Auszug aus dem Buch von Steven Johnson (2006) „Neue Intelligenz

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Steven Johnson (2006) setzt sich mit seinem Buch
„Neue Intelligenz – Warum wir durch
Computerspiele und TV klüger werden“ mit der
herkömmlichen Meinung, Kinder und Jugendliche
sollten nicht zu viel Zeit vor dem TV und dem
Spielen von Games verbringen, sondern wesentlich
mehr Bücher lesen. Seine Darstellungen sind nicht
unumstritten. Wie folgt leitet er sein Buch ein.
„Mit diesem Buch möchte ich Sie ganz unverhohlen
auf meine Seite ziehen. Ich will Sie davon
überzeugen, dass die populäre Unterhaltungskultur
im Laufe der letzen dreißig Jahre im Allgemeinen
immer komplexer und intellektuell anspruchsvoller
geworden ist. Im Gegensatz zu Mahnern und
Warnern, die befürchten, dass wir uns rasend
schnell dem Abgrund nähern und unsere
Gesellschaft verblödet – eine „zunehmend infantile
Gesellschaft“ wird, wie Georg Will es nennt -, sehe
ich eine positive Entwicklung: Die Massenkultur wird immer anspruchsvoller und verlangt
Jahr für Jahr größere kognitive Leistungen von uns. Man könnte von einer Art positiver
Gehirnwäsche sprechen. Die Unterhaltungsmedien schärfen nämlich stetig, aber für uns
kaum wahrnehmbar den Verstand, und zwar während wir uns mit etwas unterhalten lassen,
das üblicherweise als trivialer Mist bezeichnet wird. Ich nenne diesen Aufwärtstrend die
„Schläferkurve“ („Sleeper Curve“), nach der klassischen Filmsequenz aus Woody Allens
Science-Fiction-Parodie, in der ein Team von Wissenschaftlern im Jahre 2173 fassungslos
feststellen muss, dass die Gesellschaft des „0. Jahrhunderts keine Ahnung hatte, wie
ernährungstechnisch wertvoll Cremetörtchen und Schokoladensoße sind.
Ich hoffe, dass die Argumentation in diesem Buch den ein oder anderen an die leisen
Ahnungen erinnert, die ihn gelegentlich beschlichen haben mögen, auch wenn er sie
womöglich schnell wieder verdrängt hat. Ich meine das Gefühl, dass es vielleicht gar nicht
stimmt, dass die populäre Kultur in einer Abwärtsspirale der totalen Niveaulosigkeit
entgegentrudelt. Wenn sich
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das nächste Male jemand über gewalttätige TV-Mafiabosse oder entblößte Brüste im
Spartenprogramm beklagt, über schwachsinniges Reality-TV oder stumpf glotzende NintendoJunkies, dann sollten sie daran denken, dass inmitten dieses oberflächlichen Chaos die
Schläferkurve unaufhaltsam nach oben steigt. Es braut sich kein apokalyptischer Sturm über
uns zusammen, in vielerlei Hinsicht ist das Wetter sogar hervorragend. Man braucht nur ein
neues Barometer, um das festzustellen. (Wortwörtliche Übernahme – Anmerkung C.-D.
Edlich)
1
Der folgende Text ist wortwörtlich dem Ersten Teil des Buches entnommen.
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Games – Computerspiele
Kinder und Jugendliche sollten nicht so viel vor ihren Spielkonsolen hocken und dafür
häufiger Bücher lesen. Wer heute diesen Standpunkt vertritt, dürfte überall Beifall finden. In
der neusten Ausgabe von Dr. Spock’s * Erziehungsratgeber – „komplett überarbeitet für das
kommende Jahrhundert“, wie der Umschlag wirbt – steht etwa Folgendes zum Thema
Computerspiele: „Bestenfalls fördern sie die Entwicklung der Hand-Augen-Koordination bei
Kindern. Schlimmstenfalls billigen oder verherrlichen sie Aggressionen und gewalttätige
Formen der Konfliktlösung. Und eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die meisten
Computerspiele sind eine kolossale Zeitverschwendung.“2 Aber wenn es um das Thema
Lesen geht, schlägt der Ratgeber einen ganz anderen Ton an: „Fördern Sie in Ihren Kindern
von Anfang an die Liebe zum Lesen und dem geschriebenen Wort. (…) Es ist sehr wichtig,
dass Ihr Kind sich für Bücher begeistern kann.“3
Im Jahr 2004 veröffentlichte die amerikanische Bundesstiftung National Endowment fort he
Arts eine Studie, nach der in allen großen sozialen Gruppen Amerikas immer weniger Freizeit
für das Lesen verwendet wird. Für den Autor Andrew Solomon stellen sich die Konsequenzen
dieser Verschiebung wie folgt dar: „Leser besuchen viel häufiger Museen
* Dr. Spock’s Baby and Child Care, die amerikanische „Bibel“ unter den Erziehungsratgebern, 1946 erschien
die erste Auflage. Autor ist Dr. Benjamin Spock, weder verwandt noch verschwägert mit Mr. Spock, dem
Vulkanier aus der Fernsehserie Raumschiff Enterprise. (Anm. d. Ü.)
