- Historikertag 2002

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1.
Epochenübergreifende Sektionen
1.1
Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter
Leitung: Klaus J. Bade, Osnabrück
Einführung
Prof. Dr. Klaus J. Bade, Osnabrück
Zwischen ›freiwilligen‹ und ›unfreiwilligen‹ Migrationen liegt die in der historiographischen Beschreibung
abgebildete historische Wirklichkeit des Wanderungsgeschehens mit ihren vielen Übergangsformen zwischen
nach Struktur oder Motivation mehr oder minder unterscheidbaren Wanderungsbewegungen. Die beschriebenen
Erscheinungsformen des Wanderungsgeschehens bleiben dabei abhängig von den Zuschreibungsformen,
insbesondere von der Einschätzung und Gewichtung der zugeschriebenen Migranteneigenschaften. Auch
zwischen rechtsgeschichtlichen Gruppenbildungen wie ‚Arbeit‘, ‚Asyl‘, ‚Flucht‘ oder ‚Minderheiten‘ sind die
Grenzen in multiplen Migrantenidentitäten oft fließend. In der Konfrontation mit solchen
Konzeptualisierungsproblemen gegenüber dem Phänomen Migration erscheinen Migrationsforschung und
Migrationspolitik mitunter nicht sehr weit voneinander entfernt, trotz aller grundlegenden Unterschiede
zwischen den Zuschreibungsinteressen auf beiden Seiten. Die Sektion beleuchtet an ausgewählten Beispielen
zentrale Aspekte einzelner Epochen der europäischen Migrationsgeschichte seit dem Spätmittelalter und
diskutiert am Ende zentrale Konzeptualisierungsprobleme der historischen Migrationsforschung.
Latente Mobilität und bedingte Sesshaftigkeit im Spätmittelalter
Prof. Dr. Ernst Schubert, Göttingen
Vom reisenden König bis hin zum fahrenden Schüler gehört die Mobilität zum Mittelalter. Das ist ebenso
bekannt wie die Wanderungsströme, die dem hochmittelalterlichen Landesausbau und der Ostsiedlung
zugrundeliegen; zuweilen sind diese Ströme sogar wie bei den vielen Familiennamen ›Westfal‹ im hansischen
Raum genauer zu erkennen. Was uns unterhalb dieser Ebenen jedoch interessiert, ist die Frage, wieweit das
›Fahren‹, von dem die Quellen sprechen, allgemein zur Vitalsituation der Menschen gehörte.
Migration und Konfession in der Frühen Neuzeit
Prof. Dr. Heinz Schilling, Berlin
Der Vortrag befaßt sich mit einem spezifischen Typus des alteuropäischen Migrationsgeschehens, für den der
Begriff ›Konfessionsmigration‹ vorgeschlagen wird. Konkretes Beispiel sollen die wallonischen und
niederländischen Exulanten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts sein, die aus verschiedenen Gründen für einen
diachronen Vergleich aufschlußreicher erscheinen als die historiographisch ›prominenteren‹ Hugenotten oder
Salzburger.
Migration und Expansion vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum europäischen
Massenexodus
Prof. Dr. Dirk Hoerder, Bremen
In diesem Beitrag wird argumentiert, 1. daß Migrationsforschung eine kritische Auseinandersetzung mit den
wissenschaftlichen Begrifflichkeiten erfordert, da Wechsel zwischen Gesellschaften Perspektivenwechsel
1
bedeutet; 2. daß ökonomische Großregionen und lebensgeschichtliche Mikroentwicklungen miteinander in
Verbindung zu setzen sind; und 3. daß eine weltweite Perspektive Ungleichzeitigkeiten bei der Entwicklung von
Migrationssystemen und unterschiedliche Zäsuren beleuchtet.
Migration und Expansion vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum europäischen
Massenexodus
Prof. Dr. Pieter C. Emmer, Leiden
Im Zentrum steht die Entwicklung des interkontinentalen Wanderungsgeschehens zwischen 1500 und 1850. Die
interkontinentale Migration in diesem Zeitraum war deutlich geringer als diejenige in den folgenden Epoche: Sie
umfaßte etwa 12 Millionen afrikanische Sklaven und 2–3 Millionen Europäer, bei deren Migration zum Teil
auch Zwangselemente eine Rolle spielten. Nach 1850 traten nicht Europäer, sondern asiatische Intentured
Laborers an die Stelle der Sklaven im tropischen Amerika, während die europäische Einwanderung in die
gemäßigten Zonen zur Massenbewegung aufstieg.
Flucht, Vertreibung und Asyl im 19. und 20. Jahrhundert
Priv.Doz. Dr. Jochen Oltmer, Osnabrück
Die Geschichte der Etablierung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert war begleitet von Flucht
und Verfolgung aus politischen Gründen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde angesichts des Massenzustroms im
beginnenden ›Jahrhundert der Flüchtlinge‹ die Frage der Gestaltung der rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Aufnahme von Flüchtlingen dringlicher. Dennoch blieben Asylrecht und Asylpraxis auch weiterhin
ausgerichtet auf den einzelnen Flüchtling des 19. Jahrhunderts. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das
Asylrecht menschenrechtlich abgesichert, blieb aber bis heute prekär.
Europäische Migrationsgeschichte und Weltgeschichte der Migration: Epochenzäsuren und
Methodenprobleme
Prof. Dr. Dirk Hoerder, Bremen
In diesem Beitrag wird argumentiert, 1. daß Migrationsforschung eine kritische Auseinandersetzung mit den
wissenschaftlichen Begrifflichkeiten erfordert, da Wechsel zwischen Gesellschaften Perspektivenwechsel
bedeutet; 2. daß ökonomische Großregionen und lebensgeschichtliche Mikroentwicklungen miteinander in
Verbindung zu setzen sind; und 3. daß eine weltweite Perspektive Ungleichzeitigkeiten bei der Entwicklung von
Migrationssystemen und unterschiedliche Zäsuren beleuchtet.
1.2
Die Salzstadt: Alteuropäische Strukturen und frühmoderne Innovation
Leitung: Werner Freitag, Halle und Heiner Lück, Halle
Einleitung
Prof. Dr. Werner Freitag
Unter dem Rahmenthema Traditionen und Visionen trachtet die Sektion im ersten Teil danach, den spezifischen
Realtypus Salzstadt mit dem weberschen Idealtypus der Stadt des Okzidents im Hinblick auf Stadtverfassung,
2
Stellung zum Territorialherrn, Patriziat, Rechtskodifikation und genossenschaftliche Produktion nach dem
Nahrungsprinzip abzugleichen. Es soll deutlich werden, dass die städtebildende Funktion des Salzes zu einem
Sondertypus der Stadt führte. Die bis weit in das 17. Jahrhundert nachzuweisende gute Konjunktur führte zu
einer wirtschaftlichen Stabilität der Salzproduktion in der Stadt - das Salz konservierte das symbolische Kapital
des Patriziats und die Produktionsabläufe, so dass die Salzstadt bis weit in das 18. Jahrhundert das „Schon“ der
Frühen Neuzeit nicht erreichte. Dieser überkommene Stadttypus fand im 18. Jahrhundert in den Städten
derjenigen Territorien sein Ende, in denen gezielt merkantile Salinenpolitik betrieben wurde und in denen die
naturwissenschaftlich geschulten neuen Salzbeamten ihre Vision einer neuen Salzproduktion in die Tat
umsetzten. Nur dort waren die alten Produktionsstätten und Genossenschaften dem staatlichen
Modernisierungsdruck ausgesetzt und letztlich überlebensfähig. Am Ende des 18. Jahrhundert standen sich
überkommene Brunnen und Siedehütten in der Stadt und effiziente, staatlich initiierte Großbetriebe außerhalb
der Stadt gegenüber.
Salzproduktionsstätten als Bezirke eigener Rechtsaufzeichnung und Gerichtsbarkeit
Heiner Lück, Halle
Die Pfännerschaft der Stadt Halle im ausgehenden 15. Jahrhundert
Manfred Straube, Leipzig
Visionäre des Fortschritts: Die österreichischen und preußischen Salzbeamten
Jakob Vogel, Berlin
Traditionssuche und aufgeschobene Proletarisierung: Österreichische Salzstädte im 19.
Jahrhundert
Thomas Hellmuth, Linz
1.3
Strukturen, Netzwerke und Traditionen: Der Indische Ozean, 1750-1950
Leitung: Michael Mann, Hagen und Jan-Georg Deutsch, Berlin
Einführung
PD Dr. Michael Mann, Hagen
PD Dr. Jan Georg Deutsch, Berlin
Seit dem 18. Jahrhundert bilden sich im Indischen Ozean neue Formen der Handels- und
Wirtschaftsbeziehungen heraus. Die wachsende Industrialisierung und die Expansion des Weltmarktes im 19.
Jahrhundert bedeuten eine oft unfreiwillige Migration von Arbeitern, Handwerkern und Bauern. Familienbande
lassen bald ein Geflecht unterschiedlichster Kommunikationsformen entstehen, die freilich einem permanenten
Wandel unterworfen sind. Die solcherart betroffenen Menschen sind in diesem Prozess nicht passive Objekte der
Geschichte, sondern sie nehmen ihr ökonomisches, familiäres und rechtliches Schicksal oft in die Hand und sind
nicht selten selbstbestimmte Subjekte. “Geschichte von unten” wird hier in einer neuen Dimension präsentiert.
Writing a Modern History of the Indian Ocean
3
Ned Alpers, Los Angeles
Compared to the Mediterranean and Atlantic Oceans, the Indian Ocean remains understudied by historians. I will
discuss the geographical and historical elements that we must consider in approaching this vast topic, not least
among which is the element of imagination that it takes to bring the Indian Ocean world to life as an historical
region. In particular different extant approaches to the task will be presented and as well as what I consider to be
the more important elements to writing such a history.
The Indian Ocean and a very small place in Zanzibar, East Africa
Jan-Georg Deutsch, Berlin
Der Vortrag beschreibt den postkolonialen Wandel eines Stadtviertels in der Altstadt von Zanzibar in Ostafrika.
In „Peshawar“, dem Drogenviertel der Stadt, benannt nach der in der Nähe zur afghanischen Grenze gelegenen
Regionalhauptstadt des nordwestlichen Pakistans, finden seit etwa Mitte der 1980er Jahre Jugendliche aus
Zanzibar einen Zufluchtsort vor der Polizei wie auch vor ihren eigenen Familien.. Wie kommt es zu dem
eigentümlichen Namen. In dem Vortrag soll deutlich werden, dass die lokale Geschichte von „Peshawar“
gleichermaßen im Kontext der historischen Entwicklung von Zanzibar in der nachkolonialen Zeit wie auch in der
neueren Geschichte des Indischen Ozeans verankert ist.
Jemenitische Netzwerke im Indischen Ozean
Friedhelm Hartwig, Berlin
Migration und die Beteiligung am Seehandel des Indischen Ozeans gehörten im Hadramaut, diesem an
Ressourcen armen Land, zu den überlebenswichtigen Strategien der Bevölkerung. Der Schwerpunkt wird auf
zwei der bedeutendsten Zielgebiete hadramischer Migration liegen, dem indischen Fürstentum von Hyderabad
und dem Sultanat von Zanzibar. Entlang sozioökonomischer Entwicklungen im Indischen Ozean wird eine
Periodisierung der Geschichte Hadramauts vorgestellt. Dabei wird das Instrumentarium der Netzwerkanalyse im
Sinne einer qualitativen Nutzung des weiter verstandenen Netzwerkansatzes „seascape“, der maritim geprägten
sozialen und kulturellen Landschaft, verwendet.
Prostitution und „weiße“ Sklaverei im Indischen Ozean
Harald Fischer-Tiné, Berlin
Die Entstehung europäischer Netzwerke von Prostitution und ‚Mädchenhandel’ in den Hafenstädten Indiens seit
ca. 1870 wurde sowohl in Großbritannien als auch von den Kolonialbehörden vor Ort mit Besorgnis verfolgt.
Anfang des 20. Jahrhunderts setzte ein Kreuzzug gegen den sog. ‚White slave Traffic’ ein. Vielfältig, ja
gegensätzlich waren die Interessen und Positionen auf Seiten der Kolonialherren. Die Rekonstruktion dieser
divergierenden Stimmen stellt das simplifizierende Modell eines homogenen ‚Kolonialdiskurses’ in Frage.
Ebenso relativiert die Berücksichtigung von Prostituierten und Zuhältern die verbreitete Wahrnehmung der
Europäer in Britisch-Indien als imperialer Elite.
1.4
Geschichtswissenschaft und Internet: Entwicklungen, Zwischenbilanz und
Perspektiven
Leitung: Wilfried Nippel, Berlin
4
Einführung und Moderation: Neue Medien und historische Forschung
Konrad Jarausch, Potsdam und Wilfried Nippel, Berlin
Geschichte der elektronischen Datenverarbeitung: Informatik – Gesellschaft – Wissenschaft
Ulrich Wengenroth, München
Digitale Archive und Editionen: Die Zukunft des Vergangenen
Frank Bischoff, Münster
Historische Fachinformation und –kommunikation: Das Netz als Medium einer globalisierten
Forschung
Rüdiger Hohls, Berlin
Elektronisches Publizieren und Geschichtswissenschaft
Gudrun Gersmann, München
Modularisierung oder Beliebigkeit? Problemlagen der netzgestützten Aufarbeitung und
Vermittlung historischen Wissens
David Gugerli, Zürich
Gegenwart und Zukunft wissenschaftlicher Literatur- und Informationsversorgung: Defizite,
Lösungsmodelle, Förderprogramme und Entwicklungsperspektiven
Jürgen Bunzel, DFG
1.5
Der Markt als historische Institution
Leitung: Werner Plumpe, Frankfurt/M.
Einleitende Bemerkungen - Die historische Natur des Marktes
Werner Plumpe, Frankfurt am Main
Märkte sind historische Institutionen; es ist geradezu ihre „Natur“, daß sie auf Entscheidungen beruhen, die
ihrerseits Leitsemantiken folgen, die in der gesellschaftlichen Kommunikation bereitgestellt werden. Der Wandel
der Marktinstitutionen von der alteuropäischen Welt zur modernen Marktwirtschaft ist entsprechend keine
sukzessive Anpassung der institutionellen Strukturen an eine unterstellte Natur des Marktes, sondern folgt
Änderungen in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die ihrerseits sozial- und kulturgeschichtlich
aufzuklären sind. Der vermeintliche Gegensatz von harter Wirtschafts- zu weicher Kulturgeschichte erweist sich
in dieser Perspektive folgerichtig als wenig hilfreiche Scheinkontroverse.
Der mittelalterliche Markt als politisches Konzept
5
Michael Rothmann, Köln
Der freie Markt und seine Gesetze scheinen seit dem Untergang des real-existierenden Sozialismus und der
begleitenden kommunistischen Ideologie eines der letzten universellen Problem-Lösungsmodelle. Sie prägen als
Denk- und Handlungsmuster weitgehend unsere Gesellschaft. Der Sieg der modernen kapitalistischen
Weltordnung markiert den bisherigen Höhepunkt einer Entwicklung, deren Wurzeln weit vor der neuzeitlichen
Wirtschaftsgeschichte liegen und eine ihre wesentlichen institutionellen Keimzellen in den mittelalterlichen
Jahrmärkten hatten. Die mittelalterliche Entwicklung dieser Institution bietet ein exemplarisches
Beobachtungsfeld für das Wechselspiel politischer und marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Der Vortrag
wird sich vor allem auf die politischen Rahmenbedingungen und die politischen Konzeptualisierungen
konzentrieren, denn ohne einen zwar flexiblen, aber gesetzten institutionellen Rahmen war kein freier Markt
überlebensfähig.
Markt und Klasse in der deutschen Sozialdemokratie, 1848 – 1878
Thomas Welskopp, Berlin/ Zürich
Die deutsche Sozialdemokratie war in ihrer Frühphase keine „Klassenbewegung“ im traditionellen Sinne,
sondern eine Bewegung der kleinen handwerklichen Produzenten. Trotzdem griff sie auf einen gemeinsamen
sozialen Erfahrungshintergrund zurück: die marktvermittelte Abhängigkeit vom „großen Kapital“. Der Markt
nahm im sozialdemokratischen Diskurs der Zeit eine zentrale Stellung ein und rangierte zeitweise als
Hauptgegner. Der Vortrag soll ausleuchten, inwieweit solche Erfahrungsbestände für eine Erweiterung
sozialhistorischer Klassenkonzepte nutzbar gemacht werden können.
„Am Anfang war der Markt...“ Überlegungen zum Diskursangebot der bundesdeutschen
Wirtschaftswissenschaft in der Nachkriegszeit
Jan-Otmar Hesse, Frankfurt am Main
Die Texte der ökonomischen Theorie waren von einem „linguistic turn“ bislang verschont geblieben. Dabei
bedienen und bedienten sie sich genau wie andere Texte auch diskursiver Strategien, um ihrem Gegenstand
Plausibilität zu verleihen. Auf der Grundlage einer diskurshistorischen Untersuchung von Texten
deutschsprachiger Nachkriegsökonomen sollen empirische Belege für diese These präsentiert werden, die
zeigen, daß der Markt als Inbegriff der deutschen Nachkriegsordnung seinen Erfolg zumindest anteilig seiner
Existenz als kommunikative Fiktion der Wirtschaftstheorie verdankt.
Der Deutsche Neue Markt als eine evolutionäre Institution
Helge Peukert, Erfurt
Der Deutsche Neue Markt kann seit seiner Einführung als Musterfall für die Refinanzierung des klassischen
innovativen Unternehmers gelten, wie ihn Josef Schumpeter beschrieben hat. Bei näherer Betrachtung läßt sich
allerdings fragen, ob es sich beim Neuen Markt um eine grundsätzlich von den Typen des staatlichen oder
privatwirtschaftlichen Austausches zu unterscheidende Organisationsform der ökonomischen Interaktion
handelt, der dennoch keineswegs frei, sondern streng reguliert ist.
Der Frankfurter Finanzmarkt im 18. Jahrhundert
Wilfried Forstmann, Frankfurt/M.
6
Auf der Grundlage der Untersuchung des Frankfurter Finanzmarktes im 18. Jahrhundert soll im Vortrag die
These erläutert werden, daß es weder der natürliche Beruf der Stadt Frankfurt am Main war, als Finanzplatz zu
dienen, noch überhaupt von einem marktmäßigen Automatismus bei der Entstehung des Finanzplatzes
auszugehen ist. Historisch wirksam und im Vortrag herauszustellen sind vielmehr jene Gesichtspunkte der
politischen Verfassung und Ordnung der Stadt, die die Entstehung eines Finanzmarktes und die dazugehörige
Tradition des Finanzplatzes Frankfurt befördert haben.
1.6
Städte aus Trümmern. Wahrnehmung und Bewältigung städtischer Katastrophen im
epochenübergreifenden Vergleich
Leitung: Andreas Ranft, Halle und Stephan Selzer, Halle
Einführung
Andreas Ranft, Halle und Stephan Selzer, Halle
Wie in der Gegenwart, so forderten Feuersbrünste, Erdbeben, Überschwemmungen und Kriege auch in der
Vergangenheit unzählige Todesopfer, verwüsteten Landschaften und zerstörten Städte. Immer bedeuteten solche
Katastrophen, gleichviel ob durch Natur oder Menschenhand verursacht, für die Überlebenden einen tiefen
Lebenseinschnitt. Die Sektion will diesen Moment der Bewältigung und des Neubeginns in zertrümmerten Städten
zum Ausgangspunkt machen, um die Fragestellung des Historikertages „Traditionen – Visionen“ an einem Beispiel
zu erproben, das im Schnittfeld unterschiedlicher Disziplinen liegt und zudem zu einer epochenübergreifenden
Behandlung einlädt.
Kriege, Krisen, Katastrophen: Stadtzerstörung und Wiederaufbau in der griechischen Antike
Burkhard Meißner, Halle
Kriege, Krisen und Naturkatastrophen bildeten die wichtigsten Ursachen für die häufigen Zerstörungen antiker
Städte. Destruktion und Wiederaufbau städtischer Lebensräume lassen sich am Beispiel der Insel Rhodos
anschaulich studieren, das allgemeine Charakteristika des Umganges der Griechen mit urbanen Katastrophen
erkennen läßt: Erfahrungsgewinn und Verbesserung von Infrastruktur und Bautechnik, private und
zwischenstaatliche Hilfe bei Neuaufbau und Katastrophenbewältigung, Finanztransfers, usw.
Die ungezähmte Natur: Erdbeben in Basel 1356 und Großfeuer in Frankenberg 1476
Gerhard Fouquet, Kiel
Am 18. Oktober 1356 zur Vesperzeit wurde die Stadt Basel durch einen mächtigen Erdstoß erschüttert. 120 Jahr
später wurde am 9. Mai 1476 die hessische Kleinstadt Frankenberg durch ein Großfeuer völlig verwüstet.
Methodisches Anliegen und Erkenntnisinteresse des Vortrags bündeln sich in einer noch eher vorläufigen
Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Katastrophen, es gilt zunächst die Wahrnehmungs-, Deutungs- und
Bewältigungsmuster der betroffenen Zeitgenossen zu untersuchen. Zugleich sollen Stellenwert und Funktion der
Katastrophen für die Topographie des Gedächtnisses der Städte, für die memoriale Selbstvergewisserung
kommunaler Genossenschaften erwogen werden. Dafür werden neben der schriftlichen Überlieferung zumindest
für Basel auch die Überreste und die Tradition der Realien – die bis heute sichtbaren Bauschäden –
herangezogen, selbstbezogene Zeugen der Katastrophe von 1356 und Orte kulturellen Gedächtnisses zugleich.
7
Der Mythos vom „Alten Dresden“ als Bauplan. Entstehung, Ursachen und Folgen einer
retrospektiv-eklektizistischen Stadtvorstellung
Matthias Meinhardt, Halle
Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte ein intensives Gedenken an die Zerstörung Dresdens im
Februar 1945 ein, in der die Tragik dieser Stadtzerstörung über die der Bombardierung anderer Städte gehoben
wurde. Diese Vorstellung speiste sich nicht zuletzt aus einem Bild von der Stadt vor 1945, das vor allem von
Dresdens Reichtum an Kunstschätzen und bedeutenden Bauwerken geprägt war und schon kurz nach Kriegsende
mit dem Begriff vom „Alten Dresden“ gefaßt wurde. Mit wachsender zeitlicher Distanz verklärte sich die
Vorstellung von der Stadt vor 1945 zunehmend, das „Alte Dresden“ geriet zusehends zum Mythos, symbolisiert
durch einige wenige Architekturelemente und Stilmerkmale. Der Vortrag wird sich mit der Entstehung dieses
Mythos’, seinen Ursachen, wesentlichen Entwicklungslinien, verschiedenen Instrumentalisierungsformen sowie
den konkreten Folgen für den Städtebau in der Elbstadt beschäftigen.
Nothing destroyed that cannot speedily be rebuilt – San Francisco und das Erdbeben von
1906
Christoph Strupp, Washington
Am frühen Morgen des 18. April 1906 erschütterte ein schweres Erdbeben die Stadt San Francisco an der
Westküste der USA. Das Erdbeben und die nachfolgenden Brände zerstörten weite Teile der Stadt und kosteten
mehrere hundert Menschen das Leben. Der Vortrag beschreibt den Umgang der nur knapp sechzig Jahre alten
Großstadt mit der Katastrophe und konzentriert sich auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen und
Konfliktlinien innerhalb der Stadt, die für die Bewältigung der unmittelbaren Notlagen, den Wiederaufbau und
die mediale Interpretation des Erdbebens bestimmend waren. Das Erdbeben hat die Stellung San Franciscos als
Metropole an der Westküste nur kurzfristig erschüttert und in den Strukturen der Stadt weniger Spuren
hinterlassen, als man zu Anfang erwarten konnte.
