1. Epochenübergreifende Sektionen 1.1 Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter Leitung: Klaus J. Bade, Osnabrück Einführung Prof. Dr. Klaus J. Bade, Osnabrück Zwischen ›freiwilligen‹ und ›unfreiwilligen‹ Migrationen liegt die in der historiographischen Beschreibung abgebildete historische Wirklichkeit des Wanderungsgeschehens mit ihren vielen Übergangsformen zwischen nach Struktur oder Motivation mehr oder minder unterscheidbaren Wanderungsbewegungen. Die beschriebenen Erscheinungsformen des Wanderungsgeschehens bleiben dabei abhängig von den Zuschreibungsformen, insbesondere von der Einschätzung und Gewichtung der zugeschriebenen Migranteneigenschaften. Auch zwischen rechtsgeschichtlichen Gruppenbildungen wie ‚Arbeit‘, ‚Asyl‘, ‚Flucht‘ oder ‚Minderheiten‘ sind die Grenzen in multiplen Migrantenidentitäten oft fließend. In der Konfrontation mit solchen Konzeptualisierungsproblemen gegenüber dem Phänomen Migration erscheinen Migrationsforschung und Migrationspolitik mitunter nicht sehr weit voneinander entfernt, trotz aller grundlegenden Unterschiede zwischen den Zuschreibungsinteressen auf beiden Seiten. Die Sektion beleuchtet an ausgewählten Beispielen zentrale Aspekte einzelner Epochen der europäischen Migrationsgeschichte seit dem Spätmittelalter und diskutiert am Ende zentrale Konzeptualisierungsprobleme der historischen Migrationsforschung. Latente Mobilität und bedingte Sesshaftigkeit im Spätmittelalter Prof. Dr. Ernst Schubert, Göttingen Vom reisenden König bis hin zum fahrenden Schüler gehört die Mobilität zum Mittelalter. Das ist ebenso bekannt wie die Wanderungsströme, die dem hochmittelalterlichen Landesausbau und der Ostsiedlung zugrundeliegen; zuweilen sind diese Ströme sogar wie bei den vielen Familiennamen ›Westfal‹ im hansischen Raum genauer zu erkennen. Was uns unterhalb dieser Ebenen jedoch interessiert, ist die Frage, wieweit das ›Fahren‹, von dem die Quellen sprechen, allgemein zur Vitalsituation der Menschen gehörte. Migration und Konfession in der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Heinz Schilling, Berlin Der Vortrag befaßt sich mit einem spezifischen Typus des alteuropäischen Migrationsgeschehens, für den der Begriff ›Konfessionsmigration‹ vorgeschlagen wird. Konkretes Beispiel sollen die wallonischen und niederländischen Exulanten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts sein, die aus verschiedenen Gründen für einen diachronen Vergleich aufschlußreicher erscheinen als die historiographisch ›prominenteren‹ Hugenotten oder Salzburger. Migration und Expansion vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum europäischen Massenexodus Prof. Dr. Dirk Hoerder, Bremen In diesem Beitrag wird argumentiert, 1. daß Migrationsforschung eine kritische Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Begrifflichkeiten erfordert, da Wechsel zwischen Gesellschaften Perspektivenwechsel 1 bedeutet; 2. daß ökonomische Großregionen und lebensgeschichtliche Mikroentwicklungen miteinander in Verbindung zu setzen sind; und 3. daß eine weltweite Perspektive Ungleichzeitigkeiten bei der Entwicklung von Migrationssystemen und unterschiedliche Zäsuren beleuchtet. Migration und Expansion vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum europäischen Massenexodus Prof. Dr. Pieter C. Emmer, Leiden Im Zentrum steht die Entwicklung des interkontinentalen Wanderungsgeschehens zwischen 1500 und 1850. Die interkontinentale Migration in diesem Zeitraum war deutlich geringer als diejenige in den folgenden Epoche: Sie umfaßte etwa 12 Millionen afrikanische Sklaven und 2–3 Millionen Europäer, bei deren Migration zum Teil auch Zwangselemente eine Rolle spielten. Nach 1850 traten nicht Europäer, sondern asiatische Intentured Laborers an die Stelle der Sklaven im tropischen Amerika, während die europäische Einwanderung in die gemäßigten Zonen zur Massenbewegung aufstieg. Flucht, Vertreibung und Asyl im 19. und 20. Jahrhundert Priv.Doz. Dr. Jochen Oltmer, Osnabrück Die Geschichte der Etablierung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert war begleitet von Flucht und Verfolgung aus politischen Gründen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde angesichts des Massenzustroms im beginnenden ›Jahrhundert der Flüchtlinge‹ die Frage der Gestaltung der rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufnahme von Flüchtlingen dringlicher. Dennoch blieben Asylrecht und Asylpraxis auch weiterhin ausgerichtet auf den einzelnen Flüchtling des 19. Jahrhunderts. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Asylrecht menschenrechtlich abgesichert, blieb aber bis heute prekär. Europäische Migrationsgeschichte und Weltgeschichte der Migration: Epochenzäsuren und Methodenprobleme Prof. Dr. Dirk Hoerder, Bremen In diesem Beitrag wird argumentiert, 1. daß Migrationsforschung eine kritische Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Begrifflichkeiten erfordert, da Wechsel zwischen Gesellschaften Perspektivenwechsel bedeutet; 2. daß ökonomische Großregionen und lebensgeschichtliche Mikroentwicklungen miteinander in Verbindung zu setzen sind; und 3. daß eine weltweite Perspektive Ungleichzeitigkeiten bei der Entwicklung von Migrationssystemen und unterschiedliche Zäsuren beleuchtet. 1.2 Die Salzstadt: Alteuropäische Strukturen und frühmoderne Innovation Leitung: Werner Freitag, Halle und Heiner Lück, Halle Einleitung Prof. Dr. Werner Freitag Unter dem Rahmenthema Traditionen und Visionen trachtet die Sektion im ersten Teil danach, den spezifischen Realtypus Salzstadt mit dem weberschen Idealtypus der Stadt des Okzidents im Hinblick auf Stadtverfassung, 2 Stellung zum Territorialherrn, Patriziat, Rechtskodifikation und genossenschaftliche Produktion nach dem Nahrungsprinzip abzugleichen. Es soll deutlich werden, dass die städtebildende Funktion des Salzes zu einem Sondertypus der Stadt führte. Die bis weit in das 17. Jahrhundert nachzuweisende gute Konjunktur führte zu einer wirtschaftlichen Stabilität der Salzproduktion in der Stadt - das Salz konservierte das symbolische Kapital des Patriziats und die Produktionsabläufe, so dass die Salzstadt bis weit in das 18. Jahrhundert das „Schon“ der Frühen Neuzeit nicht erreichte. Dieser überkommene Stadttypus fand im 18. Jahrhundert in den Städten derjenigen Territorien sein Ende, in denen gezielt merkantile Salinenpolitik betrieben wurde und in denen die naturwissenschaftlich geschulten neuen Salzbeamten ihre Vision einer neuen Salzproduktion in die Tat umsetzten. Nur dort waren die alten Produktionsstätten und Genossenschaften dem staatlichen Modernisierungsdruck ausgesetzt und letztlich überlebensfähig. Am Ende des 18. Jahrhundert standen sich überkommene Brunnen und Siedehütten in der Stadt und effiziente, staatlich initiierte Großbetriebe außerhalb der Stadt gegenüber. Salzproduktionsstätten als Bezirke eigener Rechtsaufzeichnung und Gerichtsbarkeit Heiner Lück, Halle Die Pfännerschaft der Stadt Halle im ausgehenden 15. Jahrhundert Manfred Straube, Leipzig Visionäre des Fortschritts: Die österreichischen und preußischen Salzbeamten Jakob Vogel, Berlin Traditionssuche und aufgeschobene Proletarisierung: Österreichische Salzstädte im 19. Jahrhundert Thomas Hellmuth, Linz 1.3 Strukturen, Netzwerke und Traditionen: Der Indische Ozean, 1750-1950 Leitung: Michael Mann, Hagen und Jan-Georg Deutsch, Berlin Einführung PD Dr. Michael Mann, Hagen PD Dr. Jan Georg Deutsch, Berlin Seit dem 18. Jahrhundert bilden sich im Indischen Ozean neue Formen der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen heraus. Die wachsende Industrialisierung und die Expansion des Weltmarktes im 19. Jahrhundert bedeuten eine oft unfreiwillige Migration von Arbeitern, Handwerkern und Bauern. Familienbande lassen bald ein Geflecht unterschiedlichster Kommunikationsformen entstehen, die freilich einem permanenten Wandel unterworfen sind. Die solcherart betroffenen Menschen