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und musikalische Veranstaltungen als Nichtleser. Die Leser übernehmen drei Mal so häufig
ehrenamtliche und karitative Aufgaben und gehen doppelt so oft zu Sportveranstaltungen.
Anders ausgedrückt: Leser sind aktiv. Nichtleser hingegen – mehr als die Hälfte der
Bevölkerung – vegetieren in einem Zustand der Apathie dahin. Die gesellschaftliche Kluft
zwischen den Menschen, die das Leben als einen ständigen Zuwachs an neuen Erfahrungen
und Wissen betrachten, und den Menschen, für die das Leben als Erwachsener nur
fortschreitende geistige Atrophie bedeutet, wird immer tiefer. Die Verschiebung zugunsten
letzterer Kategorie ist beängstigend.“4
Die Überzeugung, dass Bücherlesen dem Intellekt die reichhaltigste Nahrung bietet, ist
so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass es schwer fällt, einen anderen Standpunkt
einzunehmen. Aber wenn wir neue kulturelle Systeme und Medien vorurteilslos bewerten
möchten, stehen wir vor genau dem Problem, das Marshall McLuhan so treffend formuliert
hat: Die jüngere Vergangenheit ist stets in uns präsent, färbt also unweigerlich den Blick auf
ein neues Medium ein und lässt seine Mängel und Fehler deutlich hervortreten. Spiele haben
vor allem deshalb seit jeher einen so schlechten Ruf, weil man sie immer mit der älteren
Tradition des Lesens vergleicht. Um dieser Vorurteilsfalle zu entgehen, lassen Sie sich einmal
auf ein Gedankenexperiment ein. Stellen Sie sich eine Welt vor, die mit unserer identisch ist,
bis auf einen technikhistorischen Unterschied: Videogames sind lange vor Büchern erfunden
2
und verbreitet worden. In diesem Paralleluniversum spielen Jugendliche schon seit
Jahrhunderten Computerspiele – und plötzlich erscheinen gedruckte Texte auf dem Markt und
sind in kürzester Zeit der letzte Schrei. Was würden die Lehrer, die Eltern und die
Kulturwächter wohl zu dieser neuen Lesewut sagen? Vermutlich würde es sich etwa so
anhören:
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Das Lesen von Büchern unterfordert auf Dauer alle Sine. Die lange Tradition des
Computerspielens bindet das Kind in eine lebendige, dreidimensionale Welt ein, die mit
bewegten Bildern und musikalischen Klanglandschaften gefüllt ist; eine Welt, die unter
Einsatz komplexer Muskelbewegungen erkundet und kontrolliert wird. Im Gegensatz dazu
bestehen Bücher nur aus simplen Aneinanderreihungen von Wörtern auf Papierblättern. Beim
Lesen wird also ausschließlich der kleine Teil des Gehirns aktiviert, der geschriebene Sprache
verarbeitet, während Videogames das Zusammenspiel aller motorischen und sensorischen
Kortizes fördern.
Außerdem kann das Lesen von Büchern in die soziale Isolierung führen.
Computerspiele ermöglichen unseren Jugendlichen seit vielen Jahren komplexe soziale
Beziehungen mit ihren Altersgenossen und erlauben ihnen, gemeinsam Welten zu erbauen
und zu ergründen. Bücher hingegen zwingen das Kind dazu, sich an einen ruhigen Ort
niederzulassen uns sich der Interaktion mit anderen Jugendlichen zu entziehen. Die neuen
„Bibliotheken“, die in den letzen Jahren aus dem Boden geschossen sind und der Jugend den
Zugang zum Lesestoff erleichtern, bieten einen beängstigenden Anblick. Zu Dutzenden sitzen
Kinder, die sonst so lebendig miteinander umgehen, alleine in Kabinen, lesen stumm und
nehmen ihre Altersgenossen nicht mehr wahr.