Revolution und Stadtraum: Graue Diven erfinden sich selbst (Halle und Leipzig 1989)
Georg Wagner-Kyora, Bielefeld/ Halle
Ausgehend von der Protesttopographie auf den großen Montagsdemonstrationen während der Friedlichen
Revolution sollen für Halle und Leipzig Fragen nach der Entwicklung ihrer stadträumlichen Identität in den
1990er Jahren aufgeworfen werden, die eng mit der Neugestaltung der Innenstädte zusammenhingen. Für Halle
werden drei prominente Sanierungsvorhaben aus den achtziger, vor allem aber aus den neunziger Jahren
analysiert und mit den gegenwärtigen Diskussionen um den Wiederaufbau des Alten Rathauses abgeglichen.
Inwiefern sich darin eine Neubestimmung von stadtbürgerlicher Identität zeigt, soll anschließend im Vergleich
mit der stadträumlichen Entwicklung der Leipziger Innenstadt analysiert werden. Hier wurde mit
aufsehenerregenden Neu- und Umbauprojekten, wie dem Querbahnsteig des Hauptbahnhofes, Kaufhaus- und
Hotelbauten, dem Revolutionsdenkmal, aber auch mit der vorbildlichen Wiederherstellung von Messehöfen ein
in den neuen Ländern bislang einzigartiger Wiederaufbau-Boom initiiert, welcher die Frage nach einer
Neubestimmung oder einer Wiedererfindung der eigenen Identität motiviert.
Zusammenfassung
8
Manfred Jakubowski-Tiessen, Göttingen
1.7
Ausdrucksformen adeliger Kultur an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit
Leitung: Werner Rösener, Gießen und Karl-Heinz Spieß, Greifswald
Einführung
Werner Rösener, Gießen
Strategien der Vergangenheitskonstruktion in adeligen Familienchroniken des 15./16.
Jahrhunderts
Steffen Krieb, Gießen
Der Vortrag fragt nach den Strategien, mit deren Hilfe die Verfasser von Chroniken südwestdeutscher
Adelsgeschlechter an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert den Mangel an historischer Überlieferung zur
Familiengeschichte zu kompensieren versuchten. Neben der vollständigen Erfindung von Traditionen lassen sich
dabei auch Verfahren beobachten, welche der sich entwickelnden historischen Kritik der Humanisten
standhielten. Abschließend werden auch Anlaß und Zweck der schriftlichen Fixierung adeliger
Familienerinnerung thematisiert.
Rede und Schrift im fürstlichen Raum (15./ 16. Jahrhundert)
Cordula Nolte, Greifswald
Ausgehend von Familienkorrespondenzen der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach werden Interaktion und
Kommunikation im höfischen Binnenraum sowie zwischen fürstlichen Höfen untersucht. Im Mittelpunkt stehen
das Zusammenspiel von mündlichen und schriftlichen Elementen und Fragen der Rezeption (auch des
räumlichen Rezeptionsrahmens) in einer Zeit, in der zum einen eigenhändiges Schreiben im Hochadel keine
Selbstverständlichkeit war und zum anderen auch intime Kommunikation in Personenkreisen stattfand, die als
Publikum fungierten bzw. direkt einbezogen wurden. Dabei sollen Ansätze der historischen Sprachpragmatik,
der Literaturgeschichte und der Sozialgeschichte der Sprache mit architektursoziologischen Zugangsweisen
verbunden werden.
„Vortreffliche Zeugen der Fürsten und Regenten Macht, Hoheit und Magnificence“.
Herrschaftliche Repräsentation im deutschen Schloßbau des 15. und 16. Jahrhunderts
Matthias Müller, Greifswald
Während der fürstliche Schloßbau des 17. und 18. Jahrhunderts in seinen staatsrepräsentativen Qualitäten von
der Forschung seit längerem erkannt und erforscht worden ist, blieben entsprechende Untersuchungen zum
frühen deutschen Schloßbau bislang ein Desiderat. Fürstliche Residenzschlösser an der Wende vom
Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit gelten gemeinhin als Derivate der Burgenarchitektur, deren Potential einer
herrschaftlichen Repräsentation im Medium der Architektur als eher gering eingeschätzt wird. Daß das Gegenteil
der Fall ist und mit der Schloßbaukunst des 15./16. Jahrhunderts gewissermaßen die Grundlage für die
hochdifferenzierte adelige Repräsentationsarchitektur des Barock gelegt wurde, möchte der Vortrag aufzeigen.
Er beschreibt die wegweisenden Veränderungen in der fürstlichen Residenzarchitektur um 1500 als Ergebnis von
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sich ausdifferenzierenden Anforderungen an das Regententum und rekonstruiert dabei das Schloß gleichsam als
ein architektonisches „Bild des Fürsten“, in dem sich Werte wie Dignität, Dynastie und Rechtlichkeit auf
kongeniale Weise spiegeln.
Transformationsprozesse der Adelskultur im 16. Jahrhundert
PD Dr. Thomas Fuchs, Potsdam
Der Vortrag thematisiert die Beschleunigung der Veränderung der Adelskultur im 16. Jahrhundert.
Ausschlaggebende Faktoren waren auf der geistesgeschichtlichen Ebene die intellektuellen Herausforderungen
durch Humanismus und Reformation, auf der materiellen Ebene unter anderen der Aufstieg des
Territorialstaates, militärische Veränderungen sowie die Konfessionalisierung der Lebenswelt. Diesen
Herausforderungen begegneten die verschiedenen Adelsgruppen mit verschiedenen Anpassungsleistungen vom
unabhängigen Söldnerführer über den gebildeten, formvollendeten Hofmann bis zum patriarchalischen
Territorialfürsten.
Zusammenfassung und Kommentar
Karl-Heinz Spieß, Greifswald
2.
Alte Geschichte
2.1
Kult und Gesellschaft in der griechisch- römischen Antike: Traditionen, Neuerungen
und Visionen
Leitung: Raphaela Czech-Schneider, Münster
Gaben an die Götter: Zur Genese einer ´heiligen´ Schatzverwaltung im frühen Griechenland
Raphaela Czech-Schneider, Münster
Die frühen Tempel-Heiligtümer in Griechenland generierten aufgrund ihrer vielfältigen wirtschaftlichen
Systeme schon im 7./6. Jh. v. Chr. einen Verwaltungsbedarf, der nach den auf uns gekommenen Zeugnissen
als Inventarisierungs- und Abrechnungsbedarf dokumentiert wird. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass
im profanen Bereich ein entsprechendes Bedürfnis zur Ausbildung einer differenzierten Finanzverwaltung
nicht entstehen konnte: Öffentliche Einkünfte wurden nämlich unter die Demosangehörigen verteilt,
während öffentliche Ausgaben in Form von Leiturgien den reichen Bürgern übertragen wurden. Daher
erscheint die Annahme plausibel, dass sich die Praxis einer 'Finanzveraltung' zunächst bei den Heiligtümern
ausbildete und später von der Polis übernommen wurde
Die Zielsetzung von Kultgründungen am Beispiel Sikyons in hellenistischer Zeit:
Wiederbelebte Traditionen und utilitaristische Visionen
Ulla Kreilinger, Erlangen
Am Beispiel des hellenistischen Sikyon läßt sich das Ineinandergreifen von Kult und Politik besonders deutlich
herausstellen. Wie schnell wechselnde politische Verhältnisse und Bündnisse zur Gründung immer neuer,
eigentlich konträrer Kulte führen, ist bei dieser peloponnesischen Stadt nahezu exemplarisch zu beobachten.
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Hierfür können z.T. rein utilitaristische Interessen geltend gemacht werden. Die manchmal extrem kurze
Geltungsdauer solcher Kulte wiederum soll als Gradmesser für ihre Beliebtheit und für ihre Verankerung in der
Gesellschaft dienen.
Sacerdotes publici in solo privato: Römische Grauzonen im historischen Längsschnitt
Jörg Rüpke, Erfurt
Dieser Vortrag versucht, die für die politische Semantik der römischen Republik zentralen Rituale des
Triumphes und des adligen Leichenzuges als Produkte der Formationsphase der Nobilität zu erweisen. Die
Analyse führt zu einer ganz neuen Einordnung in diese Semantik und bietet Einblicke in öffentliche wie private
Strategien der Konstruktion von Erinnerung.
Zwischen Tradition und Vision: Praetextatus, Verteidiger des römischen Glaubens? Zur
gesellschaftlichen Neuinszenierung römischer Religion in den Saturnalien des Macrobius
Christa Frateantonio, Gießen
Der Text des Macrobius ist eine literarische Inszenierung der römischen Saturnalien. Der Autor, der Anfang des
5. Jh. n. Chr. schrieb, stilisiert das üblicherweise im privaten Kreis eher karnevaleske und vor allem von Sklaven
gefeierte, dem römischen Gott Saturn geltende Fest zu einer maßvollen Zusammenkunft von Adeligen und
Gebildeten um, die vorwiegend theologische und philosophische Fragen diskutieren. Form und Funktion dieser
Umstilisierung sollen vor dem Hintergrund der Veränderung der religiösen Verhältnisse im Imperium Romanum
unter besonderer Berücksichtigung Roms analysiert werden (sozialer Ort der Auseinandersetzung zwischen
traditionelle paganer und christlicher Religion).
2.2
Politische Visionen im Imperium Romanum: Traditionsbedingte Spielräume und
Visionstypen
Leitung: Egon Flaig, Greifswald
Traditionen als kulturelle Grenze und als Motor für Visionen. Konzeptuelle Probleme
Egon Flaig, Greifswald
Inwiefern ignoriert der Begriff der 'Vision' den binären Schematismus von neu/alt? Besteht der Unterschied zur
Utopie darin, daß diese spezialiserten Diskursen angehört, wohingegen auch unspezialisierte soziale Gruppen
Träger von Visionen sein können? Bewahrt die 'Vision' - als ein aus der Mystik stammender Begriff - einen
Verweis auf Steigerungen? D.h. konkret: Bezieht er sich auf die Höhe des Einsatzes von 'Glaube' und
'Engagement' in sozialen Handlungen? Wie läßt er sich dann abgrenzen vom Konzept einer 'sozial konstitutiven
und handlungsleitenden Vorstellung'? Und wie ist er dann heuristisch operationalisierbar zu machen? Welche
Folgen ergeben sich für seine forschungsaxiomatische Reichweite, wenn man ihn als Korrelat der
'charismatischen Situation' auffaßt? Wie kann man ihn forschungspraktisch nutzen angesichts eines
Gegenstandes, der, wie z.B. die republikanisch-römische Kultur, charismatischen Phänomenen nur einen
schmalen und kontrollierten Platz läßt? Inwiefern ziehen Traditionen kulturelle Grenzen für die Emergenz von
Visionen und für deren Inhalte? Und inwieweit schaffen sie Dispositionen für die Wirksamkeit von Visionen?
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Der princeps und sein Dichter. Augustus´ visionäre Politik und historische Visionen in
Vergils Aeneis
Ingo Gildenhard, London
Die Vision eines usurpationsfreien Imperiums. Wie zwei Legionen am 1. Januar 69 eine neue
Tradition stiften wollten
Egon Flaig, Greifswald
Visionäre auf dem Thron? Krisen, Reformen und politische Visionen im 3. Jahrhundert
Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Hagen
2.3
Europa in der Antike – Traditionen oder retrospektive Vision?
Leitung: Linda-Marie Günther, Bochum
Einführung
Linda-Marie Günther, Bochum
Seit der klassischen griechischen Zeit ist ‚Europa‘ im politischen Denken präsent – liegt hier ein brauchbares
Identifikationsangebot für den aktuellen Identifikationsbedarf der Europäer? Oder stellt erst Rom mit seinem
territorial weit über den europäischen Kontinent hinausgreifenden Imperium jenes Erbe zur Verfügung, auf das
wir heutigen Europäer uns berufen können? Die althistorische Sektion diskutiert anhand von fünf Beiträgen
(s.u.), welche Erkenntnismöglichkeiten die Antike dafür bietet, daß partikulare (?) Interessen mit ‚europäischen‘
Traditionen werben.
Wie weit reicht Europa zurück? Der Befund der Schulbücher
Elisabeth Erdmann, Erlangen-Nürnberg
Europa soll im Unterricht, vor allem im Geschichtsunterricht, thematisiert werden, so lautet der Auftrag in den
Lehrplänen. Welche Vorstellungen von Europa werden in den Schulgeschichtsbüchern vermittelt? Es reicht ja
nicht aus, dass Europa in den Kapitelüberschriften genannt wird. Europa hat unterschiedliche Dimensionen: die
geographische, die kulturelle, die politische und die wirtschaftlich-soziale, die auch zeitabhängig sind. Zuerst
wird nach der Berechtigung gefragt, diese Dimensionen bis in die Antike zurückzuführen, dann wird die
Umsetzung in den Geschichtsschulbüchern betrachtet.
Vielfalt, Einheit, Bürgergesellschaft – griechische Lebensform und europäische Identität
Jörg-Dieter Gauger, Bonn
Gerade am Thema Europa lässt sich zeigen, dass die Antike mehr bietet als schöngeistige Reminiszenz. Denn
Europa ist nicht nur geographisch eine „Erfindung“ der Griechen. Ihnen verdanken wir die Vorstellung vom
„Kulturraum Europa“, indem sie auf vergleichbare politische „Problemkonfigurationen“ teils zu heute
parallelisierbare, teils kontrastierende Antworten versucht haben. „Einheit in Vielfalt“, „Wertegemeinschaft“,
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„freiheitliche Demokratie“, „Identität durch Gegenbild“, „Bürgergesellschaft“ sind moderne Formeln, aber damit
verbinden sich dem griechischen Denken durchaus geläufige Inhalte.
Zwischen Europa und Asien: Spartanische Außenpolitik des 5. Jahrhunderts v. Chr.
Ernst Baltrusch, Berlin
Bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts v.Chr. zieht sich eine Konstante wie ein roter Faden durch die spartanische
Außenpolitik. Sie lautet: Das Interessengebiet Spartas liegt in Europa. Asien gehört dem Perserkönig. Doch war
die Aufrechterhaltung dieser Konstante problematisch, weil es Griechenstädte auch in Asien gab und Sparta den
Anspruch eines „Vorstehers“ aller Griechen erhob. So hatte Sparta im 5. Jahrhundert v.Chr. in und nach den
Konflikten mit den Persern und Athen auch im Innern eine existentielle Zerreißprobe um die Außenpolitik zu
bestehen. Die spezifisch spartanische Ordnung verlangte ein Festhalten an der Doktrin, die spartanische Position
in Griechenland aber ein Fallenlassen. Daran zerbrach Sparta.
Das römische Reich – Überlegungen zur Verwendbarkeit von Geschichte
Eckhard Wirbelauer, Freiburg/ Br.
Der Euro zeigt unfreiwillig, wo die Europäer der Schuh drückt: Sie besitzen so wenige gemeinsame Symbole
ihrer Identität, daß eine Landkarte und eine architekturgeschichtliche Stilblütenlese das Outfit der Münzen und
Scheine bestimmte. Dabei mangelt es nicht an Überlegungen und Vorschlägen, worin eine europäische Identität
bestehen könnte, und das Römische Reich spielt darin die zentrale Rolle. Rémi Brague bringt dies in seinem
Essay „Europe. La voie romaine“ auf die abschließende Frage: „Sie sind noch römisch“?
Europa in und seit der Spätantike, oder: Eine Königstochter, ausgetretene Pfade und die
Vision eines Preises
Hartwin Brandt, Bamberg
Europa liegt in der Spätantike auf dem Balkan und spielt weder als visionäre Idee noch als traditionsstiftendes
Element eine nennenswerte Rolle. Auch der in der gelehrten Forschung geführten Diskussion, ob der
Europagedanke schon um 400 n.Chr. oder vielleicht erst um 600 n.Chr. geschichtsmächtige Bedeutung erlangt,
ist mit großer Skepsis zu begegnen. Der Vortrag zeichnet sowohl die zeitgenössische Europaauffassung als auch
die heutige Diskussion nach, wirft einen Blick auf die früh- und hochmittelalterliche Europarezeption und endet
in einem leicht satirischen Ausblick.
2.4
Vertrauen in die Macht des Namens. Gentilcharisma und Familientradition in der
Mittleren Republik
Leitung: Karl-Joachim Hölkeskamp, Köln
Eröffnung
Karl-Joachim Hölkeskamp, Köln
Ein Ebenbild des Vaters. Wiederholungen in der historiographischen Traditionsbildung
Uwe Walter, Köln
13
Daß Söhne das Ebenbild ihres Vaters sein sollten, war ein Kernbestand des kulturellen Wissens der Römer in
republikanischer Zeit. Die Traditionsbildung, wie sie schließlich in der Historiographie ihren komplexesten
Niederschlag fand, bildete indes die Umsetzung dieses durch Erziehung und Rechtsordnung immer wieder
eingeschärften Modells in persönlichen Habitus und situatives Entscheidungshandeln nicht nur ab, sondern
wirkte ihrerseits auch auf die Akteure zurück.
Familie, nicht Faktion. Wahlen und Wahlerfolg im Ersten Punischen Krieg
Hans Beck, Köln
Keine andere Familie stellte im Ersten Punischen Krieg soviele Imperiumsträger wie die plebejische gens Atilia.
Wie erklärt sich dieser rasante Aufstieg der Familie, die gerade erst zwei Generationen zuvor in die Nobilität
vorgedrungen war? Gleich mehrere Mitglieder der Atilier erfüllten das vielschichtige römische Leistungsethos
von individuellen und gesamtstaatlichen Verpflichtungen. Im aristokratischen Statuswettbewerb profitierten sie
vor allem auch von ihrem ‘familialen Kapital’. Der Vortrag erläutert dessen spezifische Bedeutung für das
Abstimmungsverhalten der Comitien und für die Verteilung der politischen Machtchancen in der Nobilität in der
Mittleren Republik.
Die Nemesis des Stereotyps: die gens Claudia
Harriet Flower, Lancaster
Das Thema des Beitrags ist die negative Seite der Traditionen der patrizischen Claudii, besonders ihre superbia,
ihren überzogenen Ehrgeiz, ihre “Tradition” der Tyrannis. Die folgenden drei Fragen werden behandelt: Wann
und wie wurden diese negativen Traditionen zuerst geformt? Wie reagierte dann die Familie in den folgenden
Generationen auf dieses problematische Image? Was passierte mit Familienmitgliedern, die sich nicht
regelkonform benahmen?
Bilanz: Die Macht des Namens: symbolisches Kapital zwischen Konsens und Konkurrenz
Karl-Joachim Hölkeskamp, Köln
2.5
Griechisch-römische Tradition und christliche Vision. Geschlechterverhältnisse in der
römischen Kaiserzeit
Leitung: Tanja Scheer, München und Hans-Ulrich Wiemer, Marburg
Der Kaiser ist (k)ein Mann. Geschlechter im Widerstreit zwischen politischer Tradition und
neuen Machtstrukturen im römischen Prinzipat
Thomas Späth, Basel
Politische Macht problematisieren römische Autoren um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert in den Begriffen
des traditionellen Geschlechterdiskurses: als Position des pater familias. Doch die Unterschiede in der
Verwendung dieser Konzepte für den princeps und die polititische Elite der Senatsaristokratie lassen erkennen,
dass die Definition von Männlichkeit unter den politischen Bedingungen des Prinzipats in jenen Umbruch gerät,
14
den FOUCAULT postulierte: ein Beispiel dafür, wie sich Geschlechterdiskurs in seiner Umsetzung in politischgesellschaftliche Praxis verändert.
Frauen beim Gastmahl
Elke Stein-Hölkeskamp, Essen
Im Gegensatz zu anderen antiken Gesellschaften war es in Rom üblich, daß Frauen an Gastmählern teilnahmen –
Veranstaltungen, die seit jeher einen zentralen Schnittpunkt zwischen dem „öffentlichen und dem „privaten“
Leben der Familien der gesellschaftlichen Führungsschicht bildeten. Im Zentrum des Vortrages soll die Frage
nach der Beschreibung und Beurteilung weiblichen Verhaltens bei solchen Banketten in den literarischen
Quellen stehen. Am Beispiel des Gastmahls ergibt sich dabei – in einem Längsschnitt über eine
Epochenschwelle hinweg – eine Geschichte des Diskurses über weibliche Verhaltensweisen generell, der
zugleich als Teil der allgemeinen Entwicklung gesellschaftlicher und moralischer Normen angesehen werden
kann.
Frauenbildung – Männerbildung. Bildungskonzepte der römischen Kaiserzeit zwischen
Tradition und Innovation
Tanja Scheer, München
Der Vortrag fragt nach der geschlechtsspezifischen Bedeutung von „Bildung“ in der Römischen Kaiserzeit.
Welchen Zwecken dient sie und wie ist der Zugang zu ihr reglementiert? Welche Rolle spielt sie bei der
Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in der römischen Gesellschaft?
Heidnische Tradition und die Vision einer christlichen Gesellschaft: Ehe und Familie bei
Libanios und bei Johannes Chrysostomos
Hans-Ulrich Wiemer, Marburg
Unter den profanen Diskursen, die im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts in Konkurrenz zur werdenden
Sexualethik der Reichskirche standen, war die Rhetorik jedoch nicht etwa ein Fach neben anderen, sondern die
höhere Allgemeinbildung schlechthin. Anhand eines Vergleichs zwischen den Schriften des Kirchenvaters
Johannes und dem Schulgebrauch dienenden Texten des heidnischen Rhetors Libanios wird untersucht, welche
Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten zwischen den in der Rhetorikschule vermittelten ethischen
Gemeinplätzen und der kirchlichen Lehre bestanden. Wie war es möglich, daß „heidnische“ Bildung und
„christliche“ Dogmatik koexistierten?
Sind Priester Männer?
Hartmut Leppin, Frankfurt/M.
Die Spätantike ist eine Epoche verschwimmender Geschlechteridentitäten. Auch die Rolle der Priester kann
unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, da ihnen die Möglichkeit einer Vaterschaft fehlte, sofern sie an
den Zölibat gebunden waren. Dieses Problem wird von Ambrosius in seiner Schrift De officiis, einer
Priesterethik, reflektiert und soll vor diesem Hintergrund erörtert werden.
3.
Mittelalter
15
3.1
Altes Herkommen – neue Frömmigkeit. Reform in Frauenklöstern des 15.
Jahrhunderts
Leitung: Franz J. Felten, Mainz und Sigrid Schmitt, Mainz
Einführung
Franz J. Felten, Mainz
Bei der Beschäftigung mit den Klosterreformen des 15. Jahrhunderts hat sich die ältere Forschung weitgehend
auf Darstellungen von Vertretern der sog. Observanz gestützt, die in der zeitgenössischen Publizistik wie auch in
anderen Quellen oft eine dominante Stellung einnahmen. Die Aufarbeitung zunächst der politischen
Hintergründe, die Einordnung in die kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen sowie sozialgeschichtlichen
Zusammenhänge ließ zunehmend die Vielschichtigkeit der Problematik deutlich werden. Vor diesem
Hintergrund beabsichtigt die Sektion, neue Fragestellungen und Forschungsergebnisse zu den lange Zeit
vernachlässigten Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts zur Diskussion zu stellen.
