorgt wurden. Nach mehr als 50 Jahren Modernisierung der Landwirtschaft verbietet es sich, an eine solche Option auch nur zu denken. Der ländliche Lebensraum ist inzwischen ebenso verletzlich gegenüber Störungen der Infrastruktur und Warenzirkulation geworden. Diese eindeutige Tendenz in Richtung struktureller Unfähigkeit zur territorialen Kriegsführung führt zu einer Transformation gewaltförmiger gesellschaftlicher Konfliktaustragung, die sich wahrscheinlich in Entterritorialisierung und Diffusion der Formen bewaffneter Gewalt niederschlagen wird. Anzeichen hierfür sind der Einsatz von „Special Operations Forces“ und die hohe Zahl der Opfer bewaffneter Gewalt in zahlreichen Megastädten der Welt. Die Verminderung der registrierten Kriege bedeutet daher nicht notwendig eine Abnahme der Waffengewalt. Es handelt sich vielmehr um eine Transformation, in der „regulative Gewalt“ eine dominante Rolle spielt. Aus dieser Entwicklung ergeben sich vielfältige Arbeitsfelder für private Anbieter legaler oder illegaler polizeilicher und militärsicher Dienstleistungen oder jenseits des staatlichen Gewaltmonopols neue Formen privatisierter Gewalt. Ökonomische Voraussetzungen kriegerischer Gewalt Wirtschaftliche Strategien zur Sicherung der für bewaffnete Kampfhandlungen notwendigen Ressourcen, müssen sich in dem oben skizzierten, sich dynamisch verändernden globalen Umfeld als leistungsfähig erweisen. Eine Kriegspartei kann nur dann erfolgreich sein, wenn ihre militärischen Handlungen mit den wirtschaftlichen Reproduktionserfordernissen der Akteure vereinbar sind. Ein General muss ein erfolgreicher Unternehmer sein. Denn Kriegsökonomien sind komplexe Konstrukte, die den Akteuren abverlangen, sowohl souverän illegale Geschäfte in der Sphäre der Schattenglobalisierung abzuwickeln als auch auf regulären Märkten zu agieren. Allein die Logistik militärischer Operationen ist auf internationale Warenströme angewiesen. Verlässlichkeit und Vertragssicherheit sind dabei unerlässlich. Dies erfordert soziale Kontrolle aller am Warenhandel beteiligten. Die Instrumentalisierung von Identitätsideologien, die sich typischerweise im Verlauf von Konflikten radikalisieren, ist ein wirkungsvolle und zugleich wirtschaftliches Mittel sozialer Kontrolle. Auch wenn diese typologische Skizze eher als Profil eines Warlord beschreibt, so ist der Handlungsrahmen der politischen Führung in geschwächten oder weitgehend gescheiterten und meist extrem armen Staaten sehr ähnlich. Informalisierung und Kriminalisierung der Wirtschaft haben dort der Staatlichkeit längst die reproduktiven Grundlagen entzogen. Daher muss die Führung der staatlichen Partei in bewaffneten Konflikten auf die gleichen Methoden zurückgreifen, wie Warlords. 36 In dem heutigen weltwirtschaftlichen Umfeld, dessen uneingestanden vielleicht dynamischsten Teil die Schattenglobalisierung ausmacht, ist es auch für nichtstaatliche Akteure in bewaffneten Konflikten möglich, Devisen zu erwirtschaften, um auf den internationalen Schwarzmärkten die Versorgung mit dem benötigten Kriegsgerät sicherzustellen, und andererseits auch die individuelle Bereicherung der Führungsclique auf Auslandskonten zu ermöglichen. Embargoversuche der Vereinten Nationen oder die Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenkonsums können lediglich die Risiken illegaler Warenströme, damit aber auch Preis und Gewinnmargen erhöhen. Die Möglichkeit, einen bewaffneten Konflikt auszutragen, hängt vom Zugang zu marktfähigen Ressourcen und der Möglichkeit der Aneignung finanzieller Ressourcen auf legalem Wege oder mit kriminellen Mitteln ab. Dies gilt sowohl für staatliche als auch für nicht-staatliche Konfliktparteien. General oder Unternehmer Wenn man der hier vorgetragenen Argumentation folgt, dann gibt es kaum noch Rahmenbedingungen für modernen zwischenstaatlichen Krieg, der nicht genozidäre Folgen für die betroffene Zivilbevölkerung hätte. Daher wird sich kriegerisches Geschehen auf innerstaatliche Auseinandersetzungen konzentrieren. Außerdem müssen sich diese Konflikte zumeist auf beiden Seiten mehr oder weniger schattenökonomisch alimentieren (unterhalten, ernähren). Die Funktionslogik aller schattenwirtschaftlichen Transaktionen erfordert sparsamsten Einsatz offener Gewalt, weil sich daraus immer eine die reibungslose Zirkulation störende Intervention von Staatsorganen ergeben kann. Eine Hypothese Eine Diffusion (Ausbreitung) offen kriegersicher Gewalt in regulative Gewalt zu erwarten, die von Netzwerkunternehmen in der Schattenglobalisierung, auch im Verlaufe von innergesellschaftlichen bewaffneten Konflikten, ausgeht. Diese Gewalt ist von der Konkurrenz in einem globalen rechtsfreien Raum geprägt. Die Aufladung von Netzwerken mit Identitätsideologien senkt die Kosten der Gewalt und erscheint nicht wenigen Unternehmer-Agitatoren attraktiv, aber solche Gewalt ist ungleich schwerer zu kontrollieren und gefährdet die Effizienz des „Unternehmens“ dadurch, dass als Reaktion mit hoher Wahrscheinlichkeit staatliche und internationale Organisationen auf den Plan treten. Man könnte fast von einer Tendenz zur Sozialisation gegenwärtiger Kriegsereignisse durch den viel größeren Komplex der Schattenglobalisierung sprechen. Uns erwartet Friedenskonsolidierung durch Kriminalisierung der Gesellschaft. Mit solchen Befunden muss sich die Politikwissenschaft auseinander setzen, wenn sie nicht darauf sitzen bleiben will, die Abnahme von Kriegshäufigkeit freudig zu registrieren und nicht nach den Ursachen der starken Zunahme von Tötungen und Verletzungen mit Schusswaffen u.a. in allen Megastädten der Welt gefragt zu haben. 37 6. Frauen – die paradigmatischen Opfer in Kriegssituationen? Konstruktionen von Geschlecht, Viktimisierung und Krieg Maria Katharina Moser „Alle Männer sind in der Miliz, alle Frauen sind Opfer“ In der Tat, die Zahl von Frauen, die unter dem Krieg und seinen Folgen zu leiden haben, überwiegt die Zahl jener Frauen, die aktiv an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt sind. Die Assoziation von Frauen und Krieg mit Opfer-Sein ist also nicht unbedingt falsch. Aber sie greift zu kurz. Das Verhältnis von Krieg und Geschlecht ist viel komplexer. Der römische Grundsatz „si vis pacem, para bellum“ wird nach wie vor als Handlungsmaxime vertreten. Krieg als generell akzeptierter sozialer Tatbestand und als akzeptiertes Mittel zur Herstellung und Erhaltung von Frieden baut auf Einverständnis und Mitarbeit von Männern und Frauen. Um einen Krieg führen zu können, ist es – zumal in demokratischen Gesellschaften – notwendig, die eigene Bevölkerung, Frauen wie Männer, von der Notwendigkeit und der Legitimität dieses Krieges zu überzeugen. Krieg und die soziale Konstruktion von Geschlecht(errollen) Doing gender – Geschlecht als soziales Konstrukt gender: bedeutet dass das Geschlecht nicht naturgegeben und biologisch determiniert ist, sondern kulturell geprägt und durch gesellschaftliche Prozesse geformt. Um Geschlecht als soziale Kategorie zu verstehen, ist es hilfreich, dem Vorschlag der feministischen Wissenschaftstheoretikerin Sandra Harding zu folgen und Geschlecht als dreiteiliges Konzept zu begreife: 1. als individuelles Geschlecht auf der physiologischen und psychologischen Ebene 2. als soziales Geschlecht auf der Ebene der politischen und ökonomischen Organisation von Gesellschaft 3. als symbolisches Geschlecht in der Dimension kultureller Konstruktionen Wenn wir nun die individuelle Geschlechtsidentität, das soziale Geschlecht und den Symbolismus des sozialen Geschlechts zueinander in ein Verhältnis bringen wollen, müssen wir die Reihenfolge umdrehen und nicht beim Individuum zu denken beginne. Die symbolische Ordnung Es ist die symbolische Ordnung die das Fundament bildet, auf dem wir sowohl unsere Gesellschaft und ihre Geschlechterordnung aufbauen. Auf der Ebene der symbolischen Ordnung wird die Bedeutung von Geschlecht über dualistische Geschlechtsmetaphern hergestellt: Mann Kultur Geist Vernunft Produktion Arbeit Öffentlichkeit Subjekt Frau Natur Körper Gefühl Reproduktion Haushalt Privatheit Objekt 38 In der Organisation gesellschaftlichen Handelns wird auf diese Dualismen Bezug genommen. So kommt es zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Das Zusammenspiel der symbolischen, der strukturellen und der individuellen Ebene lässt sich gut anhand des Beispielsatzes „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ illustrieren. (S. 111) Der kriegerische Mann und die friedfertige Frau „In der androzentrischen symbolischen Ordnung interpretieren sich Krieg und Männlichkeit gegenseitig, erscheint der Krieg als männliches Phänomen und Mann als kriegerisch. Dem stehen die friedfertige Frau und der weibliche Friede gegenüber. Diese symbolische Ordnung drückt sich auch aus im Satz „Alle Männer sind in der Miliz, alle Frauen Opfer“. Männlichkeit und Krieg sind einander symbolisch zugeordnet, wobei die Miliz jener Ort ist, an dem sich diese Zuordnung realisiert. Die Frauen als der friedfertige Teil der Menschheit hingegen zeichnen sich aus durch Kriegs- und Gewaltferne und sind ergo nicht in der Miliz zu finden, sondern passive Betroffene kriegerischer Handlung – Opfer eben. Auch wenn die empirische und theoretische Unhaltbarkeit derartiger Argumentationen inzwischen mehrfach nachgewiesen wurde, hält sich die Männer/Krieg – Frau/Frieden – Dichotomie hartnäckig. Gründe 1. weil dem biologischen Determinismus in der Gesellschaftsorganisation noch immer Glauben geschenkt wird. 2. weil die Zuordnung Männer-Krieg-Gewalthandeln/Frauen-Frieden-Opfersein so fest in der symbolischen Ordnung verankert ist 3. Sie wird immer wieder bestätigt und neu hergestellt durch geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Männer in den Krieg schickt und Frauen an der Heimatfront belässt. Die Zuordnung Mann-Krieg-Gewalthandeln/Frau-Frieden-Opfersein hat für das Gesamtsystem und seine gesellschaftliche Legitimation eine funktionale Bedeutung: Das Bild von der Frau, die zu Hause wartet, motiviert einerseits zum Kampf – Mann muss den Feind schlagen, damit er nicht ins eigene Haus eindringt und der eigenen Frau etwas antut. Zum anderen garantiert das „Bild von der Heimat mit der wartenden Frau“, dass die Welt wieder in ihre alte natürliche Ordnung gesetzt würde, wenn der Mann nach Hause kommt“, und verspricht so ein Stück Sicherheit. Der Krieg als gesellschaftliche Institution kann also nur funktionieren, wenn Frauen und Männer diesen Rollenvorgaben entsprechend handeln. In getrennten Sphären für dasselbe Ziel Als symbolische Konstruktion sind die Geschlechtscharaktere „friedfertige Frau“ und „kriegerischer Mann“ funktional für das Gesamtgeschehen Krieg und wirken handlungsleitend. Das Bild von Zusammenwirken der Geschlechter im Gesamtgeschehen Krieg ist jedoch komplexer. Auch wenn Frauen nicht als die großen Kriegsherrinnen in Erscheinung treten, erfüllen sie ihre aktiven Rollen im Krieg. Beispiele: In den Kriegen der frühen Neuzeit gab es eine nicht geringe Zahl von Frauen, die mit den Heeren mitzogen und die nötige Reproduktionsarbeit erledigten (waschen, kochen, Verletzte versorgen…) 39 Im Dreißigjährigen Krieg zählte die kaiserlich-bayrische Armee mitunter 100 000 Soldatenfrauen, Dienstmägde, Prostituierte und Geliebte von Soldaten und Offizieren. Bei zunehmender Versorgungsnot beteiligten sich die Frauen an Beutezügen. Nicht nur während der Französischen Revolution und während des Ersten Weltkrieges wurden Schmuck-, Haar- und Geldspenden, die Aufzucht der männlichen Nachkommen wie auch weibliche Trauerarbeit dezidiert als Opferarbeit und Kriegsbeitrag von Frauen verstanden und gefordert. 1914 Übernahm der „Nationale Frauendienst“ die gesamte Kriegswohlfahrtspflege. Die beschriebene weibliche Kriegs-Arbeit produziert Verschiedenheit und Gleichheit in einem. Der weibliche Beitrag zum/im Krieg ist einer spezifischen Sphäre verortet, dient aber demselben Ziel und den gleichen Idealen wie das Kämpfen der Männer. Gabriele Mordt zufolge lassen sich im traditionellen Geschlechterarrangement vier Rollen ausmachen: Die Kriegsmutter: Sie verkörpert die zivile Patriotin, erzieht künftige Soldaten, tut alles, um den kämpfenden Mann zu unterstützen, … Die schöne Seele: Der Konterpart der Kriegsmutter. Sie steht für Tugendhaftigkeit und Selbstgenügsamkeit, für absolute Gewaltfreiheit, für Zartheit und Weltabgewandtheit, sofern die Welt durch Machtverhältnisse vergiftet ist. Der Staatsmann: Er verkörpert als leidenschaftslos kalkulierender Politiker und Kriegsstrategen die distanzierte Rationalität. Der Soldat: Er wird motiviert durch ein Gefühl der Hingabe und verkörpert die ansonsten weibliche konnotierte Fürsorglichkeit für „die Seinen“ In der Tat würden Soldaten in den Kriegen des 20. Jhdts ist das Töten weit häufiger und effizienter durch ein Gefühl der Liebe zum Kämpfen motiviert als durch Hass und Aggression. Frauenrechte als Kriegslegitimation Interpretationsrahmen zur (Er-)Klärung des Zustandekommens von Kriegen In Anlehnung an Sandra Hardings Ausführungen zu den drei Bedeutungsebenen des sozialen Geschlechts lassen sich drei für die Analyse von Kriegsgeschehen wesentliche Ebenen ausmachen: die individuelle, die strukturell und die symbolische Ebene. Die individuelle Ebene: Wer tut was im Krieg? Welche Auswirkungen hat der Krieg auf das Leben von Menschen? Die strukturelle oder machtpolitische Ebene: Was sind die geopolitischen und ökonomischen Gründe für den Krieg? Welches militärische und ökonomische Potenzial besitzen die beteiligten Kriegsparteien? … Auf der symbolischen Ebene oder der Ebene der Kriegslegitimation kann gefragt werden: Was wird überhaupt über einen Krieg gedacht, welche Bedeutung wird ihm zugeschrieben? Wie wird er legitimiert? … Die Beispiele Afghanistan und das ehemalige Jugoslawien zeigen, wie der Opferstatus von Frauen und Frauenrechte als Kriegslegitimation benutzt werden. Es soll gezeigt werden, dass die geschlechtlich überformte Opferschutz-Ideologie nicht nur individuelles soldatisches Verhalten motiviert, sondern auch als diskursive Strategie zur Schaffung und Untermauerung kolonialer Strukturen und Verhältnissen dient. 40 Die Entschleierung als koloniales Projekt – Frauenrechte als Kriegslegitimation am Beispiel Afghanistan Die Bush-Administration verkaufte den Krieg gegen Afghanistan als einzig angemessene Reaktion auf den 11. September. Warum die Verteidigung die Form einer militärischen Intervention in Afghanistan annehmen sollte, musste aber erst einmal plausibel gemacht werden. Das Argument dass Afghanistan mit Osama bin Laden den vermeintlichen Drahtzieher des Terrorangriffs vom 11. September beherbergte, reichte dabei nicht aus. Der Angriff gegen Afghanistan wurde präsentiert und legitimiert als Kampf gegen den Terror, gegen die Achse des Bösen und für die Freiheit auf der ganzen Welt. Die Situation von Frauen schien sich besonders gut dafür zu eignen, das Fehlen von Freiheit zu demonstrieren. Nach dem 11. September wurden mit einem Mal Frauenrechte und ihre Missachtung in Afghanistan auf die mediale Tagesordnung gesetzt. Plötzlich wurden die Frauen und ihre Rechte ins Spiel gebracht, obwohl schon fünf Jahre lang Frauenorganisationen auf das Schicksal der afghanischen Frauen hingewiesen hatten (…).“ Diese Beobachtung legt den begründeten Verdacht nahe, dass es bei dem Hinweis auf das Opfer-Sein von Frauen und auf die herzustellenden Rechte der Frauen in Afghanistan weniger um die Frau selbst als um die Legitimation der US-amerikanischen Kriegsvorbereitungen ging. Die angesprochene Repräsentation der afghanischen Frau folgt einem Drehbuch von Chakravorty Spivak, das den Titel „White men are saving brown women from brown men“ trägt. „White men are saving brown women from brown men“ funktioniert als Legitimationsfigur, die koloniales Begehren und imperialistische Vorstöße zur sozialen Mission umgestaltet und so den kolonialen Charakter einer Intervention verschleiert. Spivak diskutiert „White men are saving brown women from brown men“ anhand des Verbots der Witwenverbrennung in Indien durch die britischen Kolonisatoren. Aus der „bedauernswerten Situation“ der indischen Frauen zogen die Briten den Schluss, dass das Land noch nicht reif zur Selbstregierung sei. Die Verknüpfung von Freiheit als westlichem Wert und Frauenrechten in der Legitimation des Angriffs auf Afghanistan funktioniert analog zur Verknüpfung von Modernisierung und dem Ablegen des Schleiers und hat eine koloniale Geschichte. Die Bedingungen von Unterdrückung und Unfreiheit unter denen muslimische Frauen bzw. Frauen in Afghanistan leben, werden nicht einfach nur moralisch verurteilt, sondern zu einem Signifikanten des unterdrückerischen, unfreien Charakters einer ganzen Kultur. Der Schleier wird zum Inbegriff für die Frauenfeindlichkeit der islamischen Kultur, die Frauenfeindlichkeit der islamischen Kultur wiederum wird zum Symbol dafür, dass innerste Werte des Westens wie Liberalismus, Säkularismus, Demokratie, Menschen-/Frauenrechte aus der islamischen Kultur dauerhaft ausgeschlossen seien. FAZIT: In der moralischen Rechtfertigung des US-amerikanischen Angriffs auf Afghanistan werden Westen/USA und Orient/Afghanistan über das Schema der Modernitätsdifferenz in ein koloniales Verhältnis zueinander gesetzt. Vehikel zur Konstitution und Verdeutlichung der Modernitätsdifferenz sind der Opferstatus von Frauen und Frauenrechte. 41 Die vergewaltigte Frau und die viktimisierte Nation – Kriegsvergewaltigung als Argument im ehemaligen Jugoslawien Die Ausgangslage in Jugoslawien war natürlich eine andere als in Afghanistan. Zu legitimieren war nicht ein wie auch immer gearteter Akt der Verteidigung, sondern eine humanitäre Intervention, d.h. es ging um die Frage, ob es legitim sei, „ (…) von außen mit Gewalt in einen Staat einzudringen, um sozusagen subsidiär dessen primäre Aufgabe auszuüben, nämlich Menschenrechte seiner Bürger auf seinem Staatsgebiet zu sichern. Zu den Menschenrechten, die verteidigt werden sollten, gehörten auch Frauenrechte, die in Bosnien und Kosovo durch Kriegsvergewaltigungen massiv verletzt wurden. In der Kriegsvergewaltigung, die sowohl in die kulturelle Konstruktion von Gender als auch in die kulturelle Konstruktion von Krieg eingebaut ist, fungiert der angegriffene weibliche Körper als kulturelles Zeichen. Der weibliche Körper repräsentiert den Volkskörper. Die Gewalt, die dem weiblichen Körper angetan wird, soll die Integrität der in ihm repräsentierten Gruppe treffen. Mit der Vergewaltigung konkreter Frauen im Krieg wird symbolisch die Nation vergewaltig. Gleichzeitig soll der männliche Fein durch die Vergewaltigung „seiner Frau“ gedemütigt und entmännlicht werden. Bis zum Bosnien-Krieg hatte in der Öffentlichkeit weitgehend Schweigen über Vergewaltigung in Kriegen geherrscht. Nun ging plötzlich – ähnlich der zeitgerechten Thematisierung der Unterdrückung der Frauen in Afghanistan nach dem 11. September – ein Aufschrei durch die Medien. Zwei Hinweise lassen Vermuten, dass dieser Aufschrei eher kolonialen Attitüden als wirkliches Interesse an den Frauen spiegelt. 1. Es lässt sich das Schema der Modernitätsdifferenz beobachten. Dem chaotischen, rückschrittlichen, mittelalterlichen Balkan wurde in den deutschen Medien der Westen als Hort der Aufklärung, Zivilisation und Vernunft gegenübergestellt. 2. „Der Westen“ lässt die Opfer von Kriegsvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien nicht selbst sprechen, vielmehr lässt der Westen über sie sprechen. Die in den Kriegen vergewaltigten Frauen wurden selbst zu nützlichen, zweckmäßigen, objektiven Beweisen (weil sie von westlichen „Experten“ untersucht wurden) – unter anderem für die Notwendigkeit einer „humanitären Intervention“. Ein Flugblatt der Belgrader „Frauen in Schwarz“:„Zum erstenmal in der Geschichte wird Vergewaltigung im Krieg Thema der höchsten internationalen politischen Spitze. Aber das Motiv ihres Interesses ist nicht der Schutz von Frauenrechten, sondern die Instrumentalisierung der Frau zum Ziel von Kriegspropaganda und weiterem Antreiben des Hasses unter den Völkern. Das Leiden der Frauen wird zur Rechtfertigung für die Eskalation militärischer Aktionen und einer möglichen Militärintervention.“ Die Körper der Frauen wurden zum Austragungsort der Erniedrigung für die eine Seite und der Rechtfertigung für Rache für die andere. Die missbrauchten Frauen selbst waren meist namenlos und irrelevant. Wir haben gesehen, wie die Figur des weiblichen Opfers als gegenderte Konstruktion in die Legitimierung der Kriegskultur im Allgemeinen ebenso wie in die Legitimierung konkreter Kriege eingebaut ist und Einverständnis und Mittun in Kriegen mobilisiert. „Es ist nicht wahr, dass die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und (…) schwächsten Poetisierungen. (…) Auf das Opfer darf keiner sich berufen. (…) Kein Land und keine Gruppe, keine Idee, darf sich auf ihre Toten berufen.