Zehn Thesen zu Krieg und Moral heute

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Klaus Goergen:
KRIEG UND MORAL
(2003)
"Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen,
Tintenflecke mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen
zu wollen – nur Blut soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden."
(Bertha v. Suttner, Friedensnobelpreisträgerin, 1900)
Ethisch gesehen können Kriege und militärische Interventionen auf vier verschiedene Weisen
beurteilt werden: Der Pazifist1 lehnt sie aus Überzeugung ab, weil er Gewalt gegen Menschen
für eine Verletzung der Pflicht hält, Menschen stets als Zweck und niemals nur als Mittel zu
sehen; der Bellizist wägt – utilitaristisch – ab, wann Krieg ein gerechtes Mittel sein kann, um
größeres Unrecht zu verhindern; der Fundamentalist rechtfertigt Kriege aus ideologischen,
patriotischen oder religiösen Motiven und der Realist geht davon aus, dass Moral kein Motiv,
vielmehr eine Rechtfertigung für Kriege ist. Erst kommt der Kriegsentschluss, und dann kommt
die Moral. Die folgenden Bemerkungen zu Krieg und Moral versuchen zuerst eine immanente
Kritik der Idee moralischer Kriegsmotive (1.), bevor sie in einen realistischen Blick münden. (2.)
(1.)
Wurde Krieg einst als "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" beschrieben, um ihn aus
der Sphäre des Moralischen heraus ins Realpolitische zu rücken, so geschieht heute das
Gegenteil: Krieg wird zunehmend als "Fortsetzung der Moral mit anderen Mitteln"2 verstanden.
Ja, von einer "Auslieferung der internationalen Politik an die Moralphilosophie"3 ist die Rede.
Moral und Krieg, so scheint es heute, stehen in einem Begründungszusammenhang. Von der
'internationalen Nothilfe' für das überfallende Kuwait, über die 'humanitären Interventionen' zur
Beendigung von Menschenrechtsverletzungen in Panama, Haiti, Bosnien, im Kosovo und Irak
bis zum gemeinsamen Verteidigungskrieg nach Art. 5, Nato-Vertrag gegen die Terroranschläge
in den USA – stets beruft man sich – verantwortungsethisch – auf die wieder entdeckte Lehre
vom 'gerechten Krieg' oder – gesinnungsethisch – auf die Idee von der Unteilbarkeit der
Menschenrechte zur Begründung von militärischen Interventionen.
In der Praxis verschwimmen die beiden Begründungsarten: Der Krieg gegen Afghanistan
wurde zuerst als gerechter Verteidigungskrieg zum Schutz vor weiteren Attacken, dann als
humanitäre Intervention zur Befreiung des afghanischen Volks vom Joch des Taliban-Regimes
definiert; im Kriegsmanifest der 60 US-Intellektuellen zur moralischen Legitimation des
Angriffs auf Afghanistan heißt es: "Wir kämpfen, um uns selbst zu verteidigen, aber wir glauben
auch, dass unser Kampf der Verteidigung (der) universalen Prinzipien der Menschenrechte und
der Menschenwürde dient"4.
Ethisch und rechtlich gesehen unterscheiden sich 'gerechter
Krieg' und 'humanitäre Intervention' jedoch erheblich und sollten als vermeintliche Kriegsmotive
1
Der Pazifismusbegriff ist allerdings uneindeutig: Habermas sieht die Befürworter von humanitären Interventionen
als "Realpazifisten", deren Gegner als "Gesinnungspazifisten"; Tugendhat unterscheidet ebenfalls zwischen
gesinnungsethischen Pazifisten, für die das Tötungsverbot absolut gilt, und verschiedenen Formen von verantwortungsethischem Pazifismus, der die Lehre vom gerechten Krieg ernst nimmt, sie aber als Rechtfertigung für
moderne Kriege ablehnt. Vgl: J. Habermas, Bestialität und Humanität, in: R. Merkel, Hrsg., Der Kosovokrieg und
das Völkerrecht, Frankfurt a. M. 2000, S. 51 ff. E. Tugendhat, Rationalität und Moral, in: Ders, Nachdenken über
die Atomkriegsgefahr, Berlin 1988², S. 59 ff.