Standesgemäßes Leben oder frommes Gebet: Die Haltung der weltlichen Gewalt zur Reform
von Frauenklöstern
Bernhard Neidiger, Stuttgart
Das Referat untersucht die herrschaftlichen und religiösen Motive, die Städte und Landesherren bewogen, die
Einführung der Observanz in Frauenklöstern ihres Herrschaftsgebiets zu fördern. Kirchen-, Außen- und
Innenpolitik spielten dabei ebenso eine wichtige Rolle wie die Frömmigkeit von Nonnen und Laien. Die
Klosterreformmaßnahmen werden mit der Territorialgeschichte des 15. Jahrhunderts und den
Kirchenreformbestrebungen in der Folge der Konzilien von Konstanz und Basel in Bezug gesetzt.
Dominikanerinnenreform und Familienpolitik: Die Einführung der Observanz im Kontext
städtischer Sozialgeschichte
Sigrid Schmitt, Mainz
Am Beispiel der Straßburger Dominikanerinnenklöster St. Agnes (1464-66) und St. Margaretha (1475) wird die
Einbindung von Klosterreformmaßnahmen in die städtische Sozialgeschichte vorgestellt. Unter Anwendung
prosopographischer Methoden bzw. der Methode von Netzwerkanalysen wird eine in der Forschung gut
bekannte Quelle (Johannes Meyers „Buch der Reformacio Predigerordens“) mit bisher weitgehend unbekannter
lokaler Überlieferung konfrontiert, ergänzt und neu interpretiert. Dabei wird insbesondere die Familienstrategie
städtischer und adliger Familien als maßgeblicher Faktor sichtbar.
Vom Mythos der Observanz oder: Wo lagen die Grenzen zwischen observanter und nichtobservanter Frömmigkeit?
Thomas Lentes, Münster
Anhand einer kritischen Relektüre von historiographischen Quellen zur Reform des 15. Jahrhunderts sowie eines
Vergleichs von Handschriftenbeständen, Frömmigkeitspraxis und Liturgie in reformierten und nichtreformierten Klöstern soll gezeigt werden, daß die Grenzen zwischen beiden in der Frömmigkeit in hohem Maße
16
fließend war. Reform-Frömmigkeit, so die These, war keine institutionell oder gruppenspezifisch faßbare,
sondern ist Ausdruck eines kulturellen Transformationsprozesses, dem die gesamte Frömmigkeit des 15.
Jahrhunderts unterlag.
Der Kern der Differenz? Klausurkonzepte von Observanten und Konventualen
Gisela Muschiol, Münster/ Hannover
3.2
Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext des Mittelalters
Leitung: Christine Reinle, Bochum und Stefan Esders, Bochum
Einführung
Christine Reinle, Bochum
In Anknüpfung an das Rahmenthema ”Traditionen - Visionen” soll die Veränderung von Traditionen im Bereich
des mittelalterlichen Rechts untersucht werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, daß die lange herrschende
Vorstellung, das Mittelalter sei in erster Linie als traditionale Gesellschaft zu verstehen, in jüngerer Zeit immer
stärker hinterfragt wurde: Ausgehend von den Rechtsveränderungen, die gleichsam ”dezentralisiert” in großer
Zahl zu belegen sind, wird mittlerweile vermehrt über die Veränderbarkeit des Rechts im Mittelalter nachgedacht. Als ”Tradition” soll dabei das überkommene, in der Regel gewohnheitsrechtlich verankerte Recht gelten,
als ”Visionen” werden solche Leitvorstellungen betrachtet, die den Prozeß der Rechtsveränderung steuerten und
die auf grundsätzliche Umformulierungen des bestehenden Normenhorizonts zielten.
Treueidleistung und Rechtsveränderung im frühen Mittelalter
Stefan Esders, Bochum
Der Beitrag versucht für das Frankenreich den Anteil allgemeiner Treueidleistungen an der Veränderung
politisch-rechtlicher Strukturen näher zu bestimmen. Die Attraktivität des fränkischen Treueides als Instrument
der Rechtsgestaltung wird dabei in Anlehnung an die jüngere Forschung mit dessen Adaption aus dem
römischen Militärwesen erklärt. Im einzelnen wird dargestellt, wie über die militärische Leitvorstellung der
Treue und die aus ihr abgeleiteten rechtlichen Konsequenzen (Infidelität, Banngewalt) eine Überformung und
Neugestaltung der politischen und rechtlichen Organisation erfolgte, die weit über den engeren Bereich des
Militärwesens hinausreichte.
Regelung aus der Ferne und Klärung vor Ort. Moderne und traditionelle Instrumentarien
herrscherlicher Einflußnahme auf das hochmittelalterliche Rechtswesen
Detlev Kraack, Berlin/ Plön
Unter Konzentration auf den nordalpinen Raum wird der Vortrag an ausgewählten Fallbeispielen aus der
Regierungszeit Friedrich Barbarossas den konkreten Handlungsspielräumen bei der Entscheidungsfindung im
Umkreis des hochmittelalterlichen Herrschers nachspüren. Um hier Wirkungsmechanismen offenlegen und die
Möglichkeiten der Einflußnahme bei der Umsetzung von Entscheidungen vor Ort adäquat ausleuchten zu können,
soll neben der Perspektive des Herrschers und seines Umfeldes auch die der jeweils klagenden Parteien sowie die der
vor Ort von den Entscheidungen Betroffenen Beachtung finden.
17
Landesherrliche Rechte? Regalien als statusstabilisierende Faktoren für spätmittelalterliche
Adelsherrschaften
Regina Schäfer, Mainz
Regalien, insbesondere Zoll und Geleit, Münze und Judenschutz wurden im Spätmittelalter auch von Herren und
Grafen als Landesherren wahrgenommen. In diesen Rechten wurden die nicht-fürstlich hochadeligen
Landesherren aber immer mehr durch die Fürsten bedrängt, die Regalien als fürstliche Exklusivrechte
verstanden. Dieser Änderung im Rechtsverständnis soll an einigen Beispielen sowohl des Diskurses als auch der
faktischen Durchsetzung in der Herrschaft nachgegangen werden.
Umkämpfter Friede. Politischer Gestaltungswille und geistlicher Normenhorizont bei der
Fehdebekämpfung im deutschen Spätmittelalter
Christine Reinle, Bochum
Der Vortrag wird in zwei Teile zu gliedern sein. Zum einen soll - ausgehend von der Beobachtung, daß
Fehdeführung keine Prärogative des Adels darstellte, sondern in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet war
- nach der gewohnheitsrechtlichen Fundierung und nach der sozialen Logik der Selbsthilfe gefragt werden. In
einem weiteren Schritt wird untersucht, dank welcher Mechanismen die fehdefeindlichen Vorgaben des
gelehrten Rechts bekannt gemacht und allmählich Akzeptanz erlangten. Dabei wird besonders die Bedeutung der
katechetischen Literatur betont.
´Versteinerte Grundherrschaft´? Zur stillen Enteignung von Grundherren durch ihre
Hofrechte
Dieter Scheler, Bochum
Unter der Oberfläche gleichsam erstarrter Strukturen der hochmittelalterlichen Grundherrschaft vollzog sich im
späten Mittelalter eine Auseinandersetzung um Besitzrechte zwischen Ober- und Untereigentümern, die - im
Beispielfall des Niederrheins - nicht nur zu neuen spezifischen durch Landesordnungen fixierten Besitzrechten
führte, sondern auch von großer Bedeutung für die Ausbildung eines schichtenübergreifenden Honoratiorentums
wurde.
Zusammenfassung
Stefan Esders, Bochum
3.3
Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen
Europa
Leitung: Martin Kintzinger, München und Jörg Rogge, Mainz
Einführung
Jörg Rogge, Mainz und Martin Kintzinger, München
Die Monarchien des spätmittelalterlichen Europa zeigen deutliche Unterschiede im Grad einer Verrechtlichung
von Herrschaft, bis hin zu Anfängen ständischer Mitwirkung. Die Vision einer Gewaltenkontrolle scheint
18
wirkmächtig gewesen zu sein. Zugleich blieb überall eine Tradition unkontrollierter Gewalt an der
Tagesordnung. Nach Gewalt als Konstituens von Herrschaft, zugleich als Instrument des Konflikts mit und des
Widerstands gegen die Herrschaft soll in der Sektion gefragt werden. Untersucht werden die Gegebenheiten im
römisch-deutschen Reich, Frankreich, England und Ostmitteleuropa. Ein strukturierender Kommentar fügt die
Entwicklungsstränge im Vergleich zusammen.
Opposition to royal power in England, c. 1300-c. 1500
Christopher Allmand, Liverpool
maleficium et venificium. Gewalt und Gefahr für den Fürsten im französischen Spätmittelalter
Martin Kintzinger, München
Macht ohne Mittel? Die „kleinen König“ und Gewalt im Reich um 1300
Jörg Rogge, Mainz
Gewalt gegen Königsherrschaft im Ausbau der Herrschaftspartizipation im
spätmittelalterlichen Böhmen
Winfried Eberhard, Leipzig
Zusammenfassung und Kommentar
Gert Melville, Dresden
3.4
Verwandtschaft und Freundschaft. Zur Unterscheidung zweier Beziehungssysteme in
der mittelalterlichen Gesellschaft
Leitung: Peter Schuster, Bielefeld
Amicitia ductus paterna. Freundschaft und Verwandtschaft im frühmittelalterlichen Recht.
Verena Epp, Marburg
Die beiden Beziehungsformen glichen sich sowohl hinsichtlich ihres rechtlichen Verpflichtungscharakters als
auch hinsichtlich der Funktionen, die Freunde bzw. Verwandte im Rechtsleben der gentilen Nachfolgestaaten
des weströmischen Reiches z.B. als (Trau)zeugen, Bürgen oder Gläubiger übernahmen, in wesentlichen
Aspekten. Beide Bindungsformen waren der Vergeistlichung aufgeschlossen. Während die Verwandtschaft
jedoch auch bei Fortfall des affektiven Gehalts der Beziehung (benevolentia, caritas) weiterbestand, löste sich
personale amicitia mit deren Verschwinden auf.
Zwischen Biologie und Kultur: Zum wissenschaftlichen Umgang mit einem begrifflichen
Ordnungsinstrument sozialer Beziehungen
Bernhard Jussen, Bielefeld und Gerhard Lubich, Köln
19
Der Beitrag skizziert zunächst die sehr unterschiedliche Entwicklung der mediävistischen
Verwandtschaftsforschung in der deutschen mediävistischen Verwandtschaftsforschung einerseits und in der
französisch-angelsächsischen andererseits: Streitpunkte, Referenzliteratur, Zäsuren und die Darstellungen des
Forschungsstandes weichen signifikant voneinander ab. Sodann skizziert der Beitrag die wissenschaftliche
Auffassung vom Gegenstand ‚Verwandtschaft’ seit den 60er Jahren, die selbst in der Sozialanthropologie trotz
kulturalistischen Anspruchs letztlich biologistisch geblieben ist.
Familie und Verwandtschaft im späten Mittelalter. Heuristische Überlegungen zur
Ausrichtung sozialer und affektiver Bindungen
Peter Schuster, Bielefeld
Wenn im Mittelalter die amici oder Freunde etwa in der Fehde zu Hilfe eilten, so waren dies in der
mediävistischen Interpretation seit jeher die Blutsverwandten. Warum aber sollten im Mittelalter Verwandte als
Freunde bezeichnet worden sein? Der Vortrag versucht nachzuweisen, dass sich unter der mittelalterlichen
„Freundschaft“ ein soziales Beziehungssystem verbirgt, welches Verwandte wie Nichtverwandte umschloss.
Damit wird die angenommene überragende Bedeutung der Blutsverwandtschaft in Frage gestellt. Es eröffnen
sich dergestalt neue Fragen an die Familienforschung sowie an die Struktur sozialer Beziehungen im Mittelalter.
Freundschaft
und Verwandtschaft: Zur soziologischen Unterscheidung zweier
Beziehungssysteme
Rudolf Stichweh, Bielefeld
Der Vortrag wird sich auf vier Leitgesichtspunkte konzentrieren: 1. Den multifunktionalen
Charakter von Freundschaftsbeziehungen, d.h. die Fluidität von Freundschaftsbeziehungen,
die daher rührt, daß diese sich mit äußerst verschiedenartigen gesellschaftlichen
Institutionen verbinden und inbsd. in der Genese dieser Institutionen prominent werden. 2.
Im Kontrast zu den vormodernen Funktionszuweisungen für Freundschaft die
Eigentümlichkeit der modernen Form der Freundschaft. 3. Die Proliferation neuer
Beziehungstypen in der Moderne (Bekanntschaft, Netzwerke, Indifferenz gegenüber
Fremden etc.), die den Kontext definieren, in dem sich die moderne Form von Freundschaft
herausbildet. 4. Die divergierenden Pfade von Verwandtschaft und Freundschaft in der
Moderne, die einerseits der Verwandtschaft einen stabilen infrastukturellen Status zuweist
und gleichzeitig den Stellenwert der Freundschaft prekär werden läßt.
3.5
Der Weg in eine weitere Welt: Kommunikation und „politisches” Handeln im 12.
Jahrhundert
Leitung: Hanna Vollrath, Bochum
Gleichrangigkeit in der Unterordnung: Lehensabhängigkeit und die Sprache der
Freundschaft in den englisch-französischen Beziehungen des 12. Jahrhunderts
Klaus van Eickels, Bamberg
20
Das Beispiel der englisch-französischen Beziehungen im 12. Jahrhundert zeigt, wie sich im Hochmittelalter
Freundschaft und Lehensabhängigkeit als komplementäre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster reziproker
Bindung wechselseitig ergänzten. Als umfassendes und zugleich rang-indifferentes (d.h. einen bestehenden
Rangunterschied nicht betonendes, aber auch nicht aufhebendes) Konzept personaler Bindung war die
Freundschaft mit der Lehensabhängigkeit vereinbar und ihre notwendige Ergänzung: Die Konzeptualisierung des
Lehensverhältnisses als Freundschaft erlaubte es dem Vasallen, seine Ehre zu wahren; dies aber konnte ihm der
Herr nur zugestehen, wenn durch die Lehenshuldigung die Rangverhältnisse klargestellt worden waren.
Eine „internationale“ Sprache der Ehre? Gesandte vor Friedrich Barbarossa
Knut Görich, München
Ehre (honor) als äußeres Zeichen sozialer Schätzung stand im Zentrum der Kommunikation mit dem Herrscher.
Das galt insbesondere für Gesandtschaften, deren Auftreten vom Zwang zur Repräsentation geprägt war.
Welcher demonstrativer Verhaltensweisen bediente sich Friedrich Barbarossa beim Empfang von
Gesandtschaften? Bildeten höfische Verhaltensweisen mit ihrer Akzentuierung des honor so etwas wie eine
„internationale“ Sprache der Ehre, die Erwartungssicherheiten schuf und Mißverständnisse reduzierte?
Die sozialen Aspekte der Außenpolitik: diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und
England im 12. Jahrhundert
Joseph Huffmann, Grantham, PA (USA)
Das Referat wird diplomatische Beziehungen zwischen englischen und deutschen Herrschern des 12.
Jahrhunderts als Einzelfallstudie der gesellschaftlichen Aspekte der mittelalterlichen Diplomatie behandeln.
Hauptkrisen der Politikgeschichte vom Investiturstreit, dem Alexandrinischen Schisma bis zur Königswahl Ottos
IV. werden als Beispiele für diplomatische Beziehungen zwischen politischen Gesellschaften verstanden, die
von lokalen, regionalen und dynastischen Interessen anstatt von den Erfordernissen von Institutionen,
Verfassungen und Staat bestimmt waren. Außerdem erscheinen die Deutschen und Engländer der Zeit
bemerkenswert ähnlich in bezug auf die gesellschaftliche Dynamik ihrer Diplomatie, obwohl die politischen
Ordnungen, in denen sie lebten, recht unterschiedlich waren.
Kommunikation über große Entfernungen: Papst Alexander III. und der Becket-Streit
Hanna Vollrath, Bochum
Thomas Becket hat wie niemand vor ihm den Papst in den Streit mit seinem König Heinrich II. von England
hineingezogen und ihm eine Fülle von Einzelentscheidungen abverlangt. Das unvergleichlich reichhaltige
Quellenmaterial zum Becket-Streit erlaubt es, Formen und Weisen der Kommunikation über lange Distanzen
hinweg zu erkennen und die Probleme zu analysieren, die sich daraus ergaben.
4.
Frühe Neuzeit
4.1
Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte heute – Historiographische
Konzepte im Umgang mit dem Alten Reich und der polnisch-litauischen
Adelsrepublik
21
Leitung: Hans-Jürgen Bömelburg, Warschau
Die polnische Historiographie und der polnisch-litauische Staatsverband – multinationales
Erbe und polnische Geschichtsschreibung
Dybas Boguslaw, Thorn
Der tschechische Blick auf die Reichsgeschichte
Jaroslav Pánek, Prag
Der litauische Blick auf den polnisch-litauischen Staatsverband – „Verlust litauischer
Staatlichkeit“ oder Bewahrung der Parität?
Rimvydas Petrauskas, Wilna
Der niederländische Blick auf die Reichsgeschichte
Bastiaan Schot, Leiden
Die ukrainische Historiographie und der polnisch-litauische Staatsverband
Jurij A. Mycyk, Kiev
4.2
Traditionale Politik und visionäre Theologie? Politisch-theologische Debatten im
Europa des 16. Jahrhunderts
Leitung: Luise Schorn-Schütte, Frankfurt/M. und Robert von Friedeburg, Rotterdam
Politik als Tradition, Theologie als Vision? Die Debatte um das Notwehr-/ Widerstandsrecht
im Alten Reich des 16. Jahrhunderts
Robert von Friedeburg, Rotterdam
In den durch die visionären Forderungen der Theologen entstandenen Konflikten um eine Reform der Kirche
kam es vor dem Hintergrund der besonderen traditionellen Verfassungssituation des Reiches zu einer besonderen
Lösung. Auf allen Ebenen des Reiches verfestigte sich die ständische Ordnung in eine Ordnung von Obrigkeiten.
Dieser Prozess darf keineswegs als Deutscher Sonderweg missverstanden werden, sondern stellte die spezifische
Form dar, in der sich im Reich eine Ordnung herauskristallisierte, die als Richter in den gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen fungieren konnte.
Religiöser Radikalismus und traditionale Politik: die französischen Religionskriege
Michael Wagner, Gießen
Der Vortrag untersucht Entstehung, Ideologie und politisch-gesellschaftliche Praxis des radikalkatholischen
Aktionismus im Frankreich der Religionskriege (1562 - 1598). Im Zentrum steht die Frage, inwieweit der
22
militante Ultrakatholizismus eine potientiell revolutionäre Kraft darstellte, die die Machtstellung der Krone und
der sozialen Eliten aus Schwertadel und Noblesse de Robe bedrohte.
England and its reformations: traditional politics or the impact of radical religion?
Ralph Houlbrooke, Reading
5.
Späte Neuzeit/ Zeitgeschichte
5.1
Globalisierungsgegner? Die Abschottungstendenzen der NS-Wirtschaft und ihre
Wirkungen im internationalen und intertemporalen Vergleich
Leitung: Jörg Baten, Tübingen
Die Autarkiepolitik des Dritten Reiches aus ökonomischer Sicht
Albrecht Ritschl, Berlin
In Erweiterung traditioneller Interpretationen, die die nationalsozialistische Autarkiepolitik vor allem als
Kriegsvorbereitung deuteten, muss auf devisenpolitische Zwangslagen der deutschen Wirtschaft in den 1930er
Jahren hingewiesen werden. Nicht allein die versuchte Umlenkung des deutschen Außenhandels nach Osten,
sondern besonders der Verlust von Exporterlösen auf den Märkten Westeuropas und Amerikas nach der
deutschen Zahlungseinstellung bei Auslandskrediten haben spätere autarkische Tendenzen hervorgebracht. Eine
völlige Autarkisierung Deutschlands ist außer bei wenigen strategischen Rohstoffen jedoch weitgehend
gescheitert.
Autarkie, Marktdesintegration und Gesundheit: Die Ernährungs- und Mortalitätskrise
während der frühen NS-Zeit 1933-37
Jörg Baten, Tübingen und Andrea Wagner, München
Konnte die NS-Wirtschaftspolitik in der Vorkriegszeit bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und beim
Wachstum des Bruttosozialprodukts einige - teilweise nur scheinbare - Erfolge verbuchen, so schlugen sich die
Autarkiebestrebungen in den biologischen Komponenten des Lebensstandards, wie Morbidität, Sterberisiko und
Ernährungssituation äußerst negativ nieder. Auch aufgrund fehlender Investitionen in das öffentliche
Gesundheitswesen und wegen der zahlreichen Eingriffe in den Preismechanismus waren erhebliche soziale
Kosten zu beklagen, die insbesondere von der Bevölkerung in den größeren Städten und den Küstenregionen zu
tragen waren.
Industrielle Exporte 1933-39
Michael Ebi, Mannheim
Die nach 1933 steigende Nachfrage deutscher Verbraucher nach ausländischen Produkten und der steigende
Rohstoffverbrauch der deutschen Industrie führten aufgrund des gleichzeitigen weiteren Rückgangs der
deutschen Exporte zu einer negativen deutschen Handelsbilanz im Jahr 1934. Dadurch gingen die
Devisenbestände bei der Reichsbank auf einen beängstigend niedrigen Stand zurück. Eine Erhöhung des
Exportvolumens zur Verbesserung dieser Situation erschien daher unbedingt notwendig. Um dies zu erreichen,
23
verfolgten die NS-Machthaber unterschiedliche Strategien, die sowohl Wechselkursmanipulationen als auch eine
direkte Förderung der Ausfuhr umfassten. Gewisse, wenn auch kurzfristige Erfolge brachte aber erst die
Neuordnung der Exportförderung im Jahr 1935, durch die der deutsche Anteil am Weltausfuhrvolumen erhöht
wurde, während andere wichtige Industrienationen Einbußen zu beklagen hatten.
Internationale Zusammenarbeit und nationale Alleingänge: Die Entwicklung der
Synthesekautschukindustrie in Deutschland und den USA vor und während des Zweiten
Weltkriegs
Jochen Streb, Heidelberg
Nach der Unterbrechung der deutsch-amerikanischen Kooperationen in der Kautschuk-synthese durch den
Zweiten Weltkrieg gewann die staatliche Technologiepolitik zunehmend Einfluss auf den Innovationsprozess in
den nationalen Synthesekautschuk-industrien. Preis- und Absatzgarantien waren in beiden Ländern eine
Vorbedingung für die privat-industrielle Fertigung von BUNA S. Während die deutschen Synthesekautschukerzeuger ihre Produktionskosten dabei durch innerbetriebliche Effizienzstei-gerungen erheblich stärker
verringerten, verbesserten die amerikanischen Hersteller unter dem Druck heimischer Reifenhersteller vor allem
die Verarbeitbarkeit ihres Produktes.
5.2
Zivilgesellschaft als Projekt und Prozeß. Konzept und Forschungserträge
Leitung: Arnd Bauerkämper, Berlin und Jürgen Kocka, Berlin
Einführung
Die Sektion ist besonders dem Spannungsverhältnis zwischen der normativen und der deskriptiv-analytischen
Dimension des Konzepts der Zivilgesellschaft gewidmet. Die Referate nehmen die theoretische Diskussion auf
und zeigen den analytischen Nutzen und die Grenzen des Konzepts in der konkreten historischen und
ethnologischen Forschung. Sie untersuchen dabei exemplarisch den Raum jenseits der Privatsphäre und
unterhalb der staatlichen Herrschaft. Obgleich die Diskrepanz zwischen Projekt und Prozeß nicht aufzuheben ist,
wird die Zivilgesellschaft auch im sich vereinigenden Europa nicht nur ein wichtiger Untersuchungsgegenstand,
sondern auch ein inspirierendes politisches Ziel bleiben.