“ Ingeborg Bachmann 42 7. Mit oder gegen China Japan, Südkorea und die Zukunft der regionalen Sicherheit in Nordkorea Rüdiger Frank – Wolfram Manzenreiter Analyserahmen - - Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die in den Internationalen Beziehungen dominanten Neorealisten über weite Teile davon aus, dass eine bipolare Welt stabilitätsfördernd sei, wenn nur die beiden Pole sich in ihrer relativen Macht nicht zu stark unterschieden. Mit der Implosion des Ostblocks stellte sich dann die Frage nach der Zukunft. Normative Proponenten (Antragsteller) des Unilateralismus argumentieren in die Richtung, dass ein hinreichend starker Hegemon zwar aufgrund seiner Machtfülle ständig Konflikte mit den anderen Staaten provoziert, wegen der gegen Null gehenden Erfolgschancen einer militärischen Auseinandersetzung jedoch faktisch die Manifestierung der Konflikte verhindert, also den Frieden erzwingt. China und die veränderte Machtkonstellation Aus fünf Gründen stellt China, trotz aller Zweifel an der Nachhaltigkeit des wirtschaftlichen Erfolgs, eine ernsthafte Bedrohung der Machtposition der USA dar. 1. Das Land verfügt nicht nur über beachtliche Wachstumsraten der Wirtschaft sondern hat auch mit seinen Hunderten von Millionen Bürgern ein binnenwirtschaftliches Potenzial, welches das Land nicht nur von anderen Wirtschaftspartnern unabhängig machen kann (darauf begründet mitunter auch die Macht der USA) und stellt eine erhebliche Konsumentenmacht dar. 2. China verfügt über die „richtige Einstellung“. Der Status der Weltmacht wird nicht als etwas Neues, sondern als etwas zeitweilig abhanden Gekommenes angesehen. 3. Auch wenn die Modernisierung des chinesischen Militärs noch längst nicht das Niveau der USA erreicht hat, so ist doch ein hinrechend großes Abschreckungsmoment zur Verhinderung eines Angriffes bereitgestellt. 4. Nicht zu unterschätzen ist die ideologische Herausforderung, welche den USA durch das zumindest dem Papier nach kommunistische China mit seiner Ein-ParteienHerrschaft, der eigenen Sicht der Menschenrechte und ohne nennenswerte protestantische Ethik entsteht. 5. Die letzten Jahre zeigen eine kontinuierliche Ausweitung der außenpolitischen Macht Chinas. Der Erfolg Beijings in der Regionalkooperation mit den einst als handlungsunfähig verspotteten ASEAN-Staaten lässt mittlerweile in Washington die Alarmglocken läuten. Die USA versuchen, diese Entwicklung zu stoppen und positionieren sich für den immer näher rückenden Konflikt. Bei der Auseinandersetzung um Nordkorea handelt es sich um eine von vielen Fronten, an denen die weltpolitische Auseinandersetzung der Zukunft vorbereitet bzw. bereits geführt wird. 43 Japans Interessenskonstellation - - - Dass sich ökonomische Macht nicht unbedingt in gleichem Ausmaß in politischer Bedeutung und schon lange nicht in militärischer Stärke widerspiegeln muss, hat das Beispiel Japan deutlich gemacht. Japan verzichtete freiwillig auf den Einsatz militärischer Mittel für die Durchsetzung nationaler Interessen, auch wenn es ökonomisch und technologisch dazu in der Lage gewesen wäre. Volkswirtschaftliche Überschüsse wurden seit den 1960er Jahren für die Stärkung der Internationalen Beziehungen aufgewendet. Japan wurde in der Zeit nach den USA zur größten Volkswirtschaft der Welt, die derzeit mit mehr als 60 Prozent zu der gesamten Wirtschaftsleistung zwischen Mongolei, China, Indonesien und den Philippinen beiträgt. Sicherheitspolitischer Kontext Wirtschaftliche Interessen haben auch die Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen Japan und China seit den 1960er-Jahren eingeleitet. Das Verhältnis heute profitiert von der steigenden wirtschaftlichen Verflechtung, während es auf politischer Ebene von dem historischen Erbe des japanischen Imperialismus überschattet wird. Bei den außenpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten Japan müssen berücksichtigt werden: Die in der japanischen Verfassung verankerte Klausel auf Kriegsverzicht (Artikel 9) und die Nachwirkungen aus der Sonderolle Japans als einzige nicht-westliche Kolonialmacht einerseits und die fehlende Aufarbeitung der japanischen Kriegsschuld andererseits. Immer wieder kommen auch Revanchistische Aussagen uns symbolische revisionistische Akte von den Nachfolgestaaten der Kolonialopfer, um moralischen Druck auf die japanische Regierung auszuüben. Folglich engt sich der außenpolitische Handlungsspielraum ein, und damit auch verbunden Japans Chance den Status als „normaler Staat“ (ohne Artikel 9) zu gewinnen. Diesen Einschränkungen begegnet Japan mit einer „umfassenden Sicherheitspolitik“ die militärische Sicherheit Aspekte der Ressourcenversorgung der Exportstrategien inkl. Schutz der Seewege, Technologietransfer und Absatzmärkte sowie Währungsstabilität auf den internationalen Finanzmärkten umfasst. Japan zögert auch sich zu remilitarisieren, aufgrund kultureller Normen. Die Grundlagen der merkantilistisch-pazifistischen Außenpolitik finden sich einerseits in der traumatischen Erfahrung, als einziges Land Opfer eines Nuklearschalges zu sein und andererseits in dem umfassenden Verzicht auf das Recht eines Staates, Krieg zu führen. Das idealistische Vertrauen auf die Vorbildwirkung Japans die Ordnungsmacht einer internationalen Friedensordnung und die Grundhaltung der Friedensverfassung wurde schnell als identitätsstiftende Bestandteil eines neuen Japans verinnerlicht. 44 Die Yoshida-Doktrin stellte Japan konsequent unter den nuklearen Sicherheitsschirm des ehemaligen Kriegsgegners USA. Diese erhielt im Gegenzug das Recht, Militärbasen in Japan zu unterhalten. Japan entwickelte sich zu einer „großen Zivilmacht“, die primär ihre wirtschaftliche Stärke für die Wahrung nationaler Interessen und internationale Organisationen zur Durchsetzung von kollektiven Normen und Standards zu nutzen versuchte. Das Japan Trotz dieser Voraussetzungen ein halbes Jahrhundert nach Kriegsniederlage und Bekenntnis zum Frieden wieder mit revanchistischen Vorwürfen konfrontiert wird, resultiert aus dem in absoluten Zahlen zweit- oder dritthöchsten Militärbudget der Welt. Ursächlich ist aber die amerikanische Ostasienpolitik für die „Quadratur des Kreises“ verantwortlich. Der Verlust Chinas an den Kommunismus bewegte 1949 die amerikanischen Besatzer dazu, die Implikationen des von ihnen diktierten Artikel 9 in einem anderen Licht zu betrachten. Die Remilitarisierung Japans begann bereits 1950 auf Befehl der Amerikaner. Das Gesetzlich festgeschriebene Verbot des Einsatzes in fremden Territorien legte die Rollenverteilung in der US-japanischen Sicherheitsallianz fest: Mit der Metapher von Japan als „Schild“ und den Vereinigten Staaten als „Speer“ betonte Premierminister Suzuki Zenkô noch die defensive Ausrichtung der Selbstverteidigungsstreitkräfte. Die seit den 1990er-Jahren einhergehende Ausweitung der Legitimation der Selbstverteidigungsstreitkräfte und ihres Aktionsradius konnte vor dem Hintergrund der nordkoreanischen Nuklearkrise im Parlament und der japanischen Bevölkerung gegenüber durchgesetzt werden. Die Frage ist, inwiefern Japans Regierung damit tatsächlich auf Nordkoreas Aufkündigung des Atomwaffensperrvertrags reagiert oder ob Japans Remilitarisierung primär und längerfristig versucht seine Interessen China gegenüber zu schützen. Wirtschaftliche Interessen: Kooperation und Konkurrenz Chinas rasantes wirtschaftliches Wachstum unterminiert Japans Vormachtsstellung in der Region, die bisher allein auf dem wirtschaftlichen Gefälle basierte. Wirtschaftlich haben die Verflechtungen seit den 1990er-Jahren stark zugenommen und bilden nun eine der quantitativ wichtigsten Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der Welt. Währen Japan vor allem Artikel aus der relativ arbeitsintensiven Leichtindustrie importiert, erhält China aus Japan technologieintensiver Maschinen und Anlagen. Ein zukünftiger Konflikt der Handelsinteressen lässt sich mit einer vermehrt auf Humankapital- und Technologieeinsatz basierenden Produktivitätssteigerung der chinesischen Industrie kaum vermeiden. Der chinesische Handelsüberschuss sorgte bisweilen für Unruhe in Japan, wo die in China gefertigten Waren zum Preisverfall und der deflationären Entwicklung beigetragen haben. Die auf den Handel in China zurückzuführende Verbesserung von terms of trade, Wettbewerbsfähigkeit der Großindustrie und volkswirtschaftlicher Gesamteffizienz ist allerdings mit gewaltigen Einbußen auf der gesellschaftlichen Ebene verbunden. - Im Zeitraum 1951 bis 1991 entfiel lediglich ein Prozent der weltweiten japanischen Investitionen auf die Volksrepublik China; seither aber hat sich der Anteil 45 - - explosionsartig erweitert, weil China nicht nur als Billigproduktionsland, sondern zunehmend auch als Konsumentenmarkt für die japanische Industrie von Interesse wurde. In China ist Japan heute der drittwichtigste Investor. Umgekehrt spielt Japan für chinesische Direktinvestitionen derzeit keine bedeutende Rolle. Die negativen Konsequenzen der in Japan als industrielle Aushöhlung beklagten Entwicklung machten sich in den 1990er-Jahren auf dem Arbeitsmarkt und damit auch volkswirtschaftlich wie sozialpolitisch bemerkbar. Der Verlust an Arbeitsplätzen für gelernte Fachkräfte wurde nicht von einer auf Innovationen beruhenden Produktivitätssteigerung der Industrie aufgefangen. Eng verbunden mit der Konkurrenzsituation in Handel und Produktion ist der steigende Energiebedarf Chinas. Der Konkurrenzkampf um den Zugriff von Ressourcen veranlasst beide Länder zu einer Ausweitung ihrer Sicherheitskonzeption. Außenpolitische Interessen: Bilaterale und multilaterale (Ein-)Bindung Japan ist auch der größte Kreditgeber für China, dem wichtigsten Empfängerland von japanischer Entwicklungshilfe in Asien. Einerseits versuchte Japan über die Zahlung von Entwicklungshilfe Einfluss in der Region zu gewinnen und seine Bedeutung zum Ausdruck zu bringen, andererseits sollten mit der Entwicklungshilfe auch die Rahmenbedingungen für Direktinvestitionen verbessert werden. - - Auch um die japanische Entwicklungshilfe in China formieren sich Konfliktherde. Grundsätzlich interpretiert China Japans ODA nicht als freiwillige Leistung, sondern als Form der Kompensation für die japanischen Kriegsverbrechen. Als China nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als Wirtschaftspartner und – Konkurrent betrachtet werden musste, überarbeitete das Außenministerium die Grundlinien für die EZA mit China. In der Revision inbegriffen war die Kürzung der Mittel. Kürzungen sind aber auch eine Konsequenz der japanischen Rezession. Ungeklärte Territorialfragen bilden einen niedrigschwelligen Dauerkonflikt zwischen Japan und China und halten die Außenministerien beider Länder beschäftigt. (z.B. Senkaku-Inseln) Japans Optionen beschränkt nicht nur die Erinnerung an die japanische Aggression im Zusammenhang mit der Errichtung einer „Großasiatischen Wohlfahrtssphäre“ in den 30erund 40er-Jahren. Auch das Primat der US-japanischen Allianz engt den Gestaltungsspielraum der japanischen Außenpolitik ein; China dagegen gewann Profil in der Region. - Japans aktuelles Sicherheitskonzept inkludiert auch innen- und umweltpolitische Fragen. Sollte China an dem Spagat zwischen freier Marktwirtschaft und totalitärem Parteienregime auseinander brechen, wird eine über Japan hereinbrechende Flüchtlingswelle befürchtet. - In ökologischer Hinsicht stellen negative Begleiterscheinungen der chinesischen Industrialisierung wie Versteppung oder saurer Regen auch eine Bedrohung für die japanische Umwelt dar. 46 Implikationen für die Sicherheitspolitik Auf militärischer Ebene wird China seit den 90er-Jahren verstärkt als potenzielle Gefährdung wahrgenommen. Gründe: laufende Modernisierung der Streitkräfte Steigerung der bereitgestellten Mittel mangelnde Transparenz Aus den eingangs geschilderten Gründen kann und will Japan kein militärisches Gegengewicht aufbauen. - Neutralität eines unabhängig agierenden Staates mit vermittelnder Funktion steht Japan nicht allein wegen seines historischen Erbes außer Frage. - In der Entscheidung für ein regionales Ausbalancieren der Kräfte an der Seite der USA hat Japan die auch theoretisch zur Diskussion stehende Option eines Pakts mit China verworfen Vor einem Rücktritt der USA aus dem Beitragspakt schützt sich Japan durch massive finanzielle Unterstützung der amerikanischen Hegemonialpolitik. Nach dem Zerfall der Sowjetunion führten alle grundlegenden Verteidigungsrichtlinien und mittelfristigen Strategiepläne der Regierung zur Vertiefung der bilateralen Kooperation mit den USA. Eine flexible Lesart der Verfassung und eine Serie von zeitlich befristeten Sondergesetzen ermöglichten dem japanischen Staat über die Jahre eine allmähliche Ausweitung des Einsatzbereichs der Armee. Diese Entwicklung bedeutet eine deutliche Abkehr von der pazifistischen Außenpolitik, aber nicht eine Remilitarisierung Japans oder das Wiedererstarken imperialistischer Gelüste. Das Verteidigungsbudget stagniert oder schrumpft. Außerdem sind in den vergangenen zehn Jahren veraltete Waffensysteme nicht im gleichen Ausmaß ersetzt worden, wie sie ausgeschieden wurden. Weitere Bestandsreduktionen sind geplant für alle Truppeneinheiten China gegenüber setzt Japan also auf eine widersprüchliche und bisweilen schizophren anmutende Politik der nuklearen Abschreckung und der Einbindung, die primär in den wirtschaftlichen Beziehungen verläuft. Mangel an Vertrauen ist auf beiden Seiten stark und ein wesentlicher Grund, warum Japan sich keinesfalls auf die Risiken einer Neutralität oder autonomen Sicherheitslinie China gegenüber einlassen will. Südkoreas Interessenkonstellation Südkorea vertritt China gegenüber ganz ähnlich gelagerten Interessen wie Japan. Das Verhältnis ist jedoch historisch nicht belastet. Da es dem wesentlich kleineren Land an politischem Einfluss und ökonomischen Gewicht fehlt seine Interessen im Alleingang durchzusetzen, ist es auf Allianzen und strategische Kooperationen angewiesen. Südkoreas sicherheitspolitische Lage Am Anfang des 21. Jhdts befindet sich Südkoreas sicherheitspolitische Situation in einer Periode des Wandels. 47 Japan, die eigentliche Hauptbedrohung für Korea seit 1876, verlor nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Schrecken. Zum neuen Hauptfeind wurde Nordkorea. Die unter UNOMandat operierende Armee der USA rettete Südkorea im Korea-Krieg (1950 – 1953) Die zaghafte, aber doch stattfindende Annäherung zwischen beiden Teilen Koreas ab Anfang der 1990er-Jahre markierte einen Wandel in der südkoreanischen Perzeption (Wahrnehmung) Nordkoreas als militärische Bedrohung. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa etablierte der damalige Präsident Roh Tae-woo diplomatische Kontakte Südkoreas mit ehemaligen Verbündeten Nordkoreas. Das friedliche Zusammenleben mit dem Norden wurde für Südkorea zunehmend zu einer akzeptablen Option. Die „Sonnenschein-Politik“ wird unter anderem Namen (Peace and Prosperity Policy) von Präsident Roh Moo-hyun seit 2003 fortgesetzt. Die Wahrnehmung der Bedrohung durch Nordkorea im Süden hat sich grundlegend verändert. Währen 1991 etwa 80 Prozent der Befragten einen nordkoreanischen Angriff innerhalb der nächsten drei Jahre befürchteten, reduzierte sich diese Zahl auf 36 Prozent 2003. Hauptgrund für diesen Rückgang war nicht die Annahme, dass Nordkorea seine Absichten geändert hätte; viel mehr traute man dem Land das Potenzial zu deren Umsetzung nicht mehr zu; das relative Machtverhältnis zwischen Nord und Süd hatte sich in der Perzeption der Südkoreaner deutlich zu ihren Gunsten verschoben. Es verwundert nicht, dass angesichts der eher gering empfundenen Bedrohung vor allem die Frage nach der Wirtschaft in den Mittelpunkt gestellt wird, mitsamt einer gewissen Hoffnung auf eine Mittlerrolle Beijings bei einer eventuellen Wiedervereinigung, die trotz aller Einschränkungen nach wie vor als wichtiges nationales Ziel betrachtet wird. Was die Situation in Nordostasien angeht, so sieht man trotz gestiegener ökonomischer Interdependenzen die Sicherheitslage als instabil an. Gründe: Streitfragen wie Terrirorialdispute Interessenskonflikte Wettstreit um Einfluss Neudefinition der Rolle der japanischen Streitkräfte Wachsendes militärisches Potenzial Chinas. Allerdings sieht man in Seoul „Friede und Wohlstand“ als im chinesischen Interessen liegend und geht daher von einer Rolle Beijings als Vermittler auf dem Wege zu einer friedlichen Lösung der Nuklear-Frage aus. Wirtschaftliche Interessen Südkoreas Der Strom von Waren und Investitionen von Südkorea nach China ist gewaltig (Exporte 2004: 45 000 000 000 US-Dollar), auch der personelle Austausch (2003 reisten 2 Mio. Südkoreaner nach China) ist intensiv. China hat die USA als wichtigster Wirtschaftspartner Südkoreas abgelöst. Die dramatischen Wachstumszahlen beim südkoreanischen Export nach China werden vermutlich abschwächen, da bei den dahinter stehenden Produkten allmählich eine 48 Marktsättigung erreicht wird und weil mittlerweile chinesische Konkurrenzprodukte existieren. Zwar wächst auch Südkoreas Bedeutung für China; so hat China im Jahre 2004 mehr nach Südkorea als in die USA exportiert. Trotzdem ist angesichts der Unterschiede in den Dimensionen die Gefahr nicht zu übersehen, dass Korea sich in eine zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit von China hineinmanövriert. Schon jetzt ist das Wachstum nach Ansicht der OECD zunehmend vom boomenden Export nach China finanziert. Mittlerweile ist die Abhängigkeit so groß geworden, dass nur durch den Handel mit China in der zweiten Jahreshälfte 2004 eine wirtschaftliche Rezession in Südkorea verhindert werden konnte. Dieses Machtungleichgewicht muss Folgen für den politischen Bereich haben. Noch sind südkoreanische Unternehmen produktiver als die chinesische Konkurrenz. Der technologische Vorsprung schwindet jedoch immer schneller dahin. China wurde in Korea zunächst nur als ungeheure Chance gesehen; heute werden Stimmen lauter, die vor der erdrückenden Konkurrenz warnen. Koreas Hoffnung ist es, eine eigene Rolle in einer von China wirtschaftlich dominierten Region zu finden. Die kulturelle Nähe zu China kann auch ein Mittel sein, um in einer engen Allianz die eigenen Interessen gegenüber Dritten wirkungsvoll durchzusetzen. Dies könnte ein wesentlicher Unterschied etwa zum bisherigen engen Bündnis mit den USA sein. Gerade angesichts der unterschiedlichen Auffassungen im Umgang mit Nordkorea mehren sich die Stimmen auf beiden Seiten, die eine Fortsetzung des bisherigen Bündnisses zwischen Südkorea und den USA in Zweifel ziehen. Poltische Interessen Südkoreas Bei der Betrachtung der politischen Interessenslagen Südkoreas ergibt sich ein sehr heterogenes Bild von Vor- und Nachteilen eines starken Chinas und einer engern Kooperation zwischen Seoul und Beijing. Das politische Verhältnis zwischen den beiden Staaten ist alles andere als frei von Problemen: Im Korea-Krieg verhinderten chinesische „Volksfreiwillige“ durch die Rettung der geschlagenen Armee Kim Il-sungs, die Wiedervereinigung unter amerikanischsüdkoreanischen Vorzeichen. Weitere Streitpunkte sind Themen wie der Umgang mit Taiwan oder dem Dalai Lama Die Debatte um die historische Zugehörigkeit des Reiches Koguryò. Die Südkoreaner reagierten sehr empfindlich, als chinesische Versuche deutlich wurden, dieses bis etwa Mitte des ersten Jhdts existierende Reich im Nordosten der koreanischen Halbinsel als Teil des chinesischen Vielvölkerstaates zu reklamieren. Auch die Frage der politischen Flüchtlinge aus Nordkorea belastet das Verhältnis. Im Jahr 2000 fand der so genannte Knoblauch-Krieg statt. Als Vergeltungsmaßnahme gegen südkoreanische Versuche, die eigenen Knoblauchproduzenten durch Billigimporte aus China zu schützen, behinderte China prompt den Import südkoreanischer Mobiltelefone; die Machtprobe gewann Beijing. Der im vorigen Abschnitt erwähnte Technologietransfer findet nicht immer auf legalem Wege, etwa über FDI (Foreign Direct Investment), statt. Im Jahre 2004 kam es zu 22 Fällen von chinesischer Hightech-Industriespionage gegen Firmen aus Südkorea. 49 Umweltfragen wirken sich ebenfalls auf das bilaterale Verhältnis aus (Niederschläge von Sandstaub, Winde bringen Umweltgifte …) Die steigende wirtschaftliche Kraft Chinas wirkt sich auch auf den außenpolitischen Bereich aus. China hat zunehmend die Macht gegenüber dem Westen als Anwalt asiatischer Interessen aufzutreten. Andererseits sinkt die Bereitschaft des Westens zur Kritik an Beijing, was Taiwan derzeit zu spüren bekommt. Konsequenzen der Interessenkonstellation Südkoreas Wo liegen die Vor- und Nachteile einer engeren politischen Allianz mit China? Einige Probleme sind bereits genannt worden. Eine engere politische Kooperation mit China würde es Südkorea schwerer machen, sich durchzusetzen. Andererseits könnte Beijings Bereitschaft zu Zugeständnissen steigen, um Beobachtern die Attraktivität eines Bündnisses mit China vor Augen zu führen. Man kann sich auch Vorteile vorstellen: Sonderkonditionen im wirtschaftlichen Bereich mit einem Verbündeten wie China wäre es leichter Interessen durchzusetzen auch eine Mittlerrolle Südkoreas zwischen China und Drittländern wäre denkbar, sowie eine wichtige, positive Rolle bei der koreanischen Wiedervereinigung. Ferner zeigt China keine Anzeichen, die nationale Souveränität Südkoreas in Frage zu stellen. Welche echten Alternativen bleiben Südkorea? Eine Aufrechterhaltung des gegenwärtigen engen Bündnisses mit den USA würde dessen Neudefinition erfordern. Die zum Bündnis geführten Bedrohungen (Japan, Sozialismus) sind nicht mehr, zumindest in dieser Form, existent. Südkorea hat sich zu einem modernen Industrieland entwickelt und die Annerkennung in der internationalen Gemeinschaft ist hoch. Kommen außer China und den USA noch andere Bündnispartner in Frage? Zwar verbessern sich die Beziehungen zu Russland und Japan aber eine umfassende Allianz scheint wenig wahrscheinlich. Dafür genügt das Gewicht beider Länder nicht, und insbesondere mit Japan gibt es zu viele Differenzen. Bleibt noch die Möglichkeit, gänzlich ohne Bündnispartner auszukommen. Die Neutralität wird von den Koreanern zwar präferiert, ist aber kaum praktikabel. Eingeklemmt zwischen China und Japan/USA, im Scheinwerferlicht stehend wegen des Nuklearkonfliktes um Nordkorea, ist Neutralität kaum eine Option. Um sich als eigenständige Kraft zu etablieren, fehlen die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ressourcen. In Ostasien zeichnet sich eine Konfrontation zwischen den USA und China ab, in der sich Seoul wohl oder übel wird entscheiden müssen. Trotz der angesprochenen Probleme erscheint eine Allianz mit China und damit ein verändertes Verhältnis zu den USA unumgänglich. 