2 So Ulrich Beck, in: Ders., Über den postnationalen Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
(Blätter) 8, 99, S. 984ff, hier: S. 987.
3 Herfried Münkler, Moralphilosophie auf dem Kriegspfad, in: Blätter, 11,02, S.1335ff, S. 1336.
4 What we're fighting for – Wofür wir kämpfen, in: Blätter, 6,02, S. 756-760, S. 760.
1
klar getrennt bleiben. Die Lehre vom 'gerechten Krieg' argumentiert, auf der Basis des
Völkerrechts, utilitaristisch: Der gute Zweck der Verteidigung, der Sicherheit heiligt das
schlechte Mittel des Kriegs. Mit diesem zentralen Argument hat schon Augustinus, der Urvater
der Lehre vom gerechten Krieg, seinem pazifistisch-gesinnten Volk von Urchristen den Kampf
gegen die nordischen Aggressoren moralisch nahe zu bringen gesucht. Heute wird vor allem in
den Regeln des ius in bello die utilitaristische Orientierung am 'größten Glück der größten Zahl'
offensichtlich, wenn dabei Schaden und Nutzen eines Kriegs abgewogen werden.
Ganz anders die Begründung für humanitäre Interventionen: Hier wird, unter Umgehung
zentraler Prämissen des Völkerrechts, der Einzelne, der Bürger, nicht als Staatsbürger eines
fremden Staats, sondern als unmittelbares Mitglied der menschlichen Gemeinschaft gesehen.
Wird er in seinen Menschenrechten verletzt, so ist dies ein Fall für die internationale
Gemeinschaft, sofern sein Staat ihn nicht schützt. Die ethische Begründung des 'gerechten
Kriegs' kommt mithin ohne, jene der humanitären Intervention nur mit universalistischen
Prämissen aus. Und umgekehrt: Ein gerechter Krieg ist mit, eine humanitäre Intervention nur
ohne Anerkennung von Prämissen des Völkerrechts denkbar.
Eine besonders bizarre Mischung gesinnungs- und verantwortungsethischer Argumentation
stellen die Begründungsversuche des Angriffs der USA auf den Irak dar, die unter dem
Stichwort 'präventive Notwehr' diskutiert wurden. Die neueste amerikanische Militärstrategie,
am 20. September 2002 vom amerikanischen Präsidenten vorgestellt, stützt sich ebenfalls auf
diese Argumentation,5 die damit, über den konkreten Krieg hinaus, allgemeine Bedeutung
erlangt.
Ein Angriffskrieg auf ein fremdes Land wird hier mit dem Hinweis zu begründen gesucht, ein
Zögern sei unverantwortlich, es komme darauf an, dem Gegner zuvorzukommen, nur durch
einen Präventivschlag könne größeres Übel, das durch Massenvernichtungswaffen des Gegners
drohe, verhindert werden. 6 Werde nicht rechtzeitig angegriffen und der Gegner entwaffnet,
könne es zu spät sein, weil er,
verfüge er erst einmal über ABC-Waffen , kaum mehr
angegriffen werden könne.
Gelegentlich bemüht diese Argumentation auch die Kritik der Appeasementpolitik: Wäre
Deutschland, nach 1933, rechtzeitig angegriffen worden, hätte der Zweite Weltkrieg verhindert
werden können. Aber der historische Vergleich ist im Atomzeitalter abwegig. Zur Zeit des
Zweiten Weltkriegs galt die Logik atomarer Abschreckung – wer zuerst schießt, stirbt als zweiter
– schließlich noch nicht. In ihrem Schatten, der heute so schwarz ist wie zur Zeit des Kalten
Kriegs, wäre ein Einsatz von Massenvernichtungswaffen schlichter Selbstmord. Das wusste
Saddam Hussein so gut wie sein Vorbild Stalin es wusste. Die Idee 'präventiver Notwehr'
suspendiert die Abschreckung, ohne jede Evidenz.