Zivilgesellschaft zwischen Universalitätsanspruch und sozialer Exklusion
Jürgen Kocka, Berlin
Der seit den 1980er Jahren international revitalisierte Begriff „Zivilgesellschaft” hat eine verschlungene
Geschichte, auf die rekurriert werden kann, um daraus Fragestellungen zu entwickeln, die auf die Entwicklung
von Gesellschaft, Politik und Kultur europäischer Länder im 19. und 20. Jahrhundert gerichtet werden. Im
Mittelpunkt steht dabei die Spannung zwischen dem universalistischen Anspruch des von der Aufklärung
geprägten Projekts der Zivilgesellschaft und der durchweg beobachtbaren Begrenztheit seiner praktischen
Einlösung. Dieses historisch variable Spannungsverhältnis bietet sich als Gegenstand einer europäisch
vergleichenden historischen Untersuchung an.
Zivilgesellschaft – zwischen demokratietheoretischen Dissonanzen und sozialer Inklusion
24
Wolfgang Lauth (Mainz/Koblenz-Landau)
Um die empirische Vielfältigkeit des Phänomens Zivilgesellschaft angemessen zu erfassen, ist es notwendig, mit
einem Modell von Zivilgesellschaft zu arbeiten, das es erlaubt, diese Varianz angemessen zu erfassen, ohne in
relativistische Positionen zu verfallen. Dieses Ziel wird mit dem Vorschlag eines funktionalistischen
Zivilgesellschaftsmodells verfolgt, das anhand von ausgewählten Kriterien in verschiedene Subtypen
untergliedert werden kann. Diese Grundlage bietet die Basis, um die demokratietheoretischen Implikationen von
Zivilgesellschaften kontextspezifisch zu betrachten und die Dimensionen sozialer Inklusion und Exklusion
adäquat zu erfassen.
Zivilgesellschaft als Alternative zur Revolution
Manfred Hildermeier, Göttingen
Die Frage nach einer Alternative zur bolschewistischen Revolution von 1917 ist so alt wie diese selbst. Lange
Zeit stand ihre Beantwortung im Zeichen der Selbstrechtfertigung des unterlegenen Liberalismus. Ebensowenig
hat sich die nachfolgende sozialgeschichtliche, auf langfristige Faktoren orientierte Sehweise von den
Kategorien und Betrachtungsfiltern der Zeitgenossen lösen können. Vielmehr hat sie die beschwörende
Versicherung, eine andere Zukunft sei möglich gewesen, in vieler Hinsicht nur ins Negative gewendet. In der
Sowjetunion verbot es die Staatsdoktrin, die Frage überhaupt ernsthaft zu stellen. Um so lebhafter war die
Renaissance, die das Problem nach ihrem Untergang erfuhr. Auf der Suche nach einer anderen Vergangenheit ist
es nachgerade geboten, zumindest Keime einer konträren Entwicklung zu entdecken.
(Zivil-)Gesellschaft oder Gemeinschaft? Das Beispiel einer Dorfgemeinde in Ungarn
Christopher Hann, Halle
Der Begriff der Zivilgesellschaft hat in den vergangenen Jahren auch unter Ethnologen große Resonanz
gefunden. Es existieren bereits viele Fallstudien über die Einführung der Zivilgesellschaft durch NGOs in
Entwicklungsländern oder auch über die Unterstützung ihrer Durchsetzung in der postsozialistischen Welt.
Paradoxerweise meinen die Menschen, die in diesen Welten leben, dass sie unter der alten Diktatur einfacher in
den Genuss der propagierten Vorteile einer solchen Gesellschaft kommen konnten als dies gegenwärtig der Fall
ist. Im ländlichen Ungarn erlebte man vor dem Sozialismus eine bürgerliche Gesellschaft, die durch soziale
Ungleichheiten und Polarisierungen geprägt war; heute fühlen sich viele in diese Zeit zurück versetzt.
Zivilgesellschaft und Kultur. Entstehung, Organisation und Programmatik gesellschaftlich
getragener Theater in Europa
Philipp Ther, Berlin
Der Vortrag beruht auf drei Fallstudien über das Stadttheater in Leipzig, das vom Adel dominierte Polnische
Theater in Lemberg und das bürgerlich geprägte Tschechische Nationaltheater in Prag. Dabei werden die
Entstehungsgeschichte, die Organisation und Trägerschichten, die soziale Reichweite der Häuser und ihre
Repertoires verglichen. Eines der Ergebnisse ist, daß der polnische Adel bei der Gründung, Finanzierung und
Programmatik gesellschaftlich getragener Theater funktional äquivalent zum Bürgertum in Deutschland und
Böhmen agierte. An den Vergleich schließt sich eine Analyse kultureller Netzwerke in Mitteleuropa an, mit
denen die Konvergenz der Repertoires und der Aufführungspraxis im Bereich des Musiktheaters erklärt wird.
25
5.3
Wissenstraditionen
Leitung: Lorraine Daston, Berlin
Einleitung: Wissenstradition und Wissenschaft um 1800
Lorraine Daston, Berlin
Ein Anfang ohne Ende – Die klassische Naturgeschichte und ihr Archiv
Staffan Müller-Wille, Berlin
Der Vortrag unterwirft die These Michel Foucaults und Wolf Lepenies' vom Übergangs "der Naturgeschichte
zur Geschichte der Natur" um 1800 einer kritischen Würdigung. Insbesondere wird nachgezeichnet, wie
spezifische Institutionen des Sammelns und Archivierens dafür sorgten, dass naturgeschichtliches Wissen auch
über die "Zeitenwende" um 1800 hinaus tradiert wurde.
Wissenstraditionen: Heterogenität und Kohärenz
Ursula Klein, Berlin
Der Vortrag vergleicht die pflanzenchemische Experimentalgeschichte des 18. Jahrhunderts, in der praktischtechnologische und kommerzielle Ziele auf engste mit akademischen Erkenntnisinteressen verwoben waren, mit
der Frühphase der Experimentalkultur der synthetisierenden Kohlenstoffchemie, die von ca. 1860 an neue
Allianzen mit der chemischen Industrie schmiedete (Farbenchemie).
Experimentalwissen und der Wandel gelehrter Aufmerksamkeit im späten 18. und 19.
Jahrhundert
Otto H. Sibum, Berlin
Jüngste wissenschaftshistorische Untersuchungen zeigen, daß das Experimentalwissen als integraler Bestandteil
nicht-schriftlicher Überlieferungstraditionen zu betrachten ist, welches nur schwer mit den Praktiken der
Schriftgelehrten und deren Auffassung von Wissenschaft zu vereinbaren. Dieser sich an der „Kunst des
Experimentierens“ entzündende Konflikt steht beispielhaft für einen folgenreichen Prozess der
Ausdifferenzierung von Wissen und Wissenschaft, dessen zentrale Entwicklungsphase um 1800 untersucht wird.
5.4
„Vision Europa“: Die Europa-Diskussion in Polen und in Deutschland im 19. und
rühen 20. Jahrhundert
Leitung: Heinz Duchhardt, Mainz
Einführung
Heinz Duchhardt, Mainz
26
Zu den großen Visionen des 18./19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte die „europäische
Föderation“, die seit den Römischen Verträge von 1957 allmählich Gestalt annimmt und in letzter Zeit in bezug
auf die Zielperspektive wieder verstärkt und kontrovers diskutiert wird. Der Europa-Gedanke speiste sich in
seiner Hoch-Zeit, im frühen 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert, aus ganz unterschiedlichen Quellen:
der Vorstellung, nur geeint den politischen und ökonomischen Herausforderungen von jenseits der Meere
gewachsen zu sein, der Ideologie von der zu wahrenden Überlegenheit der abendländisch-christlichen Kultur,
der Perspektive, im Verbund Reformen und politisch-soziale Veränderungen besser durchsetzen zu können, der
Überzeugung, daß nur so der Krieg aus dem Staatenleben verbannt werden könne.
Die Gegenüberstellung Polens und Deutschlands - als zweier Nachbarn, die als „verspätete Nation“ bzw.
fehlender Unabhängigkeit und geostrategischer Lage wegen besondere Hoffnung auf „Europa“ setzten erscheint methodisch besonders reizvoll.
Europa-Vorstellungen und Europa-Pläne im Umfeld des Wiener Kongresses
Wolf G. Gruner, Rostock
Krisenzeiten waren in der europäischen Geschichte stets auch Perioden des Nachdenkens über ein
„wiedervereinigtes“ Europa. Dies gilt auch für die Jahre zwischen 1792 und 1815. Unterschiedliche Personen
und Gruppen, wie Kant, Gentz oder die Friedensgesellschaften legten Konzepte vor, die einen europäischen
Völkerbund, eine europäische Föderation oder ein dauerhaftes Gleichgewicht anstrebten, um ewigen Frieden,
Recht und Sicherheit in Europa zu gewährleisten.
Vom „ewigen Bündnis der zivilisierten Völker“ (1831) zur „Dämmerung Europas“ (1867).
Der Wandel des Europa-Diskurses in der polnischen Publizistik des 19. Jahrhunderts
Malgorzata Morawiec, Mainz
In dem Vortrag werden zwei Schriften der polnischen Autoren aus dem 19. Jahrhundert analysiert und ihre
Einbettung in die Tradition des Europa-Diskurses dieser Zeit skizziert. Dabei spielen sowohl die romantischen
als auch aufklärerisch-rationalistischen Züge des polnischen Gedankenguts eine nicht unwesentliche Rolle. Sie
im Kontext der Entwicklung von deutschen Europaschriften auf Synergie zu prüfen, ist das Ziel dieses
Unternehmens.
Das polnische Konzept einer europäischen Föderation – zwischen den Vereinigten Staaten
von Europa und dem konföderativen Mitteleuropa (1917-1939)
Wieslaw Bokajlo, Breslau
Irrweg Mitteleuropa. Deutsche Konzepte zur Neugestaltung Europas aus der
Zwischenkriegszeit
Jürgen Elvert, Köln
Es wird gezeigt, dass „Mitteleuropa“ anders als bisher angenommen im deutschen politischen Denken der
Zwischenkiegszeit, besonders im deutsch-nationalen und konservativ-revolutionären Lager einen prominenten
Platz einnahm. Wie vor 1914 wurde Mitteleuropa auch nach 1918 als der Raum betrachtet, über den das
Deutsche Reich einen gleichsam naturrechtlich begründeten Herrschaftsanspruch besaß, wenngleich kein
Einvernehmen darüber erzielt wurde, wie diese Herrschaft ausgeübt werden sollte. Somit entstand eine Vielzahl
unterschiedlicher Entwürfe, von denen einige besonders aussagekräftige vorgestellt werden. Es wird ebenfalls
27
gezeigt, wie die Überlegungen über das Jahr 1933 hinaus weiterwirken und letztlich in die
nationalsozialistischen Europapläne einmündeten.
5.5
Gemeinschaft und Politik. Praxistheoretische Ansätze in der Geschichtswissenschaft
Leitung: Martin Geyer, München
Einleitung
Die Sektion will einen Beitrag zur Debatte zwischen Sozialgeschichte und neuerer Kulturgeschichte leisten. Im
Mittelpunkt stehen Ansätze, die sich auf eine „Theorie sozialer Praktiken“ beziehen und die sowohl die
körperlichen Verhaltensroutinen, kollektiven Sinnmuster und subjektiven Sinnzuschreibungen historischer
Akteure als auch die historische Verankerung ihrer Identitäten und Symbole zum zentralen Gegenstand der
Analyse und Theoriebildung machen.
Regeln und Ressourcen als brüderliche Bande: Praxistheorie und die frühe deutsche
Sozialdemokratie, 1848-1878
Thomas Welskopp, Berlin
Aus praxistheoretischer Perspektive ergibt sich für eine Geschichte der frühen Sozialdemokratie in Deutschland
eine gewisse Lockerung der sozioökonomischen Kausalannahme, die die ältere Arbeiter- und
Arbeiterbewegungsgeschichte organisiert hatte. Dafür werden nun die sozialdemokratischen Organisationen
selber als Handlungsfelder, als Arena sozialer Praktiken, erfassbar. In die Identitätsstiftung als
Arbeiterbewegung gingen neben den Erfahrungen mit der Abhängigkeit vom „großen Kapital“ nunmehr die
Erfahrungen prägend mit ein, die in den Arbeitervereinen und ihren Versammlungen selber gemacht wurden.
Der ideologische Diskurs avancierte dabei selber zu einer Praxisform, deren performative Seite ebenso wichtig
war wie ihre semantischen und semiotischen Bezüge.
Gewalt und Gemeinschaft. Ein Vergleich des italienischen Squadrismus und der deutschen SA
als Fallbeispiel einer praxeologischen Faschismustheorie
Sven Reichardt, Berlin
Der Vortrag legt für die Aufstiegsphase der faschistischen Massenbewegungen in Italien und Deutschland den
Versuch einer praxeologischen Bestimmung des Faschismus vor. Im Zentrum stehen hierbei die dynamischen
Gewaltorganisationen des Squadrismus und der SA. Im Hinblick auf deren Gewalt wird eine Analyse der
Verhaltensregeln, der Organisationskultur und des Lebensstils der faschistischen Kampfbündler vorgenommen.
Die faschistischen Kampfbünde werden mit Hilfe eines praxeologischen Ansatzes als spezifische Ausformung
einer sozialen Bewegung und als ein Erfahrungsraum analysiert, bei der die Gewalthandlungen der Faschisten
sich aus ihrer Lebenspraxis ergaben und der Verfestigung ihres identitätsstiftenden Lebensstils galten.
Das Parlament als sozialer Raum. Kommunikation, Alltag und soziale Netzwerke im
Reichstag der Weimarer Republik
Thomas Mergel, Bochum
28
In dem Vortrag geht es um die kommunikative Dynamik, die Institutionen entwickeln, selbst wenn sie so
umkämpft sind und in einer solch zerrissenen Umwelt stehen wie der Weimarer Reichstag. Es soll gezeigt
werden, daß sich gegnüber den politischen Fronten „draußen“ im parlamentarischen Alltag die kommunikative
Logik von auf Dauer gestellten sozialen Verbünden durchsetzt. Auch hier wurde im Konflikt die
Anschlußfähigkeit gesucht, denn der Gegner von heute konnte morgen ein Partner sein, auch hier wirkte der
enge Kontakt zu anderen Abgeordneten in der „Lebensform des Parlamentariers“ (Gustav Radbruch)
entkrampfend, ebenso aber auch eine politische Mentalität, die im Reichstag einen utopischen Hohlspiegel des
ganzen Volkes sah und ihm deshalb Vorbildcharakter zusprach. Die – zunächst paradox wirkende – Folge war
aber keineswegs eine höhere Legitimität gegenüber der Öffentlichkeit, sondern vielmehr die Wahrnehmung einer
politischen Klasse, die unter einer Decke steckte.
Kommentar
Jürgen Kocka, Berlin
5.6
Europäische „Volksgeschichten“ in der Zwischenkriegszeit
Leitung: Manfred Hettling, Halle
Einführung
Manfred Hettling, Halle
Deutschland
Willi Oberkrome, Freiburg
Der Kurzvortrag greift einige Fragen auf, die bei der Diskussion über deutsche Historiker im ‚Dritten Reich’
nicht immer hinreichend berücksichtigt wurden. Vor allem stellt er auf interne Fraktionierungen und
unterschiedliche Resonanzebenen der Volkstumshistoriographie ab, die als ein wissenschaftsgeschichtliches
Phänomen von vergleichsweise ‚langer Dauer’ kenntlich gemacht werden soll.
Deutsch-jüdischer Zionismus
Moshe Zimmermann, Jerusalem
Seit dem 19. Jahrhundert verhalf der Begriff 'Volk' (hebr. Am) dazu, die jüdische Geschichte als
Volksgeschichte zu verstehen, und zwar weitgehend in dem Sinn, in dem sich dieser Begriff in der deutschen
Geschichtsschreibung verankern konnte. Die Existenz jüdischer Diaspora(s) bot dem Historiker vor wie nach der
Gründung des jüdischen Staates die Grundlage für eine auf Volk, Kultur und Sprache, nicht auf Staat und
Staatlichkeit ausgerichtete Geschichtsschreibung.
Polen
Jan Piskorski, Posen
Die 'polnische Westforschung' entstand nach dem Ersten Weltkrieg und war intensiv in die politischen
Kontroversen der Zeit eingebettet, wie auch in anderen ostmitteleuropäischen Ländern. Methodisch orientierte
man sich dabei überwiegend an der deutschen Historiographie - und konnte dennoch zu politisch
29
entgegengesetzten Urteilen gelangen. Kaum vertreten jedoch waren in Ostmitteleuropa rassische Konzeptionen
von Volksgeschichte - jedoch ist das bisher kaum untersucht worden ist. Generell verbreitet war hingegen in
Ostmitteleuropa Volksgeschichte vor allem in traditionellem nationalistischem Sinne, die als origo gentis
eigentlich schon im Mittelalter entstanden war.
Frankreich
Lutz Raphael, Trier
Das Fehlen einer mit der deutschsprachigen Volksgeschichte vergleichbaren historiographischen Strömung, aber
auch einer entsprechenden Verzahnung nationalpolitischer Zielsetzungen mit fachinternen Strategien der
Etablierung/Durchsetzung neuer integrativer Forschungsmethoden, -themen und Konzepte macht Frankreich zu
einem idealtypischen Gegenbeispiel. Der defensive Grundzug des integralen Nationalismus, die Distanz der
universitären Kulturwissenschaften zum "Rasse"begriff und der Aufstieg der Annales-Strömung als neuem
integrativem Programm auf dem Feld der Sozial- und Kulturgeschichte sind wichtige Faktoren, die eine
wissenschaftliche Verknüpfung zeittypischer Ideologeme wie "sol", "communauté" oder "peuple/race" jenseits
von Einzelfällen zwischen 1910 und 1960 verhindern.
Jugoslawien
Holm Sundhaussen, Berlin
Der Beitrag gibt einen Überblick über ideologische Voraussetzungen, Entstehung und Funktion der
„Volksgeschichte“ im jugoslawischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der serbischen Historiographie
und Anthropogeographie von den Krisenjahren 1908/09 bis zum Ende der Zwischenkriegszeit.
Italien
Christian Jansen, Bochum
Die Durchsicht der wichtigsten historischen Fachzeitschriften, einiger populärwissenschaftlicher Zeitschriften
mit historiographischem Schwerpunkt sowie von nationalgeschichtlichen Publikationen jüngerer Historiker aus
der Zeit des Faschismus ergab, daß es eine "Volksgeschichte" wie in Deutschland nicht gab. Dieser
Negativbefund wird erklärt 1. mit prinzipiellen Unterschieden zwischen faschistischem und
nationalsozialistischem Regime, 2. mit Unterschieden im Verhältnis beider Regime zur Geschichtswissenschaft
und 3. mit Unterschieden zwischen dem deutschen und dem italienischen nationalistischen Diskurs. Teilweise
lassen sich aus der unterschiedlichen Entwicklung der Geschichtsschreibung Rückschlüsse auf prinzipielle
Differenzen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus ableiten.
5.7
Gesellschaftspolitische Zukunftsentwürfe zwischen 1890 und 1940 im europäischen
Vergleich
Leitung: Wolfgang Hardtwig, Berlin und Lucian Hölscher, Bochum
Historische Zukunftsforschung – theoretische Überlegungen und historische
Forschungsperspektiven.
Lucian Hölscher, Bochum
30
Die Ziele der Historischen Zukunftsforschung bestehen 1. in der Rekonstruktion vergangener
Zukunftsvorstellungen als partiell autonomen Wirklichkeitsbereichen, 2. in der Erweiterung historiographischer
Darstellungen um das Spektrum ihrer nicht eingetretenen Möglichkeiten und 3. in der Ermittlung der mittel- und
langfristigen Konjunkturen vergangener Zukunftsvorstellungen sowie der Bedingungen ihrer Entstehung und
ihres Verfalls.
Die Zukunft der Weimarer Republik: Prognosen, Utopien und Planungen der Gesellschaft in
Deutschland 1918-1933
Rüdiger Graf, Berlin
In den Krisenprozessen und -diskursen der Weimarer Republik florierte neben pessimistischen
Untergangsvisionen auch eine weitreichende Gestaltbarkeitseuphorie, die sich in vielfältigen Plänen und Utopien
niederschlug. Der Vortrag analysiert die Diskurse über „Deutschlands Zukunft“ unter der Fragestellung, wie sich
das Verhältnis von passiver Zukunftserwartung und aktiver Zukunftsgestaltung innerhalb des politischen
Spektrums entwickelte. Damit soll ein Beitrag zur Klärung der Frage geleistet werden, ob und inwiefern in den
Krisen der Weimarer Republik bestimmte Modi der Zukunftsaneignung an Plausibilität und Attraktivität
gewannen.
Der schwarze Spiegel. Afrika als Ausweichraum europäischer Zukunftsentwürfe in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts
Dirk van Laak, Jena
In der Geschichte des Kolonialismus waren Plan, Phantasie und Praxis stets eng aufeinander bezogen. Die
mental maps der Kolonialisten waren ebenso einflußreich wie die Kartenwerke, auf denen die frontiers der
Erschließung verzeichnet waren. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg wurde Afrika zur Projektionsfläche einer
gemeinsamen europäischen Kultur-Aufgabe. Im scheinbar so natürlichen „Ergänzungsraum“ Afrika sollte sich
die Einheit Europas formen, sollten sich überlegene Technologie und Wissenschaft bewähren. In zahlreichen
Visionen und Planungen zur Entwicklung Afrikas spiegelten sich die emotionalen und gedanklichen Horizonte
der Epoche wider.
Grigorij Landaus „Dämmerung Europas“ – Vorahnungen vor dem Großen Krieg
Karl Schlögel, Frankfurt/ O.
Im Jahre 1923 erschien in Berlin in russischer Sprache Grigorij Landaus (1877-1941) Buch "Die
Abenddämmerung Europas". Der Autor, russischer Jude, prominenter Liberaler der Vorrevolutionszeit,
Herausgeber und Publizist in der Berliner Emigration, hatte ein Buch veröffentlicht, das im wesentlichen vor
1914 bzw. 1917 geschrieben worden war. Es enthält eine Zeitdiagnose und einen Ausblick auf den Niedergang
Europas. Diese negative Vision, die im Lärm der Debatten um Oswald Spenglers Buch untergegangen ist, soll
hier erstmals zu Gehör gebracht werden.
Zukunftsvisionen und Vergangenheitsrhetorik im italienischen Faschismus
Gustavo Corni, Trient
31
Aus verschiedenen (wirtschaftlichen, demographischen und zum Teil ideologischen) Gründen hatte der
italienische Faschismus ein besonderes Interesse an einer Stärkung der Landwirtschaft und der
Bodenverbundenheit der Bevölkerung. In diesem Bereich ist insbesondere die vom Regime mit grossem
Aufwand durchgesetzte Politik der „bonifica integrale“, also der „integralen“ Entwässerung und Regulierung
sumpfiger Böden, wo Tausende von Kolonisten angesiedelt werden sollten. Die „bonifica integrale“ ist eng mit
der Planung und Realisierung von sog. „neuen Städten“ verknüpft. Mit diesem Unternehmen beabsichtigte das
Regime die Realisierung eines Vorhabens, das eindeutig utopistische Züge innehatte: eine Stadt, die eigentlich
keine Stadt hätte sein sollen; eine Stadt, die in ihrer gesamten architektonischen und sozial-urbanistischen
Planung einem utopistischen Ziele diene, insbesondere die Errichtung eines neugearteten sozialen Gebildes.