50 Fazit Vor die Wahl gestellt, sich zukünftig mit einem übermächtigen China zu verbünden oder sich gegen China zu stellen, haben Japan und Südkorea unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Japan vertiefte das Bekenntnis zur Allianz mit den USA. Südkorea ist allein schon durch seine geographische Lage der chinesischen Einflusssphäre ausgeliefert. Südkorea hat sich wirtschaftlich eindeutig für das Engagement auf dem chinesischen Markt entschieden und nimmt ein militärisch dominierendes China dafür in Kauf. Während Japans Unternehmen die wesentlichen Impulse für eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen setzen, bleibt die politische Führung vergleichsweise inaktiv, verärgert China mit unsensiblen Aktionen und überlässt die Entscheidung über die zukünftige Ausgestaltung des Kräfteverhältnisses in der Region dem Seniorpartner der US-japanischen Sicherheitsallianz. Chinas Griff nach der regionalen Führungsrolle steht in einem unauflösbaren Widerspruch zum amerikanischen Hegemonialanspruch, der wiederum die chinesischen Sicherheitsinteressen bedroht. Solange der Puffer zwischen den Mächten – Nordkorea – besteht wird der Konflikt nicht offen ausbrechen. Die Nordkorea-Frage wird von den beiden Mächten nicht als eigenständiges Thema aufgegriffen, sondern als eine Nebenbühne, auf der das gegenseitige Kräftegleichgewicht ausbalanciert wird, die massive Militärpräsenz und der Aufrüstungswettlauf legitimiert werden. Südkorea und Japan können nicht anders als sich diesem Rhythmus anzupassen. Damit sind die Weichen für eine harte Konfrontation zwischen USA und Japan einerseits und China, Korea und weitere Verbündeten andererseits aber noch nicht endgültig gestellt. Doch je länger sich der Prozess hinzieht, desto wahrscheinlicher wird ein Wettrüsten in der Region. 51 8. Von den Kreuzzügen zum Barcelona-Prozess Krieg und Außenpolitik in Europa Peter Steyrer Kreuzzüge und die Identität des christlichen Abendlandes Kreuzzüge: Ursprung des Wesens europäischer Kriege Die Krise des feudalen Europa entstand aus dem Abschluss der inneren Kolonisierung jenes Kontinents, der als geografischer Ausläufer Asiens begriffen werden kann. - Mit den Frankenreich Karls des Großen entstand auf europäischem Boden erstmals seit dem römischen Reich ein mächtiges politisches Herrschaftsgefüge, das eine Einheit von Krone und Kirche herstellte. - Nach dem Zerfall des Frankenreichs und den damit verbundenen Problemen der Kirche, die eigenen Einheit und Macht zu erhalten, rief Ende des 11. Jhdts Papst Urban II. zum Kreuzzug auf. - Die Kreuzzüge stellen laut Norbert Elias eine spezifische Form der ersten großen Expansions- und Kolonisationsbewegungen des christlichen Abendlandes dar. Die zentrale Weiterentwicklung politischer Gewalt im neuen Jahrtausend bestand im Krieg nach außen, gegen „äußere Feinde“; diese Gewalt wurde mit den Kreuzzügen in Gang gesetzt und zur Mitte des Jahrtausends abgeschlossen. In dieser Periode entwickelten sich die Seestreitmächte, die eine transkontinentale Herrschaftsausdehnung ermöglichten. Sie bildeten gemeinsam mit den Handelsflotten langsam jenes größere Netwerk, das die Geldwirtschaft nach Europa zurückbrachte und den Aufstieg europäischer Mächte zur Weltmacht bewirkte. „Die erobernden und zerstörenden Praktiken der Kreuzritter mit ihrem kalkulierten Terror und ihrer berechnenden Grausamkeit kommt dem modernen Charakter der Massakergesellschaft ziemlich nahe. Fernab von jeglicher Kontrolle ist alles erlaubt, der ,Heide` ist kein Mensch und man kennt die Ermordeten nicht“ Dieses Prinzip der alles auslöschenden Kriegsexpeditionen bildete fortan ein zentrales Element in der Karriere europäischer Weltmächte. Der skrupellose Einsatz von Gewalt im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit. Der Aufstieg des Mittelmeerraums, die Verdrängung der Muslime Im Gefolge der Unterwerfung der Iberischen Halbinsel und der bis ins Jahr 1300 reichenden Kreuzzüge in den Nahen Osten gewannen die Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum an Schärfe. Mit den Kreuzzügen kam das Bürgertum der norditalienischen Handelsstädte, insbesondere Venedigs, zu Reichtum und Einfluss – nicht zuletzt auf der Grundlage von Kenntnissen über die Geldwirtschaft, die es sich von der islamischen Welt angeeignet hatte. Die Erschließung des Mittelmeerraums und der Aufstieg des oberitalienischen Handelskapital bildeten Grundlage und Voraussetzung für die spätere Herausbildung einer von den europäischen Seemächten dominierte Weltwirtschaft. 52 Formen des Kolonialismus Der Verlust Konstantinopels und die Umorientierung Europas zum Atlantik Mit dem Fall Konstantinopels 1453, der letzten christlichen Bastion außerhalb des europäischen Kernlands, begann sich die Orientierung der europäischen Großmächte grundlegend zu ändern. Die Neuausrichtung Europas zum Atlantik hin, die mit der Entdeckung Amerikas durch Columbus im Jahr 1492 einen markanten Eckpunkt hatte. Die endgültige Verschiebung am Ende des 16. Jhdts vom Mittelmeer zu den Nordmeeren bedeutete den Triumph einer neuen Region über eine alte.“ Gleichzeitig wandten sich die Mächte des Mittelmeerraums vom Orient ab. Die Christenheit überließ nun riesige Räume – insbesondere im Bereich der Ostkirche, die sich ihrer Unterordnung unter den Papst verweigert hatte – dem Islam. Das Christentum war nun damit beschäftigt, neue Regionen für sich zu entdecken, sie zu öffnen, zu missionieren und zu kolonisieren. Das Zeitalter des seefahrerischen Kolonialismus brach an. Seine beiden ersten Protagonisten waren Spanien und Portugal. Amerika wurde zur ersten überseeischen Peripherie der europäischen Weltwirtschaft. Mit der Vernichtung autochthoner Bevölkerungen und der Herausbildung der karibischen Plantagenökonomie stieg der Bedarf nach unfreien Arbeitskräften. Als deren Lieferanten wurden unter europäischer Dominanz verstärkt afrikanische Regionen. Der Sklavenhandel wurde eines der prägendsten Gewaltelemente im Rahmen der Bemächtigung der Welt durch Europa. Die Vereinigten Niederlande – die erste kapitalistische Republik Schon bald traten neue europäische Seemächte neben Portugal und Spanien. Das ökonomische Zentrum Europas verlagerte sich Ende des 16. Jhdts nach Amsterdam, wo es dann für knapp 200 Jahre bleiben sollte. Aus dem Seehandel entstandenes Kapital machte die Holländer zum „Geldgeber Europas“. Religionsfreiheit und eine fein ausbalancierte politische Struktur bildeten das Rückgrat der ersten europäischen Republik der Neuzeit. Die erste Verfassung der Vereinigten Niederlande trat das Recht auf Souveränität und Kriegsführung in Übersee an seine großen Kolonialkonzerne (Vereinigte Oost-indische Compagnie VOC; West-indische Compagnie) ab. Der Kreuzzugsgedanke wurde weitgehend durch kapitalistisches Kalkül ersetzt. Die militärische Gewalt wurde deutlich selektiver eingesetzt. Wo keine adäquaten Erträge zu erwarten standen, enthielt sich die VOC kriegerischer Unternehmungen. Während in den oberitalienischen Handelsstädten noch die Fürsten kraft ihrer militärischen Mittel den Handel kontrollierten, drehte sich das Verhältnis in den Vereinigten Niederlanden um. Der Kapitalismus schuf sich seine erste Republik. Industrielle Revolution und britisches Weltreich Kapitalistische Revolution in der Landwirtschaft und technische Revolution in der Textilwirtschaft bildeten die Grundlage für die Industrielle Revolution Mitte des 18. Jhdts. Die führende Rolle Großbritanniens (GB) in diesem Prozess beruhte auf ökonomischer Dynamik im Inneren und aggressiver Expansion nach außen. 53 Die Exportindustrie als wirtschaftliche Leitsektoren verdanken ihre hohen Wachstumsraten der gewaltsamen Ausschaltung der europäischen Konkurrenz und der außereuropäischer Produzenten. Die „systematische Aggressivität“, die GB im 18. Jhdt an den Tag legte, führte zum größten Triumph, der je von einem Staat errungen wurde: die faktische Monopolstellung unter den europäischen Mächten in überseeischen Kolonien und die faktische Monopolstellung als Seemacht. Fernand Braudel sieht im „Machtantritt“ Englands die Ablösung der weltwirtschaftlichen Führungsrolle der Städte und den erstmaligen „Versuch, die Weltwirtschaft der gesamten Welt zu beherrschen“. Im letzten Viertel des 19. Jhdts erfolgte die letzte große Etappe der europäischen Expansion, die weite Gebiete Afrikas uns Asiens kolonialer Herrschaft unterwarf. England wurde schließlich von den USA als Weltmacht abgelöst. Die Geschichte der europäischen Weltherrschaft und Expansion fand damit ihr Ende im eigenen, USamerikanischen Abkömmling. Die langjährige Vormachtsstellung Englands prägt Großbritanniens Europapolitik des 20. Jhdts. Sie bildet in einer losen Einheit mit der US-Außenpolitik, die sie als groß gewordenes Patenkind anerkennt, eigentlich ein Gegengewicht zur kontinentalen, nach Osten und Süden ausgerichteten Europapolitik. Exkurs: Strukturmerkmale des europäischen Kriegs F. Braudel bringt den Krieg zwischen Kulturen auf folgende Formel: „In wirtschaftlichen Schönwetterperioden treten Familienfehden in den Vordergrund, in Schlechtwetterperioden der Krieg gegen die Ungläubigen. Die Regel gilt auch für den Islam. Für die Christenheit finden antisemitische Ausschreitungen konjunkturell zur gleichen Zeit wie die Kriege nach außen statt. Die historische Betrachtung macht klar, dass Kolonialisierungsprozesse nicht nur von Europa ausgehend weltweit stattfanden, sondern dass die ersten Expansions- und Kolonialisierungsprozesse innerhalb Europas erfolgten. Diese Kolonialisierungsbewegungen wurden mit Landstreitkräften geführt. Spätestens seit dem 15. Jhdt stützten alle Weltmächte ihre wirtschaftliche und politische Position auf ihre Handels- und Kriegsflotten. Die über Europa hinausführenden Kreuzzüge bewirkten neben der Expansion und Ausdehnung von Handelsräumen die Vernichtung uns Auslöschung aller „Ungläubigen“. Die Kolonialeroberungen können als Fortsetzung der expansiven, missionarischen und kolonisierenden Kreuzzüge des Abendlandes in westlicher Richtung verstanden werden. Die Kolonisierungsbewegung bewirkte unter anderem, dass im Laufe der Zeit Nordamerika zusammen mit Europa zu einem weltpolitischen Raum der imperialen Vorherrschaft wurde: dem christlichen Abendland! F. Braudel: In Phasen der wirtschaftlichen Stagnation und Krise werden Expansionskriege nach außen in Gang gesetzt. Diese leiten nicht selten den Niedergang einer Großmacht ein. Es sind jedoch gerade jene Mächte, die die Vorherrschaft nicht in erster Linie mit den Mitteln des Krieges verfolgen, die die weltpolitische Vormachtsstellung zu übernehmen imstande sind. 54 Krieg in Europa Wirtschaftskooperation als Friedensprojekt An der Gründung der EWG waren die USA durch Rekonstruktion und Stabilisierung des europäischen Kapitalismus in Form eines „größeren Marktes“ unter Führung des USamerikanischen Kapitals maßgeblich beteiligt. Der Grundgedanke der Wirtschaftskooperation als Grundlage der Aussöhnung findet sich bereits in der Präambel des EWG-Gründungsvertrags von 1957 als Ziel formuliert. Dies stellt auch eine Aufgabe für die Zukunft dar. Osterweiterung und innere Kolonisierung Die mittel- und osteuropäischen Neumitglieder der Union kämpfen und kämpfen mit unterschiedlichen Methoden um den Anschluss an das Zentrum, dessen Symbol der Euro ist. Braudl: Denn der Kapitalismus lebt in der Tat von dieser gleichmäßigen Abstufung: Die äußeren Zonen ernähren die mittleren und vor allem das Zentrum. Ebenso wie das Zentrum von den Lieferungen der Peripherie abhängt, hängt dieses von den Bedürfnissen des Zentrums ab, das den Ton angibt. Bleibt dieses archaische Bild einer kapitalistischen Ordnung das Hauptkonzept, droht für die osteuropäischen Grenzstaaten des EU-Raum selbst die Unterentwicklung. Das Verlassen des Einigungsgedankens auf Basis von kooperativer Gleichheit Nicht die Europäische Gemeinschaft, sondern einzelne Mitglieder wie Deutschland, Frankreich und GB spielten im Transformationsprozess der Länder Osteuropas – vom Kommunismus zu den Prinzipen des Freihandels, der Härtewährungspolitik und der Zurückdrängung des Staates – eine aktive politische Rolle. (mehr Seite 160 im Buch) Eine wesentliche Grundlage des europäischen Einigungsprojektes wurde dabei verlassen, nämlich die des Zusammenwirkens der dem europäischen Einigungsgedanken verbundenen Staaten. So entstand eine innereuropäische Peripherie, die möglicherweise auch durch die Mitgliedschaft in der EU nicht mehr aufgelöst werden kann. Mit der Erweiterung der Union im Jahr 2004 wurde die Bildung eines politischen Kerneuropas immer mehr zum common sense. Das Friedensprojekt als Einigungsprojekt gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger, Völker und Staaten geriet in den Hintergrund. Krieg in Europa Ein Blick auf jene Kriege in Europa, die seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben (z.B. Bürgerkrieg in Griechenland, Nordirland, Jugoslawien), zeigt deutlich, dass das Friedensprojekt noch seiner Verwirklichung harrt. Sozioökonomisch betrachtet, haben alle Kriege an inneren Peripherien Europas stattgefunden. Die politische Zurückhaltung und die Aufhebung des Kooperationsgedankens gegenüber Osteuropa hat die Stabilisierung der Krisenregionen keineswegs befördert. Eine Union, die in ein Zentrum und in eine Peripherie zerfällt und den Gedanken der Einigung und des Friedensprojektes hinter sich lässt, wird vor die grundsätzliche Herausforderung der Wahrung des Friedens im eigenen Haus gestellt werden. 55 Außenpolitik seit 1955 – zwischen US-Interessen und innereuropäischer Konkurrenz Die Gründung einer Gemeinsamen Außenpolitik Die gemeinsame Handels- und Außenwirtschaftspolitik wurde erstmals in der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 angesprochen. Damit verbunden war die Institutionalisierung des Europäischen Rates aus Staats- und Regierungschefs sowie Außenministern. Solcherart wurde die europäische Außenpolitik als Politik der Regierungszusammenarbeit aus der Taufe gehoben. Das Projekt der nationalen Regierungen, das heißt als Projekt der Großen – durch deren Stimmengewicht und die größeren Mittel in der Union -, stellt sich die Gemeinsame Außenpolitik bis heute als Politik nationaler Interessen dar. Die Orientierung nach Osten Durch die USA sind die transatlantischen Expansionsmöglichkeiten der europäischen Wirtschaft begrenzt. Stellt sich die Frage der Grenzen im Osten. Dort scheint mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Vorentscheidung gefallen. Damit wäre eine Öffnung der Wirtschaftsunion bis zum Kaukasus und nach Zentralasien verbunden. Südosteuropa wird, mit der absehbaren Erweiterung um Rumänien, Bulgarien und Kroatien, integriert. Es stellt sich die Frage und die Herausforderung, ob die wirtschaftlich unterentwickelten Peripherien innerhalb oder außerhalb des eigentlichen Unionsgebietes liegen werden. Im Moment dominiert der Eindruck, dass es in einer zukünftigen Union wirtschaftliche Peripherien im Inneren der EU geben wird. Die Rede von Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, vom Kerneuropa, vom Europa der verschiedenen Geometrien, sind unterschiedliche Metaphern für dasselbe Phänomen: den Versuch, den inneren Peripherien der EU einen institutionellen Rahmen zu verleihen. Die Orientierung nach Süden Mit dem AKP-Abkommen (Afrika, Karibik, Pazifikländer und EU) versuchte Westeuropa seit Mitte der 1970er-Jahre, die USA durch privilegierte Handelsbeziehungen mit den entsprechenden Ländern auszustechen. Der Anteil der AKP-Staaten am EU-Außenhandel viel allerdings von Mitte der 1970er-Jahre bis zur Jahrtausendwende von 8 auf 2,5 Prozent. Der Versuch durch Freihandel die unterentwickelten Staaten Afrikas an den Binnenmarkt heranzuführen, ist gescheitert. 1995 wurde mit dem Barcelona-Prozess ein neuer politischer Versuch gestartet, eingegrenzt auf die Mittelmeerregion. Diese Partnerschaft soll bis 2010 in eine Freihandelszone münden. Im Maghreb und im arabischen Raum stößt die Eu durch die Vormachtstellung der USA erneut an ihre Grenzen. Es könnte also an dieser Stelle resümiert werden, dass es in Osteuropa eine Wirtschaftsintegration ohne gemeinsame Außenpolitik gibt, während es mit dem BarcelonaProzess eine gemeinsame außenpolitische Idee ohne wirtschaftspolitische Integrationsperspektive gibt – die ohne tatsächliche Mitgliedschaft auch nicht denkbar ist. 56 Europäische Kriege außerhalb Europas Maastricht und Amsterdam, der Krieg im Friedensprojekt Seit 1991 mit dem Vertrag von Maastricht hat sich die Gemeinsame Außen- Und Sicherheitspolitik militarisiert. Die Entwicklung militärischer Kapazitäten zu defensiven, aber auch zu interventionistische Zwecken wurde zentraler Anhaltspunkt der vertraglich begründeten Außenpolitik. Wenngleich sich damit noch keineswegs eine Umorientierung von der Welthandelspolitik und Weltwirtschaftspolitik auf eine strategische und diplomatische Weltpolitik der EU vollzogen hat, so wurde damit doch ein neuer Ansatz für die zukünftige Stellung Europas im internationalen System entwickelt. Deutlicher noch trat dieser Ansatz 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam hervor, der auch Kampfeinsätze ohne völkerrechtliche Legitimierung unter dem Titel der „Krisenbewältigung“ oder als so genannte humanitäre Intervention in Diskussion brachte. Interventionstruppen und Rüstungskooperation Mit Beginn des neuen Jahrtausends wurde begonnen, Militärkapazitäten im Unionskontext für Interventionszwecke aufzubauen. Durch die enge institutionelle und operative Verknüpfung mit den USA ist dabei oft lediglich von europäisch koordinierten, national entsandten Hilfskräften für die US-Außenpolitik zu sprechen. Auch die Bemühungen, den europäischen Rüstungsmarkt als Binnenmarktfaktor stärker zu institutionell anzubinden, stoßen vorerst an die Grenzen einer weitgehend globalisierten bzw. amerikanisierten Rüstungswirtschaft. Natürlich kann aus den beiden Elementen ein außenpolitischer Faktor werden. Dieser könnte in Richtung steigender Autonomie gegenüber den USA oder auch der offenen Konkurrenz zur westlichen Führungsmacht bedeuten. Letzteres ist jedoch kaum realistisch. Beteiligung an kriegerischen Interventionen durch europäische Mächte Ein Blick auf die Interventionen seit Zusammenbruch des Warschauer Pakts macht sehr klar, dass europäische Mächte in erster Linie als Juniorpartner der US-Außenpolitik an ihnen beteiligt werden. Liste siehe Buch S. 165 Der zweite Golfkrieg im Irak 1991 und die NATO-Angriffe auf Jugoslawien standen unter dem Banner einer neuen Weltordnung bzw. der humanitären Intervention. Mit dem „Krieg gegen den Terror“ sind die USA, anknüpfend an die Kreuzzugsidee, zur Vernichtung eines terroristischen Gegners angetreten. Russland macht sich diese Strategie im Krieg gegen das muslimische Tschetschenien zu nutze und Israel hat den Palästinakonflikt als Anti-TerrorAktion angelegt. Die analogen Konzepte Dschihad und Kreuzzug ähneln einander nicht nur, sie unterscheiden diese beiden Glaubenssysteme auch von anderen großen Weltreligionen. Das Beschwören der Bilder von Kreuzzug und Dschihad kann nur als Manipulation der tatsächlichen Kräfteverhältnisse und als Konstruktion eines Feindbildes angesehen werden. Eigentlich geht es dabei um die Absicherung der Einflusszonen und die Durchsetzung eigener Rohstoffinteresse. Im Hinblick auf die Kriege in Afrika lässt sich beobachten, dass die außenpolitischen Initiativen der EU eigentlich nach wie vor von den Nationen in den historisch gewachsenen Beziehungsfeldern betrieben werden. 57 Demokratischen Republik Kongo/Belgien GB/Sierra Leone Frankreich/Elfenbeinküste Im genuin politischen, aber auch militärischen Bereich spielen die kolonial ererbten nationalen Seilschaften die Hauptrolle. Eine gemeinsame Afrikapolitik Europas ist – jenseits der Außenwirtschaftspolitik – jedenfalls nicht einmal in Konturen zu erkennen. Grenzen und Möglichkeiten europäischer Außenpolitik Die europäische Union ist – nicht nur gegenüber Afrika – von einer gemeinsamen Außenpolitik weit entfernt. Das Prinzip der Außenpolitik ist Arbeitsteilung dort, wo es keine nationalen Widersprüche gibt. Wo Konflikte zwischen Regierungen der Union bestehen, herrscht Passivität. Neben den politischen bestehen auch strukturelle Hindernisse gegenüber einer gemeinsamen Außenpolitik. Die großen Mitgliedsstaaten (D,F,GB) bilden ein Direktorium in der EU, mit dem sie ihre Interessen durchsetzen. Alles, was nicht durchsetzbar ist, können sie nationalstaatlich weiter betreiben. Den mittleren und kleinen Mitliedstaaten fehlen dafür die Möglichkeiten. Dadurch entstehen jedoch eine Reihe von unaufhebbaren Widersprüchen. So gibt es beispielsweise keine durchgehende Kooperationsbereitschaft im Bereich der nationalen Geheimdienste, ohne die eine Alternative zum US-amerikanischen Anit-Terror-Krieg völlig unrealistisch wird. Eine aktive gemeinsame Außenpolitik gegenüber Russland und China ist ebenfalls nicht erkennbar. Dieser außenpolitische Reduktionismus schließt vor allem den Auf- und Ausbau einer kooperativen Außenwirtschaftspolitik aus. Die aus der Wirtschaftsstruktur hervortretende innere und äußere Peripherie wird somit verfestigt. Diese Patchwork-Außenpolitik läuft in Gefahr in weltpolitische Konflikte militärisch hineingezogen zu werden. Ohne konzertierte Bemühungen um einen größeren außenwirtschaftspolitischen Entwurf zur wirtschaftlichen Entwurf auf Basis von gemeinsamen, demokratisierten Strukturen, der zunächst die Verwerfung des durch den Wachstums- und Stabilitätspakt in Gang gekommenen wirtschaftlichen und sozialen Differenzierungsprozesses aufzufangen im Stande ist, wird das europäische Friedensprojekt in einer präimperialen Phase der Scheinrivalität mit der USA verglühen, die Peripherie ans Zentrum heranrücken und damit Krieg und Nationalismus nach Europa zurückbringen. 