Die Logik präventiver Notwehr verrechnet also einerseits – in utilitaristischem Kalkül – die
(geringeren) Opfer eines Angriffskriegs mit den – vermuteten – (höheren) Opfern eines –
vermuteten – Angriffs des präventiv auszuschaltenden Gegners, andererseits setzt sie –
universalistisch – auf den Gegensatz von Bedrohung der Menschheit durch den anzugreifenden
Gegner und Schutz der Menschheit durch den präventiv Angreifenden. Als Angriffskrieg muss
sich 'präventive Notwehr' auf das universalistische Credo: 'Menschenrecht bricht Völkerrecht'
berufen, als Notwehrkrieg stützt sie sich auf das Verrechnen von Opfern, entsprechend der
Theorie gerechter Kriege. Doch diese Argumentation ist moralisch absurd. Die scheinbar
doppelte Motivierung hebt sich in Wirklichkeit auf: Werden Menschenopfer kalkuliert, kann das
5
"Es ist eine Sache des gesunden Menschenverstands und der Selbstverteidigung, dass die Vereinigten Staaten
gegen...aufkommende Bedrohungen vorgehen werden, bevor sie übermächtig werden" heißt es in dieser neuen
nationalen Sicherheitsstrategie, in: Blätter, 11,02, S. 1392.
6 Präsident Bush formulierte die Position in seiner UN-Vollversammlungsrede am 12. 09. 2002 wie folgt:
"Die Geschichte, die Logik und die Fakten lassen nur einen Schluss zu: Saddam Husseins Regime ist eine ernsthafte
und wachsende Gefahr. Von etwas anderem auszugehen, bedeutet entgegen besserem Wissen zu hoffen. Von der
Redlichkeit dieses Regimes auszugehen würde bedeuten, das Leben von Millionen Menschen und den Frieden auf
der Welt tollkühn aufs Spiel zu setzen. Das ist ein Risiko, das wir nicht eingehen dürfen." in : Blätter, 10,02, S. 1272.
2
Humane des Universalismus nicht bemüht werden und vice versa: Geht es um den Schutz der
Menschheit, dürfen keine Opfer verrechnet werden.
Soweit die gutmeinende Kritik. Im Übrigen kann es Notwehr nur als Verteidigung bei einem
vorausgehenden Angriff geben. Alles andere ist moralisch verwerflich, weil unterstellte
Absichten keinen Angriff rechtfertigen, und im zivilen Leben ist es höchst strafbar: Wer einen
Keulenschwinger vor dem Gartentor erschießt, der handelt nicht präventiv aus Notwehr, sondern
kommt wegen Notwehrexzess vor Gericht. Zuletzt waren es Hitler, der den Angriff auf die
Sowjetunion und die Japaner, die den Angriff auf die USA als 'präventive Notwehr' zu
legitimieren suchten. Der Begriff war hier nichts als ein perfider Euphemismus zur
pseudomoralischen Begründung von Vernichtungskriegen.
Unter den zahllosen Kriegen der Geschichte, allein seit 1945 über 200, mag es solche gegeben
haben, die alle Bedingungen der bellum-iustum-Lehre erfüllten. Dann dienten sie allein dem
gerechten Zweck der Notwehr oder Nothilfe, sie verfolgten allein die gerechte Absicht, den
Frieden wieder herzustellen, sie waren das letzte Mittel, nachdem alle friedlichen Versuche der
Streitschlichtung fehlgingen und sie wurden mit berechtigter Aussicht auf Erfolg geführt.7 Bei
jenen Kriegen aber, die neuerdings beanspruchen gerecht zu sein, gilt dies in keinem einzigen
Fall. Die Bedingungen dafür, ob ein Krieg gerechterweise begonnen wird, sind kaum
überprüfbar: War der Zweck beim Beginn des Golfkriegs wirklich nur die Befreiung Kuwaits?
War die Absicht der Intervention Panamas wirklich nur der Sturz Noriegas? War das letzte
Mittel, um Bin Laden zu fassen, wirklich die Bombardierung afghanischer Städte? Das kann
man glauben oder auch nicht.
Tatsächlich wird kaum je ein Krieg begonnen, ohne dass man ihn moralisch zu begründen
suchte: als angebliche Nothilfe, wie die Sowjets in Afghanistan, als 'heiliger Krieg', oder indem
man den Gegner zur Kriegserklärung provoziert, wie Bismarck Napoleon III, und selbst Hitler
fühlte sich bemüßigt zu behaupten, jetzt werde 'zurückgeschossen'.