sind in diesem Prozess nicht passive Objekte der Geschichte, sondern sie nehmen ihr ökonomisches, familiäres und rechtliches Schicksal oft in die Hand und sind nicht selten selbstbestimmte Subjekte. “Geschichte von unten” wird hier in einer neuen Dimension präsentiert. Writing a Modern History of the Indian Ocean 3 Ned Alpers, Los Angeles Compared to the Mediterranean and Atlantic Oceans, the Indian Ocean remains understudied by historians. I will discuss the geographical and historical elements that we must consider in approaching this vast topic, not least among which is the element of imagination that it takes to bring the Indian Ocean world to life as an historical region. In particular different extant approaches to the task will be presented and as well as what I consider to be the more important elements to writing such a history. The Indian Ocean and a very small place in Zanzibar, East Africa Jan-Georg Deutsch, Berlin Der Vortrag beschreibt den postkolonialen Wandel eines Stadtviertels in der Altstadt von Zanzibar in Ostafrika. In „Peshawar“, dem Drogenviertel der Stadt, benannt nach der in der Nähe zur afghanischen Grenze gelegenen Regionalhauptstadt des nordwestlichen Pakistans, finden seit etwa Mitte der 1980er Jahre Jugendliche aus Zanzibar einen Zufluchtsort vor der Polizei wie auch vor ihren eigenen Familien.. Wie kommt es zu dem eigentümlichen Namen. In dem Vortrag soll deutlich werden, dass die lokale Geschichte von „Peshawar“ gleichermaßen im Kontext der historischen Entwicklung von Zanzibar in der nachkolonialen Zeit wie auch in der neueren Geschichte des Indischen Ozeans verankert ist. Jemenitische Netzwerke im Indischen Ozean Friedhelm Hartwig, Berlin Migration und die Beteiligung am Seehandel des Indischen Ozeans gehörten im Hadramaut, diesem an Ressourcen armen Land, zu den überlebenswichtigen Strategien der Bevölkerung. Der Schwerpunkt wird auf zwei der bedeutendsten Zielgebiete hadramischer Migration liegen, dem indischen Fürstentum von Hyderabad und dem Sultanat von Zanzibar. Entlang sozioökonomischer Entwicklungen im Indischen Ozean wird eine Periodisierung der Geschichte Hadramauts vorgestellt. Dabei wird das Instrumentarium der Netzwerkanalyse im Sinne einer qualitativen Nutzung des weiter verstandenen Netzwerkansatzes „seascape“, der maritim geprägten sozialen und kulturellen Landschaft, verwendet. Prostitution und „weiße“ Sklaverei im Indischen Ozean Harald Fischer-Tiné, Berlin Die Entstehung europäischer Netzwerke von Prostitution und ‚Mädchenhandel’ in den Hafenstädten Indiens seit ca. 1870 wurde sowohl in Großbritannien als auch von den Kolonialbehörden vor Ort mit Besorgnis verfolgt. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte ein Kreuzzug gegen den sog. ‚White slave Traffic’ ein. Vielfältig, ja gegensätzlich waren die Interessen und Positionen auf Seiten der Kolonialherren. Die Rekonstruktion dieser divergierenden Stimmen stellt das simplifizierende Modell eines homogenen ‚Kolonialdiskurses’ in Frage. Ebenso relativiert die Berücksichtigung von Prostituierten und Zuhältern die verbreitete Wahrnehmung der Europäer in Britisch-Indien als imperialer Elite. 1.4 Geschichtswissenschaft und Internet: Entwicklungen, Zwischenbilanz und Perspektiven Leitung: Wilfried Nippel, Berlin 4 Einführung und Moderation: Neue Medien und historische Forschung Konrad Jarausch, Potsdam und Wilfried Nippel, Berlin Geschichte der elektronischen Datenverarbeitung: Informatik – Gesellschaft – Wissenschaft Ulrich Wengenroth, München Digitale Archive und Editionen: Die Zukunft des Vergangenen Frank Bischoff, Münster Historische Fachinformation und –kommunikation: Das Netz als Medium einer globalisierten Forschung Rüdiger Hohls, Berlin Elektronisches Publizieren und Geschichtswissenschaft Gudrun Gersmann, München Modularisierung oder Beliebigkeit? Problemlagen der netzgestützten Aufarbeitung und Vermittlung historischen Wissens David Gugerli, Zürich Gegenwart und Zukunft