Moderation und Zusammenfassung
Wolfgang Hardtwig, Berlin
5.8
Brüche und Kontinuitäten in der Medizin und in den Naturwissenschaften des 19. und
20. Jahrhunderts
Leitung: Andreas Kleinert, Halle und Josef N. Neumann, Halle
Gesamt
Unter dem Einfluß von Hermann von Helmholtz unterwarf sich die Medizin im 19. Jahrhundert den
Wissenschaftsprinzipien von Physik und Chemie, die ihrerseits von der als Leitwissenschaft verstandenen
Mechanik beherrscht wurden. Diesem Wechsel im medizinischen Denken folgte ein Paradigmenwechsel in den
Naturwissenschaften, in dessen Verlauf die Physik zur Aufgabe des aus der Mechanik stammenden
deterministischen Denkens gezwungen wurde. Angesichts dieser signifikanten Brüche ergibt sich die Frage, wie
weit Elemente der traditionellen Medizin und der klassischen Naturwissenschaft im modernen
Wissenschaftsverständnis wirksam geblieben sind.
Diskontinuität in der Entwicklung der Medizin im 19. Jahrhundert und die Rolle der
Romantischen Medizin
Nelly Tsouyopoulos, Münster
Im 19. Jahrhundert hat ein Paragdimawechsel in der Entwicklung der Medizin stattgefunden. Die
Naturphilosophie der Romantik spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die Konzeption der Medizin erfuhr eine
Veränderung: von einer Medizin der qualitativen Veränderungen hin zu einer Medizin der Lebensreaktionen.
Diese Wendung hatte Konsequenzen für die Auffassung von Gesundheit und Krankheit, für die Beziehung
zwischen Organismus und Umwelt und für die Gestaltung der experimentellen Methode. Die Diskontinuität in
der Entwicklung – als Folge des Paradimawechsels – hatte neben wissenschaftlichen, auch soziale, politische
und standespolitische Gründe.
„Eine vollständige Umwälzung?“ Wissenschaftliche Medizin zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Volker Hess, Berlin
Der Beitrag wird mit Blick auf die klinische Medizin zur Mitte des 19. Jahrhunderts die „Geburt der
naturwissenschaftliche Medizin“ einer Neubesichtigung unterziehen. Dabei soll am Beispiel der klinischen
32
Thermometrie nachvollzogen werden, in welcher Weise die neuen quantifizierenden Diagnosetechniken eine
Übersetzung medizinischer Modelle in eine naturwissenschaftliche Sprache vornahmen, die in der Tat bald nur
noch von Eingeweihten verstanden werden sollte. Ausgehend von der Frage, in welcher Weise sich diese neue
Medizin tatsächlich von der bisherigen unterschied, soll weitergehend die identitätsstiftende Funktion dieser
„gänzlichen Umwälzung“ im Mittelpunkt stehen, um die Rolle der Labor- und Experimentalpraktiken für das
Selbstverständnis und Selbstbild der Medizin zu thematisieren.
Die Krisendiskussion in der Medizin zur Zeit der Weimarer Republik.
Josef N. Neumann, Halle
Die im 19. Jahrhundert vollzogene Selbstbestimmung der Medizin als Naturwissenschaft führt in Deutschland
bereits in der Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg zu einer unter Medizinern geführten
Grundlagendiskussion, die unterschiedliche wissenschafts- und handlungstheoretische Ansätze hervorbringt mit
dem Ziel, das funktionale Menschenbild und technizistisch verkürzte Praxisverständnis der
naturwissenschaftlich-technischen Medizin zu überwinden. Es steht somit die Frage nach dem Verhältnis von
Theorie und Praxis in der Medizin sowie die nach der Möglichkeit einer Vermittlung von technischem Handeln
am Menschen und dessen Anspruch freier Selbstbestimmung („Ganzheit“) im Vordergrund.
Relativitätstheorie und Quantenphysik – Brüche in der Entwicklung der Physik?
Gunnar Berg, Halle
Beide Theorien kennzeichnen den Umbruch in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es existieren aber
fundamentale Unterschiede. Die Relativitätstheorie ist eine, wenn auch revolutionäre Fortsetzung -vielleicht
auch Vollendung - der klassischen Physik. Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß die sie
beschreibenden Differentialgleichungen die bekannten physikalischen Größen, wenn auch in teilweise
modifizierter Form, enthalten und daß sie deterministisch sind. Die Quantenphysik dagegen bricht mit dem
Jahrtausende alten Paradigma: Die Natur macht keine Sprünge. Dieser radikale Bruch, der untrennbar mit dem
prinzipiellen Zufallscharakter mikrophysikalischer Prozesse verbunden ist, machte selbst vielen ihrer Urheber
wie Planck, Einstein, de Broglie und Schrödinger zeitlebens zu schaffen. Die neue quantenphysikalische
Denkweise wirkt sich auf alle Naturwissenschaften aus, da z.B. der Ablauf chemischer Reaktionen und das
Auftreten von Mutationen von elementaren Prozessen dieser Art bestimmt sind.
Die Etablierung der Physikalischen Chemie als eigenständige Disziplin – Bruch oder
Kontinuität?
Horst Remane, Halle
Aufgrund der Berufung von Wilhelm Ostwald (1853 - 1932) auf den Leipziger Lehrstuhl für Physikalische
Chemie, der Begründung der Zeitschrift für Physikalische Chemie und der Bereitstellung wichtiger theoretischer
Fundamente durch den Holländer Jacobus Henricus van't Hoff (1852 - 1911) und den Schweden Svante
Arrhenius (1859 - 1927) wird das Jahr 1887 verschiedentlich als das der Etablierung der Physikalischen Chemie
als eigenständige Disziplin angesehen. Es ergibt sich die Frage, inwieweit vorangegangene Entwicklungen
diesen Prozess katalysiert haben.
Die Biologie und ihre Geschichte. Zur Konstruktion einer Traditionslinie
Kai Torsten Kanz, Lübeck
33
Die Wissenschaft vom Leben hat eine vergleichsweise junge Geschichte, als deren Ausgangspunkt vielfach die
multiple Einführung des Begriffs „Biologie“ um 1800 gesehen wird. Eine Analyse der Begriffsgeschichte belegt
gleichwohl, dass der Terminus weit älter ist und sehr uneinheitlich verwendet wurde; eine Rekonstruktion der
Disziplingenese zeigt, dass sich Biologie erst im 20. Jhdt. als Oberbegriff oder Metadisziplin für die einzelnen
biologischen Disziplinen durchsetzte. Die Brüche und Kontinuitäten der disziplinären Entwicklung der
Wissenschaft Biologie legen nahe, dass traditionelle Vorstellungen von „disziplinärer Innendifferenzierung“ in
ihrem Fall modifiziert werden müssen.
5.9
Remigration nach Deutschland in der Nachkriegszeit
Leitung: Marita Krauss, Bremen
Einführung
Marita Krauss, Bremen
„Das unterbrochene Leben wieder zusammenbinden...“ Die Rückkehr deutscher Juden aus
der Emigration
Karin Hartewig, Erfurt
Der Vortrag geht den Beweggründen für die Rückkehr deutscher Juden in ein geteiltes Land nach. Er beschreibt,
welche Traditionen und biographischen Erfahrungen die Option für die DDR oder die Bundesrepublik
bestimmten, auf welche Weise der Holocaust und der Antisemitismus diese Entscheidung nach 1945 immer
wieder fragwürdig werden ließen und was viele der Zurückgekehrten dennoch in der DDR oder in der
Bundesrepublik hielt.
Rückkehr in die Politik
Hartmut Mehringer, München
Knapp die Hälfte der „Politemigranten“ kehrte nach 1945 in die alliierten Besatzungszonen bzw. die
Bundesrepublik Deutschland, die DDR und Österreich zurück. In den späten 40er, in den 50er und z. T. auch
noch in den 60er Jahren ist ihr Anteil an den Leitungsgremien von politischen Parteien und Gewerkschaften
vielfach überdurchschnittlich hoch. Die Frage nach einer gruppenspezifischen Wirksamkeit ist methodisch und
analytisch eine Zentralfrage der gegenwärtigen Exilforschung.
Hochschulen und Remigration in Ost- und Westdeutschland
Ralph Jessen, Berlin
Die Rückkehr emigrierter Wissenschaftler an die Hochschulen Ost- und Westdeutschlands und die akademische
Karriere anderer Remigranten spielten sich in den vierziger und fünfziger Jahren in einer konfliktträchtigen
Dreieckskonstellation zwischen Universitäten, politischen Instanzen und den betroffenen Wissenschaftlern ab.
Der Vortrag wird Verlauf und Ergebnisse der Remigration im Hochschulbereich mit Bezug auf diese
Konstellation ost-west-vergleichend skizzieren und dabei fachspezifische Unterschiede, Zusammenhänge zu
34
allgemeinen Trends der Wissenschaftlermigration und zu den Bedingungen akademischer Karrieren in der SEDDiktatur und der westdeutschen Nachkriegsdemokratie erörtern.
Rückkehr in die Großstadt: München, Hamburg, Leipzig
Marita Krauss, Bremen
Die Großstädte, hier untersucht an München, Hamburg und Leipzig, gehörten zu den bevorzugten Zielen
zurückkehrender Emigranten. Am Beispiel der Stadtgesellschaften lassen sich Namen der Rückkehrer, Formen
ihrer Rückkehr, Aufnahmebedingungen, Zuwahl zurückgekehrter Eliten in Politik, Wissenschaft, Presse und
Kultur, aber auch Ablehnung und Gründe der Weiterwanderung sichtbar machen. München, Hamburg und
Leipzig bieten dafür dichtes Anschauungsmaterial: Sie sind politische und wirtschaftliche Zentren,
Universitätsstädte und Medienstandorte. Es lohnt sich jedoch auch der Vergleich: Sie liegen in verschiedenen
Besatzungszonen und sind von unterschiedlichen Traditionen geprägt.
5.10
Gewalt in den USA: Traditionen und Visionen in den 1960er und 1970er Jahren
Leitung: Jürgen Martschukat, Hamburg
Die „National Advisory Commission on Civil Disorders“ und der Diskurs um Gewalt in den
USA, 1968
Norbert Finzsch, Köln
Heftige Ausbrüche von Gewalt in den Gettos von Newark, New Jersey und Detroit, Michigan im Juli 1967
schienen zu signalisieren, dass es zu einer gewaltsamen Erhebung von African Americans kommen würde.
Studien zur Untersuchung der Gründe für diese Unruhen kamen zu dem Ergebnis, dass die meisten eine
verzweifelte Antwort auf die rassistische Diskriminierung im Erziehungssystem und auf dem Wohnungs- und
Stellenmarkt waren. In dieser Situation wurde die National Advisory Commission on Civil Disorders eingesetzt,
um der Ursache für die Aufstände auf den Grund zu gehen. Die Kommission verband in der Analyse der
Unruhen die Faktoren Armut und Rassendiskriminierung. Mein Beitrag wird sich auf die Diskussion des Papiers
der Commission beschränken und diese Diskussion in Beziehung zu anderen Diskursen über Gewalt in den USA
zu setzen versuchen.
„Violence Hits Home“: Kriegsverbrechen in Vietnam und die inneramerikanische Debatte
über die Ursachen von Gewalt und Destruktivität
Bernd Greiner, Hamburg
Kaum ein Ereignis der 60er Jahre hat die amerikanische Öffentlichkeit derart aufgewühlt wie die in Vietnam
begangenen Kriegsverbrechen. Die über Jahre sich hinziehenden Auseinandersetzungen gehören zu den
außergewöhnlichen Kapiteln der US-Zeitgeschichte. Der Vortrag bilanziert diese Debatte und stellt sie in den
Kontext der seit dem Zweiten Weltkrieg in den USA geführten politischen und juristischen Diskussion über
„crimes against
humanity“.
Die Politik der starken Trope: Vergewaltigung und feministische Kritik in den USA
35
Sabine Sielke, Bonn
Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung sind Themen, die die amerikanische feministische Kritik von den späten
1960er Jahren bis in die 90er Jahre dominiert haben. Warum jedoch redet die amerikanische Kultur derart
obsessiv über Vergewaltigung? Und wie hat diese Kultur gelernt, über sexuelle Gewalt zu sprechen? Mein
Beitrag wird diese Fragen beantworten, indem ich die kulturelle Funktion der „rhetoric of rape“ ins späte 18. und
19. Jahrhundert zurückverfolge.
„With Grace and Dignity“: Gary Gilmore und die Rückkehr der Todesstrafe in den USA,
1977
Jürgen Martschukat, Hamburg
Der Vortrag über die Hinrichtigung Gary Gilmores 1977 soll das Zurück zur Todesstrafe in den USA und somit
die feste Verankerung der tradierten Gewaltmuster zeigen. Zudem führte Gilmore durch sein Sterben, in dem er
seine Vorstellungen von Männlichkeit, Würde und Gewalt zum Ausdruck brachte, die Brutalität des Hinrichtens
vor Augen, die sich die moderne Gesellschaft so sehr zu verbergen bemühte. Der Vortrag wird sowohl die
Perspektive des Verurteilten als auch den öffentlichen Umgang mit dem Fall Gilmore erörtern.
5.11
Amerika in Deutschland/ Deutschland in Amerika
Leitung: Christof Mauch, Washington
Moderation
Christof Mauch, Washington
Alexander von Humboldt in der amerikanischen Festkultur und Einwanderergesellschaft des
19. Jahrhunderts
Andreas Daum, Harvard
Der deutsche Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt (1769-1859) genoß während des 19. Jahrhunderts
in den USA eine enorme Wertschätzung. Doch erst nach Humboldts Tod wurde der Universalgelehrte zu einer
öffentlichen Figur stilisiert. Der Vortrag erklärt diese Entwicklung aus der Dynamik der amerikanischen
Einwanderungsgesellschaft und den Funktionen der multiethnischen Festkultur in den USA. Die “Erfindung
eines Helden” diente gleichermaßen der Rückversicherung ethnischer Gruppen an ihre Herkunft wie dem
Versuch, eine amerikanische Identität auszubilden.
„Cultur“ und „Gemütlichkeit“: Die Feste deutscher Einwanderer in den USA im
Spannungsfeld zwischen Deutschland und Amerika, 1849-1924
Heike Bungert, Köln
Der Vortrag zeigt auf, wie sich anhand von Festen als Grundform des kulturellen Gedächtnisses ab 1848 eine
deutsch-amerikanische Identität konstituierte. Diese Ethnizität entfaltete sich insbesondere nach 1871 und nahm
im Einklang mit der Entwicklung in Deutschland um die Jahrhundertwende nationalistischere Züge an. Die
Deutsch-Amerikaner bewahrten einerseits deutsche Traditionen und übernahmen andererseits Charakteristika der
36
amerikanischen „Civil Religion“. Durch eine kreative Nutzung der gemeinschaftstiftenden Elemente von „Fest“
und „Feier“ konnte die Trennung der Deutschen nach Region, sozialem Stand, Geschlecht und Konfession
zeitweise überwunden werden.
German Catholic Immigrants and the American ´Kulturkampf´ 1836-1892
Kathleen Conzen, Chicago
During the 1880s, German-speaking American Roman Catholics engaged in an unprecedented burst of
organization and activism, exemplified at the national level by America’s first annual Katholikentag in 1887.
American Catholics saw themselves as defenders of ultramontane orthodoxy within American Catholicism, and
filtered their reactions to American political issues through perceptions molded in the church-state conflicts of
Germany. Their 19th century American Kulturkampf helps explain a distinctive German Catholic presence within
both American religious and political life that endured through much of the 20 th century.
Von der „politischen Geländekunde“ zur „Demokratisierungswissenschaft“: Amerikanistik in
Deutschland, 1917-1953
Philipp Gassert, Heidelberg
Die wechselvolle Geschichte der deutschen Amerikaforschung zwischen Erstem Weltkrieg und früher
Bundesrepublik wird in ihren doppelten zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet: Auf der einen Seite die
amerikanischen Reedukations- und Reorientierungsbemühungen der Nachkriegszeit („Amerikaforschung als
Demokratisierungswissenschaft“) sowie die Einflüsse der Area Studies und American Studies in den USA; auf
der anderen Seite die personellen und inhaltlichen Kontinuitäten, die von der fächerübergreifenden Auslandsund Amerikawissenschaft der Weimarer Republik und des Dritten Reiches („Amerikaforschung als politische
Geländekunde“) in das „kooperative Projekt“ westdeutscher Amerikastudien münden.
Vietnam in Deutschland: Amerikas Krieg und die Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik
Wilfried Mausbach, Heidelberg
Dieser Beitrag will die Bedeutung des Vietnamkrieges für die Bundesrepublik anhand zweier konkurrierender
Diskurse nachzeichnen: im ersten Fall geht es um die Analogie zwischen Berlin und Saigon; im zweiten Fall um
diejenige zwischen Vietnam und Auschwitz. Beide handeln erst in zweiter Linie vom deutsch-amerikanischen
Verhältnis, in erster Linie aber von Deutschland selbst. Die in ihnen konstruierte Bedeutung Vietnams bezog
sich nicht nur auf kollektive Erfahrungen, die im eigenen nationalen Rahmen anschlussfähig waren, sondern sie
diente zugleich der eigenen politischen und kulturellen Selbstvergewisserung bzw., aus oppositioneller
Perspektive, dem Umbau des politischen und kulturellen Gefüges der eigenen Gesellschaft.
Kommentar
Axel Schildt, Hamburg
5.12
Traditionale Elite und neue Gesellschaft. Adlige Gesellschaftsentwürfe in Mittel- und
Osteuropa im 19. Jahrhundert
37
Leitung: Michael Müller, Halle und Heinz Reif, Berlin
Einleitung
Michael Müller, Halle
Kommentar
Heinz Reif, Berlin
Polen
Witold Molik, Posen
Böhmen
Milos Rezník, Leipzig/ Prag
Ungarn
Victor Karady, Paris
Rußland
Martin Schulze Wessel, Halle
Kurland
Matthias Mesenhöller, Leipzig
Preußen
Monika Wienford, Bielefeld
5.13
Der Sozialstaat – ein europäisches Modell für die Welt?
Leitung: Hans-Jürgen Puhle, Frankfurt/M.
Gesamt
In dieser Sektion soll es im wesentlichen um Prozesse der Proliferation von Modellen und Mechanismen
europäischer Sozialstaatlichkeit in die aussereuropäische Welt gehen, um hinderliche und förderliche
Konstellationen, neue Mischformen und die damit verbundenen Transfer- und Kommunikationsprozesse.
Besondere Aufmerksamkeit soll dabei den jeweiligen Prioritäten, eigenen Akzenten in unterschiedlichen
politischen und gesellschaftlichen Kontexten, den Adaptationsprozessen und den Problemen des Umbaus und
der Reformfähigkeit der Systeme zukommen.
Europäisierung, Amerikanisierung, oder was? Nordatlantische Entwicklungsmuster und die
außereuropäische Welt
38
Hans-Jürgen Puhle, Frankfurt/M.
‚Westliche Modernisierungen’ sind nicht einheitlich verlaufen und weisen doch spezifische gemeinsame
Charakteristika auf: Hier werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklungswege (trajectories)
der Länder Westeuropas und Nordamerikas herausgearbeitet, in verschieden akzentuierten Mischungen aus
Faktoren der Bürokratisierung, Industrialisierung und Demokratisierung. Die einzelnen Ausprägungen dieses
‚atlantischen Syndroms’ (und deren zunehmende Konvergenzen im 20. Jahrhundert) werden auf ihre prägenden
Funktionen für die jeweilige Sozialstaatlichkeit untersucht und mit aussereuropäischen Entwicklungsmustern
verglichen.
Wohlfahrtsstaat oder Wohlfahrtsgesellschaft? Die USA seit 1880
Marcus Gräser, Frankfurt/M.
Verspätung und Rückständigkeit des amerikanischen Wohlfahrtstaates werden im allgemeinen als die Folge
eines Ausbleibens genuin europäischer Faktoren (Anstaltsstaat, Bürokratisierung, politische Arbeiterbewegung)
analysiert. Tatsächlich aber folgten die USA dem Muster einer welfare society, die im Primat der privaten,
vereinsbasierten Fürsorge den schlüssigen Ausdruck eines bürgerlichen, republikanischen, anti-bürokratisch
motivierten Gemeinwesens sah. Praxis und regulative Idee der welfare society erschwerten das welfare state
building und blockierten das Lernen von den entfalteten Wohlfahrtsstaaten in Deutschland und England. Erst das
Versagen der privaten Fürsorge in der Großen Depression der Jahre nach 1929 ließ den welfare state des Social
Security Act 1935 möglich werden.
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik in Japan um 1900
Wolfgang Schwentker, Essen
Der Vortrag behandelt den Transfer und die praktische Umsetzung der deutschen Sozialpolitik und
Sozialgesetzgebung im Japan der späten Meiji-Zeit. Für Japan war dies eine Epoche beschleunigter
Modernisierung. Insbesondere wird danach gefragt, inwieweit die japanische "Vereinigung für Sozialpolitik"
ihrem deutschen Vorbild in Themenstellungen und Lösungsvorschlägen zur Zeit der Industrialisierung Japans zu
folgen bereit war und an welchen Stellen sie eigene Akzente bei der Entstehung des modernen Sozialstaats in
Japan gesetzt hat.
Structural Reform of Social Security in Latin America
Carmelo Mesa-Lago, Pittsburgh
An breitem empirischen Material untersucht wird der grundlegende strukturelle Umbau (überwiegend:
Privatisierung) der sozialen Sicherungssysteme in 10 bis 12 ausgewählten lateinamerikanischen Ländern
während der letzten 20 Jahre, insb. im Hinblick auf die Rentenversicherung, die Reform der
Gesundheitsversorgung und den (wesentlich weniger entwickelten) Bereich der Sozialhilfe (welfare, social
assistance). Dabei werden im Kontext der breiteren Entwicklungsbedingungen (Wirtschaftskrise, neoliberale
Neuorientierung, Exportumstellung, Deindustrialisierung) durchaus unterschiedliche Kombinationen
verschiedener Reformtypen mit verschiedenen Ergebnissen festgestellt.
Vom Betrieb zu Markt und Staat: Umbau der Sozialpolitik im gegenwärtigen China
Eberhard Sandschneider, Berlin
39
Kommentar
Marianne Braig, Berlin
5.14
Stefan George und die Geschichtswissenschaft. Versuche zu einer Bilanz
Leitung: Ulrich Raulff, Berlin und Johannes Fried, Frankfurt/M.
Arthur Salz – ein Ökonom zwischen Max Weber und Stefan George
Johannes Fried, Frankfurt/M.
Percy Gothein und die Entdeckung des politischen Humanismus
Stephan Schlak, Berlin
Gemina persona – Ernst H. Kantorowicz
Olaf Rader, Berlin
Die amerikanischen Freunde: Erich von Kahler, Ernst Kantorowicz und Ernst Morwitz
Ulrich Raulff, Berlin
Mythische Gestalt – magischer Name – historische Person: Friedrich Gundolfs Bibliothek
zum Nachleben Caesars und die Traditionsforschung
Michael Thimann, Berlin
5.15
Skandal und Öffentlichkeit in der Diktatur
Leitung: Martin Sabrow, München/ Potsdam
Der folgenlose Skandal. Korruptionsaffären im Nationalsozialismus
Frank Bajohr, Hamburg
Trotz der propagandistisch gelenkten und deformierten Öffentlichkeit des "Dritten Reiches" entwickelte sich die
im NS-Regime weit verbreitete Korruption zu einem Skandalphänomen, das in den informellen Öffentlichkeiten
von der Bevölkerung vehement diskutiert und kritisiert wurde, wenngleich es stets im Bereich der partiellen
Regimekritik verblieb und niemals die NS-Herrschaft insgesamt in Frage stellte. Der Beitrag skizziert die
Skandalisierung der Korruption und fragt nach ihren Folgen für die Öffentlichkeit des "Dritten Reiches" und die
Beziehungen zwischen NS-Regime und Bevölkerung.