Der Schwerpunkt der ethischen Einschätzung von Kriegen wurde daher schon früh, Ende des
19. Jahrhunderts , auf die Bedingungen einer gerechten Kriegsführung verlegt. Nicht das ius ad
bellum, sondern das ius in bello gilt seither als Maßstab für den gerechten Krieg. Die Haager
und Genfer Konventionen von 1907 und 1949 zeugen davon. Aber gerade dessen Bedingungen:
die Distinktion von Kombattanten und Nicht-Kombattanten und das Verhältnis zwischen durch
den Krieg erzeugten und von ihm beseitigten Übel, werden chronisch nicht erfüllt. Das rührt u.a.
von der Art moderner Kriegsführung, die, als Luftkrieg, die Lebensgefahr für die Soldaten
minimieren will und daher mehr Tod und Zerstörung bei Zivilisten und zivilen Objekten
verursacht, als bei Soldaten und militärischen Einrichtungen. Die Flughöhe amerikanischer
Kampfjets wird dabei zu einer moralischen Größe: Wenn der Pilot sein Leben nicht riskieren
soll, dann werden 'Kollateralschäden' in Kauf genommen, die die Distinktionsbedingung von
vornherein missachten.8 Unter den Bedingungen moderner Kriegsführung sind 'gerechte Kriege',
nimmt man ihren Anspruch ernst, vollends unmöglich geworden.
Als Angriffskriege unterliegen humanitäre Interventionen schärferen Begründungszwängen als
'gerechte Kriege', deren ethische Hauptbegründung, die Notwehr, hier nicht gilt. Daher werden
sie auch nicht relativistisch sondern absolut begründet: Mit dem Schutz elementarer
Menschenrechte.
Allerdings müssten auch humanitäre Interventionen die ius in bello Kriterien erfüllen, um als
ethisch gerechtfertigt zu gelten. Damit unterliegen sie denselben Einwänden, die für die Praxis
'gerechter Kriege' genannt wurden: Die jugoslawische Armee litt unter dem Kosovokrieg weit
weniger als die Zivilbevölkerung; die durch den Krieg erzeugten Übel – Terrorbanden teilen
7
Zu den Bedingungen der modernen Lehre vom gerechten Krieg, siehe: M. Walzer, Gibt es einen gerechten Krieg?,
Stuttgart 1983.
8 Eine ausführliche Diskussion der ethischen Einschätzungen über die richtige Flughöhe findet sich in: W.
Pfannkuche, Humanitäre Interventionen und andere Hilfspflichten, unveröff. Manuskript, Vortrag, Bielefeld, Jan.
2002.
3
sich heute das Kosovo, ein Rückfall in den Naturzustand wird nur durch die Besatzungstruppen
verhindert – sind größer als das bekämpfte Übel.9
Ähnliches zeichnet sich in anderen
Interventionsfällen ab, zumal in Afghanistan und dem Irak.
Gegen militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte spricht aber vor allem ein
grundsätzliches Argument: Wenn Menschenrechte wirklich unteilbar sind und wir in ihrem
Namen zur Intervention verpflichtet, dann ist jede andere Intervention als eine militärische
sinnvoller, hilfreicher und damit ethisch eher gerechtfertigt. Interventionen stehen, angesichts
begrenzter Mittel und Möglichkeiten, ohnehin nur bei schwersten Menschenrechtsverletzungen
wie Todesgefahr, Folter, Vertreibung an.
Den
Millionen vom Hungertod, von
Genitalverstümmelung Bedrohten, von Hungerflüchtlingen und Aidskranken, deren elementare
Menschenrechte auf Leben und Gesundheit bedroht sind, ist gewiss mit humanitärer
Unterstützung eher zu helfen als mit militärischer Invasion. Militärische Interventionen sind das
schlechteste der möglichen Mittel, um den Schutz der Menschenrechte universell zu befördern.