58 9. Zwischen „Germanisierung“ und „Sowjetisierung“ Totalitäre Besatzungspolitik in Polen 1939 – 1941 Walter Manoschek Mit dem Krieg gegen Polen im September 1939 und der darauf folgenden Aufteilung des Landes zwischen dem „Dritten Reich“ und der Sowjetunion begann der Auftakt zum Vernichtungskrieg. Beide Besatzungsregime bekämpften nach der Kapitulation der polnischen Armee von Beginn an die Zivilbevölkerung nach ihren jeweiligen normativen Vorgaben mit verschiedenen Instrumenten des Massenterrors. Die Auswirkungen des Hilter-Stalin-Pakts auf Polen Der Nichtangriffspakt mit Stalin vom 22. August 1939 schuf für Hitler die politischen Vorraussetzungen für den Angriff auf Polen am 1. September 1939. Deutschland gliederte die westliche Hälfte Polens mit etwa 10 Mio. Einwohnern an das Deutsche Reich an, während ein großer östlicher Teil Polens mit über 12 Mio. Einwohnern im „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“ zusammengefasst wurde. Insgesamt lebten bis zum Sommer 1941 über 22 Mio. ehemalige polnische Staatsbürger, darunter 80 % Polen und 10 % Juden unter deutscher Besatzung. Die Sowjetunion wiederum annektierte nach der militärischen Kapitulation Polens den Ostteil Polens und damit knapp mehr als die Hälfte des ehemaligen polnischen Staatsgebiets. Auf diesem Territorium lebten etwa 13 Mio. Menschen, die ethnisch stark durchmischt waren. (Polen, Ukrainer und Ruthenen, Weißrussen und Juden) Die „Germanisierung“ Polens Die nationalsozialistische Politik in Polen orientierte sich primär an volkstumspolitischen und rassenideologischen Vorgaben. Das dem Deutschen Reich als Reichsgau Wartheland angeschlossene westpolnische Gebiet sollte „arisch“ gemacht werden. Das bedeutete, dass möglichst rasch alle als „nichteindeutschungsfähig“ bezeichneten Polen und alle Juden aus dem Reichsgau Wartheland deportiert werden sollten um Platz für volksdeutsche Siedler zu schaffen. Die Grundsätze der „Germanisierungspolitik“ standen schon vor dem Krieg fest. Sie umfassten: Die Liquidierung der politischen und gesellschaftlichen Führungsschicht Polens Die Degradierung der übrigen Polen zu Sklavenvolk der deutschen Wirtschaft Hitler ließ keinen Zweifel aufkommen, dass diese Politik mit äußerster Brutalität umgesetzt werden würde. Nationalsozialistischer Terror Bereits der Polenfeldzug und die anschließende Besatzungspolitik war ein rassenideologischer Vernichtungskrieg in einem kleineren Maßstab. Mit einem Mal gerieten mehr als zwei Millionen Juden unter deutsche Herrschaft. 59 - Die bis Kriegsbeginn praktizierte Politik der möglichst raschen zahlreichen Vertreibung von Juden ins Ausland war unter Kriegsbedingungen und bei der millionenfachen Anzahl der Betroffenen obsolet geworden. - Das neue Konzept der nationalsozialistischen Judenpolitik sah vor, die im Deutschen Reich und den eingegliederten polnischen Gebieten lebenden Juden ins Generalgouvernement zu deportieren oder aber über die Demarkationslinie auf sowjetische Gebiete abzuschieben. - Diese Politik wies starke improvisatorische Züge auf. Das zeigt die Idee, im Generalgouvernement ein „Judenreservat“ einzurichten und als dieser Plan scheiterte die zweite Idee, an Stelle des „Judenreservates“ alle Juden auf die französische Kolonialinsel Madagaskar zu verschiffen. - Diese Planungen markierten eine qualitativ neue Phase antijüdischer Politik. War bis zum Herbst 1939 mit der „Lösung der Judenfrage“ die Vertreibung der Juden durch erzwungene Auswanderung verbunden, so zielten die nunmehrigen Maßnahmen in Polen bereits auf einen indirekten Völkermord durch die Dezimierung der jüdischen Bevölkerung. Die antijüdische Politik setzte unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen ein. Die Entrechtung, Beraubung und Isolierung der jüdischen Bevölkerung war innerhalb weniger Monate abgeschlossen. Zu Tausenden wurden Juden aus dem Generalgouvernement gewaltsam über den Grenzfluss San auf sowjetisches Gebiet getrieben. Viele von ihnen wurden am anderen Ufer von den Sowjets erschossen oder wieder auf deutsches Gebiet zurückgejagt. Durch ihre Vertreibung sollte Platz geschaffen werden für die Deportation von Juden und Polen aus den eingedeutschten westpolnischen Gebieten ins Generalgouvernement. Mit Beginn der Planungen des Krieges gegen die Sowjetunion ab Sommer 1940 wurde klar, dass dieses Projekt keine „Endlösung der Judenfrage“ sondern nur eine Zwischenlösung sein konnte. An die Stelle der Deportation ins Generalgouvernement trat ab dem Jahr 1940 zunehmend die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung. Obwohl der systematische Genozid an den Juden zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant war, hatten die katastrophalen Lebensbedingungen in den Ghettos zur Folge, dass die Mortalitätsrate der Bewohner rasant anstieg. Das Massensterben der polnischen Juden begann bereits lange bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung aller Juden ihren Anfang nahm. Allein bis Ende Oktober 1939 wurden von deutschen Einheiten etwa 50 000 polnische Zivilisten ermordet. Bis zum Jahresende 1939 fielen mindestens 7 000 Juden der deutschen Herrschaft zum Opfer. Seit Anfang 1940 wurde mit der Tötung durch Giftgas begonnen. Opfer waren mindestens 10 800 geistig und körperlich Behinderte. Die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen zwischen September 1939 und Juni 1941 war ein Experimentierfeld nationalsozialistischer Rassenpolitik. Der Besatzungsalltag strukturierte sich entlang der eigenen Höherwertigkeit und der fremden Minderwertigkeit. Die „Germanisierung“ Polens wies von Beginn an genozidale Züge auf: Die Ermordung der polnischen Führungsschicht Die Tötung der geistig und körperlich Behinderten die physische Dezimierung der jüdischen Bevölkerung durch Ghettoisierung Hinter dieser Entgrenzung von Gewalt steckte noch kein systematischer Vernichtungsplan. Es war vielmehr die Einübung auf dem Weg zu einem nationalsozialistisch beherrschten 60 Imperium in Osteuropa, ein Übungsplatz für volkstumspolitische Experimente, auf dem Mord und Terror getestet werden konnten. Die „Sowjetisierung“ Ostpolens Bevor Anfang 1940 eine umfassende Sowjetisierungspolitik des Besatzungsgebietes begann, herrschen Chaos und bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen: Ukrainer gegen Juden und Polen Polen gegen prosowjetische Ukrainer und Juden Bauernmiliz und Kommunisten gegen frühere Repräsentanten des Staates. Die Etablierung der sowjetischen Machtstrukturen beendete die spontanen Racheaktionen und Gewalttaten zwischen den verfeindeten ethnischen Gruppierungen. An ihre Stelle trat das sowjetische Repressionssystem, was in der Praxis Massenexekutionen Verhaftungen Deportationen Zwangssowjetisierung der Ökonomie bedeutete. Die polnische Bevölkerung bekam anfangs die Sowjetherrschaft vorerst am härtesten zu spüren. Zum einen hatten sie im polnischen Staat die Eliteposition in Politik und Wirtschaft eingenommen, zum anderen war die Rote Armee in Ostpolen unter dem Vorwand einmarschiert, das ukrainische und weißrussische Volk von der polnischen Unterdrückung zu befreien. Die ukrainische Bevölkerung hatte die Ankunft der Roten Armee mehrheitlich begrüßt, von der sie sich die nationale Unabhängigkeit erhofft hatte. Als sie erkannte, dass sich ihre Erwartungen nicht mit den sowjetischen Zielen deckten, erhielt die ukrainische Nationalbewegung OUN immer stärkeren Zulauf, worauf die mehrheitlich national eingestellten Ukrainer zur Hauptzielgruppe der stalinistischen Verfolgungen wurden. Die Sowjetisierung wirkte sich auf die jüdische Bevölkerung unterschiedliche aus. Während viele Juden auf Grund ihres höheren Bildungsgrades Beschäftigung in der neuen sowjetischen Bürokratie und im politischen administrativen Bereich fanden, gehörten die jüdischen Unternehmer und Kaufleute zu den Verlierern. Unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit wurden Unternehme und Mittel- wie Großbauern enteignet. Den Sowjets ging es primär darum, das neu annektierte Gebiet auf das sowjetische Wirtschaftssystem umzustellen In dieser Periode kam es zwischen den von Deutschland und den von der Sowjetunion annektierten polnischen Gebieten zu großen Bevölkerungsverschiebungen: Polnische und jüdische Einwohner flüchteten zu Hunderttausenden aus den von Deutschland annektierten Gebieten nach Osten, während zehntausende Ukrainer von den Sowjets auf deutsches Gebiet flohen. Sowjetischer Terror Der Repressionsapparat des NKWD (sowjetischer Geheimdienst) systematisierte im Laufe des Jahres 1940 die Verhaftung von angeblichen oder tatsächlichen politischen Gegnern und 61 „Klassenfeinden“. Der staatliche Terror hatte einen hohen Grad an Willkür, wobei nahezu jeder davon erfasst werden konnte. Die Haftbedingungen orientierten sich an der sowjetischen Norm: ständige Überbelegung physische und psychische Folter erpresste Geständnisse frei erfundene Anklagen willkürliche Verurteilungen Um die Gefängnisse zu entlasten und neue Opfer unterbringen zu können, wurden verurteilte Insassen regelmäßig zur Zwangsarbeit nach Sibirien und in andere Lager deportiert. Ebenso wie in Deutschland gehörten auch im sowjetisch besetzten Teil Polens Massendeportationen zur bevorzugten Herrschaftstechnik. Jedoch agierte der stalinistische Terrorapparat nach anderen Kriterien. Dessen Zielgruppe waren politische Gegner oder Personengruppen, die auf Grund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung pauschal als „Konterrevolutionäre“ eingestuft wurden. Deportationswelle: Februar 1940, ca. 140000 Personen, hauptsächlich Polen und Ukrainer Deportationswelle: April und Mai 1940, ca. 61000 Personen, ihre Familien; hauptsächlich Frauen u. Kinder Deportationswelle: Juni und Juli 1940, ca. 78000 Personen, Flüchtlinge aus D; 80% Juden Insgesamt wurden zwischen Anfang 1940 und Juni 1941 aus Ostgalizien zumindest 330000 Menschen vom NKWD verschleppt. Weiters führten die Sowjets systematische Massenexekutionen durch: 1. April und Mai 1940: Erschießung von 14587 Kriegsgefangenen, polnischen Offizieren und Polizisten 2. Zum selben Zeitpunkt: Erschießung von 7285 zivilen Gefangenen, die als unversöhnliche Feinde des sowjetischen Systems galten. 3. Ende Juni 1941: Noch am Tag des Überfalls der Deutschen auf die Sowjetunion, begannen die Sowjets mit der Evakuierung der Gefangenen. Wo dies nicht mehr möglich war, begannen die lokalen NKWD-Organe mit der Ermordung von Gefängnisinsassen. Die Massenmorde des NKWD ab Ende Juni 1941 waren zentral angeordnet worden und wurden in dutzenden ostgalizischen Städten und Dörfern durchgeführt. Je näher die deutschen Truppen kamen, umso massenhafter wurden die Exekutionen. Die Zahl der Opfer, die in den polnischen Ostgebieten zwischen Ende Juni und Anfang Juli 1941 vom NKWD auf diese Weise ermordet wurden, schwankt zwischen 20 000 und über 40 000. Die sowjetische Besatzungspolitik Ostpolens seit dem Herbst 1939 war von Verhaftungen, Deportationen und Massenerschießungen geprägt. 62 Die nationalsozialistische Instrumentalisierung des stalinistischen Terrors in Ostpolen Die stalinistische Terrorpolitik trug dazu bei, dass sich die ohnehin schon vorhandenen Spannungen zwischen den Ethnien noch drastisch verschärften. Der Hass und das Rachebedürfnis entluden sich an der jüdischen Minderheit. Obwohl es keine schlüssigen Hinweise gibt, dass diese überproportional von der sowjetischen Besatzungsherrschaft profitiert hätte, wurden die Juden mitverantwortlich an der sowjetischen Terrorherrschaft betrachtet. Das Stereotyp vom „jüdischen Bolschewismus“ war keine exklusive Erfindung der Nationalsozialisten. Erstmals wurden die Juden kollektiv zu einer Feindgruppe erklärt, die es im Krieg gegen die Sowjetunion zu bekämpfen galt. Die wenige Tage später im ehemals sowjetisch besetzten Ostpolen entdeckten Massenmorde des NKWD boten einen unerwarteten Anlass, diese Richtlinien auch gleich in die Tat umzusetzen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN). Im Juni 1941 bot sich Gelegenheit, die antisemitische und antikommunistische OUN für nationalsozialistische Zwecke zu instrumentalisieren. Wie schon zuvor der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Westpolen sollte nunmehr die OUN zu „Selbstreinigungsaktionen“ herangezogen werden. Die ukrainischen Nationalisten nutzten unter dem Vorwand der Abrechnung mit sowjetischen Kollaborateuren die sich nun bietende Gelegenheit zur „ethnischen Säuberung“. Als Zielgruppen von Ausschreitungen hatten die ukrainischen Nationalisten sowohl Polen als auch Juden im Visier. Tatsächlich kam es allerdings nur zu Pogromen (Hetzen, Ausschreitungen) gegen die jüdische Bevölkerung. An diesem Umstand wird deutlich, wie sehr die deutschen Stellen im Hintergrund die Fäden zogen. Wo die Ukrainer die deutschen Direktiven missachteten und Polen ermordeten, wurden sie von der Wehrmacht bestraft und zum Teil standgerichtlich erschossen. Nach der Entdeckung der NKWD-Opfer in den Gefängnissen entlud sich die antisemitische Stimmung in Pogromen. Beispiel Zloczow S. 181 unten/ S. 182 Lemberg Die Gleichsetzung der Pogrome und die ritualisierte Abfolge lassen darauf schließen, dass die Judenmorde einem gemeinsamen Drehbuch folgten. Das spontane Rachebedürfnis der Bevölkerung angesichts der aufgefundenen NKWD-Opfer wurde von den OUN-Gruppen und den ukrainischen Miliz gezielt auf die Juden gelenkt. Das Zielpublikum dieses grausigen Schauspiels waren die vor Ort anwesenden Wehrmachtstruppen. Hier die Opfer des Bolschewismus – da die Juden, die für dieses Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden. Die rassistische Verschmelzung von Judentum und Bolschewismus sollte internalisiert, aus Soldaten sollten Vernichtungskrieger geformt werden. Für die nationalsozialistische Propaganda waren die NKWD-Verbrechen ein willkommener Anlass, um dem Bild vom „jüdisch-bolschewistischen Feind“ Konturen zu geben und das Verlangen nach Vergeltung zu schüren und in der Bevölkerung die Akzeptanz für die Verfolgung und Vernichtung der Juden zu erhöhen. Die inszenierten Judenpogrome in Ostpolen dienten als ein Wegbereiter für die Judenvernichtung und können als Auftakt zur Judenvernichtung gesehen werden. 63 Mit der Instrumentalisierung der NKWD-Morde war eine entscheidende Hemmschwelle gefallen. Die Juden in der Sowjetunion sollten nun nicht mehr deportiert werden, weil sie – wie die polnischen Juden zwischen 1939 und 1941 – einer „Germanisierung im Wege standen. Mit der Verschränkung von Judentum und Bolschewismus wurden die Juden im Osten de facto zu Kriegsgegnern erklärt. Ihre Ermordung musste somit nicht als Völkermord wahrgenommen werden, sondern konnte als notwendige Kriegsmaßnahme im Kampf gegen den Bolschewismus verstanden werden. Der nationalsozialistische Krieg hatte den Wandel zum Vernichtungskrieg vollzogen. Resümee Die zwischen September 1939 und Juni 1941 von Deutschland und der Sowjetunion besetzten polnischen Gebieten eignen sich wie wenig andere für eine vergleichende Darstellung von Kriegs- bzw. Besatzungspolitiken zweier totalitärer Systeme. Deutlich wird dabei, dass beide Systeme einen „totalen Anspruch“ auf die jeweilige Gesellschaft erhoben und mit Terror versuchten, die Bevölkerung zu homogenisieren, wobei sie jeden gesellschaftlichen und institutionellen Raum zerstörten, der die Verwirklichung ihrer Herrschaftsziele hätte verhindern können. Eine zentrale Kategorie des Totalitarismus ist der eingesetzte Terror. Der Vergleich zeigt, dass der nationalistische und der stalinistische Terror in Polen einen qualitativ ähnlichen Grad erreicht hatte. Auch die Instrumente des Terrors in Polen waren auf weite Strecken ident: - Ermordung der nationalen Führungsschicht - Masseninhaftierung - Deportation - Massenexekutionen Im Vergleich zum Nationalsozialismus war die „Sowjetisierung“ ein „rationales“ Projekt, das mittels massiven Terrors umgesetzt werden sollte. Dieser analytische Schluss bedeutet allerdings nicht, die Verbrechen des Stalinismus in Ostpolen zu relativieren, die zwischen 1939 und 1941 mehr Opfer forderten als die nationalsozialistische „Germanisierungspolitik“. Beide totalitären Systeme fielen in dieser „friedlichen“ Kriegsphase hunderttausende Menschen zum Opfer. 64 10.Schwache Staaten und ökonomische Entwicklung Organisierte Kriminalität und Korruption auf dem Balkan Lage, Ursachen und Perspektive Norbert Mappes-Niediek Die Kriminalisierung der Volkswirtschaften auf dem Balkan bedarf scheinbar keiner genaueren Erklärung. Zu plausibel ist die Annahme, sie sei einfach eine Folge der ethnischen oder „nationalen“ Konflikte der 90er-Jahre, die zu Gesetzlosigkeit und „Verrohung“ geführt hatten. Schon auf einen flüchtigen Blick fällt dieses Muster in sich zusammen. Erstens ist Kriminalisierung für europäische Nachkriegsgesellschaften allenfalls für kurze Chaosphasen typisch. Zweitens sind die entscheidenden Schritte zur Kriminalisierung der BalkanÖkonomien schon vor den Kriegen gesetzt worden, und drittens hat das am stärksten betroffene Land, Albanien, überhaupt keinen Krieg erlebt. Zur Lage Die organisierte Kriminalität mit ihren Verbindungen zu Politik und Behörden gehört zu den größten Herausforderungen für die jungen Nationen Südosteuropas, namentlich in Albanien, Serbien, Montenegro, dem Kosovo, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. Die kriminellen Strukturen, die sich im Jahrzehnt der Kriege herausgebildet haben, wirken auch heute allesamt weiter. Einzelne „Branchen“ des internationalen Verbrechens zu bekämpfen, nützt wenig. Die einmal etablierten Kanäle werden heute für jede Art von Waren weiter genützt. Die Grenze zwischen ethnischen und kriminellen Konflikten ist nicht mehr scharf. Der letzte Krieg im frühen Jugoslawien, der in Mazedonien 2001, ist als inszeniert beschrieben worden; er gehorchte einer Logik, die den Interessen der organisierten Kriminalität und nicht denen der albanischen Minderheit im Lande entsprang. In Südosteuropa lassen sich drei verschiedene Entstehungsmuster der Verbindung zwischen organisierter Kriminalität und Politik ausmachen, die aber alle drei zu ähnlichen Ergebinssen führen. Das älteste der drei Muster ist das jugoslawische: 65 Die Belgrader Unterwelt wurde in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren systematisch mit Polizeiausweisen ausgestattet. Kriminelle wurden benutzt, damit sie Kroaten, bosnische Muslime und Albaner aus ihren Siedlungen vertrieben, sie töteten und ihre Wohnungen plünderten. Kriminelle Banden und Individuen dienten dazu, Jugoslawien währen der UNSanktionen mit Gütern zu versorgen. Verbrecher wurden angeheuert, um verschiedene Bevölkerungsgruppen zu tyrannisieren und zu töten und es waren kriminelle Verbindungen nötig, um das UN-Waffenembargo zu umgehen. Die Wurzeln dieses Musters liegen im internationalen Handelsembargo 1992 und 1995. Ein kroatischer politischer Philosoph verglich den Effekt der Sanktionen auf die organisierte Kriminalität mit dem der Prohibition in den USA auf die Entwicklung der Mafia. Das zweite Muster der Verbindung von Politik und organisiertem Verbrechen ist das osteuropäische, das auf dem Balkan in Bulgarien vorherrscht und das sich in Russland in ausgeprägter Form beobachten lässt. (Die herrschende Klasse nützt ihre Verbindungen zu staatlichen Betrieben weit über den Fall des Kommunismus hinaus) Das dritte Muster, das private, trifft man am häufigsten in den von Albanern besiedelten Gebieten. Dabei ist keines dieser drei Muster etwa ethnisch exklusiv. In den meisten von Albaneren besiedelten Gebieten stimmten die Interessen des organisierten Verbrechens mit denen der Bevölkerung für eine Weile überein. Beide setzten ihre Energie darein, den Staat aus ihren Sphären fern zu halten – die einen, weil dessen Repräsentanten alle korrupt und repressiv waren, die anderen, weil sie wegen ihrer finsteren Geschäfte jeden Staat, auch einen gerechten demokratischen, zu fürchten hatten. „Freiheit“ und, präziser und politischer, die Schaffung von „befreiten Zonen“ waren das Ziel aller albanischen Bewegungen seit 1990. Die Vision war, dass in einer befreiten Zone jede Familie ihrer Arbeit und ihren Geschäften ohne Belästigung und ohne Tributzahlung würde nachgehen können. Die organisierte Kriminalität in Südosteuropa ist auf dem Wege, sich von ihren regionalen Wurzeln abzulösen und sich zu internationalisieren. Die wirtschaftliche Schwäche der Balkanstaaten betrifft, nicht wie in Westeuropa angenommen, die kriminellen Branchen nicht. Nicht im kriminellen Potenzial lokaler Banden liegt die größte Gefahr, sondern in der internationalen Kooperation der Szene. Zum Beispiel nutzen Drogen und Schmuggelsyndikate mit Basis in Ägypten und in Kolumbien die Schwäche des Albanischen Staates um Niederlassungen zu gründen und Transaktionen in alle Welt durchzuführen. Wichtigste Ressource für die organisierte Kriminalität ist die Schwäche der Staaten: Ineffiziente und korruptionsanfällige Polizei Allgemeine Schwäche und Unsicherheit der Behörden öffentliche Armut ethnische Konflikte in Minderheitsgebieten eine staatsferne bis staatsfeindliche Haltung großer Teile der Bevölkerung. Der Balkan bietet international agierenden Banden einige wichtige Standortvorteile. Internationale Drogenkartelle finden entwickelte, oft über Jahrzehnte erprobte Schmuggelwege vor. Die geografische und kulturelle Nähe zu Westeuropa ist ein weiterer Standortvorteil. Lokale Banden können - sehr viel leichter als Täter aus dem arabischen Raum oder Kolumbine - über Arbeitsemigranten Kontakte in westeuropäische Metropolen herstellen. 