wissenschaftlicher Literatur- und Informationsversorgung: Defizite, Lösungsmodelle, Förderprogramme und Entwicklungsperspektiven Jürgen Bunzel, DFG 1.5 Der Markt als historische Institution Leitung: Werner Plumpe, Frankfurt/M. Einleitende Bemerkungen - Die historische Natur des Marktes Werner Plumpe, Frankfurt am Main Märkte sind historische Institutionen; es ist geradezu ihre „Natur“, daß sie auf Entscheidungen beruhen, die ihrerseits Leitsemantiken folgen, die in der gesellschaftlichen Kommunikation bereitgestellt werden. Der Wandel der Marktinstitutionen von der alteuropäischen Welt zur modernen Marktwirtschaft ist entsprechend keine sukzessive Anpassung der institutionellen Strukturen an eine unterstellte Natur des Marktes, sondern folgt Änderungen in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die ihrerseits sozial- und kulturgeschichtlich aufzuklären sind. Der vermeintliche Gegensatz von harter Wirtschafts- zu weicher Kulturgeschichte erweist sich in dieser Perspektive folgerichtig als wenig hilfreiche Scheinkontroverse. Der mittelalterliche Markt als politisches Konzept 5 Michael Rothmann, Köln Der freie Markt und seine Gesetze scheinen seit dem Untergang des real-existierenden Sozialismus und der begleitenden kommunistischen Ideologie eines der letzten universellen Problem-Lösungsmodelle. Sie prägen als Denk- und Handlungsmuster weitgehend unsere Gesellschaft. Der Sieg der modernen kapitalistischen Weltordnung markiert den bisherigen Höhepunkt einer Entwicklung, deren Wurzeln weit vor der neuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte liegen und eine ihre wesentlichen institutionellen Keimzellen in den mittelalterlichen Jahrmärkten hatten. Die mittelalterliche Entwicklung dieser Institution bietet ein exemplarisches Beobachtungsfeld für das Wechselspiel politischer und marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Der Vortrag wird sich vor allem auf die politischen Rahmenbedingungen und die politischen Konzeptualisierungen konzentrieren, denn ohne einen zwar flexiblen, aber gesetzten institutionellen Rahmen war kein freier Markt überlebensfähig. Markt und Klasse in der deutschen Sozialdemokratie, 1848 – 1878 Thomas Welskopp, Berlin/ Zürich Die deutsche Sozialdemokratie war in ihrer Frühphase keine „Klassenbewegung“ im traditionellen Sinne, sondern eine Bewegung der kleinen handwerklichen Produzenten. Trotzdem griff sie auf einen gemeinsamen sozialen Erfahrungshintergrund zurück: die marktvermittelte Abhängigkeit vom „großen Kapital“. Der Markt nahm im sozialdemokratischen Diskurs der Zeit eine zentrale Stellung ein und rangierte zeitweise als Hauptgegner. Der Vortrag soll ausleuchten, inwieweit solche Erfahrungsbestände für eine Erweiterung sozialhistorischer Klassenkonzepte nutzbar gemacht werden können. „Am Anfang war der Markt...“ Überlegungen zum Diskursangebot der bundesdeutschen Wirtschaftswissenschaft in der Nachkriegszeit Jan-Otmar Hesse, Frankfurt am Main Die Texte der ökonomischen Theorie waren von einem „linguistic turn“ bislang verschont geblieben. Dabei bedienen und bedienten sie sich genau wie andere Texte auch diskursiver Strategien, um ihrem Gegenstand Plausibilität zu verleihen. Auf der Grundlage einer diskurshistorischen Untersuchung von Texten deutschsprachiger Nachkriegsökonomen sollen empirische Belege für diese These präsentiert werden, die zeigen, daß der Markt als Inbegriff der deutschen Nachkriegsordnung seinen Erfolg zumindest anteilig seiner Existenz als kommunikative Fiktion der Wirtschaftstheorie verdankt. Der Deutsche Neue Markt als eine evolutionäre Institution Helge Peukert, Erfurt Der Deutsche Neue Markt kann seit seiner Einführung als Musterfall für die Refinanzierung des klassischen innovativen Unternehmers gelten, wie ihn Josef Schumpeter beschrieben hat. Bei näherer Betrachtung läßt sich allerdings fragen, ob es sich beim Neuen Markt um eine grundsätzlich von den Typen des staatlichen oder privatwirtschaftlichen