"Die Privatisierung von Gewalt" (E. Eppler)10, das meint die Auflösung des staatlichen
Gewaltmonopols durch kriminelle, terroristische, rebellierende Banden und Gruppen, die
Selbstjustiz betreiben, Gebiete kontrollieren, Schutz- und Erpressungsgelder kassieren, sich
durch Drogen-, Waffen- und Menschenhandel bereichern, stellt eine neue Form globaler
Sicherheitsbedrohung dar. Die Führer der Gruppen tragen illustre Namen: Carlos, Arkan, Aidid,
Civi Devi, Bin Laden. Die Gruppen insgesamt, von den afrikanischen und asiatischen warlords,
über die kolumbianische Drogenmafia bis zur UCK im Kosovo und den Bakassi-Boys in Nigeria
kontrollieren inzwischen Teile vieler Länder und halbe Kontinente. Sie operieren, teils als
Überzeugungstäter aus ideologischem oder religiösem Fanatismus, teils aus schierer Geld- oder
Machtgier, äußerst brutal und völlig gesetzlos. Sie achten keinerlei Kriegsrecht, die Verwischung
von Kombattanten und Nicht-Kombattanten gehört gleichsam zum Prinzip. Die Länder im
Würgegriff solcher Banden versinken im Chaos.
Aus diesen neuen Formen von Gewalt bezieht die humanitäre Intervention ihre hauptsächliche
Begründung: Wo die Staatschefs de facto zu Bürgermeistern der Hauptstädte werden, wo es
keinen oder nur noch einen Rumpfstaat gibt, da gibt es, so die Interventionslogik, auch keine
staatliche Souveränität mehr, die mit einer Invasion verletzt werden könnte. Wo kein Staat mehr
existiert, der seine Bürger vor Übergriffen schützen kann, da scheint es plausibel, dass diese
Schutzfunktion auf die internationale Gemeinschaft übergeht. Allerdings: Die Privatkriege, die
diese Gruppen gegeneinander und gegen ihre Staaten führen, sind weder durch Luftschläge oder
von Flugzeugträgern der Nato noch überhaupt durch militärisches Eingreifen von außen zu
beenden – es sei denn, man riskierte viele weitere 'Vietnams'. Schon aus Klugheitsgründen
verbieten sich also militärische Lösungsversuche. Und ethisch gesehen gilt: Das bedrohte oder
zerstörte Gewaltmonopol rettet man nicht, indem man es vollends ignoriert, sondern indem man
es, mit politischer Unterstützung, mit administrativer und wirtschaftlicher Hilfe wieder aufbaut.
Die "Privatisierung der Gewalt" sollte als ethische, nicht als militärische Herausforderung
begriffen werden.
Soweit eine immanente Kritik, die immer noch unterstellt, dass es überhaupt a priori moralische
Motive gibt, die zu Kriegshandlungen führen. Aus realistischer Perspektive stellt es sich anders
dar.
(2.)
Die Basis militärischer Interventionen mag ethisch gesehen ihre moralische Motivation sein,
faktisch ist es ihre militärische und politische Machbarkeit. Was kann es für eine Staatsführung
9
Eine entsprechende Einschätzung findet sich bei Reinhard Merkel, Das Elend der Beschützten, in: Ders, Hrsg., Der
Kosovokrieg und das Völkerrecht, Frankfurt/M. 2000, S. 66-98.
10 Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Frankfurt/Main 2002. Die folgende These stützt sich auf
diese Arbeit.
4
Verlockenderes geben, als ein Krieg, der keine eigenen Opfer fordert, der relativ billig zu führen
und ganz sicher zu gewinnen ist? Alle militärischen Interventionen der letzten Zeit sind
asymmetrische Kriege11, in dem Sinne, dass der Sieger von vornherein feststeht, weil der
angegriffene Staat, angesichts der militärischen Überlegenheit der Intervenierenden, nie eine
Chance hat zu gewinnen. Schon im Golfkrieg waren die Verluste bei den Alliierten minimal im
Verhältnis zu jenen der Angegriffenen, im Kosovokrieg gab es keinen einzigen Gefallenen auf
Seiten der Nato. Das ist eine historische Sensation, und es wäre naiv zu glauben, dass der
Umstand des gefahrlosen Sieges keine Rolle spielt bei der Bereitschaft zu intervenieren. Und
natürlich ist es eine moralische Provokation, dass diese asymmetrischen Kriege eher an
Schädlingsbekämpfung, denn an eine Schlacht mit offenem Ausgang erinnern: Die Widerstandsmöglichkeit gegen hochfliegende Bomber, Raketen und Marschflugkörper entspricht in der Tat
jener von Insekten gegen Sprühflugzeuge.