Natürlich lesen viele Kinder gerne Bücher, und zweifellos haben die fantasievollen
Hirngespinste, die das Lesen vermittelt, auch ihre guten Seiten. Aber für einen beträchtlichen
Prozentsatz der Bevölkerung bedeutet die plötzliche Beliebtheit der Bücher eine
Diskriminierung. Die Lesewut, die in den letzten Jahren um sich gegriffen hat, demütigt die
10 Millionen Amerikaner, die an Legasthenie leiden. Sie werden stigmatisiert und leiden auf
einmal unter einer Behinderung, die erst als solche eingestuft wird, seit die gedruckten Texte
auf der Bildfläche erschienen sind.
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Aber die vielleicht gefährlichste Eigenschaft dieser Bücher ist der lineare, vorgeschriebene
Weg, dem ihre Inhalte folgen. Der Erzählfluss lässt sich in keiner Weise interaktiv
beeinflussen, man lehnt sich einfach zurück und lässt sich die Geschichte diktieren.
Erwachsene, die mit interaktiven Erzählstrukturen aufgewachsen sind, können sich den Reiz
von Büchern nicht erklären. Warum sollte man sich auf ein Abenteuer einlassen, das bis ins
letzte Detail von einer anderen Person choreographiert wurde? Dennoch lassen sich unsere
Jugendlichen täglich von Millionen solcher Abenteuer gefangen nehmen. Das erhöhte Risiko
einer allgemeinen Passivität, weil unseren Kindern dadurch vermittelt wird, dass sie gar nicht
in der Lage seien, das eigene Leben selbst zu gestalten. Lesen ist kein aktiver Prozess, der
Anteilnahme fördert, sondern erzieht nur zu Unterwürfigkeit und Gehorsam. Die Bücherleser
der jüngeren Generation lernen, „der Handlung zu folgen“. Ihr Geschick selbst in die Hand zu
nehmen, lernen sie nicht mehr.
Es versteht sich von selbst – doch zur Sicherheit stelle ich es noch einmal klar -, dass ich
dieser Argumentation nicht zustimme. Ganz von der Hand zu weisen ist sie dennoch nicht.
Ihre Beweisführung ist geschickt, denn sie beruht auf einer Art selektiver Verstärkung: Sie
3
stellt einige Aspekte des Bücherlesens isoliert in den Vordergrund und erstellt dann
pessimistische Zukunftsprognosen, die von dem schlimmstmöglichen Effekt dieser
Eigenschaften auf die „jüngere Generation“ ausgehen. Aber sie unterschlägt alle
unbestreitbaren Vorteile, die das Lesen mit sich bringt, zum Beispiel, dass die Buchform es
erlaubt, Argumentationen und Erzählstränge komplex auszuarbeiten, dass die Fantasie durch
das Lesen von Wörtern auf einer Buchseite intensiv angeregt wird oder dass gemeinsame
Erfahrungen möglich sind, wenn mehrere die gleiche Geschichte lesen.
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Ein vergleichbarer Taschenspielertrick lässt sich beobachten, wenn wieder einmal das zurzeit
grassierende Videogames-Fieber beklagt und sorgenvoll an die Wand gemalt wird, dass die
Jugend von heute dadurch der Verdummung preisgegeben werde. Computerspiele sind keine
Romane, und da, wo sie versuchen, Romanen nachzueifern, sind sie unweigerlich am
langweiligsten. Man kann Spiele natürlich nach den Kriterien bewerten, die für die
Beurteilung von Romanen gelten: Sind beispielsweise die Charaktere glaubwürdig gestaltet?
Sind die Dialoge stimmig? Natürlich schneiden die Games dabei schlechter ab. Die
Romanqualität von Computerspielen entsprechen ungefähr der Qualität von Michael Jordans
Baseballspiel. Er könnte sich damit wahrscheinlich gut über Wasser halten, aber Weltspitze
ist er mit seinen Talenten auf einem anderen Gebiet.