66 In der Regel ist die politische Klasse mit der organisierten Kriminalität über Korruption verbunden. Ziel der organisierten Banden ist es nicht, in schwachen Staaten selbst die Macht zu übernehmen. Sie profitieren vielmehr direkt von der Schwäche der Behörden. Das ideale Biotop für kriminelles Leben ist ein black hole, ein Gebiet, das von den Behörden des Staates nicht kontrolliert wird. Schon seit Mitte der 90er-Jahre ist in der organisierten Kriminalität eine „Privatisierung“ zu beobachten. Während die Staaten und mit ihnen die Politiker zunehmend um Anschluss an den Westen und internationale Reputation bemüht sind, nutzen private Banden die so erreichte Annäherung an die EU zur Ausweitung ihrer Geschäftszonen. Klassische Weise des Umgangs zwischen organisiertem Verbrechen und Politik ist heute das Racketeering, eine Schutzgelderpressung auf hohem Niveau. In machen Staaten gilt es als üblich, für politische Entscheidungen mit wirtschaftlichen Folgen von dem Begünstigten einen Tribut zu verlangen. Die Gehälter selbst von Ministern sind so niedrig, dass ihre Bezieher alle Autorität verlören, wenn sie sich wirklich auf diese Einnahmen beschränken würden. Das kriminelle Element verkehrt manche Strategien der internationalen Gemeinschaft in ihr Gegenteil. Vor allem in den Protektoraten und in den Staaten, in denen die internationale Gemeinschaft über einen besonders großen Einfluss verfügen, verliert die nationale Politik oft in dem Maße an Einfluss in der eigenen Bevölkerung, wie sie den Erwartungen der internationalen Aufseher entspricht. Wo es an der gesellschaftlichen Akzeptanz und an Institutionen mangelt, die neue rechtsstaatliche Regeln anwenden können, kann Reformeifer die ohnehin schwache staatliche Autorität weiter schwächen. Komplementär kommt es dort zu Machterweiterung konkurrierender, krimineller Strukturen. Die Dezentralisierung der Staatsgewalt, die als Mittel zur Entschärfung ethnischnationaler Konflikte gilt, kann in black holes dazu führen, dass Kriminelle direkten Zugriff auf Steuergelder und vor allem auf die Polizei bekommen. In Ost- und Südmazedonien sind heute schon lokale Machtmonopolisten Herr über Parteien, Kommunalverwaltung und Medien. Heute bilden die nationalen Behörden gegen solche Strukturen noch ein gewisses Gegengewicht. Weiter Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung liefert ihnen die örtliche Bevölkerung vollständig aus. Es ist ein Trugschluss zu meinen, die Machtverlagerung auf die kommunale Ebene sei geeignet, ethnische Konflikte zu entschärfen. Zu den Ursachen Die jungen Nationalstaaten und erst recht die Protektorate genießen weder bei ihren Bürgern noch bei ihren eigenen Beamten Autorität. Diese Staaten sind nicht wie die meisten westeuropäischen als Projekt gesellschaftlicher Integration entstanden, sondern waren im Gegenteil das Ergebnis gesellschaftlicher Desintegration. Alle neuen Staaten sind Projekte nationaler Parteien, die während der Kriege auch Konfliktparteien waren und sich um militärsicher Vorteile und ethnischer Integration willen auch mit kriminellen Elementen der jeweiligen Ethnie verbündete. Die jungen Nationalstaaten könne auch heute, nach Ende dieser Konflikte, kaum soziale Rechte garantieren, wie einst der jugoslawische Staat es konnte. Die offensichtliche Außensteuerung entwertet sie in den Augen der Bürger zusätzlich. 67 Nicht die Rechtsstaatlichkeit steht im allgemeinen Bewusstsein im Zweifel, sondern der jeweilige Staat als der dafür nötige referenzielle Rahmen. Eine Ausnahme bildet Albanien, wo nie Verhältnisse herrschten, die nur entfernt an einen Rechtsstaat erinnerten. Grundlage der westlichen Balkan-Politik ist die Hoffnung, dass der öffentlich ausgestellte Nationalismus neben Hass auf Nachbarvölker auch ein starkes Element von Gemeinsinn enthält, das für die Bildung eines Rechtsstaats genutzt werden könnte. Westeuropäische Nationalstaaten entstanden in früheren Jahrhunderten, weil die Menschen ihre Angelegenheiten selbst regeln wollten – Republik, Demokratie und freier Markt waren ihre Ziele. An solchen nationalen Bewegungen hat es auf dem Balkan in den 1990er-Jahren aber nicht eine einzige gegeben. Es war auch nicht das Bürgertum, die zur neuen Macht drängende Gesellschaftsschicht, sondern auf allen Seiten die alten kommunistischen Eliten. Die „Nationen“ blickten nicht nach innen und versuchten nicht, ihre Probleme zu lösen, eine funktionierende Wirtschaft, einen Staat und moderne Institutionen aufzubauen, sondern sie blickten nach außen. Probleme wurden nicht gelöst, sondern auf die andere Nation projiziert. Es war der Mechanismus, der die „ethnischen Säuberungen“ hervorbrachte. Der Nationalismus der Balkanstaaten steht in einem ganz andern historischen sozialen Kontext als die westlichen Nationalismen des 19. Jhdts. In Wirklichkeit wollen die meisten Menschen auf dem Balkan keine Nationalstaaten. Sie wollten seinerzeit bloß einen Staat loswerden, der nicht funktionierte. Mit den neuen Gebilden identifizieren sie sich nicht. Sie sind die Projekte der alten Eliten geblieben. Eine „Nation“ ist im osteuropäischen Verständnis vor allem eine Kulturgemeinschaft. Das Paradebeispiel für ein solches Nationsverständnis, Bosnien mit seinen drei „konstituierenden Völkern“, von denen zwei, Serben und Kroaten, auf Zentren außerhalb des Landes orientiert sind, hat in seiner komplizierten Geschichte immer nur dann funktioniert, wenn es Teil einer größeren Einheit war, die auch die beiden fernen Zentren, Belgrad und Zagreb, mit umfasste. Seit Jugoslawien zerbrochen ist, kann diese „größere Einheit“ nach Lage der Dinge nur die Europäische Union sein. Die einander entsprechenden Konzepte von state building und nation building beruhen auf der Annahme einer Korrespondenz zwischen Staat und Nation, die man in Osteuropa nicht ohne weiteres unterstellen darf. Die gewöhnliche Unterstellung, Staaten seien immer die Hervorbringungen einer Gemeinschaft, der Nation eben, ist empirisch falsch. Als Albanien am Jahreswechsel 1912/1913 für unabhängig erklärt wurde, gab es zwar eine nationale Bewegung, aber sie war viel zu schwach, als dass sie einen Staat hätte tragen können. Die Unabhängigkeit ist Produkt der Interessen der europäischen Großmächte, die einen Sperrriegel gegen serbische und russische Aspirationen (Bestrebungen) auf das Mitteleer brauchten. Sie fragten nicht nach, ob es in Albanien wirklich ein Staatsvolk gab. Das erschien ihnen selbstverständlich. Albanien musste zu Beginn des 20. Jhdts zum Nationalstaat erklärt werden, um mit den westeuropäischen Staaten kompatibel zu sein. Die neuen Balkanstaaten sind aus demselben Motiv entstanden. Die Europäische Union ist noch immer ein Klub von Nationalstaaten. Der Balkan passt schlecht zur EU wie sie ist, aber schon weit besser zu einer EU wie sie sein sollte: als ein Raum mit offenen Grenzen, vielen Sprachen und Kulturen, einigen klaren Regeln, größtmöglicher Selbstverwaltung auf lokaler Ebene, mit Reise- und Niederlassungsfreiheit für alle. 68 Niemand wäre mehr in einem ungeliebten Nationalstaat eingesperrt und dessen korrupten Politikern ausgeliefert. Die Konflikte der 90er-Jahre, die alle um die Verteilung von Territorium und den Verlauf von Grenzen geführt wurden, wären mit einem Schlag um ein wichtiges Moment entschärft. Die Werte und Regeln der Europäischen Union stellen, anders als die nationalen, grundsätzlich kein Konfliktpotenzial dar. Innere und äußere Grenzen behindern nur die Staatstätigkeit, nicht aber die Kanäle für den Waren- und Informationsaustausch krimineller Banden. Der Zerfall Jugoslawiens hat einen Wirtschafts- und Kulturraum mit staatlichen Grenzen durchschnitten. Die dadurch entstandene Inkongruenz (Nichtübereinstimmung) schwächt die Ordnungskräfte und stärkt das organisierte Verbrechen. Kriminelle sind in der glücklichen Lage, Behörden, die voneinander nichts wissen und nicht kooperieren, im Namen der „Bürgerfreiheit“ gegeneinander ausspielen zu können. Es gibt zwischen den Balkanstaaten keinen produktiven Wettstreit bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Stattdessen wird die Rede davon überall als PropagandaInstrument gegen das als feindlich wahrgenommene Nachbarvolk genutzt. Die neuen Grenzen sind für das organisierte Verbrechen kein Hindernis, sondern eine Ressource. Unterschiedliche Steuer- und Zolltarife lassen den illegalen Warenhandel erblühen, Grenzkontrollen ernähren neue Schmugglerpopulationen. Relativ zu den kleinen, schwachen Staaten wächst die Macht und Bedeutung des organisierten Verbrechens. Vor einer internationalen „Aufsicht“ über die Polizei oder die Verwaltung brauchen sich die Banden nicht zu fürchten. Die Aufpasser können de facto Vorschriften erlassen, sind aber zu ihrer Umsetzung auf den nationalen Apparat angewiesen. Die ausländischen Polizisten sind immer hoffnungslos in der Minderzahl und verzweifeln an der Sprachbarriere. Das Problem ist im Prinzip erkannt. Auf diplomatischer Ebene haben sich inzwischen dutzende Behörden und Gesprächskreise etabliert: Die Südosteuropäische Kooperationsinitiative (SECI) unterhält ein Crime Center in Bukarest. Der „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ hält eine Initiative gegen organisiertes Verbrechen (SPOC) Der Europarat ein Programm namens Paco ins Leben gerufen Die wenigen wirklichen Experten haben für die diplomatischen Scheinaktivitäten nur Geringschätzung übrig. „Keiner von diesen Leuten ist wirklich operativ tätig“ Im Prinzip stehen internationalen Behören drei Wege zur Verfügung die Kriminalisierung der südosteuropäischen Staaten zu bekämpfen: direkte Polizeiinterventionen wie im Kosovo Anregung von Gesetzen und personelle Umbesetzungen in Polizei und Verwaltung wie in Bosnien und Albanien diplomatischer Druck: „Zuckerbrot und Peitsche“ wie in Serbien, Montenegro, Mazedonien und Bulgarien. Keine dieser Möglichkeiten kann eine Alternative zu Eigeninitiative der Bürger sein. Der offensichtliche Mangel dieser Eigeninitiative widerspricht den Versprechungen des Nationalismus auf flagrante Weise. 69 Armut und Arbeitslosigkeit führen dem kriminellen Bandenwesen in großem Stil einen motivierten und erfindungsreichen Nachwuchs zu. In den meisten Balkanländern haben intelligente und initiative junge Männer außerhalb der Hauptstädte kaum eine Chance zu einer nicht kriminellen Karriere, besonders dann nicht, wenn der brain-drain durch restriktive Einwanderungsbestimmungen eingedämmt wird. Das Verlassen des Landes, einziges Ventil in dieser Lage, kommt in den meisten Fällen dem Verlassen der Legalität gleich. Da die Volkswirtschaften in den 90er-Jahren kaum schlüssig reformiert wurden, war es niemandem möglich, mit eigenem Erfindungsreichtum und Unternehmergeist ohne politische bzw. mafiöse Kontakte reich zu werden. Außerhalb der Szene der Kriegshelden und der Kriminellen gibt es kaum noch mögliche Vorbilder, denen sich nachzueifern lohnte. So verschieben sich in der jungen Generation allmählich auch die moralischen Standards. Ethnische Gegensätze werden genutzt, um aktive Unterstützung gegen polizeiliche Interventionen zu mobilisieren. Kriminell motivierte Gruppen nützen die ethnischen bzw. politischen Konflikte gezielt als Cover up. Auch wenn die lokale Bevölkerung den kriminellen Charakter vorgeblicher politischer Bewegungen klar durchschaut, können diese zumindest mit passiver Solidarität rechnen. Grund: Die historische Erfahrung. Wenn es hart auf hart kommt, wird der ethnisch verfasste Staat die Angehörigen des Staatsvolkes und nicht die der Minderheit schützen. Will etwa die mazedonische Polizei einen albanischen Drogendealer verhaften, so muss dieses Vorhaben nicht nur zwischen den ethnisch verschiedenen Regierungsparteien, sondern auch mit der Opposition und den westlichen Botschaften in Skopje abgesprochen werden. Verzicht auf diese Vorsicht würde mit hoher Wahrscheinlichkeit ethnische Konflikte entfachen. Organisierte Kriminalität und Korruption verfügen in allen Balkanländern über eine erhebliche historische Tiefe. In osmanischer Zeit bekamen Statthalter der Hohen Pforte ihre Ämter als Pfründen. Sie tasteten die lokalen Herrschaftsverhältnisse wenig an, erhoben aber Steuern von denen sie sich selbst ernährten und einen Teil nach Istanbul abführten. Dieses Verständnis öffentlicher Ämter ist in Gebieten, die lange Zeit unter osmanischer Herrschaft standen, bis heute nicht verschwunden. Näher als der Staat bei den Interessen besonders der Landbevölkerung standen lange Zeit die Hajduken, Söhne der Balkanländer, die mit der osmanischen Autorität über Kreuz geraten waren und in die Wälder flohen, wo sie sich mit Raubüberfällen am Leben hielten. In den Befreiungskämpfen des 19. Jhdts spielen die Hajduken eine wichtige Rolle. Auch in kommunistischer Zeit wurden die Ahnherren des Bandenwesens als Vorläufer der Partisanen geachtet. Generell entwickeln ausgeprägte Viehzüchtergesellschaften wie die auf dem Balkan ein andere Verhältnis zur Legalität und Verbrechen als Ackerbaugesellschaften. Halbnomaden, die bis ins 20. Jhdt vor allem auf dem West- und Südbalkan anzutreffen waren, bewegten sich steht in latent feindlicher Umgebung, waren bewaffnet und vertrauten niemandem. In Albanien pflegten Viehzüchterfamilien noch im frühen 20. Jhdt, wenn gegen Ende des Winters die Vorräte ausgingen, auf Raubzug zu gehen. 70 Zur Perspektive Eine allmähliche Legalisierung und Legitimierung der kriminellen Akkumulation wird auf dem Balkan nicht stattfinden. Von optimistischen Beobachtern hört man oft, dass spätestens die zweite Generation der Bandenführer, um ihr erworbenes Eigentum zu schützen, Interesse an einem Rechtsstaat entwickeln werden. In einer globalisierten Welt ist es für die zweite Generation jedoch leichter und erträglicher im Westen zu leben und den Balkan nur als Operationsgebiet zu nutzen. Nur eine suprastaatliche Einheit kann die Mittel entwickeln und die moralische Autorität genießen, die für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf dem Balkan nötig wären. Für nachhaltige Erfolge auf dem Balkan ist an eine Weiterentwicklung von Europol zu einem europäischen FBI zu denke. Sollte es gelingen die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in der EU zur Gemeinschaftsaufgabe zu machen, den europäischen Haftbefehl einzuführen und grenzüberschreitende Ermittlungen weiter zu erleichtern, so könnten und müssten in diesen neuen europäischen Rechtsraum auch derzeitige und künftige Kandidatenländer in Südosteuropa einbezogen werden. 71 11. Kongo „Humanitäre Intervention“ im Stellvertreter-Bürgerkrieg Walter Schicho Im Dezember 2004 erklärte die Regierung Rwandas wieder einmal, sie werde Truppen in die benachbarte Demokratische Republik Kongo (DR Kongo) entsenden. Mit dem Argument, es müsse jene bestrafen, die die Verantwortung für den Genozid 1994 trugen. Damit erneuerte Rwanda den Anspruch auf ein grenzüberschreitendes „Recht auf Verfolgung“. Dieses „Recht“ zur Verfolgung der Interahamwe genannten Miliz und Teilen der früheren rwandischen Streitkräfte war und ist ein Argument, um das Eingreifen in die bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten der DR Kongo zu rechtfertigen und sich zugleich an der seit Jahren andauernden Plünderung des Gebiets zu beteiligen. Das Interesse an den wertvollen Bodenschätzen in der Region beschleunigte wohl auch die Reaktion jener globalen politischen Kräfte, deren Interventionen seit mehr als zehn Jahren den Konflikt in Zentralafrika nicht hatten beenden könne. (UNO, USA, EU) Die Auseinandersetzungen jedoch zwischen kongolesischem Militär, Milizen der Mayi-Mayi, den Interahamwe und rwandischen Soldaten nahmen zu. Untersuchungen zufolge kostete der Krieg im Ostkongo zwischen 1996 und 2004 3,8 Mio. Menschen das Leben und wurde zum global opferreichsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Madeleine Albright und Dominic Johnson bezeichneten diesen Konflikt „Afrikas Erster Weltkrieg“. Zu dieser Ansicht verleitet die Tatsachen, dass sechs afrikanische Staaten und mindestens acht verschiedene Rebellengruppen involviert sind. Der Begriff „Weltkrieg“ suggeriert jedoch eine militärische und militärtechnologische Dimension, von der die bewaffneten Auseinandersetzungen weit entfernt waren und sind. Die Beteiligung der Nachbarstaaten erfolgte zu unterschiedlichen Zeiten und blieb oft auf relativ kleine Kontingente beschränkt. Der Krieg in Zentralafrika ist kein „afrikanischer Weltkrieg“ sondern ein „StellvertreterKrieg“, wie es viele Auseinandersetzungen in der Peripherie im Verlauf des 20. Jhdts sind. Der „Flächenbrand“ Zentralafrikas besteht im Wesentlichen aus einer Anzahl „kleinerer Kriege“ lokaler Prägung und Dimension. Die herrschende Meinung in den Industriestaaten ist geprägt von alten und neuen Vorurteilen und von Selbstschutzmechanismen, die das Gewissen der Menschen in den reichen Staaten des Nordens entlasten sollen. Dazu gehören das das Klischee von den „Stammeskriegen“ der Vorwurf des „irrationalen“ Verhaltens der Akteure die Schuldzuweisung an die Betroffenen das Argument der Passivität der Bevölkerung und die Korruptheit ihrer Eliten Damit wird nicht nur der Krieg in die Verantwortung der Betroffenen abgeschoben, sondern auch das Scheitern der Friedensverhandlungen. 72 Der globale und regionale Kontext von Afrikas Kriegen „Das Merkwürdige an diesem Kalten Krieg war, dass objektiv betrachtet gar keine unmittelbare Kriegsgefahr bestand.“ Hobsbawm Damit hat er Recht soweit es den Norden betraf, wo die hegemonialen Zonen seit der Konferenz von Jalta abgesteckt und von beiden Seiten akzeptiert waren. Im Süden schuf die Gründung neuer Staaten und die willkürliche Festlegung von Grenzen jedoch durch aus neue Verhandlungsräume und Konflikte; die Supermächte hatten keinerlei Bedenken dort direkt oder mittels Stellvertreter konventionelle, räumlich begrenzte Kriege zu führen. Diese Kriege waren ein willkommenes „Labor mit echten Bedingungen“ für die Entwicklung neuer Technologien und neuer politischer Strategien sie kurbelten die Wirtschaft der Industrieländer an boten eine Arena zur Austragung der Supermachtsgegensätze, ohne dass die Bevölkerung der reichen Länder davon betroffen war förderten die eigenen Investitionen in den „Entwicklungsländern“ und verhinderten wirtschaftliche Erfolge der anderen. Immer häufiger ausbrechende innere Konflikte zeigten, dass in den neuen Staaten der Prozess der „Nationbildung“, die Konsolidierung eines Staates in seinen willkürlichen kolonialen Grenzen kaum Wirkung gezeigt hatte. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen verstärkte eine allgemeine Gewaltbereitschaft in der afrikanischen Bevölkerung. Der Lebensstandard der breiten Bevölkerung wurde nach der Unabhängigkeit nur ansatzweise verbessert und seit dem Ende der 1960er-Jahre begann in vielen Teilen Afrikas eine Rückentwicklung. Da die Menschen in den Städten keine Arbeit fanden und die Bevölkerung rasch zunahm, wurde in manchen Teilen Afrikas der Boden für die Agrarproduktion knapp. Die Arbeitslosen hatten keine Möglichkeit mehr, sich in eine bäuerliche Subsistenzproduktion zurückzuziehen. Der Hunger veränderte die Situation der Menschen ebenso wie die in den 1970er-Jahren vehement einsetzenden internationale Katastrophenhilfe. Leben reduzierte sich für viele auf die Frage des Überlebens und die Gewöhnung an totale Abhängigkeit. In dieser Zeit stiegen die unproduktiven Ausgaben des Staates gewaltig (Militär, Prestigebauten, …). Immer weniger Regierungen konnten ihr Budget selbst finanzieren und erhielten daher durch Kredite oder „Finanzhilfe“, häufig von Seiten der früheren Metropole, Unterstützung. Die Gewährung oder Verweigerung dieser Unterstützung entschied über Bestand oder Zusammenbruch einer Regierung. Die einheimischen Politiker kaschierten den Verlust an Macht und Unabhängigkeit durch übersteigerten Personenkult und rituelle Inszenierung der Macht. Slums wurden geschliffen um Platz für die Villen eingeladener Staatsoberhäupter zu machen; statt Bussen für den öffentlichen Verkehr kaufte der Staat Luxuslimousinen, usw. All dies war für die Bevölkerung sichtbar. Ihr Protest richtete sich allerdings nur relativ selten gegen die eigenen Eliten und deren ausländische Partner. Die steigende Aggressivität fand ihr Ventil vielmehr in Gewalt gegenüber Familienmitgliedern, Nachbarn, Minderheiten. Immer häufiger nützten Politiker – an der Macht wie in der Opposition – diese Gewaltbereitschaft der Massen zur Durchsetzung eigener Ziele. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete keineswegs das Ende der Gegensätze und Konflikte im Süden. Die Entmachtung von Langzeitdiktatoren und die lautstarke Förderung der Demokratie durch die USA, ihre Vorfeldorganisationen und durch die EU in den 1990er-Jahren waren häufig 73 der Nährboden für brutale Konflikte und günstige Bedingungen für das Hochkommen neuer korrupter Eliten. Mit dem Wegfall autoritärere staatlicher Gewalt entstanden vielmehr zahlreiche neue lokale Mächte, die miteinander und mit den verbliebenen alten Mächten um die Kontrolle der Ressourcen und der Bevölkerung mit den gewohnten Mitteln (Gewalt, Terror Bestechung und Krieg) stritten. Da der Staat seine Aufgabe der Regulierung und Kontrolle nicht mehr wahrnahm und im Wirtschaftsbereich aufgrund der Forderung der global players nach „mehr Markt“ nicht mehr wahrnehmen durfte, blieben die unterschiedlichen gesellschaftlichen Räume der Willkür eigensüchtiger Akteure überlassen. So entstanden in den 1990er-Jahren zahlreiche kleine bewaffnete Konflikte, die sich wie ein Flächenbrand ausbreiteten. Die „kleinen Kriege“ und die These von der „neuen Barbarei“ In dem Maß, in dem der Staat und andere Institutionen der gesellschaftlichen Kontrolle an Einfluss und Macht verloren, stieg die Zahl der „kleinen Kriege“. Für den Ethnologen Paul Richards bedarf es einer „feinkörnigen Analyse“, um den vielfältigen Hintergründen und Ursachen auf die Spur zu kommen. Nur so sei es möglich, gegen die plakativen und populären Erklärungsansätze anzuschreiben, die die steigende Gewalt in unterschiedlichen Teilen unserer Welt auf Verknappung der Ressourcen, steigende Bevölkerung und mangelnde Zivilisation zurückführen. Richards nennt diese im Norden weit verbreitete Sichtweise „new barbarism thesis“ und nimmt in diesem Zusammenhang vor allem auf den amerikanischen Journalisten Robert Kaplan Bezug. In einem Essay mit dem Titel „The Coming Anarchy“ beschreibt Kaplan 1994 im Atlantic Monthly ein Untergangsszenario, in dem er „Knappheit, Verbrechen, Überbevölkerung, Tribalismus, und Krankheit“ dafür verantwortlich machte, dass „das soziale Gebäude unseres Planeten rasch zerfällt“. Die Erklärungsversuche, ausgenommen die oben genannten, für das Entstehen der zahlreichen Kriege berücksichtigen die jahrhundertlangen Erfahrungen der afrikanischen Gesellschaften mit Gewalt im Kontext von Sklavenhandel und Kolonialisierung Korruption und Bereicherung der Eliten im patrimonialen Staat die Hilflosigkeit afrikanischer Produzenten angesichts eines internationalen „Marktes“, der willkürlich den Wert ihrer Arbeit und Produkte drückt die Strukturanpassungsprogramme der Bretton-Woods-Institutionen die Frustration der jungen Leute mit mittlerer Schulbildung ob der Aussichtslosigkeit ihrer Existenz sowie die Auffassung von Krieg als „dramatischem Handeln“ unter Verwendung (pseudo-) traditioneller Elemente 74 Zentralafrika „in Flammen“ Die verschiedenen Vorgeschichten des „afrikanischen Weltkriegs“ In den frühen 1990er-Jahren war die DR Kongo umgeben von Staaten, in denen offen und verdeckt kriegerische Auseinandersetzungen stattfanden. Angesichts der Beliebigkeit, mit der die kolonialen Mächte einst ihre Grenzen quer durch vorhandene kulturelle, wirtschaftliche und politische Räume gezogen hatten, boten die angrenzenden Teile des Kongo verschiedenen Krieg führenden Parteien der Nachbarstaaten ein ideales Hinterland, mit dessen Bevölkerung sie gemeinsame Sprache, Geschichte, Religion und Wirtschaftsinteressen verbanden. Teile der heutigen DR Kongo wurden so auf unterschiedliche Weise immer wieder in Konflikte einbezogen, und „exportierten“ ihrerseits die „kleinen Kriege“ der 1960er-Jahre und oppositionelle Gruppen gegen das Regime Mobutu in diese Staaten. Die Konflikte Bürgerkrieg in Angola ab 1975 Inneren Auseinandersetzungen in der Republik Zentralafrika und der Republik Kongo in den 1990er-Jahren Beginn des Bürgerkriegs im Sudan 1983 Uganda Uganda und Rwanda im Kongo: „eine wahre Ökonomie des Raubes wurde 1996 aufgebaut, zum Nutzen von Rwanda und Uganda, dessen Goldexporte sich bald verdreifachten. Der eigentliche Auslöser für den Krieg im Kongo war jedoch der weit in die Kolonialzeit zurückreichende soziale Konflikt in Rwanda und Burundi. „Hutu“ und „Tutsi“ – zwei Bevölkerungsgruppe, deren unterschiedlicher Status christliche Missionen und verschiedene koloniale Mächte im eigenen Interesse hochspielten – wurden im Verlauf der Kolonialzeit zu antagonistischen Akteuren. 1972 verloren in Burundi zwischen 100 000 und 300 000 Menschen ihr Leben. Die herrschende Klasse, im Wesentlichen die Elite der Tutsibevölkerung, machte durch diesen Massenmord ihre Kontrolle über Macht und Reichtum des Landes für fast eine Generation unangreifbar. In Rwanda gewannen umgekehrt die „Hutu“ bereits vor der Unabhängigkeit die Oberhand und vertrieben die „Tutsi“. Milizen (die Interahamwe), Teile der Armee und durch Medien aufgehetzte Bürger metzelten 1994 nahezu eine Million Menschen nieder. 75 „Der Krieg wird zwar von den Militärs geplant, aber nicht mehr von ihnen, sondern von Zivilisten geführt, die als Kampfmaschinen durch lokale Medien gesteuert werden. (…) Wir haben immer noch nicht begriffen, welch wichtige Rolle die Medien als Kriegstreiber spielen, und wie wirksam sie es tun.“ Francoise Bouchet-Saulnier Die von Uganda gesteuerte Patriotische Front unter Führung von Paul Kagame („Tutsi“) übernahm die Macht in Rwanda und die alte Regierung, mit ihr die Mörderbanden, flüchteten und mit ihnen nahezu die Hälfte der rund acht Millionen Einwohner. Vor allem Zaire musste innerhalb kürzester Zeit eine sehr große Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Die Interahamwe regierten in Lagern weiter. Die internationale Gemeinschaft versagte angesichts der Tragödie in Zentralafrika. Frankreich und Mobutu stellten sich auf die Seite der vertriebenen rwandischen Regierung, Uganda die USA und Südafrika standen mehr oder minder offen hinter der Patriotischen Front, Belgien, die UNO und die meisten Hilfsorganisationen kläglich dazwischen. Wie immer war das Mandat der UN-Vertreter vor Ort nicht klar definiert und der Streit zwischen den Teilorganisationen – geführt in Genf, New York und anderen bequemen Orten des Nordens – verringerten die Wirksamkeit der zahlreich angereisten Experten noch weiter. Die Aktivitäten der Hutumilizen in den Flüchtlingslagern in Zaire wurden das auslösende Moment für Rwandas Angriff auf den Osten Zaires, der im Wesentlichen durch Soldaten der Patriotischen Front getragen war und die Unterstützung Ugandas hatte. Kongo: Geschichte der Gewalt – Gewalt der Geschichte „Die Krise im Kongo darf nicht als isoliertes Ereignis verstanden werden; es ist das Ergebnis einer Serie postkolonialer Tragödien, die das Erbe eines harten Kolonialismus und einer fehlgeleiteten Unabhängigkeit verschärften.“ Crawford Young Immer wieder wurde in den letzten Jahren die brutale Erfahrung des „Raubkolonialismus“ aus der Zeit des Kongo Freistaates aufgegriffen und mit der Beschreibung und Analyse des zentralafrikanischen Weltkrieges verbunden. Die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der „Belgische Kongo“ unter der Herrschaft von „Staat, Mission und Kolonialgesellschaften“ allerdings nicht viel anders als andere Kolonien in Afrika. In den 1950er-Jahren schlug Belgiens Versuch, mittel eines kolonialen Wohlfahrtsstaates die Unabhängigkeit hinauszuzögern fehl, und der überhastete Prozess der Unabhängigwerdung führte direkt hinein in mehrer Jahre der Anarchie. Die in den 1950er-Jahren entstandenen Parteien waren ethnisch ausgerichtet und darüber hinaus von einzelnen Persönlichkeiten dominiert, von denen die meisten ihre eigenen Interessen vor die Interessen des jungen Staates stellten. Patrice Lumumbas Mouvement National Congolais gewann zwar eine relative Mehrheit, hatte jedoch Schwierigkeiten, eine Regierung zu bilden: Meuterei kongolesischer Soldaten Provinz Katanga erklärt ihre Sezession Ermordung Lumumbas durch konservative kongolesische Politikern und Offizieren mit Unterstützung der Belgier und den USA, weil sein antikolonialer und vor allem antikapitalistischer Diskurs die westlichen Industriestaaten mehr empörte als erschreckte. 76 Wie Ende der 1990er-Jahre trugen Interventionen von außen (Belgien, UNO, …) weniger zur Beruhigung der Lage bei, als dazu die Auseinandersetzungen, vor allem in Osten, weiter anzuheizen. Die Forschungen belgischer Historiker zeigen recht deutlich, dass die Rebellion der 1960erJahre von ähnlichen sozialen Gruppen getragen wurde wie die „kleinen Kriege“ der 1990erJahre. sehr wenig verheiratete Erwachsene und noch weniger Bauern das dominierende Element sind junge Leute zwischen 16 und 25 Jahren Mehrheit dieser Jugendlichen kam aus den Städten oder Kleinstädten Es waren in Wirklichkeit Schüler ohne Schule, junge Arbeitslose Ihre Hoffnung, geboren aus der Unabhängigkeit, war endgültig zerbrochen. Sie allein hatten nichts zu verlieren, nichts zu hinterlassen, weder Frau, noch Haus, noch Feld. Im November 1965 übernahm die Armee die Macht. Joseph Desiré Mobutu ließ sich zum Präsidenten machen und schaffte es in den beiden Folgejahren mit massiver Unterstützung Belgiens, den USA, die verschiedenen Rebellengruppen niederzuschlagen und zu vertreiben. Jene die blieben, wie Laurent Kabilas Parti de al Révolution Pupulaire (PRP), arrangierten sich mit dem Regime und betreiben eine Revolution zum eigenen Vorteil. Zwar passte sich die „Revolution“ den neuen Herrschern an, die Ursachen ihrer Entstehung verschwanden damit aber nicht. Die Wirtschaft des Kongo blieb unter fremder Kontrolle, der Staat in den Händen des „Guide suprême“ Mobutu Sese Seko und seiner Kleptokratie. Diese beutete die Menschen noch stärker aus als die Kolonialregierung zuvor, und konnte die tribalistischen und regionalistischen Gegensätze, die in der Politik wie im Alltagsleben präsent waren nicht auflösen, was immer wieder Hintergrund für lokale Konflikte bildete. Zu Beginn der 1990er-Jahre funktionierten kaum noch wirtschaftliche Einrichtungen im Gemeininteressen. Staat, Bürokratie und Armee blieben fortan für ihr Funktionieren auf den Druck von Banknoten und auf Zuwendungen aus Mobutus (und anderer Mächte) „Privatschatulle“ angewiesen. Ein verheerendes Ende für eines der potenziell reichsten Staaten des Kontinents. 1990 brach schließlich auch noch der „Übergang zur Demokratie“ aus. Die Nationalkonferenz, „souverän und machtlos“, führte keineswegs aus der Diktatur in die Demokratie, sondern diente nur einer Anzahl alter und neuer politischer Akteure als Verhandlungsraum zur Festigung der eigenen Positionen. So kam es in den 1990er Jahren zu einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung, die das Land in die gleiche Lage wie kurz nach der Unabhängigkeit versetzte. Es entstanden erneut regionalistische Gruppen und tribalistisch orientierte Unterstützungsvereine, soziale und regionale Antagonismen, unter dem Einparteienregime notdürftig niedergehalten, brachen wieder auf. Das Scheitern der Demokratisierung und der Zusammenbruch des Regimes von Mobutu auf der einen, das Misslingen der „humanitären Intervention“ internationaler Kräfte und die daraus resultierende Invasion hunderttausender Flüchtlinge sowie der Einmarsch von Truppen Rwandas, Ugandas und Angolas auf der anderen Seite, lösten schließlich den zentralafrikanischen „Weltkrieg“ in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre aus. Wem nützt der Krieg im Kongo? Der „zentralafrikanische Flächenbrand“ besteht aus einer kaum feststellbaren Zahl „kleiner Kriege“, von den Angriffen auf aus Rwanda eingewanderten Gruppen in der Provinz Kivu Anfang der 1990er-Jahre, über unterschiedliche Söldnereinsätze, kleine Wirtschaftskriege in 77 Verbindung mit der Ausbeutung von Bodenschätzen, Überfällen von Räuberbanden, Machtkämpfe lokaler Kriegsherrn bis zu Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Nationalen Armee Kongos. Diese kleinen Kriege waren und sind eingebettet in ein internationales Kriegsszenario, das aus zumindest fünf Komponenten besteht: 1. der Ausweitung des Bürgerkriegs in Rwanda 2. dem raschen Vorstoß von Laurent Kabilas AFDL, der mit dem Zusammenbruch des Regimes Mobutu und der Errichtung der DR Kongo unter Kabila endete. 3. dem Bruch zwischen Laurent Kabila und seinen Alliierten aus Uganda und Rwanda, der zum zweiten Kivukrieg führte, und in dem Kinshasa trotz Unterstützung durch Militär aus Zimbabwe, Angola, Tschad und Namibia gut ein Drittel des kongolesischen Territoriums verlor 4. dem Eingreifen von europäischen Interventionstruppen und der UNO-Mission MONUC 5. den zahlreichen Friedensverhandlungen und dem interkongolesischen Dialog, denen immer wieder neue Konflikte folgten. Kambamba/Lanotte unterscheiden zwei Gruppen von Akteuren: lokale und internationale Lokale Akteure Internationale Akteure Regime von Laurent Kabila (jetzt Die „Paten“ in Brüssel, Paris und sein Sohn) Washington Die politische und die bewaffnete Die afrikanischen „Paten“ von Uganda Opposition und Tschad bis Zimbabwe und Südafrika Bewaffneten Einheiten Die multilateralen Organisationen, wie tribalistischen Charakters UNO, EU, SADC Rebellengruppen ausländischer Private Akteure, die von NGO`s bis zu Herkunft Firmen im Minensektor, Waffenhändler und Söldnerorganisationen Und wem von ihnen nützt dieser Krieg? Da jeder der genannten Beteiligten auf irgendeine Art politisch oder wirtschaftlichen Gewinn aus diesem Krieg zu ziehen imstande ist, heißt die einfach Antwort: allen, wenn schon nicht auf die gleiche und gleich dauerhafte Weise. Eine besondere Rolle bei der Entstehung und Eskalation des Kriegs im Kongo spielten die Bodenschätze und andere natürliche Ressourcen des Kongo. In einem UN-Bericht von 2002 über die „illegale Ausbeutung“ im Kongo werden alle Akteure namentlich genannt (vom Minister für Nationale Sicherheit Mwenze bis zu Eagle Wings, ein Unternehmen das für die Mutterfirma in den USA Coltan besorgt. Ändern tut dies jedoch an der Ausplünderung wenig. 78 Schluss Wenn wir vom Krieg sprechen, beschränkt sich das auf einzelne Ereignisse, Objekte der Zerstörung; die Vorgeschichte wird ausgeblendet oder krass vereinfacht, die Ursachen werden unterdrückt, die Verursacher meist weggelassen, und vor allem die Geschichte jener, die vom Krieg beschädigt zurückbleiben, traumatisiert, verstümmelt, bleibt unerzählt. Wenn die Opfer in den Medien auftauchen, dann in Verbindung mit unseren eigenen „guten Taten“. 3,8 Millionen Menschen starben in den vergangenen acht Jahren in Zentralafrika und Millionen anderer wurden körperlich und geistig geschädigt im Namen von Interessen, die nicht die ihren waren und sind, Interessen, die sie nicht verstanden und verstehen. 79 12. Algerien Befreiungskrieg und Bürgerkrieg als Beispiel asymmetrischer Kriege Sabine Kebir Obwohl Algerien als eines der Länder gilt, das schwere Kriegszustände in besonders ausgeprägten Formen erlebt hat, wurde keiner dieser Kriege öffentlich erklärt. Das macht deutlich, dass das Land zu der Mehrheit der Staaten gehört, die weder durch die äußere noch durch die innere Wahrnehmung in den Ehrenkodex ,zivilisierter Kriege` zwischen bzw. in ,zivilisierten` Ländern einbezogen waren. Der algerische Befreiungskrieg, den man im Nachhinein auf den Zeitraum von 1954 bis 1962 datierte und der Bürgerkrieg der 90er-Jahre, dessen Beginn mit dem Abbruch der Wahlen 1992 und dessen Ende mit dem Referendum über die ,Concorde Civile`2000 keineswegs richtig benannt sind, sind instruktive Beispiele für asymmetrische Kriege, mit denen wir es offenbar mehr und mehr zu tun haben. Algeriens Kriege bestätigen, dass die meisten Kriege des 20. Jhdts bereits globalisierte Kriege waren, für deren Verlauf aber keineswegs nur der Ost-West-Konflikt oder Konflikte zwischen Religionen prägend gewesen sind. Wer aus welchen Gründen auch immer Gewalt vermeiden will, versucht erst einmal, durch Dialogisieren und Verhandlungen an sein Ziel zu kommen. Im Gegensatz zu Gewalt und Krieg setzt aber erfolgreiches Verhandeln die Anerkennung des Gegners als gleichberechtigten Partner für einen Zeitraum voraus, der keineswegs kurz ist. Die ganze Schwierigkeit der Kriege im 20. Jhdt ist, dass Frieden nur in dem Maße ernsthaft geschlossen und gelebt werden kann, wenn nicht nur kleine Eliten, sondern die von ihnen repräsentierten Menschenmassen in ihren Lebensbedürfnissen als gleichberechtigt angesehen werden. Die Verweigerung von Anerkennung und Gleichberechtigung ist das klassische Mittel, eigene Gewaltanwendung zu rechtfertigen. Die Kolonialmächte der Neuzeit haben, unabhängig vom Zivilisationsniveau der Verlierer diese zu Menschen im Kindheitsstadium erklärt, die viel Zeit und Hilfe der Kolonialmacht brauchen, um gleichberechtigt zu werden. Gerade diese Hilfe wurde verweigert, indem die Infantilisierung durch den Ausschluss von zeitgemäßen Bildungsfortschritten realiter (in Wirklichkeit) hergestellt wurde. Koloniale Gewalt und antikolonialer Widerstand Heute ist die Auffassung verbreitet, dass die Kolonien Englands und Frankreichs im demokratischen System der Mutterländer integriert waren und dass sie sich mit ihrer Unabhängigkeit aus kulturellen, bzw. religiösen Gründen bewusst gegen die Demokratie entschieden. Historische Wahrheit ist aber, dass die nordafrikanischen Muslime keine formal gleichberechtigte Gruppe innerhalb der Republik waren. Sie konnten weder an der Entwicklung der Demokratie teilnehmen noch ihre Kinder in die Schule schicken. In Algerien sank der Bildungsstand sogar beträchtlich, weil die Kolonialmacht auch das vor 1830 bestehende flächendeckende System der Koranschulen weitgehend zerschlug. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der permanente Ausschluss von Mitbestimmung und Demokratie, die Algerier zu ihrem gewaltsamen Unabhängigkeitskrieg brachte. 80 Ab 1865 konnten Muslime und Juden die Bürgerrechte der französischen Republik erlangen, wenn sie ihre Religionsgemeinschaft verließen. Davon machten nur sehr wenige Juden und Muslime Gebrauch. Den Muslimen wurde nicht nur der Genuss der neuen Institutionen verweigert, auch ihre eigenen Institutionen wurden zerstört. In Algerien hatte bis zur Kolonisierung nach 1830 ein patriarchales Feudalsystem geherrscht, in dem die Stammesführer, bzw. Landbesitzer verantwortlich waren für das Wohlergehen der ihnen untergebenen Familien. Wegen der nun rasch zunehmenden Getreideexporte nach Frankreich war das traditionelle Einlagern von Vorräten für Dürreperioden aufgegeben worden. So kam es 1867/68 zu einer Hungersnot, die einem Drittel der damaligen Bevölkerung das Leben kostet. Vor den Toren französischer Städte und Kommunen verhungerten Zehntausende ohne Aussicht auf Hilfe. Die Hungersnot wurde zum Instrument, die entvölkerten Ländereien endgültig in die Hand der nach Algerien eingewanderten Europäer zu geben. In dieser Situation setzten sich El Mokrani und sein Bruder Boumezrag 1871 an die Spitze eines Aufstandes. Dieser richtet sich nicht gegen das französische Regime, sondern gegen die vor allem von den Kolonen geforderte, die Muslime ausgrenzende Differenzierung des Rechts. In den urbanen Zentren und besonders auch in der nach der Jahrhundertwende einsetzenden muslimischen Emigration nach Frankreich lebte jedoch die von El Mokrani verfochtene Forderung nach bürgerlicher Gleichberechtigung weiter. In den 20er-Jahren sammelte sich um Ibn Ben Badis eine Gruppe von Korangelehrten, die „Oulema“. Sie akzeptierten das Prinzip der Laizität (Laizismus: weltanschauliche Richtung, die die radikale Trennung von Kirche und Staat fordert), wenn die Kolonialmacht auch den Muslimen volle Bürgerrechte gewähren würde. Ben Badis erkannte, dass die muslimische Identität einer Modernisierung bis hin zur Sprache bedurfte, sich insbesondere auch in der Frauenfrage reformieren müsse, wenn sie nicht in ihren folkloristischen oder fundamentalistischen Formen über kurz oder lang dem Westen unterliegen wollte. In den 20er-Jahren hat sich die Organisation „Étoile Nord-Africaine“ entwickelt. Diese trat mit deutlich mehr konkreten sozialen Forderungen als die Oulema für Gleichberechtigung der Muslime ein. Die „Étoile“ wurde jedoch von den Behörden nicht legalisiert sondern verfolgt. Messali Hadj, der charismatische Führer der „Étoile“ und später des „Parti du Peuple Algérien (PPA)“ – beide Organisationen forderten das allgemeine Wahlrecht und die Bildung einer verfassunggebenden Versammlung für Algerien – verbrachte den Großteil seines Lebens im Gefängnis. Die letzte Chance, die Muslime doch noch in die französische Republik zu integrieren, wurde am 8. Mai 1945 verspielt. Im ostalgerischen Sétif forderte eine mächtige Demonstration von tausenden Algeriern die Einlösung des Versprechens der Kolonialmacht, für ihre Teilnahme am Krieg gegen Deutschland, endlich politische Freiheit und bürgerliche Rechte für alle zu gewähren. Die Demonstration endete in einer blutigen Auseinandersetzung, als ein nervös gewordener Polizist ausgerechnet den Träger der Losung „Es Lebe der Sieg der Alliierten!“ erschoss. Es wird von 45 000 muslimischen Opfern ausgegangen. Statt Demokratie und Chancengleichheit für alle einzuführen, beschränkte sich die Kolonialmacht auch noch nach dem 2. Weltkrieg auf kosmetische Verbesserungen. 81 Bezeichnend war, in welcher Weise das Schulrecht reformiert wurde. Jede Klasse durfte nun 10 % Muslime aufnehmen, obwohl sie 90 % der Gesamtbevölkerung ausmachten. Die Algerier hatten die moderne Demokratie also nur aus der Perspektive von Ausgeschlossenen kennen gelernt. Organisationen, wie den oben erwähnten, zeigten die Bereitschaft zum Dialog, zu Verhandlungen, zur Übernahme des demokratischen Systems. Es war die Kolonialmacht, die sich selbst als Hort der Demokratie sah, die die demokratiewilligen Organisationen verbot, den Dialog und das Verhandeln ablehnte. Unter diesen Umständen kristallisierte sich immer deutlicher die nur gewaltsam zu erringende Unabhängigkeit als einzige Möglichkeit der „Emanzipation“ der Algerier heraus. 1954 beginnt die bewaffnete Revolution. Frantz Fanon analysierte auf beiden Seiten entwickelten Gewaltphänomene. S. 247/248 „Der Agent der Macht trägt die Gewalt in die Häuser und in die Gehirne der Kolonisierten.“ Dieser wisse aber, dass er nicht das Tier sei, auf den ihn Haltung und Diskurs des Kolonialherren reduzieren. „Und genau zu derselben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen.“ Fanon, S. 247 Der Unabhängigkeitskrieg In Algerien hatte es lange gedauert, bis sich eine organisatorische Kraft formierte, die die durch ständige Frustration entstehenden anarchischen Energien in politische Bahnen lenkte. Der Grund war das Misstrauen der Bauern gegenüber den wenigen Intellektuellen, der Gewerkschaft sowie der demokratischen nationalistischen Parteien. 