Austausches zu unterscheidende Organisationsform der ökonomischen Interaktion handelt, der dennoch keineswegs frei, sondern streng reguliert ist. Der Frankfurter Finanzmarkt im 18. Jahrhundert Wilfried Forstmann, Frankfurt/M. 6 Auf der Grundlage der Untersuchung des Frankfurter Finanzmarktes im 18. Jahrhundert soll im Vortrag die These erläutert werden, daß es weder der natürliche Beruf der Stadt Frankfurt am Main war, als Finanzplatz zu dienen, noch überhaupt von einem marktmäßigen Automatismus bei der Entstehung des Finanzplatzes auszugehen ist. Historisch wirksam und im Vortrag herauszustellen sind vielmehr jene Gesichtspunkte der politischen Verfassung und Ordnung der Stadt, die die Entstehung eines Finanzmarktes und die dazugehörige Tradition des Finanzplatzes Frankfurt befördert haben. 1.6 Städte aus Trümmern. Wahrnehmung und Bewältigung städtischer Katastrophen im epochenübergreifenden Vergleich Leitung: Andreas Ranft, Halle und Stephan Selzer, Halle Einführung Andreas Ranft, Halle und Stephan Selzer, Halle Wie in der Gegenwart, so forderten Feuersbrünste, Erdbeben, Überschwemmungen und Kriege auch in der Vergangenheit unzählige Todesopfer, verwüsteten Landschaften und zerstörten Städte. Immer bedeuteten solche Katastrophen, gleichviel ob durch Natur oder Menschenhand verursacht, für die Überlebenden einen tiefen Lebenseinschnitt. Die Sektion will diesen Moment der Bewältigung und des Neubeginns in zertrümmerten Städten zum Ausgangspunkt machen, um die Fragestellung des Historikertages „Traditionen – Visionen“ an einem Beispiel zu erproben, das im Schnittfeld unterschiedlicher Disziplinen liegt und zudem zu einer epochenübergreifenden Behandlung einlädt. Kriege, Krisen, Katastrophen: Stadtzerstörung und Wiederaufbau in der griechischen Antike Burkhard Meißner, Halle Kriege, Krisen und Naturkatastrophen bildeten die wichtigsten Ursachen für die häufigen Zerstörungen antiker Städte. Destruktion und Wiederaufbau städtischer Lebensräume lassen sich am Beispiel der Insel Rhodos anschaulich studieren, das allgemeine Charakteristika des Umganges der Griechen mit urbanen Katastrophen erkennen läßt: Erfahrungsgewinn und Verbesserung von Infrastruktur und Bautechnik, private und zwischenstaatliche Hilfe bei Neuaufbau und Katastrophenbewältigung, Finanztransfers, usw. Die ungezähmte Natur: Erdbeben in Basel 1356 und Großfeuer in Frankenberg 1476 Gerhard Fouquet, Kiel Am 18. Oktober 1356 zur Vesperzeit wurde die Stadt Basel durch einen mächtigen Erdstoß erschüttert. 120 Jahr später wurde am 9. Mai 1476 die hessische Kleinstadt Frankenberg durch ein Großfeuer völlig verwüstet. Methodisches Anliegen und Erkenntnisinteresse des Vortrags bündeln sich in einer noch eher vorläufigen Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Katastrophen, es gilt zunächst die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Bewältigungsmuster der betroffenen Zeitgenossen zu untersuchen. Zugleich sollen Stellenwert und Funktion der Katastrophen für die Topographie des Gedächtnisses der Städte, für die memoriale Selbstvergewisserung kommunaler Genossenschaften erwogen werden. Dafür werden neben der schriftlichen Überlieferung zumindest für Basel auch die Überreste und die Tradition der Realien – die bis heute sichtbaren Bauschäden – herangezogen, selbstbezogene Zeugen der Katastrophe von 1356 und Orte kulturellen Gedächtnisses zugleich. 