Bevor ich mich den Stärken der Computerspiele zuwende, möchte ich noch ein paar
Worte über die Vorzüge und den Nutzen von Büchern sagen. Eins will ich gleich zu Anfang
klarstellen: Ich halte diese Vorzüge für immens – und nicht nur, weil ich mir mit dem
Schreiben von Büchern meinen Lebensunterhalt verdiene. Wir alle sollten unsere Kindern
dazu ermutigen, mehr zu lesen, sie mit Büchern vertraut zu machen und ihre Freude am Lesen
fördern. Doch auch der fleißigste Leser wird sich, sofern er in unserem kulturellen Umfeld
aufwächst, unweigerlich irgendwann anderen Medien zuwenden – Spielen, dem Fernsehen,
Filme oder dem Internet. Und diese Kulturformen bieten ihren eigenen intellektuellen oder
kognitiven Gewinn, der sich zwar von dem des Lesens unterscheidet, aber nicht weniger
wertvoll ist.
Was genau sind nun die nützlichen Aspekte des Lesens? Der Einfachheit halber lassen
sie sich in zwei Kategorien aufteilen: die Information, die das Buch vermittelt, und die
Schulung der mentalen Kapazität, mit denen diese Informationen verarbeitet und dauerhaft
gespeichert werden. Also InformationsEnde Seite 35
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Aufnahme einerseits und Training für das Gehirn andererseits. Wenn wir Kinder dazu
ermutigen, in ihrer Freizeit zu lesen, dann wollen wir damit meistens ihre geistige
Leistungsfähigkeit steigern. In den Worten von Andrew Solomon: „[Lesen] erfordert Fleiß,
Konzentration und Aufmerksamkeit. Im Austausch dafür stimuliert es die Gedanken und
Gefühle des Lesers uns lässt ihn gleichzeitig die Früchte dieser Stimulation ernten.“5 Und DR.
Spock urteilt: Im Gegensatz zu den meisten anderen Vergnügungen erfordert das Lesen aktiv
scannen, die Worte mit Sinn füllen und dem Faden der Geschichte folgen.“6Die meisten
Lobeshymnen auf das Lesen beziehen sich außerdem darauf, wie stark dadurch die
Vorstellungskraft angeregt wird. Das Lesen von Büchern zwingt dazu, sich eine ganze Welt
im Kopf zusammenzufantasieren, statt einfach nur eine vorfabrizierte Bilderfolge zu
verschlingen. Und dann gibt es noch das ein wenig weit hergeholt klingende, aber zweifellos
richtige Argument, dass Lesen langfristig die Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere
fördert. Es ist von Vorteil, wenn man gerne und viel liest, da sowohl in unserem
4
Erziehungssystem als auch auf dem Arbeitsmarkt gute Lesekompetenz sehr hoch bewertet
wird.
Zusammengefasst wirken sich die kognitiven Vorzüge des Lesens auf folgende
Fähigkeiten positiv aus: Fleiß, Konzentration und Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, Wörtern
einen Sinn zu verleihen, Erzählsträngen zu folgen und aus nackten Sätzen auf einer Buchseite
imaginäre Welten zu erschaffen.
Schon allein die Tatsache, dass ich Ihnen meine Argumentation in Buchform
präsentiere – und nicht als Fernsehfeature oder Videogame -, macht deutlich, dass ich das
gedruckte Wort weiterhin für das beste Medium halte, um komplizierte
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Informationen zu vermitteln – obwohl das elektronische Wort Büchern langsam ernsthafte
Konkurrenz macht. Ich beziehe mich im Folgenden also ausschließlich auf den mentalen
Trainingsaspekt – nicht auf den Inhalt. Von zwei Dingen will ich Sie überzeugen:
1. Gemessen an fast allen Maßstäben, mit denen wir den kognitiven Nutzen des
Lesens beurteilen – Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder die Fähigkeit,
Zusammenhänge zu erkennen -, bietet die nichtliterarische Populärkultur der
letzen dreißig Jahre immer größer werdende Herausforderungen.
2. Diese Kultur fördert zunehmend auch andere kognitive Fähigkeiten, die genauso
wichtig sind wie diejenigen, die durch das Lesen von Büchern angeregt werden.