Priesterprozesse und Euthanasieprotest. Skandalisierung durch und gegen das NS-Regime
Winfried Süß, München
40
Die Predigt des Bischofs von Münster am 3. August 1941 war weder der erste noch der einzige öffentliche
Protest eines kirchlichen Würdenträgers gegen das “dämonische Werk der Euthanasie” (Kardinal Faulhaber),
zweifellos aber derjenige, der bei den Machthabern und den Gegnern des “Dritten Reiches” das größte Aufsehen
erregte.
Welche Sonderbedingungen waren dafür verantwortlich, daß eine Predigt in der diktatorisch verformten
Öffentlichkeit des “Dritten Reiches” eine solche Resonanz erzielen konnte? Was unterschied diesen
erfolgreichen Akt der Skandalisierung gegen das NS-Regime von anderen weniger erfolgreichen Formen des
Aufbegehrens gegen die nationalsozialistischen Krankenmorde? Und schließlich: Wie begegnete das Regime
dieser Herausforderung? Eine Rekonstruktion der kommunikativen und repressiven Strategien, die von
verschiedenen Teilen des nationalsozialistischen Machtapparats zur Einhegung des Skandals entworfen wurden,
liefert Einblicke in die Risikokalkulationen und Güterabwägungen, die mit der Durchführung der Krankenmorde
verbunden waren. Sie verweist zudem auf grundlegende Strukturprobleme der NS-Herrschaft, insbesondere auf
die Gefährdung der charismatischen Diktaturlegitimierung durch öffentlich ausgetragene Wertkonflikte.
Skandal ohne Öffentlichkeit: Die Aufdeckung der Verbrechen Stalins
Susanne Schattenberg, Nürnberg
Der Skandal ist ein Ritual mit karnevalesken Elementen, in dem scheinbar „das Volk“ über „die Mächtigen“
triumphiert. Im Stalinismus wurde dieses Machtmittel instrumentalisiert, um der Bevölkerung zu suggerieren,
der Terror geschehe in ihrem Namen und ihrem Interesse. Chruščev schwor dieser Kampagnenart ab, versuchte
aber den dosierten Skandal der Stalinschen Verbrechen gegen seine Kontrahenten einzusetzen und dabei dieses
Wissen nur langsam über die Parteiöffentlichkeit hinausdringen zu lassen. Doch warum setzte die Parteiführung
die Gesellschaft nach dem XX. Parteitag 1956 nur in wohldosierten Portionen über den Stalinschen Personenkult
in Kenntnis, während sie nach dem XXII. Parteitag 1961 eine breite Diskussion der Stalinschen Verbrechen
offenbar nicht mehr für riskant hielt?
Skandalisierung als Herrschaftsinstrument in der früheren DDR am Beispiel der Volkspolizei
Thomas Lindenberger, Potsdam
Das Fehlen von staatsunabhängiger Polizeikritik und damit von öffentlich in den Medien ausgeschlachteten
Polizeiskandalen begleiteten zwangsläufig die diktatorische Steuerung von Öffentlichkeit in der DDR. Vor allem
in den späten fünfziger Jahren skandalisierte statt dessen die Partei in der internen Kommunikation Mißstände in
Dienststellen der Deutschen Volkspolizei, und dies nicht nur, um die Arbeitsmoral und politische
Zuverlässigkeit des einfachen Wachtmeisters zu erzwingen, sondern auch um deren Chefs im Ministerium des
Innern an die kurze Leine des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates zu nehmen. Wie am Beispiel des
Films „Spur der Steine“ (DDR 1966) abschließend zu zeigen ist, wußte sich aber auch die Polizeiführung selbst
gegen die zarten Ansätze öffentlicher Polizeikritik, wie sie Filmemacher und Autoren in der „liberalen“ Phase
der Kulturpolitik bis 1965 vereinzelt wagten, durch Skandalisier-Inszenierungen zu wehren.
Die Wiedergeburt des Skandals: Zum Formenwandel öffentlicher Empörung in der späten
DDR
Martin Sabrow, München/ Potsdam
Entgegen landläufigen Annahmen haben auch Diktaturen ihre Skandale – wenn auch in der Regel in besonderer
Ausbildung. Skandale stellen in diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts außergewöhnliche
41
Durchbruchstellen der behaupteten identitären Verschmelzung von Volk und Führung dar, mit der sich
Diktaturen in der Moderne legitimieren: Im Skandal als dem systemwidrigen Unfall treten die Mechanismen der
diktatorischen Konsensbildung zutage – und ihre Grenzen. Was kann eine Untersuchung der Beziehung
zwischen empfundenen Mißständen und ihrer öffentlichen Behandlung für das Verständnis diktatorischer
Herrschaft im Zusammenspiel von „oben“ und „unten“ und in der Interaktion zwischen Herrschern und
Beherrschten beitragen?
5.16
Entdecken oder gestalten, entwerten oder erhalten. Der Umgang mit Geschichte in
städtischen Politikentscheidungen und Zukunftsentwürfen des 20. Jahrhunderts
Leitung: Adelheid von Saldern, Hannover und Dieter Schott, Leicester
Einführung
Adelheid von Saldern, Hannover
Ziel der Sektion ist, herauszuarbeiten, wie die jeweiligen Anknüpfungen an die Geschichte bzw. die
Verwerfungen von historischen Traditionen sowie die damit verbundenen Zukunftsvorstellungen in den
einzelnen Phasen geprägt waren. Erinnert sei zum Beispiel an die Entwertung von Geschichte durch den Abriss
geschichtsträchtiger Gebäude, an denkmalpflegerische Tätigkeiten, die auf Erhaltung ausgerichtet waren, an das
Entdecken von Geschichte, nicht zuletzt durch invention of tradition sowie an die Gestaltung von Geschichte
und vergangener Lebenswelten durch Museen, Jubiläen, Denkmäler etc. Der Rückblick auf die Geschichte
bedeutete stets auch einen Blick in die Zukunft, der nicht selten mit visionären Planungen im jeweiligen
gesellschaftlichen und politischen Gesamtrahmen und den darauf beruhenden Zukunftsvorstellungen verbunden
war.
Zukunft und Geschichte der Stadt: Stadtplanungen im 20. Jahrhundert
Werner Durth, Darmstadt
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war die Reform des Städtebaus mit der Absage an historisch überkommene
Stadtstrukturen verbunden. Zwar bestimmten unterschiedliche Gesellschaftsleitbilder die Stadt der Zukunft, doch
bildete die Absage an die „steinerne Stadt“ des 19. Jahrhunderts den gemeinsamen Nenner. Erst im letzten
Viertel des Jahrhunderts erfolgte in Reaktion auf das Neue Bauen der Zwischenkriegszeit und auf die Folgen des
Wiederaufbaus ein weitreichender Wechsel der Leitbilder in Architektur und Stadtplanung, die gegenwärtig in
einer breiten Strömung "traditionalistischen" Bauens und in "kritischer Rekonstruktion" ausradierter
Stadtgrundrisse ihre gegenständliche Entsprechung finden.
Zukunft und Geschichte der Stadt: Stadtrepräsentationen im 20. Jahrhundert
Dieter Schott, Leicester
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kann man von einer kontinuierlichen und zunehmend systematischen
Öffentlichkeitsarbeit deutscher Stadtverwaltungen sprechen, die eine Vielzahl wechselnder Ziele verfolgt und
unterschiedliche Adressatengruppen anspricht. Der Vortrag wird am Beispiel von Stadtjubiläen und städtischen
Großereignissen, städtischer Öffentlichkeitsarbeit, städtischen Wahrzeichen und kommunaler Geschichtsarbeit
untersuchen, wie wechselnde Lesarten der jeweiligen Stadtgeschichte Zukunftsprojektionen mit prägten, wie
42
Stadtrepräsentationen gestaltet und rezipiert wurden und wie zukunftsorientierte Stadtpolitik wieder auch auf die
Geschichtlichkeit der Städte rückwirkte.
Traditions and Visions – Rethinking Provincial Cities in Europe 1960-1980
Helen Meller, Nottingham und David Pomfret, Nottingham
After World War Two, cities everywhere were faced with the challenge of reconstruction. In response to the almost
wanton destruction was a new hope. The future was to be one where all urban dwellers would enjoy an environment
which was cleaner, healthier and modern. By the 1960s, however, the vision had become tarnished. The rebuilding
and modernising of cities had not met the aspirations of the people. There was more demand for personal and public
space for leisure and pleasure. The huge problems of the larger cities and ports left them vulnerable when trying to
meet these changing aspirations. It was in smaller cities, with established urban traditions, where experiments to
pioneer new responses to 'green' space developed. 'Green' space was an important part of a new vision of sustainable
urban growth. Two totally contrasting examples of how this came about are Freiburg im Breisgau and Bologna, two
old university cities that became European leaders in rethinking the use of 'green' urban space.
Geschichtskultur und Histo-Schick. Industriegeschichte in altindustriellen Städteregionen
zwischen Museum und Themenpark. Das Ruhrgebiet und Nordostengland 1970-2000
Heinz Reif, Berlin
Der Vortrag geht in vergleichender Perspektive der Frage nach, welches Gewicht und welche Funktion die
industrielle Vergangenheit beider Städte gewonnen hat im Prozess des strukturellen Wandels, der
Deindustrialisierung und der kommunalen (wie regionalen) Politik städtischer Revitalisierung. Oberhausen und
Middlesbrough sind Partnerstädte und repräsentieren in den Industriestadtagglomerationen, denen sie zugehören,
typologisch die Industriestadt, welche auf der grünen Wiese entstand, weitgehend ohne vorindustrielle städtische
Traditionen.
Gesucht wird zum einen nach den Spuren der vergangenen Industriegeschichte im Sprach-Handeln der
kommunalen politischen Akteure und in der Topographie, zum anderen nach den amalganen Verbindungen (mit
Kunst, Ökologie, Erlebniskonsum etc.), die bestimmte Erinnerungsfragmente in den Zukunftskonzepten dieser
Städte eingegangen sind. Wie brauchbar war die Industriegeschichte für die Erneuerungsvisionen beider Städte,
und wie anpassungsfähig?
5.17
Naturwissenschaftler im Nationalsozialismus
Leitung: Reinhard Rürup, Berlin und Wolfgang Schieder, Köln
Einführung
Wolfgang Schieder, Köln
Reinhard Rürup, Berlin
Der Psychiater Ernst Rüdin
Volker Roelcke, Lübeck
43
Ernst Rüdin (1874-1952) war von 1917 bis 1945 Leiter der weltweit ersten Forschungseinrichtung für
psychiatrische Genetik an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie im Kontext der Kaiser-WilhelmGesellschaft. Vor und auch nach 1933 galt er international als einer der führenden Forscher seines Faches.
Gleichzeitig war er ein Protagonist der deutschen Eugenik und mitverantwortlich für die nationalsozialistischen
Programme der Zwangssterilisation und Krankentötungen ("Euthanasie"). Der Beitrag analysiert am Beispiel
von Biographie und Werk Rüdins die untrennbare Verknüpfung von Eugenik und psychiatrischer Genetik in der
ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts.
Der Biologe Richard Goldschmidt
Helga Satzinger, Berlin
Richard Goldschmidt (1878-1958), Genetiker und Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, wurde
1936 zur Emigration gezwungen. Die rassistische Deutung seiner Forschungen über die Vererbung des
Geschlechts konnte er in den zwanziger Jahren nicht verhindern, seine Vorstellung von der Wirkungsweise der
Gene jedoch wurde mit seiner Emigration ins wissenschaftliche Abseits verdrängt.
Der Züchtungsforscher Hans Stubbe
Susanne Heim, Berlin
Hans Stubbe, ein Schüler Erwin Baurs und von 1943 an Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für
Züchtungsforschung, war einer der führenden deutschen Genetiker in der NS-Zeit sowie später in der DDR.
Obwohl er politisch keine Sympathien für den Nationalsozialismus hegte, versuchte er die materiellen und
ideellen Ressourcen, die der Nationalsozialismus ihm bot, für eine erfolgreiche Karriere zu nutzen. Am Beispiel
Stubbes sollen in dem Vortrag Überlegungen zur wechselseitigen Indienstnahme von Wissenschaft und Politik
im Nationalsozialismus angestellt werden.
Der Biochemiker Adolf Butenandt
Carola Sachse, Berlin
Der Biochemiker und Nobelpreisträger von 1939 förderte nach 1945 den universitären Neuanfang des
umstrittenen Erbpathologen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Otmar von Verschuer. Zugleich verhinderte er
dessen Wiederaufnahme in die umgegründete Max-Planck-Gesellschaft. In der Analyse dieses Doppelspiels
werden die vergangenheitspolitischen Interessen Butenandts erkennbar, die sich sowohl auf seine
biowissschaftliche Profession als auch auf die Max-Planck-Gesellschaft erstreckten, deren Präsident er später
werden sollte.
Der Strömungsforscher Ludwig Prandtl
Moritz Epple, Mainz
Der Vortrag diskutiert die Anpassung der Forschungstätigkeit des Göttinger Kaiser-Wilhelm-Instituts für
Strömungsforschung an die Bedingungen von Aufrüstung und Krieg in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Es
soll gezeigt werden, daß die Göttinger Aero- und Hydrodynamiker Nationalsozialismus, Aufrüstung und Krieg
als einen Raum begriffen, der ihnen vielfältige und attraktive Forschungsmöglichkeiten eröffnete. An der
Gestaltung dieses Möglichkeitsraumes war Prandtl selbst maßgeblich beteiligt.
44
5.18
Zwischen reformerischem Pragmatismus und neokonservativer Tendenzwende:
Westdeutscher Konservatismus von den 1960er bis in die 1980er Jahre
Leitung: Axel Schildt, Hamburg
Zum Forschungsstand: Die Rekonstruktion des Konservatismus in den 1960er und 1970er
Jahren
Axel Schildt, Hamburg
Europa als konservatives Projekt. Der Europadiskurs im Wandel des westdeutschen
Konservatismus zwischen 1960 bis 1980
Vanessa Conze, Tübingen
Die Analyse konservativer, konfessionell-katholisch geprägter Europaideen zwischen den fünfziger und
siebziger Jahren zeigt den Wandel, den der westdeutsche Konservatismus in diesen Jahrzehnten durchlief.
Antimoderne und antiwestliche Vorbehalte, die ihre Wurzeln in der Zwischenkriegszeit hatten, wurden seit dem
Ende der fünfziger Jahre in einem langwierigen Prozeß abgelegt. Dies ermöglichte konservativen
Europavorstellungen - nach der Blütezeit „abendländischen“ Denkens in der frühen Nachkriegszeit - Anfang der
siebziger Jahre eine Phase neuer Wirksamkeit.
Hochschulreform und Bildungskrise. Christdemokratische Bildungspolitik, 1960 und 1980
Philipp Gassert, Heidelberg
Die bildungspolitischen Debatten der 1960er und 1970er Jahre werden am Beispiel der badenwürttembergischen Hochschulpolitik im Kontext ihrer nationalen und internationalen Zusammenhänge
untersucht. Diese bildungspolitische Reformpolitik stand zunächst im Zeichen eines parteiübergreifenden,
„liberalen“ Konsens, der unter dem Eindruck des Kulturbruchs um 1968 und der beginnenden Diskussion über
die „Grenzen des Wachstums“ zerbrach. Unter dem Schlagwort der neokonservativen „Tendenzwende“ suchten
einige der ehemaligen Vertreter einer pragmatischen Reformpolitik aus dem christdemokratischen Lager die
Bildungs- und Planungsutopien der 1960er und der frühen 1970er Jahre vor dem Hintergrund der krisenhaften
Entwicklung an den Universitäten einzuhegen.
Auf der Suche nach dem neuen Ort. Katholizismus und konservatives Spektrum nach dem
Zweiten Vatikanischen Konzil
Michael Hochgeschwender, Tübingen
Der Vortrag behandelt die ideellen, organisatorischen und personellen Wandlungen des deutschen Katholizismus
von den späten 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre hinein. Dabei geht es primär um die weltanschaulichen
Reaktionen auf gesamtgesellschaftliche und binnenkatholische Modernisierungsprozesse, die seit Mitte der
1960er Jahre dazu führten, daß sich der römische Katholizismus weltweit ideologisch neu zu positionieren
begann, wodurch er seine legitimatorische Funktion als verläßliche konservative Ordnungsmacht partiell
einbüßte.
The Neoconservative Moment in the History of the Federal Republic, 1968-1985
45
Jerry Z. Muller, Washington
The German neo-conservatives were intellectuals who during the 1950s and 1960s had regarded themselves as
reformist supporters of the institutions of the Bundesrepublik. After 1968, in response to the rise of the New Left
and its influence on educational policy, foreign policy, and the self-interpretation of the Federal Republic, the
neo-conservatives articulated a defense of existing liberal institutions which was distinct from earlier forms of
conservative or right-wing thought in Germany. By creating a brand of conservatism not defined by nationalism
and no longer confined by region and confession, they contributed to the modernization of German political
culture.
Kommentar
Paul Nolte, Bremen
5.19
Traditionelle Agrargesellschaften und Visionen politischer Modernisierung. Ein
interkultureller Vergleich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Leitung: Peer Schmidt, Erfurt und Gunther Mai, Erfurt
Einführung
Gunther Mai, Erfurt und Peer Schmidt, Erfurt
Visionen einer traditionalen Moderne. Reaktionen agrarischer Gesellschaften und
Bewegungen in Europa auf die Herausforderung der industriellen Moderne
Gunther Mai, Erfurt
Die Wahrung der Tradition? Die Bedeutung der Agrarfrage im Industrialisierungsprozeß in
Lateinamerika: Die mexikanische Revolution (1910-1940)
Peer Schmidt, Erfurt
Bäuerliche Tradition und politische Modernisierung: Vom sozialen Protest zur Vision der
„Bauernrevolution“ in China (1930-1945)
Thoralf Klein, Erfurt
Syrisches (flaches) Land und arabische Nation: Tradition versus Vision?
Birgit Schäbler, Erfurt
5.20
Ein „europäischer Sonderweg“? Visionen und(Re-)Konstruktionen der europäischen
Modernität im interkulturellen Vergleich (20. Jahrhundert)
Leitung: Alexander Schmidt-Gernig, Berlin
Die besondere Modernität Europas und ihre Antinomien im interkulturellen Vergleich
46
Shmuel N. Eisenstadt, Jerusalem
Das kulturelle und politische Programm der Moderne breitete sich von Westeuropa nach Nord- und Südamerika,
nach Osteuropa und dann nach Afrika und Asien aus. In der soziologischen und historischen Theorie neigte man
lange dazu, die europäische Moderne als Moderne schlechthin, als Beginn eines Konvergenzprozesses zu
verstehen. Dagegen geht man heute eher von einer Vielfalt der Moderne aus. In diesem Beitrag werden die
Besonderheiten der europäischen Moderne im Zusammenhang mit dem ständigen Wandel und den
verschiedenen Dimensionen der Moderne diskutiert. Als Vergleichspunkte werden im wesentlichen
Nordamerika und Japan hinzugezogen.
Die Wahrnehmung Europas und der europäischen Modernität in China nach dem Ersten
Weltkrieg und nach dem Kalten Krieg
Dominic Sachsenmaier, Cambridge
Die Enttäuschung durch die Versailler Friedensverträge verstärkte die Suche Chinas nach Selbstbehauptung
durch Übernahme westlicher Elemente. Die verschiedenen Ansätze zur Gestaltung Chinas konkurrierten stets
auch darum, den „Westen“ und seine verschiedenen Nationalgesellschaften deuten zu können. Dabei wurde
Europa als Ebene zwischen Stereotypisierungen des „Westens“ und seiner einzelnen Nationalgesellschaften mit
jeweils unterschiedlichen Attributen belegt. Diese sind nicht nur innerhalb des chinesischen Kontexts zu
verstehen, sondern – selbst im Falle des Konservatismus – als Teile transnationaler Ideengemeinschaften. Ein
Ausblick vergleicht die heutigen Debatten zu Europa.
Europäische Historiker im Exil: Die historiographische (Re-)Konstruktion Europas und die
Erfahrung der Schattenseiten der „Moderne“ (30er bis 60er Jahre)
Martin Kirsch, Berlin
Die persönliche Erfahrung des Exils teilweise bereits auch des Ersten Weltkriegs spielte bei der
historiographischen (Re-)Konstruktion Europas eine wichtige Rolle. Der Wunsch nach Erklärung des
Zusammenbruchs des europäischen Mächtesystems und der europäischen Zivilisation führte zu einer Suche nach
dauerhaften positiven Werten, die dem Menschenbild des Faschismus und nach 1945 auch des Kommunismus
entgegengestellt werden konnten. Der interkulturelle Vergleich erfolgte dabei zumindest implizit mit den USA
oder Russland. Das Europabild der Historiker spiegelte damit in gewisser Weise auch die politischen
Entwicklungen der Zeit wider.
„Euro-Visionen“ – Szenarien der Zukunft Europas in der internationalen Zukunftsforschung
der 60er und 70er Jahre
Alexander Schmidt-Gernig, Berlin
Besonders signifikanter Ausdruck des allgemeinen „Zukunfts-Booms“ der 60er Jahre war die Etablierung einer
Fülle von „think tanks“ in den USA und Europa, die sich systematisch und mit wissenschaftlichinterdisziplinärem Anspruch mit „der Zukunft“ von Politik und Gesellschaft in zunehmend globaler Perspektive
zu beschäftigen begannen. Diese neue Form der „Zukunftsforschung“ bzw. „futurology“ oder „prospective“
zielte dabei ganz konkret auf direkte Politikberatung und beeinflusste damit auch in unterschiedlichem Ausmaß
politische Handlungsstrategien in der Praxis. Der Beitrag versucht, einige der wichtigsten Szenarien für Europa
zu skizzieren und vergleichend zu bewerten.
47
5.21Politik – Gesellschaft – Geschichte: Wie ging die deutsche Gesellschaft nach 1945 mit
Geschichte um?
Leitung: Peter Steinbach, Karlsruhe
Der Systembruch von 1945 in der kollektiven Erinnerung der Deutschen: Nationale Identität
und Geschichtsbewußtsein – empirisch erforscht
Horst-Alfred Heinrich, Gießen
Vergangenheitspolitik – Verjährungsdebatten und Strafverfolgungspolitik in den sechziger
Jahren
Marc von Miquel, Bochum
Kritische Vergangenheitspolitik und Wertkonflikte in Westdeutschland in den fünfziger und
sechziger Jahren
Michael Kohlstruck, Berlin und Claudia Fröhlich, Berlin
Zeitgeschichte – die Durchsetzung einer geschichtswissenschaftlichen Bindestrichdisziplin in
der Politikwissenschaft
Peter Steinbach, Karlsruhe
5.22
Staatssymbolik und Geschichtskultur im „neuen“ Osteuropa
Leitung: Stefan Troebst, Leipzig und Wilfried Jilge, Leipzig/ Kiew
Gesamt
Nach dem Zerfall der sowjetischen, jugoslawischen und tschechoslowakischen Bundesstaaten steht in den
Nachfolgestaaten das Problem der Konstruktion einer Nationalgeschichte im Zentrum öffentlicher Debatten. So
werden mit einer neuen nationalstaatlichen Symbolik sowie mit Gedenk- und Feiertagen bestimmte Ereignisse
und Persönlichkeiten mit dem Ziel erinnert (oder vergessen), die Existenz der heutigen Staaten durch den
Nachweis einer bis in älteste Zeiten zurückgehenden Tradition zu legitimieren. Zwischen Geschichtskultur und
Erinnerung einerseits und Nationsbildungsprozessen andererseits besteht ein komplexer Zusammenhang.