7 Der Mythos vom „Alten Dresden“ als Bauplan. Entstehung, Ursachen und Folgen einer retrospektiv-eklektizistischen Stadtvorstellung Matthias Meinhardt, Halle Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte ein intensives Gedenken an die Zerstörung Dresdens im Februar 1945 ein, in der die Tragik dieser Stadtzerstörung über die der Bombardierung anderer Städte gehoben wurde. Diese Vorstellung speiste sich nicht zuletzt aus einem Bild von der Stadt vor 1945, das vor allem von Dresdens Reichtum an Kunstschätzen und bedeutenden Bauwerken geprägt war und schon kurz nach Kriegsende mit dem Begriff vom „Alten Dresden“ gefaßt wurde. Mit wachsender zeitlicher Distanz verklärte sich die Vorstellung von der Stadt vor 1945 zunehmend, das „Alte Dresden“ geriet zusehends zum Mythos, symbolisiert durch einige wenige Architekturelemente und Stilmerkmale. Der Vortrag wird sich mit der Entstehung dieses Mythos’, seinen Ursachen, wesentlichen Entwicklungslinien, verschiedenen Instrumentalisierungsformen sowie den konkreten Folgen für den Städtebau in der Elbstadt beschäftigen. Nothing destroyed that cannot speedily be rebuilt – San Francisco und das Erdbeben von 1906 Christoph Strupp, Washington Am frühen Morgen des 18. April 1906 erschütterte ein schweres Erdbeben die Stadt San Francisco an der Westküste der USA. Das Erdbeben und die nachfolgenden Brände zerstörten weite Teile der Stadt und kosteten mehrere hundert Menschen das Leben. Der Vortrag beschreibt den Umgang der nur knapp sechzig Jahre alten Großstadt mit der Katastrophe und konzentriert sich auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen und Konfliktlinien innerhalb der Stadt, die für die Bewältigung der unmittelbaren Notlagen, den Wiederaufbau und die mediale Interpretation des Erdbebens bestimmend waren. Das Erdbeben hat die Stellung San Franciscos als Metropole an der Westküste nur kurzfristig erschüttert und in den Strukturen der Stadt weniger Spuren hinterlassen, als man zu Anfang erwarten konnte. Revolution und Stadtraum: Graue Diven erfinden sich selbst (Halle und Leipzig 1989) Georg Wagner-Kyora, Bielefeld/ Halle Ausgehend von der Protesttopographie auf den großen Montagsdemonstrationen während der Friedlichen Revolution sollen für Halle und Leipzig Fragen nach der Entwicklung ihrer stadträumlichen Identität in den 1990er Jahren aufgeworfen werden, die eng mit der Neugestaltung der Innenstädte zusammenhingen. Für Halle werden drei prominente Sanierungsvorhaben aus den achtziger, vor allem aber aus den neunziger Jahren analysiert und mit den gegenwärtigen Diskussionen um den Wiederaufbau des Alten Rathauses abgeglichen. Inwiefern sich darin eine Neubestimmung von stadtbürgerlicher Identität zeigt, soll anschließend im Vergleich mit der stadträumlichen Entwicklung der Leipziger Innenstadt analysiert werden. Hier wurde mit aufsehenerregenden Neu- und Umbauprojekten, wie dem Querbahnsteig des Hauptbahnhofes, Kaufhaus- und Hotelbauten, dem Revolutionsdenkmal, aber auch mit der vorbildlichen Wiederherstellung von Messehöfen ein in den neuen Ländern bislang einzigartiger Wiederaufbau-Boom initiiert, welcher die Frage nach einer Neubestimmung oder einer Wiedererfindung der eigenen Identität motiviert. Zusammenfassung 8 Manfred Jakubowski-Tiessen, Göttingen 1.7 Ausdrucksformen adeliger Kultur an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit Leitung: Werner Rösener, Gießen und Karl-Heinz Spieß, Greifswald Einführung Werner Rösener, Gießen Strategien der Vergangenheitskonstruktion in adeligen Familienchroniken des 15./16. Jahrhunderts Steffen Krieb, Gießen Der Vortrag fragt nach den Strategien, mit deren Hilfe die Verfasser von Chroniken südwestdeutscher Adelsgeschlechter an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert den Mangel an historischer Überlieferung zur Familiengeschichte zu kompensieren versuchten. Neben der vollständigen Erfindung von Traditionen lassen sich dabei auch Verfahren beobachten, welche der sich entwickelnden historischen Kritik der Humanisten standhielten. Abschließend werden auch Anlaß und Zweck der schriftlichen Fixierung adeliger Familienerinnerung thematisiert. Rede und Schrift im fürstlichen Raum (15./ 16. Jahrhundert) Cordula Nolte, Greifswald Ausgehend von Familienkorrespondenzen der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach werden Interaktion und Kommunikation im höfischen Binnenraum sowie zwischen fürstlichen Höfen untersucht. Im Mittelpunkt stehen das Zusammenspiel von mündlichen und schriftlichen Elementen und