1954 war die politische und militärische Geheimorganisation FLN genügend vorbereitet, um den Unabhängigkeitskampf zu eröffnen. Dieser dauerte sieben Jahre und kostete einem Zehntel der Algerier und zehntausenden Franzosen das Leben. Die algerische Seite konnte den Krieg nur mit asymmetrischen Mitteln führen. Das der Kampf schließlich in die Unabhängigkeit führte, lag auch an internationalen Konstellationen. Die weltweit voranschreitende Unabhängigkeitsbewegung ehemaliger Kolonien delegitimierte den klassischen Kolonialismus endgültig. Die USA, die sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg mit den alten Kolonialmächten in Konkurrenz um Einflusssphären befanden, setzten nicht mehr auf Besetzung von Territorien. Sie meinten, ihre Interessen besser durch ein weltweites Freihandelssystem und direkte Einflussnahme auf Führungseliten geltend machen zu können. So haben die USA die algerische Unabhängigkeitsbewegung, verdeckt durch Finanzierungshilfe, auf diplomatischer Ebene auch offen unterstützt. In den letzten Kapiteln der „Verdammten dieser Erde“ hatte Fanon bereits die neue Form des westlichen Zugriffs auf die Bodenschätze und Märkte Afrikas analysiert, die in den schon vor Algerien unabhängig gewordenen Länder sichtbar wurde. Fanon beobachtete, dass die kapitalistische Modernisierung dieser Länder nicht etwa mit der Installierung demokratischer Systeme einherging. Die neuen Führer schützten vor allem die Interessen der eigenen Elite und der ausländischen Kapitalgesellschaften. 82 Nachkoloniale Entwicklung und soziale Spaltungslinien Algerien richtete sich nach dem Ostblock aus sowie nach dem Vorbild Ägyptens und der bathistischen Systems Syriens und des Iraks. Damit konnte zwar rasch einige soziale Verbesserung erreicht werden aber eine effektive Kontrolle oder gar Steuerung der Gesellschaft von unten war in dem schnell selbstherrlich werdenden Einparteiensystem ausgeschlossen. Der strukturell angelegte Mangel an Demokratie zeigte sich auch in der Ablehnung von regionaler und kultureller Autonomie, was schon 1963 zur gewaltsamen Niederschlagung einer Erhebung in der Kabylei führte. Dieser Mangel an Demokratie – in Kombination mit internationalen Konstellationen – ist laut Meinung der Autorin die allgemeine Ursache des Bürgerkriegs der 90er-Jahre gewesen. Die meisten Interpretationen des algerischen Bürgerkriegs der 90er-Jahre machen einen angeblich unvorsichtigen Laizismus des FLN-Regimes dafür verantwortlich. Der Staat schritt jedoch niemals – wie die Islamisten später behaupteten – zur gesetzlichen Einschränkung islamischer Lebensformen. Aber er dachte auch nicht daran, das Kopftuch staatlich zu erzwingen. Die andere Interpretation der Ursachen des Bürgerkriegs Zu den Ursachen gehören neben dem Mangel an Demokratie auch die Nationalisierung der Erdölquellen und die gleichzeitig durchgeführte Agrarreform. Der Staat versuchte die gewonnen Macht über das Öl zu stabilisierten, indem er fortan mit Erdölgesellschaften aus verschiedenen Ländern zusammenarbeitete. Die Chancen, die sich damit für neue Akteure, z.B. aus den USA, auf den algerischen Ölfeldern ergaben, scheinen der Grund u sein, dass sich der Protest des Westens gegen die Nationalisierung damals in Grenzen hielt. Mit den nun sprunghaft gestiegenen Einnahmen fühlte sich der Staat in der Lage, die lange versprochene Agrarreform zu vollenden. Bislang waren nur die von den Franzosen verlassenen Güter in Kooperativen umgewandelt worden. Knapp über die Hälfte des bebaubaren Landes war von den Kolonen in Voraussicht der Unabhängigkeit schon vor 1962 an Algerier verkauft worden. Diese erneut zu feudalen Großgrundbesitzern gewordenen Familien hatten teils freiwillig, teils durch Terror Geldzahlungen an die Befreiungsfront geleistet und konnten folglich im Moment der Unabhängigkeit nicht enteignet werden. Mit einem Teil der Staateinnahmen aus der Erdölrendite wurden diese Familien nun 1971 auf sanfte Art enteignet: Sie erhielten Entschädigungszahlungen. Die enteignete Schicht war damit aber nicht zufrieden, zumal das sozialistische Wirtschaftssystem kaum Gewinn bringende Neuinvestitionen des Geldes ermöglichte. So schuf sich das Regime Todfeinde im eigenen Land, weitere auf internationaler Ebene, die sich sofort miteinander verbündeten. Saudi Arabien fühlte sich nicht nur durch die in Algerien entstehenden gesellschaftlichen Solidarsysteme brüskiert, sondern vor allem durch die Agrarreform. Es sah alte feudale Rechte beschnitten, die ihm selbst heilig waren und die es in der islamischen Weltgemeinschaft nicht abgeschafft, sondern respektiert sehen wollte. 1968 war die Hegemonie in der islamischen umma (religiöse Gemeinschaft aller Muslime) von den Ägyptern auf die finanzstarken Saudis übergegangen. Um den säkular orientierten Nationalismus nasseristischer Prägung durch religiös fundierten Patriarchalismus abzulösen, finanzierten die Saudis in islamischen Ländern weltweit eine neue Infrastruktur von Moscheen, blad auch in Algerien. 83 In vielen Moscheen wurden Bibliotheken, an einige auch große Universitäten angegliedert, die für einen Großteil der Jugend schnell attraktiver waren als die geringer geförderten Schulen des Staates. Menschen, die Probleme, wie z.B. bürokratische Bevormundung, in einer rationalen Form kritisieren wollten hatten im bestehenden politischen System keine Medien und Organisationen, durch die sie an die Öffentlichkeit treten konnten. Die Moscheen blieben für zwei Jahrzehnte der einzige Ort, wo ein Dissens ausgedrückt werden konnte, wenn auch nur in religiöser Form. Auch die mit Hilfe der Erdölrendite in Gang gesetzte Industrialisierung verlief gesamtgesellschaftlich enttäuschend. Industriegiganten die Aufgrund der westlichen Technik, mit der sie ausgestattet wurden, konnten mit wenigen Arbeitern und noch wenigeren, oft aus dem Ausland geliehenen, Fachkräften betrieben werden. Dadurch konnte die vom Kolonialismus ererbte Massenarbeitslosigkeit kaum gemindert werden. Die Möglichkeit autonomer Lebensführung für junge Menschen, blieb für die meisten unerreichbar. Der Grund war die weiter bestehende Massenarbeitslosigkeit. Der algerische Staat hatte rationale Kritik und Dissidententum unterdrückt. Der religiösen Kritik gab er eher nach. Die islamisch konservative Strömung konnte sich vor allem im Bildungssystem bis in die Universitäten hinein entscheidenden Einfluss sichern, wodurch die Erziehung zum selbstständigen Denken besonders in den Unterschichten dürftig blieb. So gewann die islamistische Strömung besonders unter der männlichen Jugend leicht Anhänger, zumal sie auf eine Stärkung der patriarchalen Familienstruktur hinauslief. Nicht wie im Westen, bedeutet der fehlende Arbeitsplatz für den jungen Muslim nach wie vor Ehelosigkeit und Verzicht auf sexuelle Kontakte mit dem anderen Geschlecht. Während der Staat in den 70er-Jahren mittels seiner Einnahmen aus dem Ölgeschäft trotz allem noch einen gewissen Fortschritt zu garantieren schien, erschwerte es der radikale Preiseinbruch auf dem internationalen Ölmarkt zu Beginn der 80er-Jahre plötzlich enorm. Das der Staat große Schulden machen musste, wurde geheim gehalten. Die Menschen bemerkten jedoch, dass sich ihre Lebenslage und –perspektiven wieder verschlechterten. Allmählich wurde Privatinitiative in der Landwirtschaft und mittlere Industrieunternehmen wieder möglich. Ein Großteil der Jugendlichen, sogar viele Studenten mit abgeschlossener Ausbildung, fand nach wie vor keine Arbeitstellen. Besonders betroffen waren diejenigen, die ihre Ausbildung in Arabisch absolviert hatten. Diese entsprach scheinbar der Staatraison, nicht aber den nach wie vor französisch funktionierenden modernen Sektoren des Arbeitsmarktes. Schon Ende der 70er-Jahre und in den frühen 80er-Jahren stießen viele arabophone Studenten zu den Islamisten, die ihre ersten organisatorischen Hochburgen in den Universitäten hatten. Durch monatelange Streiks wurde versucht, den Staat zu zwingen, die französischen Studiengänge abzuschaffen. Nachdem 1984 ein erster islamistischer Schaumord in der Mensa von Algier stattgefunden hatte, begann der Staat mit der offenen Repression der islamistischen Bewegung. Eindämmen konnte er sie nicht. Algerien war seit 1979 zum unsichtbaren Kampffeld des Hegemoniekampfes zwischen dem sunnitischen Saudi Arabien und dem schiitischen Iran Khomeinis geworden. Auch Letzterer begann, im sunnitischen Algerien islamistische Gruppen zu finanzieren. Der größte Einfluss ging jedoch weiterhin von der arabischen Halbinsel aus, die die immer ineffizienteren öffentlichen Sozialdienste Algeriens durch ein über die Moscheen organisiertes Caritaswesen ersetzte: ein privates Wohlfahrtssystem im großen Stile, das die Saudis in immer mehr Teilen der Welt errichteten. Ein Mann, der dieses System in Anspruch 84 nehmen wollte, musste absichern, dass in seiner Familie die islamischen Sitten und Riten eingehalten werden. Mitte der 80er-Jahre gingen etwa 5000 junge Algerier zur Ausbildung in die in Pakistan liegenden Lager der afghanischen Mudjaheddin (Glaubenskämpfer). Auf dem Weg in den Bürgerkrieg Im Oktober 1988 brach von Algier aus ein Aufstand aus, mit dem besonders die Jugendlichen ihre sozialen Forderungen zum Ausdruck brachten. Die Erhebung wurde mit Massenfolter und 500 Demonstrationstoten ein Ende bereitet. Trotzdem bedeutete sie auch das Ende des FLN-Regimes. Algerien errichtete ein Mehrparteiensystem und schaffte – als bislang einziges islamisches Land – die Zensur für Druckerzeugnisse aller Art ab. Das neue Parteiengesetzt verbot zwar die politische Monopolisierung religiöser, sprachlicher oder kultureller Charaktere des algerischen Volkes. Trotzdem wurde auch die Islamische Heilsfront FIS als eine der etwa 50 sofort angemeldeten Parteien anerkannt, womit die islamistische Bewegung legalisiert war. Schon auf den ersten öffentlichen Kundgebungen machte ihr radikaler Anführer Ali Benhadj klar, dass die Demokratie für ihn nur „kofr“, d.h. atheistisches Teufelswerk, darstelle. Wahlen sollten nur ein einziges Mal abgehalten werden, um endlich eine islamische Republik zu ermöglichen. Die Demokratisierung Algeriens ging einher mit zunehmender islamistischer Gewalt gegen Frauen und insbesondere gegen Vertreterinnen politischer Frauenorganisationen. Weil die Demokratisierung übergangslos aus dem totalitären System heraus erfolgt war, hatten demokratische Gruppierungen zwar plötzlich die Möglichkeit, sich öffentlich zu formieren, für die Erlangung bedeutenden Einflusses fehlten ihnen aber Geld und Zeit. So hatten die seit zwei Jahrzehnten über die Moscheen organisierten Islamisten schon 1990 einen enormen Vorsprung bei den Kommunalwahlen. Ein Sieg der FIS war auch nach dem ersten Wahlgag zu den Parlamentswahlen Ende 1991 absehbar. Wie bekannt, unterband das Militär den zweiten Wahlgang und installierte die Regierung Boudiaf, die die FIS verbot. Das Ausland sah in der Unterbrechung der ersten demokratischen Parlamentswahlen und in der Unterdrückung der sicheren Sieger die Ursache für den nun offen ausbrechenden bewaffneten Widerstand der Islamisten. Dass diese selbst die Demokratie nicht entwickeln, sondern abschaffen wollten, rückte kaum ins allgemeine Bewusstsein. Nach ihrem Sieg in den Kommunalwahlen 1990 hatte die FIS begonnen, für den Fall einer erneuten Illegalität eine bewaffnete Struktur aufzubauen. Als dieser Fall 1992 eintrat, kehrten die im pakistanischen Peshawar ausgebildeten 5000 Kämpfer zurück. Die algerische Guerilla richtete sich 1992 zunächst gegen das Militär und die Polizei, von deren Kräften Tausende getötet wurden. 1993 begannen systematische Morde an Intellektuellen, die angeblich dem Militärregime diente. In Wirklichkeit handelte es sich aber um Künstler und Journalisten, die auch zu den Regimegegner gehört hatten, aber keinen islamischen Staat, sondern eine wirkliche Demokratisierung wollten. Dass die Morde oft in aller Öffentlichkeit vollzogen wurden, war Methode. Die damit zugleich vorgeführte öffentliche Lähmung war ein besonderes Kennzeichen der islamistischen Gewalt. 85 Im Gegensatz zum Unabhängigkeitskrieg war die Nation diesmal gespalten. Dass der Westen zumindest in den ersten Jahre des Bürgerkriegs eher die Islamisten bevorzugt, sahen die Algerier, die auf der anderen Seite standen, durch die Tendenz bestätigt, dass zunächst nicht die islamistische Gewalt von Regierungen und Menschenrechtsorganisation verurteilt wurde, sondern die Repressionsmaßnahmen der Armee. Misstrauen erregte auch, dass der Westen jahrelang auf einen erneuten politischen Kompromiss mit der FIS drang. Eine Wende im algerischen Bürgerkrieg trat ein, als Präsident Clinton erkannt hatte, dass die in den 80er-Jahren im Kampf gegen die Sowjetunion mit dem Westen verbundenen islamistischen Gruppen sich immer mehr gegen den Westen wandten. Ab 1993 begann er darauf zu dringen, dass wenigstens Saudi Arabien seine weltweite Unterstützung gewalttätiger islamischer Gruppen einstellt. Der ehemals mit dieser Aufgabe betraute Bin Laden wollte dem politischen Schwenk nicht folgen, und finanziert seitdem den Dschihad privat. Der saudische Staat wurde selbst Angriffsziel von Terrorakten. Es war also kein Zufall, dass die algerische Guerilla seit 1994 in Finanzierungsnot geriet. Sie versuchte die Landbevölkerung mit politischen Mitteln auf ihrer Seite zu halten. Sie rief zum Schulstreik auf, doch die Reaktion war gering und die Guerilla reagierte mit tödlicher Gewalt: 100 Lehrer und Schüler wurden ermordet, 800 Schulen gingen in Flammen auf. Trotzdem wurde der Schulstreik in den arabischen Gebieten kaum befolgt. Familien und Clans, die die Guerilla nicht mehr unterstützten wurden nun ihre Opfer. Damals begannen die Frauen- und Mädchenentführungen sowie Massaker an ganzen Dörfern. In dieser Situation gelang es dem Staat, in den abgelegenen Gebieten Selbstverteidigungsmilizen aufzubauen. Der Frontenwechsel barg jedoch viele Gefahren. Er war begleitete von undurchsichtigen Prozessen gegenseitiger Infiltration, deren Resultat weitere Massaker waren. Weil die Unterstützer oft zu Opfern des Terrorismus wurden, ist die Unterscheidung beider Kategorien für immer äußerst erschwert. Seit dem Jahr 2000 gilt ein durch Referendum zum Gesetz erhobene „Concorde Civile“. Terroristen, die sich den Behörden stellen, wurde soziale Wiedereingliederung gewährt. Auch die sozialen Belange der Hinterbliebenen von Terroristen sind per Gesetz geregelt, die der Opferfamilien indes nur per Dekret. So geht es den Familien der Terroristen zumeist besser als denen ihrer Opfer. Die Chance, dass der nicht ganz erloschene Bürgerkrieg auf niedrigerem Niveau gehalten werden kann, scheint dadurch gegeben, dass sich nicht nur die internationalen Rahmenbedingungen, sondern auch die inneralgerischen Konstellationen geändert haben. Seit 1995 können ausländische Kapitalgesellschaften wieder mehr als 50 % der Erdölquellen besitzen. Der Privatisierungskurs ist im Land eingeschlagen. Von diesen Änderungen profitieren vor allem die Familien der Militärs und einst Mächtigen. Zu den prosperierenden Schichten gehören jedoch auch die ehemaligen Führer der Guerilla. So formt sich derzeit in Algerien eine vielfältige liberale Elite heraus, die das Land vielleicht für eine Weile stabilisieren kann, weil sie international anerkannt ist. Der algerische Bürgerkrieg war sicher nicht wegen ungleicher finanzieller Ausstattung der gegnerischen Parteien ein asymmetrischer Krieg sondern, weil der Kampf als klassischer Guerillakampf stattfand. Er wurde unter Einbeziehung der Zivilbevölkerung geführt, die vom Unterstützer allmählich zur unglücklichen Geisel der Guerilla wurde. 86 13. Metamorphosen des Krieges Befreiungs- und Destabilisierungskriege in Angola und Moçambique Joachim Becker Nach einem militärischen Befreiungskampf und ihren nachfolgenden Unabhängigkeit im Jahr 1975 mussten die früheren portugiesischen Kolonien unter weiteren Jahrzehnten des Krieges leiden. Angola und Moçambique im Vergleich: Im Hinblick auf das rückständige portugiesische Kolonialregime, den bewaffneten Befreiungskampf, die offizielle sozialistische Orientierung nach der Unabhängigkeit und die Destabilisierung durch Südafrika und westlichen Ländern, die eine Reaktion auf die Ansätze gesellschaftlicher Veränderung waren, sind sie ähnlich Gleichzeitig unterscheiden sie sich durch ihre Stellung in der regionalen Arbeitsteilung und auch in der Kriegsführung und Kriegsdauer. Die Frage ist, ob Angolas Rohstoffreichtum und relative Unabhängigkeit von Südafrika zu anderen Formen der Kriegsführung und zu einer längeren Kriegdauer führten. Der bewaffnete Befreiungskampf Portugal hielt länger als jede andere europäische Kolonialmacht an seinen Kolonien fest. In den 1920er-Jahren wurde in Portugal eine faschistoide Diktatur etabliert. Eine allzu rasche Industrialisierung war dem Salazar-Regime wegen dem damit verbundenen Anwachsen einer potenziellen unruhigen Arbeiterschaft suspekt. Die Konservierung archaischer Verhältnisse auf dem Land galt als förderlich für die Ruhe im Land. Entsprechend der Rückständigkeit der Kolonialmetropole waren auch die Formen der Ausbeutung – wie Zwangsarbeit und Zwangsanbau – krude und brutal. In den 1950er-Jahren begannen sich in der kleinen Gruppe der kolonisierten Intellektuellen Widerstand zu formieren. Ein Teil von ihnen studierte zu dieser Zeit in Portugal, wodurch auch Kontakte zum antifaschistischen Widerstand in Portugal, hauptsächlich der Partido Comunista Português entstanden. Aus den Intellektuellenzirkeln kamen zentrale Anstöße zur Gründung nationaler Befreiungsbewegungen: PAIGC für Guinea-Bissau und Kap Verde Frelimo: Frente de Libertação de Moçambique 1962 MPLA Movimento Popular de Libertação de Angola: 1956 gegründet, erst 1960 Formierungsprozess abgeschlossen MPLA und Frelimo waren aufgrund der Repression gezwungen, den Schwerpunkt ihres Kampfes auf die ländliche Guerilla zu legen. Die erste militärische Aktion der MPLA datiert aus dem Jahr 1961, die Frelimo begann 1964 mit dem bewaffneten Kampf. Sowohl in der MPLA als auch in der Frelimo kam es noch während des Befreiungskampfes zu inneren Auseinandersetzungen. Zu den zentralen Konfliktfragen gehörte, ob es um den Kampf gegen die Weißen oder das koloniale Ausbeutungssystem ging. Aber auch innerorganisatorische Fragen und Machtverhältnisse waren wiederholt Gegenstand von 87 Konflikten. So entwickelten einzelne, recht isoliert agierenden „Fronten“ der MPLA in verschiedenen Landesteilen ihre eigenen Identitäten („Revolte des Ostens“). In Angola entstanden – im Gegensatz zu Moçambique – sich anti-kolonial gebende Bewegungen, die eher ethnischen Charakter hatten und die Frage der Unabhängigkeit kaum mit jener der Emanzipation verbanden. FNLA Am deutlichsten war das bei der Ende der 50er-Jahre entstandenen UPNA, die sich auf die Kikongo-sprachige Bevölkerung im Norden Angolas stützte. Der Führer erkannte, dass der Bezug auf nur eine Bevölkerungsgruppe für internationale Unterstützung nicht besonders günstig war und benannte die Bewegung in Frente Nacional de Libertação de Angola FNLA um. Die Bewegung genoss als „pro-westliche“ Kraft das Wohlwollen Washingtons, das sie als potentielle Alternative zur MPLA betrachtete, falls die Unabhängigkeit doch kommen sollte. Ihr Führer Holden Roberto fungierte seit 1961 als bezahlter Informant der CIA. Unita Eine Abspaltung von der FNLA wurde zur dritten Kraft: die 1966 gegründete Unita ( União Nacional para a Indepêndencia Total de Angola) die sich auf die Ovimbundu Zentralangolas stützte wurde in einem Gebiet Ostangolas aktiv, wo bereits die MPLA kämpfte. Das war kein Zufall, kämpfte doch die Unita eher gegen die MPLA als gegen die Kolonialmacht. Damit ist zweifelhaft, ob die Unita überhaupt als genuin antikoloniale Kraft gelten kann. FLEC Sie wurde dem Segen der kongolesischen Regierung 1963 gegründet und war im Befreiungskrieg inaktiv. 1974 wurde sie mit kongolesischer Hilfe wiederbelebt. Militärisch stützte sich sie sich auf einige Hundertschaften bisheriger schwarzer portugiesischer Kolonialtruppen. 1973 war die PAIGC stark genug, einseitig die Unabhängigkeit Guinea-Bissau zu erklären. Teile des portugiesischen Bürgertums begannen sich nun von der kolonialen Option abzukehren und auf eine Integration in die EWG zu setzen. Teile des Militär begannen einzusehen, dass der Kolonialkrieg nicht zu gewinnen war uns stürzten 1974 das faschistoide Regime in der Nelkenrevolution. Die anti-kolonialen Bewegungen hatten einen zentralen Beitrag zur Schwächung der am längsten herrschenden Rechtsdiktatur Europas im 20. Jhdt geleistet. In Moçambique waren die Verhältnisse relativ klar. Mangels einer Alternative zu Frelimo nahm die südafrikanische Regierung die Regierungsübernahme der linksorientierten Befreiungsbewegung in ihrem Nachbarland zunächst hin. Sie ging davon aus, das wirtschaftlich hochgradig von Südafrika abhängige Nachbarland mit ökonomischen Druckmitteln disziplinieren zu können. In Angola lagen die Dinge anders. Das Land war durch Südafrika nicht erpressbar und die vorhandenen Rohstoffe (Öl, Diamanten, Eisenerz) eröffnete einer neuen Regierung gewisse Handlungsspielräume, weckte aber auch die Begehrlichkeit transnationaler Konzerne. Obgleich die MPLA die Sowjetunion nur sehr geringfügig unterstützte und die Präsenz transnationaler Konzerne in bestimmten Bereichen nicht in Frage stellte, lehnten sie die meisten westlichen Regierungen ab. Grund war nicht die Angst um Betätigungsfelder dieser Konzerne als viel mehr die Etablierung eines anderen Gesellschaftsmodells. Westlichen Regierungen, aber auch Südafrika, boten die FNLA und die Unita eine Alternative. Zusätzlich betrat die FLEC als Unabhängigkeitsbewegung die Bühne. 