Divergierende Erinnerungskulturen in der Republik Kroatien: Nationalismus als
verbindendes Element einer ideologisch gespaltenen Gesellschaft
Holm Sundhaussen, Berlin
Die gesamte Ära Tito hindurch waren politische Elite und Gesellschaft der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien
entlang einer ideologischen Trennlinie gespalten: Den Anhängern des autoritären „Unabhängigen Staates
Kroatien“ (NDH) von Hitlers und Mussolinis Gnaden, wie er von 1941 bis 1944 bestanden hat, standen die
48
Parteigänger des kroatischen Widerstandes kommunistischer Prägung gegen eben dieses staatsähnliche Gebilde
gegenüber. Franjo Tudjman, der erste Präsident der 1991 gegründeten Republik Kroatien, verkörperte diesen
Widerspruch gleichsam in seiner Person, und die šahovica, das rot-weiße Schachbrettwappen, symbolisierte
diese nationale Idee.
Tradition und Innovation in der Staatssymbolik der Slowakei nach 1992
Silvia Miháliková, Bratislava
Für den politischen Entwurf neuer Staatsgebilde, wie die Slowakei, ist die Auswahl und Kombination der
Staatssymbolik ein wichtiger Prozeß zur Bildung ihrer staatlichen bzw. nationalen Identität. Nationale Feiertage
sowie die Symbolik des Geldes, der Straßennamen und Denkmäler sind unterschiedliche Ebenen der
symbolischen Staatlichkeitsbildung. Die Interpretation dieser Symbolik in den Medien und in Expertenkreisen
führte in der Slowakei zur gesellschaftlichen und politischen Polarisierung. Das Verhältnis zwischen Tradition
und Innovation spielte dabei eine wesentliche Rolle.
Irredentismus als historischer Selbstentwurf in Wissenschaftsdiskurs und Staatssymbolik der
Republik Makedonien
Christian Voss, Freiburg/Br.
Hinter dem Streit und den „Stern von Vergina“ in der (1995 modifizierten) makedonischen Flagge steht die
zentrale Funktion des seit 1913 griechischen Teils der Großregion Makedonien für die ethnisch-nationale
Eigendefinition im jugoslawischen und post-jugoslawischen Makedonien. Nach 1991 wird – auch auf Druck der
Diaspora – die „Brüderlichkeit und Einigkeit“-Ideologie schrittweise durch ein auf die Antike und osmanische
Territorialgrenzen fixiertes und somit irredentistisches Selbstverständnis abgelöst, das auch auf eine Umwertung
des zentralsten Nationalsymbols der Makedonen, ihre Standardsprache, abzielt.
„National im Inhalt – sowjetisch in der Form?“ Ukrainische Geschichtspolitik und
nationalstaatliche Symbolik seit 1991
Wilfried Jilge, Leipzig/ Kiew
Die Schaffung einer neuen nationalstaatlichen Symbolik ist in der Ukraine weiterhin umstritten. Entsprechend ist
die Frage, ob und wie in den letzten Jahren versucht wurde, russophone und andere kulturelle Identitäten und
verschiedene regionale Traditionen in die geschichtsträchtigen Identitätskonstruktionen der nationalstaatlichen
Symbolik zu integrieren, höchst aktuell. Desgleichen von Brisanz ist, wie Elemente des sowjetukrainischen
Geschichtsbildes und Formen der sowjetischen Geschichtskultur in das offiziöse nationale Geschichtsbild
zurückkehren und als überregionales Bindemittel bei der Konzeptualisierung der ukrainischen Nation eingesetzt
werden.
„Alle Attribute eines normalen Staates“? Staatssymbolik und Geschichtspolitik in den
Landesteilen Transnistrien und Gagausien der Republik Moldau
Stefan Troebst, Leipzig
In der Perestrojkaperiode entstanden in der Sowjetrepublik Moldawien neben einer moldauischen nationalen
Volksfrontbewegung die separatistischen Bewegungen der türksprachigen christlich-orthodoxen Gagausen im
Süden des Landes und der multiethnischen russophonen Wirtschafts-, Militär-, Staats- und Parteielite im Osten.
49
Während die 1990 proklamierte „Gagausische Sowjetrepublik“ mittels Verhandlungslösung 1994 als
„Autonomes Gebiet ‚Gagauz Yeri‘“ in den Gesamtstaat reintegriert werden konnte, kam es 1992 zu einem Krieg
zwischen der Zentralregierung und der abtrünnigen „Transnistrisch-Moldauischen Republik“ samt Bildung eines
„Pseudo-Staats“.
5.23
Geschichte und Medien zwischen Unterhaltung und Aufklärung – Diktaturen des 20.
Jahrhunderts in Film und Fernsehen der Bundesrepublik
Leitung: Barbara von der Lühe, Berlin
Das Leben unter Diktaturen – der Fernsehfilm der fünfziger und sechziger Jahre in der
Bundesrepublik
Knut Hickethier, Hamburg
Eine Form der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und mit der DDR im Fernsehfilm der Bundesrepublik
erfolgt über die Darstellung individueller Schicksale. Dabei werden unterschiedliche Strategien der
Individualisierung und der symbolischen Repräsentation von Machtverhältnissen verwendet, wobei sich daraus
relativ schnell spezifische Stereotypen der Darstellung undemokratischer Machtverhältnisse herausgebildet
haben.
An exemplarischen Beispielen - und hier wiederum an einem gezielten Vergleich von Motiven - werden Formen
der medialen Stereotypisierung und ihre tendenzielle Auflösung untersucht. Denn es zeigt sich, dass dieser
Motivgebrauch mit den jeweils dominanten gesellschaftlichen Auffassungen von der NS-Zeit und der DDR
korrespondiert, sich die Frage also beantworten lässt, wie sich die Totalitarismusthese in einem solchen
Motivgebrauch im fiktionalen Fernsehfilm wiederfindet, wie Strategien der Annäherung dieser wieder in Frage
stellen usf. Der Beitrag soll auch exemplarisch Ausschnitte aus Fernsehfilmen von Dieter Meichsner, Egon
Monk u. a. zur Anschauung bringen.
Vom „Dritten Reich“ zum „Holocaust“. Der Nationalsozialismus in
Dokumentationssendungen des Fernsehens der Bundesrepublik 1960-2000
Edgar Lersch, Halle
Mit der 13teiligen Dokumentarserie “Das Dritte Reich” begann 1960/61 das Deutsche Fernsehen die
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Seitdem ist das Thema in weiteren Serien und
Einzelsendungen, von übergreifenden Dokumentationen in allen drei öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen
und selten auch im privatkommerziellen immer wieder behandelt worden. Dokumentationen im Fernsehen
müssen einerseits im Hinblick auf ihren medialen Kontext analysiert und bewertet werden. Andererseits sind sie
integriert in den Diskurs der “öffentlichen Erinnerungskultur” der jeweiligen Epoche über die dunkelsten Jahre
der deutschen Geschichte, die ein kleiner werdender, jedoch immer noch nicht zu vernachlässigender Teil der
Bevölkerung selbst miterlebt hat. Selbstverständlich sind auch abhängig vom Stand der wissenschaftlichen
Debatte über diese Frage. In drei, vier exemplarischen Beispielen aus unterschiedlichen Zeiten soll in einem
historischen Rückblick dieses Beziehungsgeflecht vorgestellt werden. Aus dem Rückblick ergeben sich dann
möglicherweise in der Diskussion Standpunkte für den gegenwärtig „richtigen“ Umgang mit der NS - Zeit im
öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen in Deutschland.
Jugend und faschistische Verführungen bei Volker Schlöndorff
50
Bernd Möller, Austin
Schon beim ersten Anschauen von Schlöndorffs Film "Der Unhold" (1996) fällt dem Kenner
der früheren Werke des Filmemachers das Gewebe von Analogien und Beziehungen
zu seinen anderen Filmen auf. Die anfänglichen Szenen im Internat greifen
Elemente aus "Der junge Törless" (1966) auf. Der naive Unhold-Held mit der
Mentalität eines Knaben im Körper eines erwachsenen Mannes kann als Umkehrung des Oskars aus "Die
Blechtrommel" (1979) gelten, der die Mentalität eines Erwachsenen im
Körper eines Knaben besaß. Auch die spektakulären politischen Showelemente kollektiver Nazirituale in
"Der Unhold" gemahnen an ähnliche Veranstaltungen in "Die Blechtrommel".
Und Schlöndorffs Faszination mit den kriegslädierten baltischen und ostpreußischen Gegenden, die er in "Der
Fangschuss" (1976) und "Die Blechtrommel" etablierte, kehrt im "Unhold" neuerlich in einer invertierten
Abwandlung des Heimatfilms wieder. Gleichzeitig betritt der Regisseur mit "Der Unhold" Neuland. In Törless
ging es ihm um das Sadomasochistische, die psychosexuelle Komponente faschistischer Kontrolle, in der
Blechtrommel um die Aggression des Kleinbürgertums zur Zeit des Dritten Reichs. In "Der Unhold" verwendet
er eine umfassende Metapher, welche die verführerischen Attribute des Faschismus mit Pädophilie assoziiert.
Wie in Törless und Blechtrommel erörtert der Filmemacher im Unhold die Themen von Unschuld und Schuld,
wobei er diesmal nahe legt, dass Schuld wegen des Dritten Reichs nicht nur das Schuldbewusstsein über den
Holocaust, sondern auch das über das Leben Tausender junger Deutscher, die geopfert wurden, einschließen
sollte.
Ikonen des Jahrhunderts. Über die verschwindende Differenz von Authentizität und
Inszenierung der Bilder in der Geschichte
Reinhold Viehoff, Halle
Am Beispiel einiger Ikonen, die die Vorstellung von Sieg und Niederlage, Furcht und Schrecken, Triumph und
Untergang, Macht und Herrschaft in diesem Jahrhundert geprägt haben, wird die Frage diskutiert, wieweit in der
visuellen Medienkultur authentische Bilder immer schwieriger und seltener werden. Bilder wie das der auf dem
zerstörten Reichstag aufgepflanzten Fahne der Roten Armee, der Händedruck von Pieck und Grotewohl, der
Kniefall von Warschau machen bestimmte Gesten als politisch authentische nicht wiederholbar. Bilder wie die
der H-Bombe über dem Bikini-Atoll haben den Kalten Krieg und die balance of power visuell eingerahmt,
interpretiert und legitimiert. Bilder wie das der vor einem Napalmangriff der US-Amerikaner fliehenden Kinder
irgendwo in Vietnam haben sich in das visuelle Gedächtnis einer ganzen Generation eingetragen. In dem Beitrag
wird versucht, zentrale Ikonen aus dem historischen Zusammenhang dieses Jahrhunderts der Bilder so zu
rekonstruieren, dass deutlich wird, wie sehr durch solche Bilder die kulturelle Wahrnehmung sozusagen
medienpolitisch „diszipliniert“ wird. An die Stelle von authentischen Bildern tritt das visuelle Zitat, an die Stelle
von Tradition tritt die visuelle Inszenierung bewährter Bilder.
Wissen sichern ohne Histotainment – Zeitzeugen der NS-Zeit im Offenen Kanal Berlin
Barbara von der Lühe, Berlin
6.
Didaktik
6.1
Bilder als Quellen im Geschichtsunterricht
51
Leitung: Herwig Buntz, Erlangen
Gesamt
Mit Bildern als Quellen haben sich Fachwissenschaft und Fachdidaktik in den letzten Jahren verstärkt
beschäftigt. Trotzdem ist ihr Einsatz im Geschichtsunterricht noch immer die Ausnahme. Neuere Erkenntnisse
der Kognitionspsychologie und die Kommunikationswissenschaft zeigen die Bedeutung von Bildern für Lernen
und Verstehen und fordern eine „piktoriale Literalität“ als grundlegende Kompetenz für die Gegenwart. Die
Sektion greift diese Ansätze auf und gibt Anregungen für die praktische Umsetzung.
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Anmerkungen zu einem weit verbreiteten Irrtum
Elisabeth Erdmann, Erlangen
Häufig begegnet man der Vorstellung, Bilder benötigten keine Erläuterungen. Das lässt sich so freilich nicht
halten. Unbestritten ist, dass wir von Bildern nicht nur kognitiv, sondern auch emotional beeinflusst werden.
Dazu kommt, dass der Betrachter nicht nur Bilder wahrnimmt, sondern dass in ihm Bilder entstehen, die nicht
allein durch Wahrnehmung zustande kommen, sondern kulturell geprägt sind. Es ist notwendig, die
psychologische und kunstgeschichtliche Forschung zur Kenntnis zu nehmen und die Konsequenzen, die sich
daraus auf den Geschichtsunterricht ergeben, zu diskutieren.
Multiperspektivisches Lernen mit Bildern
Günther Kaufmann, Kronhagen
Wenn man Bilder als historische Quellen ernst nehmen will, muss man ihren motivlichen Zusammenhang
aufspüren. Dabei lassen sich häufig scheinbar belanglose Varianten als Darstellungen unterschiedlicher
Perspektiven erkennen. Die Sensibilität für solche Wahrnehmungen kann vor Missverständnissen der Bilder als
schlichte Wiedergabe der historischen Realität schützen. Denn Doppelbilder relativieren sich gegenseitig und
verweisen auf Interpretationsspielräume verschiedener Bildversionen.
Geschichtsaneignung durch Fotographie
Christoph Hamann, Berlin
Im kollektiven Bildgedächtnis haben Fotoikonen einen besonderen Stellenwert. Je stärker der Status eines
Symbols, desto mehr wird bei solchen Fotos vom konkreten historischen Moment der Aufnahme zugunsten des
Symbolwertes abstrahiert. Die Forderung, das Foto als Quelle ernst zu nehmen, bedeutet in diesen Fällen auch,
die Rezeptionsgeschichte einzubeziehen und nach den Gründen der Symbolbildung/Kanonisierung zu fragen.
Die Analyse von zwei Fotografien (1948: Rosinenbomber, 2001: Ground Zero Flag) arbeitet sich an diesen
Zusammenhängen ab.
Umgang mit Bildern. Probleme der redaktionellen Arbeit
Michael Sauer, Seelze
Bilder werden in Unterrichtsmedien noch nicht konsequent genug als Quellen angeboten und genutzt. Das geht
von Grundregeln der Präsentation bis zum methodischen Instrumentarium der Interpretation. Die Entwicklung
einer Bildgattungskompetenz von Schülerinnen und Schülern liegt noch in weiter Ferne. Allerdings ist die
52
traditionelle Vernachlässigung von Bildern als Quellen kein spezielles Problem der Geschichtsdidaktik oder des
Geschichtsunterrichts, sondern ein allgemeines der historischen Wissenschaft. In der fachwissenschaftlichen
Forschung, in Archiven, in Agenturen fehlt es an den notwendigen Vorarbeiten, die bei der Erstellung von
Unterrichtsmedien nicht geleistet werden können. Umso wichtiger ist die grundsätzliche Orientierung an einem
gewünschten Standard.
6.2
Geschichte im virtuellen Raum
Leitung: Klaus Fieberg, Leverkusen
Einführung
Klaus Fieberg, Leverkusen
LeMO – Das lebendige virtuelle Museum Online.
Konzeption – Erfahrungen – Perspektiven
Burkhard Asmuss, Berlin
Der Vortrag stellt die wichtigsten Komponenten des LeMO-Angebots dar und fasst die bisherigen Erfahrungen
hinsichtlich der Rezeption zusammen. Der Beschreibung der gegenwärtigen Projektarbeit zur Anpassung der
vorhandenen Inhalte an Lehrmaterialien folgen Thesen zur zukünftigen Nutzung von Museums-Websites durch
Schüler und Lehrer.
Dem Gedächtnis Gestalt geben: Computer-Rekonstruktionen zerstörter Bauwerke.
Anwendung, Sinn und Nutzen
Manfred Koob, Darmstadt
Ausgehend von verschiedenen 3D-Rekonstruktionen zerstörter bzw. in ihrer historischen Gestalt nicht mehr
existenter Bauwerke zeigt der Vortrag auf, welches Potenzial die digitalen Medien besitzen, um das vorhandene
Wissen zu verifizieren, zu fusionieren und gleichzeitig zu verdichten.
Colonia Ulpia Traiana. Ein Informationssystem zur Archäologie der römischen Stadt
Claus Dießenbacher, Dessau
Der Vortrag befasst sich mit dem multimedialen Informationssystem zur Archäologie der Colonia Ulpia Traiana
/ Xanten (CUT) sowie dem dreidimensionalen computererzeugten Schichtenmodell der Kulturlandschaft um die
ehemalige CUT und zeigt die die sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten der Vermittlung und Darstellung
archäologischer Befunde auf.
6.3
Kulturwissenschaftliche Erneuerung der Mittelalter-Didaktik
Leitung: Wolfgang Hasberg, Köln; Manfred Seidenfuß, Regensburg und Uwe
Uffelmann, Heidelberg
Einführung
53
Wolfgang Hasberg, Köln
Dialog über die Notwendigkeit neuer Impulse für die Mittelalter-Didaktik
Uwe Uffelmann, Heidelberg und Manfred Seidenfuß, Regensburg
Trotz eines partiellen Rückzugs von einer chronologischen Ausrichtung sind die Epochen in zahlreichen
Bundesländern weiterhin die fundamentale Ordnungsinstanz für das historische Lernen. Am Beispiel des
Mittelalters wird danach gefragt, inwiefern sich aus dieser historischen Kategorie Lernpotentiale eröffnen, wenn
die zentralen Gedanken der Geschichtsdidaktik (Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur) zugrunde gelegt
werden.
Vorstellungen und Wahrnehmungen mittelalterlicher Zeitzeugen. Neue Fragen an die
mittelalterliche Historiographie. Möglichkeiten und Probleme
Hans-Werner Goetz, Hamburg
Die "Vorstellungswelt" der Menschen bildet ein neueres Thema der Geschichtswissenschaft, das deren
Paradigmenwechsel zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung gut repräsentiert. Das Thema spiegelt neue,
anthropologische Perspektiven ebenso wider wie neuere Herangehensweisen (Methoden), ein verändertes
Erkenntnisinteresse (der mittelalterliche Geschichtsschreiber als Zeitzeuge, nicht als "Faktenlieferant") und ein
verändertes Verhältnis zu den Quellen (die Quelle als stilisierte Darstellung). Der Vortrag will diesen Sachverhalt
theoretisch reflektieren, am Beispiel des karolingischen Geschichtsbildes erläutern und Folgerungen für den
Geschichtsunterricht ziehen.
Vorstellungen und Wahrnehmungen: Reisen und Vielfalt der Kulturen im späteren Mittelalter
Folker Reichert, Stuttgart
Die Geschichte des Reisens läßt erkennen, in welchem Maße interkulturelle Begegnungen im Mittelalter
möglich waren oder auch mißlingen konnten. Fernreisende wie Marco Polo, Christoph Kolumbus oder Felix
Fabri erfuhren kulturelle Distanzen und erhielten einen Eindruck von der Vielfalt der Kulturen. Reflexionen über
die Unterschiede, Erinnerungen an heimische Maßstäbe und Vorurteile ergaben sich daraus. Kulturelle
Identitäten, aber auch die Grenzen von Wahrnehmungsvermögen und Handlungsspielräumen werden sichtbar.
Eckpunkte einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Mittelalter-Didaktik
Wolfgang Hasberg, Köln
Verstärkt wird die historische Mediävistik von der kulturwisssenschaftlichen Wende erfasst. Die Mittelalter-Didaktik
kann diesem Trend nicht vorbehaltlos nachfolgen, sondern muß sich die Frage stellen, inwieweit die dieser Strömung
zuzurechnenden Ansätze dazu in der Lage sind, historisches Denken und Lernen zu fördern. Die vorliegenden
Ansätze werden deshalb am Leitprinzip eines reflekierten Geschichtsbewusstseins gemessen und in ihrer Potenz für
die Förderung desselben an einem konkreten Beispiel beleuchtet. Schließlich sollen Umrisse eines
kulturwissenschaftlichen Curriculums für den Mittelalter-Unterricht zur Diskussion gestellt werden.
Aussprache/ Diskussion/ Zusammenfassung
Manfred Seidenfuß, Regensburg
54
6.4
Historische Sinnbildung
Leitung: Hans-Jürgen Pandel, Halle
Historische Sinnbildung als geschichtsdidaktisches Problem
Jörn Rüsen, Essen/ Witten-Herdecke
Geschichtsbewusstsein: Neuere Befunde und ältere Desiderate psychologischer Forschung
Jürgen Straub, Essen
Das Fremde aneignen? Historische Sinnbildung zwischen den Kulturen
Monica Juneja-Huneke, Halle/ New Delhi
Historische Sinnbildung in der Praxis des historischen Lernens
Hans-Jürgen Pandel, Halle
6.5
Die Vermittlung jüdischer Geschichte in Schulen, Universitäten und Museen
Leitung: Monika Richarz, Hamburg
Die Darstellung jüdischer Geschichte in deutschen Schulbüchern
Wolfgang Marienfeld, Hannover
Der Vortrag geht von den 1981 formulierten Empfehlungen der deutsch-israelischen Schulbuchkommission für
die deutschen und die israelischen Schulbücher aus und untersucht die nachfolgende Schulbuchgeneration in
Deutschland unter der Frage, inwieweit die Empfehlungen aufgenommen worden sind. Jüdische Geschichte hat
in den jüngeren Schulbuchwerken einen deutlich höheren Stellenwert bekommen; traditionelle Sichtweisen
jüdischer Geschichte - Juden nur als Objekte und Opfer - sind weitgehend erhalten geblieben.
Orchideenfach, Modeerscheinung oder ein ganz normales Thema? Jüdische Geschichte und
Kultur im universitären Rahmen
Michael Brenner, München
War die Judaistik seit den sechziger Jahren ursprünglich als eigenes Fach angelegt, so ist sie inzwischen häufig
als interdisziplinärer Studiengang oder als Schwerpunkt eines anderen Studienfaches anzutreffen. Der Vortrag
soll untersuchen, wie sich diese Entwicklung im Rahmen des insgesamt angestiegenen Interesses für jüdische
Thematik innerhalb der deutschen Gesellschaft gestaltete. Es soll auch darum gehen, die thematischen
Schwerpunkte herauszuarbeiten und deren Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs aufzuzeigen. Gehört die
Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur in die Rubrik „Orchideenfach?“ Oder auch umgekehrt: Läuft
man angesichts des mittlerweile inflationären publizistischen Gebrauchs jüdischer Themen auch in der
Wissenschaft die Gefahr einer Beliebigkeit, die auf bestimmte Ansprüche wie Sprachkenntnisse verrichtet?
55
Exemplarisches Lernen: Jüdische Geschichte im Kontext von Migrations- und
Minderheitengeschichte
Dan Diner, Leipzig
Musealisierung jüdischer Geschichte? Jüdische Museen in Deutschland und ihre Rezeption
Stefanie Schüler-Springorum, Hamburg
An drei ausgewählten Beispielen (Berlin, Franken, Halberstadt), deren Entstehungsgeschichte und Konzeption
kurz erläutert wird, werden die lokale Rezeption jüdischer Museen in Deutschland und die jeweiligen Formen
ihrer Instrumentalisierung für verschiedene, nichtjüdische wie jüdische Bedürfnisse herausgearbeitet.
Anschließend werden mögliche Perspektiven der musealen Wissensvermittlung über jüdische Geschichte in
Deutschland und ihre aktuellen Verwirklichungschancen diskutiert.
6.6
Neue Perspektiven des Geschichtsunterrichts?