Fragen der Rezeption (auch des räumlichen Rezeptionsrahmens) in einer Zeit, in der zum einen eigenhändiges Schreiben im Hochadel keine Selbstverständlichkeit war und zum anderen auch intime Kommunikation in Personenkreisen stattfand, die als Publikum fungierten bzw. direkt einbezogen wurden. Dabei sollen Ansätze der historischen Sprachpragmatik, der Literaturgeschichte und der Sozialgeschichte der Sprache mit architektursoziologischen Zugangsweisen verbunden werden. „Vortreffliche Zeugen der Fürsten und Regenten Macht, Hoheit und Magnificence“. Herrschaftliche Repräsentation im deutschen Schloßbau des 15. und 16. Jahrhunderts Matthias Müller, Greifswald Während der fürstliche Schloßbau des 17. und 18. Jahrhunderts in seinen staatsrepräsentativen Qualitäten von der Forschung seit längerem erkannt und erforscht worden ist, blieben entsprechende Untersuchungen zum frühen deutschen Schloßbau bislang ein Desiderat. Fürstliche Residenzschlösser an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit gelten gemeinhin als Derivate der Burgenarchitektur, deren Potential einer herrschaftlichen Repräsentation im Medium der Architektur als eher gering eingeschätzt wird. Daß das Gegenteil der Fall ist und mit der Schloßbaukunst des 15./16. Jahrhunderts gewissermaßen die Grundlage für die hochdifferenzierte adelige Repräsentationsarchitektur des Barock gelegt wurde, möchte der Vortrag aufzeigen. Er beschreibt die wegweisenden Veränderungen in der fürstlichen Residenzarchitektur um 1500 als Ergebnis von 9 sich ausdifferenzierenden Anforderungen an das Regententum und rekonstruiert dabei das Schloß gleichsam als ein architektonisches „Bild des Fürsten“, in dem sich Werte wie Dignität, Dynastie und Rechtlichkeit auf kongeniale Weise spiegeln. Transformationsprozesse der Adelskultur im 16. Jahrhundert PD Dr. Thomas Fuchs, Potsdam Der Vortrag thematisiert die Beschleunigung der Veränderung der Adelskultur im 16. Jahrhundert. Ausschlaggebende Faktoren waren auf der geistesgeschichtlichen Ebene die intellektuellen Herausforderungen durch Humanismus und Reformation, auf der materiellen Ebene unter anderen der Aufstieg des Territorialstaates, militärische Veränderungen sowie die Konfessionalisierung der Lebenswelt. Diesen Herausforderungen begegneten die verschiedenen Adelsgruppen mit verschiedenen Anpassungsleistungen vom unabhängigen Söldnerführer über den gebildeten, formvollendeten Hofmann bis zum patriarchalischen Territorialfürsten. Zusammenfassung und Kommentar Karl-Heinz Spieß, Greifswald 2. Alte Geschichte 2.1 Kult und Gesellschaft in der griechisch- römischen Antike: Traditionen, Neuerungen und Visionen Leitung: Raphaela Czech-Schneider, Münster Gaben an die Götter: Zur Genese einer ´heiligen´ Schatzverwaltung im frühen Griechenland Raphaela Czech-Schneider, Münster Die frühen Tempel-Heiligtümer in Griechenland generierten aufgrund ihrer vielfältigen wirtschaftlichen Systeme schon im 7./6. Jh. v. Chr. einen Verwaltungsbedarf, der nach den auf uns gekommenen Zeugnissen als Inventarisierungs- und Abrechnungsbedarf dokumentiert wird. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass im profanen Bereich ein entsprechendes Bedürfnis zur Ausbildung einer differenzierten Finanzverwaltung nicht entstehen konnte: Öffentliche Einkünfte wurden nämlich unter die Demosangehörigen verteilt, während öffentliche Ausgaben in Form von Leiturgien den reichen Bürgern übertragen wurden. Daher erscheint die Annahme plausibel, dass sich die Praxis einer 'Finanzveraltung' zunächst bei den Heiligtümern ausbildete und später von der Polis übernommen wurde Die Zielsetzung von Kultgründungen am Beispiel Sikyons in hellenistischer Zeit: Wiederbelebte Traditionen und utilitaristische Visionen Ulla Kreilinger, Erlangen Am Beispiel des hellenistischen Sikyon läßt sich das Ineinandergreifen von Kult und Politik besonders deutlich herausstellen. Wie schnell wechselnde politische Verhältnisse und Bündnisse zur Gründung immer neuer, eigentlich konträrer Kulte führen, ist bei dieser peloponnesischen Stadt nahezu exemplarisch zu beobachten. 