Aus dieser Sicht erscheint auch die populäre These vom demokratischen Frieden, der Idee also,
demokratische Staaten führten keine Kriege gegeneinander, in einem anderen Licht. Tatsächlich
führen demokratische Staaten keine symmetrischen Kriege. Der ungewisse Ausgang, die hohen
Kosten, die vielen Opfer sind demokratisch nicht zu rechtfertigen. Asymmetrische Kriege
werden aber von Demokratien sehr wohl geführt, ja, die meisten Kriege seit 1945 wurden von
demokratischen Staaten begonnen.12 Großbritannien (19), Indien (18), die USA (15), Frankreich
(12) führen mit zusammen 65 Kriegen die Liste kriegsführender Staaten bis heute an.
Vielleicht beschreibt man diese Staaten in diesem Zusammenhang besser als "postheroisch"13,
denn als demokratisch. Die traditionelle moralische Bewertung des Kriegs als Schule des
Heroismus, als Lehrmeister der Tugenden Mut, Disziplin, Opferbereitschaft, Treue ist in
modernen individualistischen und hedonistischen Gesellschaften längst überwunden – und die
asymmetrischen Kriege dieser Staaten ermöglichen auch keinen Rückgriff auf solche
antiquierten Begründungsmuster des Kriegs. Und dennoch müssen gerade die asymmetrischen,
'gefahrlosen' Kriege besonders gut begründet werden. Denn ihnen fehlt die elementarste
Legitimation: der Duellcharakter mit offenem Ausgang. Jede Prügelei unter Halbstarken
bewerten wir milder, als wenn eine Gruppe Bewaffneter einen einzelnen Wehrlosen
niederschlägt.
Rührt daher der Rekurs auf Menschenrechte, die Stilisierung des Gegners zum Bösen
schlechthin, des eigenen Angriffs zur Polizeiaktion bzw. Urteilsvollstreckung? Brauchen
nachheroische Gesellschaften unheroische aber hochmoralische Rechtfertigungen für ihre
asymmetrischen Kriege? Es scheint hier einen doppelten Zusammenhang zu geben: Je
gefahrloser und sicherer die Interventionskriege geführt und gewonnen werden können, desto
größer die Bereitschaft dazu und je asymmetrischer diese Kriege sind, desto aufwändiger und
großartiger ihre moralische Rechtfertigung.
Aber gibt es nicht auch eine umgekehrte Asymmetrie der Gewalt? "In der Vergangenheit
benötigten Feinde große Armeen...um eine Gefahr für die Vereinigten Staaten darzustellen.", so
der amerikanische Präsident, "Heutzutage können schemenhafte Netzwerke von Einzelpersonen
großes Chaos und Leid über unser Land bringen – und es kostet sie weniger als ein einziger
Panzer."14 Immerhin kostet es sie das Leben, sollte man ergänzen. Tatsächlich ist diese
Asymmetrie, die Bedrohung der Ersten Welt durch privatisierte Gewalt, durch Terrorbanden der
Dritten Welt eine Konsequenz der ersten Asymmetrie: "Was Bin Laden tat", sagt Erhard Eppler,
"könnte kein Staat mehr wagen. Die erste Atomrakete von Pjöngjang auf Kalifornien wäre das
Ende Nordkoreas".15 Vielleicht ist dieses 'Dr. No-Syndrom' des internationalen Terrorismus der
Preis für die Anfälligkeit einer asymmetrischen aber globalisierten Welt.
11
Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 230 ff.
Vgl. im Einzelnen: K. J. Gantzel, Über die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg: Tendenzen, ursächliche
Hintergründe, Perspektiven, in: B. Wegner, Hrsg., Wie Kriege entstehen, Paderborn 2000, S. 299-318.