Leitung: Hans Woidt, Tübingen
Standortbestimmung des Geschichtsunterrichts
Hans Woidt, Tübingen
In den siebziger Jahren war es nicht selbstverständlich, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Das Fach schien in
der Krise. Heute hat Geschichte in der Öffentlichkeit Konjunktur. Der Massendrang bei historischen
Ausstellungen , eine wahre Flut von Publikationen mit historischen Inhalten, aber auch viele historische Romane
und Filme bestätigen dies. Auch bei den Schülern scheint das Fach wieder an Bedeutung zu gewinnen. In BadenWürttemberg entschieden sich derzeit fast 20 Prozent der Schüler für den Leistungskurs Geschichte. Auch die
Rahmenbedingungen scheinen besser zu werden. Im künftigen achtjährigen Gymnasium wird Geschichte von
Klasse 6 bis 12 durchgängig zweistündig unterrichtet, im sog. Neigungsfach vierstündig. In an deren
Bundesländern mag es weniger gut um unser Fach bestellt sein, von einer Krise des Geschichtsunterrichts kann
jedoch heute keine Rede mehr sein! Wird aber der derzeitige Geschichtsunterricht an unseren Schulen dem
neuen „Interesse an der Geschichte“ gerecht? Wieviele Visionen braucht der Geschichtsunterricht, um den neuen
Entwicklungen gerecht zu werden, welche neuen Inhalte sind im Zeitalter der Globalisierung relevant? Welchen
Stellenwert sollen die „neuen“ Unterrichtsformen und die neuen Medien erhalten? Auf welche Traditionen, auf
welche bewährten „essentials“ darf der Geschichtsunterricht auf keinen Fall verzichten?
Über die Relevanz des Geschichtsunterrichts
Norbert Zwölfer, Freiburg/Br.
Schülerorientierte Unterrichtsformen und eigenverantwortliches Lernen im
Geschichtsunterricht
Fred Binder, Herrenberg
56
Die sogenannten „Offenen Unterrichtsformen“ sollen durch ihre produktionsorientierte Arbeitsweise
nachhaltigere Ergebnisse, lustvolleres Lernen und Eigenverantwortlichkeit des Schülers ermöglichen und
fördern. Welche dieser Unterrichtsformen unter welchen didaktischen Zielsetzungen im Geschichtsunterricht
fruchtbar gemacht werden können, soll unser erster Fragehorizont sein. Diese Formen dürfen aber nicht zum
Selbstzweck werden, sondern bedürfen einer didaktischen Einbettung in - und der Ergänzung durch vertiefende, problemorientierte traditionelle Unterrichtsmethoden. Dies soll an einem „Lernzirkel“ gezeigt
werden. Diese Wechselwirkung und eine neue Diskussion über das „Exemplarische“ kann hier zwar nicht
ausgelotet werden, wird aber unumgänglich werden, wenn eigenverantwortliches Lernen ein Teil des
Geschichtsunterrichts werden soll.
Trans- und interkulturelle Vergleiche. Eine Perspektive für den Geschichtsunterricht im
Zeitalter der Globalisierung
Ulrich Maneval, Freiburg
Multimedia als Herausforderung an den Geschichtsunterricht
Vadim Oswalt, Weingarten
Die Integration der Neuen Medien stellt eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an den
Geschichtsunterricht dar. Multimedia scheint einerseits ob seiner Vielfältigkeit ein vielversprechendes,
anderseits ob seiner labyrinthischen Vielfalt und Unüberschaubarkeit ein schwer zu bändigendes Medium zu
sein. Wie jedes andere Medium muss es allerdings auf seine Eignung zur Veranschaulichung und
Vergegenwärtigung historischer Inhalte und Strukturen befragt werden. Dabei stehen andere Kriterien im
Mittelpunkt als die des Multimediamarktes, der vor allem auf technische Brillianz und Vielseitigkeit Wert legt.
Denn die inhaltlichen Standards des Geschichtsunterrichts müssen unverrückbar gegenüber den medialen
Möglichkeiten Vorrang haben; das Medium darf seinerseits nicht die Standards eines didaktisch reflektierten
Geschichtsunterrichts verschieden. Die Eigenschaften der Neuen Medien zu erkennen und ihre Möglichkeiten
zur Präsentation von Geschichte im sogenannten Hypertext zu verstehen, stellt eine wesentliche Voraussetzung
dar, um zu begreifen, in welchen didaktischen und methodischen Bereichen historischen Lernens Multimedia
besondere Chancen bietet.
7.
Podiumsdiskussionen
7.1
Homer und Troja: Visionen und Traditionen
Ein Runder Tisch der Altertumswissenschaften
Leitung: Justus Cobet, Essen
Gesamt
Mit Heinrich Schliemann verknüpft sich die nicht vergehende Vision, der Spaten vermöchte die mythischen
Traditionen der Alten „überraschend“ zu einer uns unmittelbar zugänglichen Wirklichkeit werden zu lassen.
Quellenkritische und hermeneutische Traditionen geraten dabei leicht unter die Erde. Im aktuellen Streit um
Troia verstehen sich offensichtlich die Disziplinen der Altertumswissenschaft nicht mehr. Worum geht es dabei
methodisch, und worum inhaltlich? Darüber sprechen Archäologen, Philologen und Althistoriker.
57
Alte Geschichte
Gustav Adolf Lehmann, Göttingen
Sollten wir uns für die Frage nach historischen Hintergründen der homerischen Troiasage weiterhin zwischen
den extremen Positionen Bezug auf die frühgriechische Palastkultur des 13. Jahrhunderts v. Chr. oder Tradition
des frühen 8. Jahrhunderts entscheiden müssen? Ich möchte vielmehr auf solche Bezugspunkte der
Traditionsbildung verweisen, die von den Verhältnissen der sog. Seevölker-Zeit um 1200 über Bilddokumente
des späten 12. Jahrhunderts bis zu der fürstlichen Grablege in Lefkandi im 10. Jahrhundert hinabreichen.
Susanne Heinhold-Krahmer, Feldkirchen
Hethitologie
Auf dem Tübinger Troia-Symposion im Februar 2002 stellte ich bereits die Behauptung in Frage, eine Identität
von hethitisch Wiluša mit der homerischen Ilios und damit also Troia/ Hisarlιk sei definitiv erwiesen. Nun
erscheint mir die Überprüfung und Diskussion einiger auf diese Gleichung gestützter Argumente angebracht.
Wie also steht es mit einem anatolischen Hintergrund für Elemente der Ilias?
Anatolistik
Frank Starke, Tübingen
Hethitische Vorgaben insbesondere in politischem Denken und historiographischen Konzepten sind
verantwortlich für bei Homer zuerst greifbaren spezifischen Merkmalen der griechischen Kultur. Des weiteren
stehe ich dafür, als Kontaktzone altorientalischer Einflüsse auf die Griechen das nachbronzezeitliche Kleinasien
stärker in Betracht zu ziehen mit seiner reichen luwischen inschriftlichen Überlieferung, die sich auf eine
gebildete und mehrsprachige Führungsschicht zurückführen lassen.
Klassische Archäologie
Dieter Hertel, Köln
1. Die bronzezeitlichen Zerstörungsschichten von Troia VI, VIIa, VIIb1 und b2/3 geben keine Hinweise auf
Belagerung und Eroberung. 2. Nach dem Ende von Troia VIIb2/3 ging die Besiedlung von Hisarlik weiter: Seit
dem späten 11. Jahrhundert siedelten hier äolische Griechen. Darauf deuten auch die Homer geläufigen
griechischen Toponyme der Troas. 3. Die Annahme einer „Äolischen Kolonisation“ Kleinasiens und der Troas
kann die Enstehung einer Sage von Kämpfen um Troia befriedigend erklären. 4. Den Siedlern erschien die
Mauer von Troia VI/VII als das gewaltige Werk übermenschlicher Wesen der mythischen Vorzeit, für die auch
die Mauern Mykenes stehen konnten.
Klassische Archäologie
Ulrich Sinn, Würzburg
Heinrich Schliemann schien den Nachweis erbracht zu haben, daß der sicherste Weg zu einer ertragreichen
Ausgrabung die Orientierung an einschlägigen antiken Texten sei. Die daraus abgeleitete Methodik,
Grabungsbefunde auf Angaben in der schriftlichen Überlieferung zu justieren, hat sich oft als fragwürdig, in
vielen Fällen sogar als irreführend erwiesen. Demgegenüber hat sich seit geraumer Zeit die Norm etabliert, daß
Ausgrabungen einen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der Aussagekraft, zum Verständnis der
Intention und zur Authentizität einer in Schriftform auf uns gekommenen Darstellung zu leisten haben.
58
Klassische Philologie
Wolfgang Kullmann, Freiburg
1. Von archäologischer Seite wurde neuerdings zur Diskussion gestellt, als Alternative zur Zerstörung von Troia
VIIa um 1200 v. Chr. den Untergang von Troia VII b 2 im 11. Jh. auf einen griechischen Angriff zurückzuführen
und diesen mit der äolischen Kolonisation in Kleinasien zu verknüpfen. Dazu paßt, daß Sagen dieser
griechischen Kolonisatoren die Troiasage entscheidend beeinflußt haben. 2. In der in der Ilias imaginierten
mykenischen Frühzeit spiegeln sich Tendenzen von Homers eigener Zeit, die die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts
sein muß, wie zunehmend angenommen wird.
Alte Geschichte
Hans-Joachim Gehrke, Freiburg
Gerade in der Auseinandersetzung um die Troia-Ausstellung hat sich die Debatte auf den
mykenischen Hintergrund der Epen und auf den bronzezeitlichen Kontext konzentriert. Demgegenüber wird hier
dafür plädiert, aktuelle historisch-philologische Forschungen mit in den Blick zu nehmen, die vor allem den
Zusammenhang zwischen den homerischen Epen und der sozialen und politischen Konstellation und
Vorstellungswelt ihrer Entstehungszeit herausgestellt haben. Dabei geht es im engeren Sinne um die konkrete
Situation in der Troas in nachmykenischer Zeit sowie generell um die Bedeutung der Epen im Rahmen der
griechischen Ethnogenese, die man als Prozeß zu sehen gelernt hat.
7.2
Nach dem HRG – Wissenschaftlicher Nachwuchs an der Universität
Leitung: Thomas Mergel, Bochum
Im Mittelpunkt der Informations- und Diskussionsveranstaltung soll die Lage des Wissenschaftlichen
Nachwuchses nach der Verabschiedung des HRG stehen. Neben der Information über die neue Gesetzeslage, die
sicher nicht allen Teilnehmern vertraut ist, soll im Mittelpunkt stehen, was die Reform für die weitere
Nachwuchspolitik bedeutet, welche Grenzen und Möglichkeiten sie hat und welche Umsetzungsmöglichkeiten
im Bundesland, an der einzelnen Hochschule und im Fach Geschichtswissenschaft gegeben sind.
7.3
Wohin führt der Weg? Fachzeitschriften im elektronischen Zeitalter
Leitung: Winfried Schulze, München, Gudrun Gersmann, München und Matthias
Schnettger, Mainz
Lothar Gall, Frankfurt/M.
Winfried Schulze, München
Gudrun Gersmann, München
59
Matthias Schnettger, Mainz
Rüdiger Hohls, Berlin
Vittorio Klostermann, Frankfurt
Hermann Leskien, München
7.4
Die Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte
Leitung: Klaus-Dietmar Henke, Dresden
Seit der friedlichen Revolution von 1989/90 ist der Umgang mit den Unterlagen der SED-Geheimpolizei
Gegenstand politischer und wissenschaftlicher Kontroversen. Nach dem Rechts-streit zwischen der
Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und Helmut Kohl sowie heftigen Debatten, in denen sich auch der
Historikerverband zu Wort meldete, hat sich der Deutsche Bundestag kürzlich für die Beibehaltung eines
insgesamt forschungsfreundlichen Nutzungsrechtes entschieden.
Als die „Gauck-Behörde“ ihre Arbeit aufnahm, konferierte der Historikertag 1992 in Hanno-ver noch mit
gemischten Gefühlen über die Perspektiven dieser Institution ohne Beispiel. Nach zehn Jahren ist es Zeit, Bilanz
zu ziehen.
Ist die Behörde ihrem Auftrag gerecht geworden? Welchen Wert haben die Stasi-Unterlagen für den Historiker?
Sind die Akten ein Sonderfall in dem unaufhebbaren Spannungsverhältnis von Persönlichkeitsschutz und
Forschungsfreiheit? Welche Folgen haben die neuen Bestim-mungen für die Geschichtswissenschaft? Was kann
in der Zusammenarbeit von Historikerschaft und Behörde verbessert werden? Welche Zukunft haben die StasiUnterlagen und die Einrichtung, die sie verwahrt?
Das Symposium dient vor allem dem Gedankenaustausch zwischen dem Auditorium und dem Podium.
Johannes Beleites, Leipzig
Marianne Birthler, Berlin
Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler
Hartmut Weber, Koblenz
7.5
Der 11. September: Ursachen und Folgen
Leitung: Manfred Hildermeier, Göttingen
Hans-Ulrich Klose, MdB, Berlin (Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses)
60
Kai Hafez, Hamburg/Erfurt
Detlef Junker, Heidelberg
Jürgen Paul, Halle
Hermann-Josef Rupieper, Halle
8.
Junge Historiker
8.1
Junge Historiker stellen sich vor - Alte Geschichte
Leitung: Hans Kloft, Bremen
Das ökonomische System des antiken Griechenlands
Armin Eich, Passau
Der Staat war der wichtigste Faktor, der die dynamische Entwicklung, die die griechischen Gesellschaften
zwischen dem 8. und 5. Jh. erlebten, vorantrieb. Die Poleis schufen Münzgeld vor allem als Medium zur
Steuerung der zentralen staatlichen Tätigkeit: der Kriegführung. Damit das Geld diese ihm vom Staat zugedachte
Aufgabe erfüllen konnte, mußte es von Privatpersonen in Zirkulation gehalten werden. Die Perpetuierung dieser
Zirkulationsbewegung wurde von den Poleis durch kontinuierlich ausgeübten Abgabendruck erzwungen.
Das Phänomen der Fahnenflucht in der römischen Geschichte
Joachim Lehnen, Aachen
In zahlreichen antiken Quellenzeugnissen fällt die zuweilen positive Darstellung des römischen Soldaten auf, der
alles daran setzt, einen Sieg für die römische patria zu erringen. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Vortrag die
Aufgabe, anhand des Phänomens der Fahnenflüchtigen und Überläufer diese Sichtweise zu überprüfen, zumal
bereits in Roms Frühzeit Desertionen belegt sind. Dabei sollen die Verlaufsformen von Fahnenflucht, die Motive
und Funktionen der Deserteure sowie die bei ihnen angewandten Methoden zur Ergreifung und Bestrafung unter
Heranziehung des Geschichtswerkes des Ammianus Marcellinus exemplarisch vorgestellt werden.
Inszenierung des Todes: Philosophisches Sterben in der Antike
U. Huttner, Leipzig
Das Sterben vieler „Intellektueller“ in der Antike erweist sich als Inszenierung nach dem Vorbild des Sokrates.
Hieraus lassen sich bemerkenswerte Schlüsse auf die Mentalität vor allem römischer Oberschichten ziehen.
Das andere Zeitalter Justinians, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jh.
n. Chr.
Mischa Meier, Bielefeld
61
Die Arbeit geht der Frage nach Wechselwirkungen zwischen Endzeiterwartungen in Verbindung mit
Naturkatastrophen auf der einen Seite sowie politischen und mentalitätengeschichtlichen Entwicklungen auf der
anderen Seite nach. Die Herausbildung von Strukturen, die allgemein als „byzantinisch“ gelten
(Marienverehrung, Bilderkult u. a.), läßt sich auf diese Weise aus spezifischen historischen und
mentalitätengeschichtlichen Rahmenbedingungen im 6. Jahrhundert erklären, wodurch u. a. eine Neubewertung
des „Zeitalters Justinians“ ermöglicht wird. Daneben stellt die Arbeit einen Beitrag zur Frage nach dem
Epochenübergang Spätantike/Byzanz dar.
8.2
Junge Historiker stellen sich vor - Mittelalter
Leitung: Klaus Herbers, Erlangen
Das Crimen laesae maiestatis
Thomas Wünsch, Konstanz
Aspekte der päpstlichen Legatenpolitik im 11. und 12. Jahrhundert
Claudia Zey, München
Parallel zur Autoritätssteigerung des Papsttums im ausgehenden 11. und im 12. Jahrhundert veränderte sich auch die
Stellung seiner Gesandten. Von reinen Boten wurden sie zu Stellvertretern des Papstes mit umfangreichen
Vollmachten und damit zu wichtigen Trägern der auswärtigen kurialen Beziehungen. Im Rahmen eines Kurzreferats
sollen die wichtigsten Ergebnisse meiner 2002 als Habilitationsschrift eingereichten Untersuchung zur päpstlichen
Legatenpolitik von 1049 bis 1198 vorgestellt werden. Dabei geht es besonders um die Frage, wie sich jeder einzelne
Papst das Legatenwesen zunutze machte, um europaweit in die kirchlichen Verhältnisse vor Ort einzugreifen.
Zwischen Heiligkeit und Häresie. Die Religiosität der städtischen Eliten in Toulouse (12./ 13.
Jahrhundert)
Jörg Oberste, Dresden
Der Vortrag untersucht das Spektrum religiöser Verhaltensweisen kaufmännisch-städtischer Eliten in der Stadt
Toulouse während des 12. und 13. Jahrhunderts, insbesondere ihre komplexen Interaktionen mit kirchlichen und
klösterlichen Einrichtungen des lokalen und regionalen Umfelds sowie ihre pastorale Betreuung und Integration.
Die spezifischen Manifestationen stadtbürgerlicher Frömmigkeit gehen mit dem Aufbau einer sozialen
Führungsposition in der Stadt einher und bilden – so die These des Vortrags – eine essentielle Strategie des
Sozialen und Politischen ab.
Stefan Weiß, Augsburg
Bestritten wird die Lehrmeinung, die Päpste in Avignon (1316-1378) seien vom französischen Hof abhängig
gewesen. Im Gegensatz dazu wird gezeigt, daß die 1316 vorgenommene Umsiedlung des päpstlichen Hofes von
Lyon nach Avignon gerade den Zweck hatte, das Papsttum vom französischen Einfluß zu befreien. Es wird dann
die weitere Entwicklung unter Johannes' XXII. Nachfolgern bis zur Rückkehr Gregors XI. nach Rom skizziert.
62
8.3
Junge Historiker stellen sich vor - Frühe Neuzeit
Leitung: Johannes Burkhardt, Augsburg
Moderation
Johannes Burkhardt, Augsburg
Renate Dürr, Frankfurt/M.
Kirchenräume. Handlungsmuster von Pfarrern, Obrigkeiten und Gemeinden in Stadt und Stift Hildesheim 15501750
Die Studie analysiert den Kirchenraum als einen Handlungsraum. Durch die Bikonfessionalität in der Stadt und
dem Kleinen Stift Hildesheim gab es eine Vielzahl potentieller Koalitionen, die die Handlungsoptionen von
Pfarrern, Obrigkeiten und Gemeinden vervielfältigten. Erst seit dem 18. Jahrhundert verfestigte sich dieses
Beziehungsgefüge und begrenzte dadurch die Gestaltungsmöglichkeiten der Gemeinden. Die zahlreichen,etwa
zeitgleichen Konflikte über Kirchenfragen zeigen, daß die Gläubigen sich gegen diese Entwicklung zur Wehr
setzten.
Delinquenz und städtische Lebenswelten. Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert
Joachim Eibach, Potsdam
Der Vortrag thematisiert auf der Quellengrundlage von Vernehmungsprotokollen städtische Lebenswelten und
Strafjustiz im 18. Jahrhundert. Dabei geht es um die Funktionslogik der Justiz und Rechtserfahrungen der
städtischen Einwohnerschaft. Im Vordergrund stehen Gewaltdelinquenz, Eigentumsdelinquenz und Proteste
gegen die Obrigkeit. Das 18. Jahrhundert erweist sich dabei in vielen Aspekten als „Scharnierjahrhundert“
zwischen Ständegesellschaft und bürgerlicher Moderne.
Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat
Birgit Emich, Freiburg/ Br.
Territoriale Integration ist und bleibt ein grundlegendes Thema der neuzeitlichen Geschichte. Aber wie lassen
sich die Prozesse des strukturellen wie mentalen Zusammenwachsens untersuchen? Wohl nur, wenn der
Brückenschlag zwischen Makro- und Mikrogeschichte, zwischen institutioneller und individueller Ebene gelingt.
Daß dies mithilfe des Konzepts der politischen Kultur möglich ist, wird am Beispiel des frühneuzeitlichen
Ferraras illustriert.
Die Konstruktion kollektiver Identitäten im Hamburg der Frühaufklärung
Martin Krieger, Greifswald
Die Elbmetropole Hamburg erlebte zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach einem mehrere Jahrzehnte andauernden
bürgerkriegsähnlichen Konflikt die Formierung einer gesellschaftspolitischen Strömung – des „Patriotismus“.
Dieser setzte sich nach angelsächsischem Vorbild die Verbesserung des Schul- und Armenwesens sowie die
Schaffung einer gesamtgesellschaftlichen Integration zum Ziel. Gleichwohl blieb er immer als Konstrukt
bestimmter städtischer Eliten ein bewußt initiierter und bestimmte Interessen vertretender Diskurs.
63
8.4
Junge Historiker stellen sich vor - Neuere und Zeitgeschichte
Leitung: Friedrich Lenger, Gießen
Moderation
Friedrich Lenger, Gießen
Der Mythos vom Befreiungskrieg. Zur Relativierung eines preußischen Ideologems
Ute Planert, Tübingen
Während der Revolutions- und napoleonischen Kriege überwogen in den Rheinbundstaaten traditionelle und
regionale Loyalitäten sowie religiöse Bindungen landespatriotische oder gar nationale Haltungen bei weitem.
Erst in den Gedenkfeiern der 1830er und 1840er Jahre wurden die divergierenden Kriegserfahrungen so
eingeebnet, daß sich auch die Geschichte des deutschen Südens in die dominante Erinnerung vom
„Befreiungskrieg“ zu fügen begann.
Wider die Abolitionistenfanatiker und Temperenzbestien: Der US-amerikanische
Katholizismus und die Sklavenfrage, 1840-1865
Michael Hochgeschwender, Tübingen
Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa 1930-1956. Eine politische Glaubensgeschichte
im 20. Jahrhundert
Thomas Kroll, Salzburg/ Giessen
Vom Beginn der 1930er Jahre bis zur Ungarnkrise von 1956 engagierten sich die westeuropäischen
Intellektuellen besonders zahlreich in der kommunistischen Bewegung. Dieses Engagement lässt sich als
Ausdruck einer säkularen, politischen Glaubenshaltung interpretieren. Wie und weshalb ein solcher politischer
Glaube entstehen, bewahrt werden oder verloren gehen konnte, illustriert der Vortrag am Beispiel der
kommunistischen Historiker Albert Soboul und Christopher Hill.
Der Mythos der Kameradschaft und die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges
Thomas Kühne, Bielefeld
Der im NS-Deutschland jedem vertraute Mythos der Kameradschaft arbeitete an einem Moralsystem, das die
Scham - das „Auge“ der anderen - als oberste Richtinstanz inthronisierte und die um individuelle Verantwortung
kreisende Gewissenskultur obsolet machte. Der Beitrag thematisiert, in welcher Weise sich die
Wehrmachtsoldaten diese Kultur der Scham angeeignet haben und welche Bedeutung sie für ihre
Durchhaltebereitschaft im II. Weltkrieg hatte.
Familienrecht als Gesellschaftspolitik. Das Familiengesetzbuch der DDR
Ute Schneider, Darmstadt
64
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