Trotz aller Unkenrufe von Dr. Spock finden sich die überzeugensten Beispiele für diese
beiden Trends in der Welt der Computerspiele. Bestimmt ist Ihnen aufgefallen, dass in
seriösen Zeitungen und Zeitschriften immer häufiger Artikel über die „Gaming-Kultur“
erscheinen, deren Quintessenz dieselbe ist: dass Videogames unter Umständen vielleicht doch
keine komplette Zeitverschwendung sind. Für gewöhnlich verweisen die Verfasser dann auf
irgend eine neue Studie hin, die sich auf einen kleinen Nebeneffekt des Computerspielens
konzentriert – oft auf die Schulung der manuellen Geschicklichkeit oder des visuellen
Gedächtnisses-,7und erklären dem Laien, dass diese Fähigkeiten bei gewohnheitsmäßigen
Spielern besser entwickelt seien als bei Nichtspielern. /Der andere Aspekt, auf den diese
„Computerspiele-sind-doch-nichtvöllig-sinnlos“-Artikel Bezug nehmen, ist rein
wirtschaftlicher Natur. Meist heben sie hervor, dass die „Gaming-Industrie“ inzwischen mehr
Geld einnimmt als Hollywood.)
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Es ist zweifellos richtig, dass beim Spielen aktueller Computerspiele die visuelle
Intelligenz und manuelle Geschicklichkeit geschult werden. Dennoch ist es falsch, die
Vorteile des Spielens auf die bloße Verbesserung der Hand-Augen-Koordination zu
reduzieren. Die Wirkung dieser scheinbar positiven Berichte über Videogames scheint mir
vergleichbar mit der eines Zeitungsartikels über Literatur, in dem der Wert der Klassiker
allein darin gesehen wird, dass deren Lektüre die Rechtschreibung verbessere. Das stimmt
zwar, wird aber der reichen, vielschichtigen Erfahrung nicht gerecht, die das Lesen eines
Romans bietet. In der Berichterstattung über Games werden bis zum heutigen Tag tatsächlich
solche Scheuklappen angelegt. Obwohl auf breiter Ebene über die Relevanz von
Computerspielen diskutiert wird, stellt man das eigentliche Spielerlebnis grundsätzlich falsch
oder gar nicht dar. Zwar erfahren wir viel über den Inhalt von Spielen: über Gemetzel,
Schießereien und jugendliche Fantasiewelten. Doch nur selten wird präzise und informiert
5
beschrieben, wie es sich für die Spieler anfühlt, in diesen virtuellen Welten Zeit zu
verbringen. Eine tiefe Erfahrungslücke klafft zwischen denjenigen Menschen, die sich selbst
schon einmal in ein Game vertieft haben, und denen, die nur aus zweiter Hand darüber
berichten. Diese Lücke macht mir Sorgen, denn sie erschwert es, so über die Bedeutung von
Spielen zu diskutieren, dass alle über das Gleiche reden. In den sechziger Jahren beschrieb die
Publizistin und Architekturkritikerin Jane Jacobs die wachsende Lebensqualität von
Stadtzentren8 und machte dabei eine ganz ähnliche Beobachtung: „Menschen, die solche
belebten Stadtviertel gut kennen, wissen, wovon ich spreche. Diejenigen, die sie nicht kennen,
werden sie sich immer ein bisschen falsch vorstellen – genau wie die Künstler, die sich bei
der Darstellung eines Nashorns nur auf die Berichte der Reisenden stützten, die mal ein
Nashorn gesehen hatten.“
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9
Wie sieht dieses Nashorn also in Wirklichkeit aus? Was das Spielen moderner
Computerspiele in erster Linie ausmacht, wird in der allgemeinen Berichterstattung so gut wie
nie erwähnt: Spiele sind Teufelszeug und können einen zum Wahnsinn treiben. Sie sind
nämlich höllisch schwierig.
Benjamin Spock, Steven J. Parker, Dr. Spock’s Baby and Child Care.N1998, S. 625.
Ebd.
4
Andrew Solomon, „The Closing of the American Book“, in: The New York Times, 10. Juli 2004.
Solomon ist ein besonnener und sprachgewandter Autor, aber in diesem Essay äußert er eine Reihe bizarrer
Behauptungen, die weder durch Tatsachen noch durch den gesunden Menschenverstand erhärtet werden.