88 Die FLEC erwies sich als Instrument für die auswärtigen Interessen als ungeeignet aufgrund ihrer separatistischen Ausrichtung und politischen Schwäche. Anders verhielt es sich mit FNLA und Unita. Diese beiden Bewegungen mussten bald feststellen, dass sich die MPLA viel besser und schneller als sie in weiten Teilen des Territoriums, speziell in den Städten, etablieren konnte. Sie versuchten ihre Schwäche bei ihrer inneren Verankerung durch die Suche nach äußeren Bündnispartnern – Südafrika, USA, Frankreich, Zaire – zu kompensieren. 1975, einen Monat vor dem Termin der angolischen Unabhängigkeit lancierte Südafrika eine offene Invasion Angolas. Die Militärkolonne wurde von Einheiten der FNLA und der Unita begleitet. Auch die MPLA suchte militärische Unterstützung, diese kam vor allem aus Cuba. Die MPLA vermochte die Hauptstadt zu halten und erklärte dort am 11. November die Unabhängigkeit. Die Allianz von MPLA und Cuba vermochten letztlich die Allianz von Truppen Südafrikas, Zaires, der FNLA, Unita militärisch zu schlagen. Für Gleijeses war der Oktober 1975 der Wendepunkt des Dekolonisationskonfliktes. Die letzte Phase des Entkolonialisierungskrieges gab das Muster des nachfolgenden postkolonialen Krieges vor: Offensiv aus einer Logik des Kalten Krieges agierenden westliche Länder und Südafrika in Allianz mit politisch und militärisch oft schwächelnden Bewegungen gegen eine programmatisch linksorientierte, von sozialistischen Ländern Europas und Cuba unterstützte MPLA-Regierung. Es überlagerte sich eine dominante Logik des Kalten Krieges mit einem inner-angolanischen Konflikt. Der heiße Krieg im Kalten Nach der Unabhängigkeit etablierte sich Frelimo und MPLA zunächst als Regierungs- dann als Staatsparteien. In Angola kulminierten die innerparteilichen Spannungen zwischen verschiedenen Flügeln 1977 in einen Putschversuch. Auf ihn folgte eine scharfe Welle der Repression und eine Abschließung der Partei gegenüber der Gesellschaft. Die Schlüsselpositionen gingen an aus dem Kleinbürgertum stammende Parteikader. Hieraus entstand die neue Staatsbourgeoisie mittels einer Nationalisierung der produktiven Sektoren und der staatlichen Märkte. In Moçambique war die Abschließung der Frelimo nicht so ausgeprägt. Nach der Unabhängigkeit verstaatlichten die Regierungen einerseits ein paar Schlüsselsektoren, andererseits zahlreiche von den Kolonisten aufgegebenen Betriebe. Der Ölsektor wurde jedoch weiter von transnationalen Konzernen dominiert. Im Falle Angolas beschränkte sich die ökonomische Transformation weitgehend auf die genannten Maßnahmen. Die Frelimo ging darüber hinaus die Transformation der Verhältnisse auf dem Land an. Sie schuf Gemeinschaftsdörfer mit sozialer Infrastruktur und veränderten die lokalen Entscheidungsprozesse. Diese Politik wurde zwar zum Teil mit Druck durchgesetzt, eröffnete aber speziell für jüngere Männer und Frauen auf dem Land Möglichkeiten der Emanzipation von überkommenen patriarchalen Machtstrukturen. Beide Regierungen unterstützten die Befreiungsbewegungen im Südlichen Afrika (Angola: Zimbabwe African National Union ZANU; Moçambique: namibische Befreiungsbewegung SWAPO) und den südafrikanischen African National Congress (ANC). 89 Den siedlerkolonialen Regimes war sowohl die Unterstützung Angolas und Moçambiques für die Befreiungsbewegungen als auch die Etablierung alternativer Gesellschaftsmodelle ein Dorn im Auge. Ähnlich war die Perspektive der meisten westlichen Regierungen. Unmittelbare ökonomische Interessen dürften bei der Politik der politischen Isolierung bzw. aktiven Destabilisierung Angolas und Moçambiques nicht Paten gestanden haben. Zumal insbesondere US-amerikanische Ölkonzerne in Angola voll auf ihre Kosten kamen. Trotzdem stand die Reagan-Regierung bei der Destabilisierung Angolas in den 1980er-Jahren in der ersten Reihe. Es galt auch im Falle dieser beiden Länder das Exempel zu statuieren, dass Ansätze „sozialistischer Orientierung“ militärisch bestraft werden. Ziel der arbeitsteiligen Destabilisierungspolitik Südafrikas, Rhodesiens und zentraler westlicher Regierungen war die Beendigung der anoglischen und moçambiqueanischen Unterstützung für die Befreiungsbewegungen im Südlichen Afrika und die Zerstörung des Traums von einer anderen Gesellschaft. Instrumente der Destabilisierungspolitik waren vornehmlich ökonomischer und militärischer Druck. Südafrika reduzierte kurz nach der Unabhängigkeit Moçambique die Rekrutierung mocambiqueanischer Wanderarbeiter und die Nutzung der Transitwege durch das Land. Aufgrund extremer Zahlungsbilanz- und Verschuldungsprobleme trat Mocambique 1984 dem IWF bei. In den folgenden Jahren gewannen IWF und Weltbank maßgeblich Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Landes. Auch in Angola wurde die Wirtschaft durch die Kriege in schwerste Mitleidenschaft gezogen. Doch der wichtigste Devisenbringer, die Ölwirtschaft, wurde vom Krieg nicht direkt betroffen. Das Land trat zwar dem IWF bei, doch gewann dieser nie maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik. Da Angola gegen äußeren ökonomischen Druck weit weniger empfindlich als Moçambique war, hatte hier die militärische Destabilisierung höheres Gewicht. Sowohl Angola als auch in Moçambique kam die militärische Strategie des „low intensity conflict“ zum Einsatz. Diese beruht auf dem Einsatz von irregulären Kräften, einer Art Pseudo-Guerilla, welche die Aufgabe haben die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des betreffenden Landes zu zerstören. In Moçambique wurde die Resistência National Moçambique (Renamo) durch den rhodesischen Geheimdienst formiert, in Angola wurde die Unita zum Stoßtrupp Südafrikas und den USA. Das Einsatzziel solcher militärischen Kräfte ist weniger die Schaffung einer eigenen sozialen Basis als die Zerstörung der sozialen und wirtschaftlichen Basis der Regierungskräfte. Hierin unterscheiden sie sich von einer genuinen Guerillatruppe. Entgegen der euphemistischen Bezeichnung des „low intensity conflict“ sind seine Folgen für die Zivilbevölkerung nicht niedriger, sondern äußerst hoher Intensität. Es ist ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung und deren Infrastruktur. Gemeinsam war den Contra-Kräften in Angola und Moçambique, dass sie auf die Zerstörung der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen angesetzt wurden und die bestehende Staatsmacht und deren Gesellschaftsmodell delegitimieren sollte. Ihr Operationsgebiet beschränkte sich auf ländliche Regionen. Es gab aber im Detail wichtige Unterschiede, die aus den unterschiedlichen Ursprüngen von Renamo und Unita herrührten. Renamo Das Stammpersonal der Renamo wurde vor allem aus früheren Mitarbeitern der portugiesischen Geheimpolizei, schwarzen Militärs der portugiesischen Spezialeinheiten und vereinzelt auch aus unzufriedenen Frelimo-Kadern rekrutiert. Damit war die Renamo überwiegend aus den Hinterlassenschaften des portugiesischen Kolonialismus geformt. 90 1980 Wurde die Infrastruktur und ihr Personal von Rhodesien nach Südafrika verlagert. Die südafrikanische Regierung pumpte wesentlich mehr Ressourcen in die Renamo. Neben der südafrikanischen Regierung unterstützten auch andere Netzwerke, speziell von USamerikanischen Organisationen, materielle Unterstützung. Die westliche RenamoUnterstützung war im Regelfall nicht offizielle Außenpolitik, sondern spielte sich eher in der Grauzone von Geheimdiensten und den Aktivitäten von Lobbygruppen und Stiftungen ab. Als Teil offizieller staatlicher Außenpolitik ließ sich eine Unterstützung dieser Gruppe, die besonders brutal gegen die Zivilbevölkerung vorging und keine konsistente politische Programmatik aufwies. Die Renamo war im Kern keine politische, sondern eine militärische Organisation. Der Großteil ihrer Rekruten wurde ausgehend vom ursprünglichen Kern während des Krieges zwangsrekrutiert. Zu den Rekruten zählten auch Kinder und Desertion wurde mit dem Tode bestraft, was aber trotzdem recht häufig. Auch gegenüber der Zivilbevölkerung setzte die Renamo primär auf Einschüchterung – durch unmittelbare, oft extreme Gewalt. Sie verlangten von der Zivilbevölkerung Arbeitsleistungen und Nahrungsmittelversorgung, zum Teil wurden Frauen gewaltsam sexuellen „Diensten“ gezwungen. Traditionelle Autoritäten – je nach lokalen Bedingungen ehemalige von den Portugiesen eingesetzte Regulos, teils auch deren Anspruch bestreitende Familienlinien – wurden von der Renamo in ein System der indirekten Herrschaft einbezogen und mit zivilen Angelegenheit betraut. Unita Im Gegensatz zur Renamo hatte die Unita durchaus politische Wurzeln. Ihr Überleben als politisch-militärische Kraft verdankte sie nach der Unabhängigkeit aber vor allem der südafrikanischen Unterstützung. Im Gegensatz zu Moçambique wurde die US-amerikanische Unterstützung für die Contras im Fall Angola Teil der Regierungspolitik. Die Unita gewann 1974 – 76 einen Teil ihrer Rekruten auf freiwilliger Basis. Später kam es auch zu Zwangsrekrutierungen. Neben der äußeren Unterstützung reproduzierte sie sich durch Tributpflichten der Bevölkerung und Plünderungen von Dörfern, die von der Regierung kontrolliert wurden. Über die Verhältnisse in den ländlichen Gebieten Angolas, speziell in den über Jahre von der Unita kontrollierten Zonen, ist wenig Gesichertes bekannt. Auch die Regierungen Angolas und Moçambiques erhielten äußere militärische Unterstützung – Angola vor allem durch Cuba, Moçambique durch seine Nachbarländer Zimbabwe und Tanzania. Die gesellschaftlichen Konsequenzen der Destabilisierungskriege war entsetzlich – hunderttausende Tote, Millionen Vertriebene, zerstörte Infrastruktur, … Moçambique und Angola sahen sich zu außen- wie wirtschaftspolitischen Konzessionen gezwungen. Diese gingen im Fall Moçambique, das wirtschaftlich und militärisch noch verwundbarer war, weiter als im Fall Angolas. Moçambique unterzeichnete 1984 einen „Nicht-Angriffsvertrag“ mit Südafrika und reduzierte die ANC-Präsenz im Land drastisch. In den Folgejahren geriet die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Landes zunehmend unter die Regie von IWF und Weltbank. Ein fast zeitgleiches Übereinkommen zwischen Angola und Südafrika hatte hingegen einen weit begrenzteren Charakter und ein höheres Maß an Gegenseitigkeit. Der reale Einfluss internationaler Finanzinstitutionen auf die angolanische Wirtschaftspolitik war eher begrenzt. 91 In den 1980er-Jahren, jedoch verlor die Gruppe marxistisch orientierter Intellektueller (Lucio Lara, Henrique „Iko“ Carreira) an Einfluss in der Partei. Stattdessen gewann eine sich eher nationalistisch gebende, auf die eigene Bereicherung der Führungskader bedachte, Strömung Aufwind. Insgesamt war in beiden Staaten ein Abgehen von der Orientierung auf ein Alternativmodell erkennbar. In der Zerstörung gesellschaftlicher Alternativvorstellungen war der Destabilisierungskrieg erfolgreich. Hingegen ging das Kalkül nicht auf, den südafrikanischen Widerstand durch das Abschneiden äußerer Unterstützung entscheidend zu schwächen. Mit der Freilassung Mandelas und anderer prominenter politischer Gefangener sowie der Wiederzulassung von ANC und Kommunistischer Partei begann im Februar 1990 die offene Anbahnung einer Verhandlungslösung in Südafrika. Im Mai 1988, dem Monat der Entscheidung für eine Kontaktaufnahme mit Mandela, schwenkte die südafrikanische Regierung auf einen neuen Kurs in ihrer Namibia- und Angola-Politik ein. Im Dezember des gleichen Jahres wurde zwischen Angola, Südafrika und Cuba ein Abkommen über die Entkolonialisierung des von Südafrika besetzten Namibias unter UNO-Aufsicht beschlossen. Mit dieser Dekolonisation Namibias, das Südafrika als Aufmarschgebiet gegen Angola gedient hatte, nahm der südafrikanische Destabilisierungsdruck entscheidend ab. Die US-Regierung hingegen stockte ihre Hilfe für die Unita weiter auf. Ihr Ziel war es, die Unita einer Regierungsbeteiligung bzw. –übernahme näher zu bringen. Angola Unter militärischem Druck verhandelte die MPLA-Regierung 1990/91 mit der Unita. Im Bicesse-Abkommen 1991einigten sich die beiden Seiten auf einen Waffenstillstand eine Entwaffnung der Truppen die Bildung einer neuen Armee die Wiederherstellung der staatlichen Verwaltung auch in den Unita-Gebieten sowie Mehrparteienwahlen. Eine UNO-Mission sollte den Friedensprozess überwachen. Die Demobilisierung erfolgte nicht wie vorgesehen. Die Unita bewahrte einen Großteil ihrer Kommandostruktur und Waffenlager. Diese Verstöße gegen das Abkommen wurden von der UNO-Mission hingenommen, was teils auf Überforderung, teils auf subtile Parteilichkeit zurückzuführen ist. Die Unita setzte im Wahlkampf auf Einschüchterung. Unita-Führer Savimbi kündigte an, eine Wahlniederlage werde er nicht akzeptieren. Trotz alledem verlor die Unita die Wahl, wenn auch die Präsidentschaftswahl knapper ausfiel als die Parlamentswahlen. (José Eduardo dos Santos gewann gegen Savimbi) Das Wahlergebnis sorgte bei den langjährigen Unterstützern in den westlichen Regierungen für eine negative Überraschung. Die Unita Savimbis griff zu den Waffen und suchte bis zur Regierungsübernahme Bill Clinton, welche die internationale Konstellation zu ihren Ungunsten zu verändern drohte, vollendete Tatsachen zu schaffen. Damit fand der Krieg in Angola auch nach dem Ende des Kalten Krieges – in einer veränderten internationalen Konstellation – eine Fortsetzung. Moçambique Auch die Frelimo sah sich unter Druck mit der Renamo ein Abkommen zu schließen. Dieses Abkommen enthielt die gleichen Bedingungen, wie jenes zwischen MPLA und Unita. Auch 92 in diesem Fall wurde die UNO mit der Beaufsichtigung des Friedensprozesses betraut, zweite sich aber bei der Truppendemobilisierung konsequenter. Der Renamo, die ihre Kämpfer in ziemlich disziplinierter Weise demobilisierte, wurden materielle Anreize für die dauerhafte Aufgabe militärischer Aktivitäten und die Umwandlung in eine Partei geboten. Damit sollte einer Wiederholung des angolanischen Szenarios vorgebaut werden. Ähnlich wie die MPLA gewann auch die Frelimo die Wahlen. Entgegen den Erwartungen der westlichen Länder und der Renamo bot die Frelimo der Renamo keine Koalition an, sondern bildete allein die Regierung. In ihre Rolle als politische Opposition hat sich die Renamo bis heute nicht gefunden. Trotz der Wahlniederlage hielt der Friede in Moçambique im Gegensatz zu Angola. Der Renamo fehlte eine realistische Alternative. Sie konnte weder auf äußere Sponsoren hoffen noch hatte sie eine viel versprechende innere materielle Basis für die Fortsetzung des Krieges. Der heiße Krieg nach dem Kalten Als in Angola die Unita gegen den Wahlsieger MPLA erneut zu den Waffen griff, bedeutete dies eine weiter Metamorphose des Krieges. Dieser kann als rohstofffinanzierter Bürgerkrieg bezeichnet werden. Die Unita konnte nach wie vor auf die regionale Unterstützung des Mobutu-Regimes in Zaire zählen, bis dieses 1997 gestürzt wurde. Das sonstige internationale Umfeld veränderte sich allerdings allmählich zu ihren Ungunsten. Nachdem der Kalte Krieg gewonnen war, ging es den westlichen Regierungen nun zunehmend um eine Restabilisierung der Region. Diese Stabilität sah insbesondere die US-Regierung, eher durch die MPLA-Regierung als durch die Unita gewährleistet. Um das Wohlwollen der USA zu erreichen, ließ die MPLA-Regierung ihren früheren Verbündeten Cuba auf der diplomatischen Ebene fallen. Der Wettlauf mit der Zeit konnte die Unita nicht gewinnen. Trotz überlegener Bewaffnung misslang ihr die Einnahme von Luanda. Sie vermochte jedoch vorübergehend andere Großstädte einzunehmen. Es entwickelte sich ein erbarmungsloser und für die Zivilbevölkerung äußerst verlustreicher Krieg um die Städte. Die Unita bemühte sich selbst in Städten, in denen sie bei den Wahlen gewonnen hatten, nicht mehr um das Wohlwollen der Bevölkerung. Ihr ging es offensichtlich um eine militärische Eroberung der Staatsmacht. Währen ihrer Offensive erlangte die Unita auch die Kontrolle über Diamantenfelder. Der Verkauf von Diamanten an internationale Diamantenhändler finanzierte ihre Kriegsanstrengung. Die MPLA-Regierung ihrerseits alimentierte ihre militärischen Anstrengungen durch das Ölgeschäft. Damit wurden die Rohstoffe zur materiellen Basis des fortgesetzten Krieges. Die veränderte internationale Konjunktur wurde daran deutlich, dass die UNO 1993 ein Embargo gegen Waffenverkäufe an die Unita verhängte. Nach erneutem scheitern von Friedensverhandlungen aufgrund der Unita, verhängte die UNO 1998 ein Embargo gegen angolanische Diamanten und entzog der Unita damit ihre Finanzierungsgrundlage. Am 22. Februar 2002 wurde Unita-Führer Jonas Savimbi bei einem Angriff getötet. Am 30. März 2002 unterzeichnete die Unita ihre faktische militärische Kapitulation und wurde auch tatsächlich als militärische Kraft demobilisiert. Als politische Formation besteht sie fort. 93 Damit hat auch dieser Krieg ein Ende gefunden. Die MPLA hat den Krieg zwar „gewonnen“, doch von ihrem ursprünglichen Gesellschaftsprojekt ist nichts geblieben. Es hat sich eine besonders undurchsichtige Form der „politischen Kapitalismus“ herausgebildet. Neue Kriege? Der Krieg in Angola und Moçambique hat mehrere Metamorphosen durchgemacht. Am Anfang stand der Befreiungskampf gegen eine rückständige Kolonialmacht. MPLA und Frelimo verbanden das Streben nach nationaler Unabhängigkeit mit dem Ziel sozialer Veränderungen. Im Vergleich dazu war der Fokus von FNLA und Unita enger, ihnen ging es um die Besetzung der kolonialen Posten mit eigenem Personal. Nachdem Angola und Moçambique unter der Führung von MPLA und Frelimo unabhängig geworden waren, folgte die zweite Phase der Kriege: die Destabilisierungskriege. Hierbei ging es Südafrika und einigen westlichen Regierungen darum, die südafrikanische und namibische Befreiungsbewegung von äußerer Unterstützung abzuschneiden und die Ansätze gesellschaftspolitischer Alternativen zu zerstören Mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Sieg in der Systemkonkurrenz und der Zerstörung politischer und gesellschaftlicher Alternativansätze, war aus Sicht der westlichen Länder der Zeitpunkt zur Restabilisierung gekommen. In Moçambique fand der Krieg tatsächlich ein Ende. In Angola kündigte die Unita hingegen den Kompromiss auf und setzte den Krieg fort. Sie geriet regional und international in eine zunehmende Isolierung. Nachdem ihre Kampfkraft stark geschwächt war und sie ihren Führer im Gefecht verloren hatte, kapitulierte sie im Jahr 2002 militärisch, sodass der Krieg in Angola ein Ende fand. Inwieweit sind die viel diskutierten Konzepte des vorgeblich „neuen Krieges“ für die Konflikte in Angola und Moçambique angemessen? „alte Kriege“ sind bei Kaldor und Münkler auf zwischenstaatliche, im Wesentlichen europäische Kriege begrenzt. Die Auseinandersetzung mit Kolonialkriegen und kolonialer Aufstandsbekämpfung fehlt. Kolonialkriege weisen folgende Kennzeichen auf: fehlende Anerkennung des kolonialen Subjekts als gleichwertiger Gegner die Asymmetrie in der Kriegsführung Einsatz irregulärer oder Söldnertruppen durch die Kolonialmacht Insofern sind einige Zuschreibungen, die Münkler und Kaldor für die „neuen Kriege“ vornehmen, durchaus Charakterzüge einer bestimmten Form von „alten Kriegen“ nämlich den Kolonialkriegen. Sowohl für Kaldor als auch für Münkler sind die „neuen“ Kriege durch Entstaatlichung gekennzeichnet. Auf einer oberflächlichen Ebene lassen sich Elemente der Kriegsprivatisierung auch in Angola in Form des Einsatzes von Söldnern erkenne. Doch zentrale Kriegsparteien sind selbst Staaten oder verstehen sich wie die Befreiungsbewegungen als eine Art „Gegenstaat“. 94 Das Ziel der antikolonialen Bewegungen war auf die Übernahme der Staatsmacht bezogen und insofern staatszentriert. Die Pseudo-Guerillas von Unita und Renamo standen faktisch im Dienste fremder Staaten, sodass auch hier von einer wirklichen „Entstaatlichung“ des Krieges nicht gesprochen werden kann. In der Charakterisierung der Ziele „neuer Kriege“ unterscheiden sich Münkler und Kaldor. Münkler: politische Konflikte stehen zwar am Anfang der „neuen Kriege“, sie lösen sich dann jedoch von ihren politischen Wurzeln und neigen zur Selbstreproduktion. Krieg wird demnach zur attraktiven Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu betreiben. Eine so weitgehende Emanzipation von den politischen Konstellationen war weder im Fall von Moçambique noch von Angola festzustellen. Als der Destabilisierungskrieg in Moçambique seine Ziele erreicht hatte, fand er ein Ende. Auch verloren weder die MPLA noch die Unita während ihrer ganzen Auseinandersetzungen ihr Ziel aus den Augen nämlich die Übernahme der Staatsmacht. Dieser Krieg wurde letztendlich militärisch entschieden. Kaldor: Sieht die „neuen Kriege“ sehr wohl politisch motiviert, nämlich durch eine „Politik der Identität“, welche sich auf die Mobilisierung ethnischer, rassistischer oder religiöser Identitäten zum Zweck der Erlangung staatlicher Macht gründet. Der Begriff der Identität ist bei Kaldor eher kulturalistisch aufgeladne. Dies greift meiner Meinung nach zu kurz. Denn die „Identitäten“ haben auch eine sozioökonomische Dimension, nämlich die Indienstnahme im Konkurrenzkampf – beispielsweise um Ressourcen. Im Kampf um die Staatsmacht und Ressourcen hat die Unita denn auch bestimmte „Identitäten“ ins Spiel gebracht – Bauern gegen Städter, Schwarze gegen Mestizen und Weiße, Ovimbundu gegen andere Ethnien. „Identitätspolitik“ war Teil des politischen und militärischen Konkurrenzkampfes um staatliche und andere Ressourcen. Als analytische Kategorie zum Verständnis der Kriege in Angola und Moçambique sind die Konzepte des „neuen Krieges“ nicht geeignet. 95