13 So bei Münkler, s. Anm. 10, S. 231 ff.
14 Zit nach: Blätter, aaO. 11,02, S. 1391.
15 E. Eppler, (s. Anm. 9) S. 17.
12
5
Krieg gilt, auch daher, nicht mehr als ultima ratio der Politik, sondern als ein Mittel neben
Diplomatie, politischem oder wirtschaftlichem Druck, um Sicherheit zu garantieren. Die Anzahl
der bewaffneten Einsätze von Nato-Staaten hat sich in den letzten zehn Jahren stark erhöht; die
Armeen werden umgerüstet von Landes- und Bündnisverteidigung auf "Krisenreaktionskräfte"
und "mobile Eingreiftruppen" für den weltweiten Einsatz in 'Spannungsgebieten' oder gegen
'Schurkenstaaten'; die neueste Nato-Strategie sieht vor, mehrere 'low-intensiv-wars' gleichzeitig
führen zu können; zu ihren Aufgaben zählt sie nun, neben der gemeinsamen Verteidigung im
Angriffsfall, auch den weltweiten Sicherheitsschutz, den Kampf gegen Terrorismus und
organisiertes Verbrechen, gegen nukleare Proliferation, die Sicherung des Zugangs zu wichtigen
Rohstoffressourcen und ein Eingreifen gegen "die unkontrollierte Bewegung von großen Massen
an Menschen"16, wie es in der offiziellen Nato-Strategie von 1999 heißt. Die Konsequenz dieser
Inflation an Kriegszielen ist die Militarisierung von Außenpolitik.
Kriege und militärische Interventionen werden auch deshalb moralisch begründet, weil sie nicht
mehr ideologisch als antikommunistisch oder antiimperialistisch zu begründen sind. Die USA
waren in Südamerika, die UDSSR war in Afrika, um die Kontinente vor dem Kommunismus
bzw. dem Imperialismus zu bewahren.
Das genügte. Für den Golfkrieg, für Somalia, für Bosnien bemühte man sich um eine UNAbsolution. Und wenn diese, wie im Kosovo-Krieg, nicht zu haben war, dann wurde die
"Selbstmandatierung" damit begründet, dass ein "neues Auschwitz" zu verhindern sei. Werden
Kriege moralisiert, wird die Moral kriegerisch.
Die Außenpolitik des Westens wird auch deshalb militarisiert, weil es keine Gegenseite mehr
gibt, die das mit einem 'njet' verhinderte. Das Ende des Warschauer Pakts machte die Nato zum
Kaiser in neuen Kleidern. Und damit der Kaiser nicht abdanken musste, wurde er umgewandet
zum Weltpolizisten, dem nun zahlreiche neue Exekutivaufgaben geschneidert wurden. Als
Gendarm ist er nun, anders denn als Wachsoldat, im Dauereinsatz. Die moralischen Anlässe für
militärische Interventionen und gerechtfertigte Nothilfe waren vor 1990 gewiss nicht geringer als
seitdem, aber der kalte Krieg erzwang diplomatische und ökonomische Lösungen, wo heute
gebombt werden kann, weil niemand zurückbombt.
Die Gewalt wird heute vor allem in jenen Ländern privatisiert, in denen früher das staatliche Gewaltmonopol durch die Blockbindung stabilisiert wurde. Das zeigt sich natürlich am deutlichsten
in den Staaten und Territorien des einstigen Ostblocks. Ehemalige lokale und regionale
Sowjetkader machen sich als warlords und Bandenführer 'selbstständig'. In anderen armen
Ländern der Welt fehlt nun die Disziplinierung durch eine Identität als westlich- oder östlichorientiertes Land, einer Orientierung, von der man auch ökonomisch profitierte, denn die
Leitstaaten in West und Ost ließen sich das Bekenntnis zu ihnen einiges kosten. Ohne Ansehen
werden sie nun alle zu 'failing states'. Die Entwicklungshilfe wird stark gekürzt, der Staat der
armen Länder hat nichts mehr zu verteilen und kann jene nicht bezahlen, die das Land vor
Ausplünderung schützen sollten. Dies ist der Nährboden für privatisierte Gewalt. Sie entsteht,
weil die reichen Länder das Interesse an der Staatsgewalt der Armen verloren haben.
Kurz: Die Moralisierung von Krieg wird nötig, die Militarisierung von Außenpolitik wird
möglich, die Privatisierung der Gewalt erscheint als Lösung mit dem Ende der Bipolarität der
Welt.
16
Das strategische Konzept des Bündnisses vom 23.04. 1999, in: Blätter, aaO. 6, 99, S. 740.
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