Nehmen Sie zum Beispiel folgende Passage: „In meinem letzten Buch habe ich mich mit Depressionen
beschäftigt. Die Frage, mit der ich am häufigsten konfrontiert werde, ist die nach dem Grund für die stetige
Zunahme von Depressionen. Als Antwort weise ich auf die Vereinsamung hin, die dadurch entsteht, dass man
den ganzen Tag vor dem Fernseher oder dem Computerbildschirm verbringt. Im Gegensatz dazu tritt der Leser
von Literatur in ein Zwiegespräch ein; ein Buch ist wie ein Freund, der sich mit dir unterhält und nicht nur auf
dich einredet.„ Dabei vergisst er als Allererstes, dass die meisten Videogames echte Dialoge enthalten, bei denen
der Spieler mit Spielfiguren interagieren muss. Im Gegensatz dazu ist der „Dialog“ zwischen Leser und Text rein
metaphorisch. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass die meisten Spiele in sozialen Kontexten gespielt werden
– gemeinsam mit Freunden im gleichen Zimmer oder über Internet-Netzwerke -, dann drängt sich die
Vermutung auf, dass Solomon sich mit der Spielform, auf die er hier einprügelt, überhaupt nicht auseinander
gesetzt hat. Wenn er also behauptet, „Lesen ist anspruchsvoller ais Fernsehen oder Computerspielen“, fragt man
sich: Über welches Videogame spricht er eigentlich? Sicherlich ist es schwieriger, den Ulysses zu lesen als
PacMan zu spielen, aber ist die Lektüre eines Stephen-King-Romans wirklich anspruchsvoller als das Spielen
von Zelda oder SimCity? Wohl kaum.
2
3
5
Ebd.
Benjamin Spock, Steven J. Parker, Dr. Spock’s Baby ans Child Care. New York 1998, S. 625.
7
Ich werde hier nicht näher auf die Förderung der manuellen Geschicklichkeit eingehen, aber es ist
erwähnenswert, dass die Steuerungen für diese Spiele im letzten Jahrzehnt deutlich komplexer geworden sind.
Vergleiche Sie einmal die ursprüngliche Legend of Zelda (Juli 1987) für das Nintendo Entertainment System
(NES) mit dem Zelda für den GameCube (März 2003). In sechzehn Jahren hat sich Folgendes verändert:
Damals
Heute
Controller
Controller
4 Richtungstasten
2 Joysticks
4 Richtungstasten
2 Aktionstasten
7 Aktionstasten
Jede Taste hat nur eine Funktion. Jede
Tastenkombination hat eine bestimmte
Funktion.
(gekürzt – C.-D. Edlich)
8
Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Berlin 1964.
9
Henry Jenkins hat das Nashorn der populären Kultur des vergangenen Jahrzehnts am treffendsten
porträtiert: „Oft ist unsere Reaktion auf populäre Kultur von unserem Bedürfnis nach einfachen Antworten und
6
6
schnellen Lösungen geprägt. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen, wenn man Komplexität der zeitgenössischen
Kultur verstehen will. Wir müssen lernen, Medien sicher, kritisch und kreativ zu nutzen. Wir müssen die
Informationen und die Unterhaltung, die wir in uns aufnehmen, bewerten lernen. Darüber hinaus müssen wir
begreifen, wie viel wir auf emotionaler Ebene in den Medieninhalt investieren. Und vor allem müssen wir
einsehen, dass geschmackliche Unterschiede weder Geisteskrankheiten noch soziale Probleme sind. Wir müssen
nachdenken, miteinander reden und zuhören. Wenn wir Schülern und Studenten sagen, dass Populärkultur im
Unterricht nichts verloren habe, dann vermitteln wir ihnen damit den Eindruck, dass das, was sie in der Schule
lernen, nur wenig mit dem zutun hat, was sie zu Hause interessiert. Verweigern wir uns am Esstisch einer
Diskussion über populäre Kultur, wirkt das, als interessierten wir uns nicht für das, was unseren Kindern wichtig
ist. Wenn wir unseren Eltern zu verstehen geben, dass sie unseren Musik- oder Modegeschmack sowieso nicht
verstehen können, schließen wir sie von einem Großteil unserer Identität und unseres Wertesystems aus. Wir
müssen die Vorlieben des anderen nicht teilen. Aber wir müssen sie respektieren und verstehen lernen.“ (Henry
Jenkins, „Encouraging Conversations About Popular Culture and Media Convergence: An Outreach Program for
Parents, Students, and Teachers, March-May 2000“, unter:
http://web.mit.edu/ems/people/henry3/resourceguide.html)
7
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