10 Hierfür können z.T. rein utilitaristische Interessen geltend gemacht werden. Die manchmal extrem kurze Geltungsdauer solcher Kulte wiederum soll als Gradmesser für ihre Beliebtheit und für ihre Verankerung in der Gesellschaft dienen. Sacerdotes publici in solo privato: Römische Grauzonen im historischen Längsschnitt Jörg Rüpke, Erfurt Dieser Vortrag versucht, die für die politische Semantik der römischen Republik zentralen Rituale des Triumphes und des adligen Leichenzuges als Produkte der Formationsphase der Nobilität zu erweisen. Die Analyse führt zu einer ganz neuen Einordnung in diese Semantik und bietet Einblicke in öffentliche wie private Strategien der Konstruktion von Erinnerung. Zwischen Tradition und Vision: Praetextatus, Verteidiger des römischen Glaubens? Zur gesellschaftlichen Neuinszenierung römischer Religion in den Saturnalien des Macrobius Christa Frateantonio, Gießen Der Text des Macrobius ist eine literarische Inszenierung der römischen Saturnalien. Der Autor, der Anfang des 5. Jh. n. Chr. schrieb, stilisiert das üblicherweise im privaten Kreis eher karnevaleske und vor allem von Sklaven gefeierte, dem römischen Gott Saturn geltende Fest zu einer maßvollen Zusammenkunft von Adeligen und Gebildeten um, die vorwiegend theologische und philosophische Fragen diskutieren. Form und Funktion dieser Umstilisierung sollen vor dem Hintergrund der Veränderung der religiösen Verhältnisse im Imperium Romanum unter besonderer Berücksichtigung Roms analysiert werden (sozialer Ort der Auseinandersetzung zwischen traditionelle paganer und christlicher Religion). 2.2 Politische Visionen im Imperium Romanum: Traditionsbedingte Spielräume und Visionstypen Leitung: Egon Flaig, Greifswald Traditionen als kulturelle Grenze und als Motor für Visionen. Konzeptuelle Probleme Egon Flaig, Greifswald Inwiefern ignoriert der Begriff der 'Vision' den binären Schematismus von neu/alt? Besteht der Unterschied zur Utopie darin, daß diese spezialiserten Diskursen angehört, wohingegen auch unspezialisierte soziale Gruppen Träger von Visionen sein können? Bewahrt die 'Vision' - als ein aus der Mystik stammender Begriff - einen Verweis auf Steigerungen? D.h. konkret: Bezieht er sich auf die Höhe des Einsatzes von 'Glaube' und 'Engagement' in sozialen Handlungen? Wie läßt er sich dann abgrenzen vom Konzept einer 'sozial konstitutiven und handlungsleitenden Vorstellung'? Und wie ist er dann heuristisch operationalisierbar zu machen? Welche Folgen ergeben sich für seine forschungsaxiomatische Reichweite, wenn man ihn als Korrelat der 'charismatischen Situation' auffaßt? Wie kann man ihn forschungspraktisch nutzen angesichts eines Gegenstandes, der, wie z.B. die republikanisch-römische Kultur, charismatischen Phänomenen nur einen schmalen und kontrollierten Platz läßt? Inwiefern ziehen Traditionen kulturelle Grenzen für die Emergenz von Visionen und für deren Inhalte? Und inwieweit schaffen sie Dispositionen für die Wirksamkeit von Visionen? 11 Der princeps und sein Dichter. Augustus´ visionäre Politik und historische Visionen in Vergils Aeneis Ingo Gildenhard, London Die Vision eines usurpationsfreien Imperiums. Wie zwei Legionen am 1. Januar 69 eine neue Tradition stiften wollten Egon Flaig, Greifswald Visionäre auf dem Thron? Krisen, Reformen und politische Visionen im 3. Jahrhundert Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Hagen 2.3 Europa in der Antike – Traditionen oder retrospektive Vision? Leitung: Linda-Marie Günther, Bochum Einführung Linda-Marie Günther, Bochum Seit der klassischen griechischen Zeit ist ‚Europa‘ im politischen Denken präsent – liegt hier ein brauchbares Identifikationsangebot für den aktuellen Identifikationsbedarf der Europäer? Oder stellt erst Rom mit seinem territorial weit über den europäischen Kontinent hinausgreifenden Imperium jenes Erbe zur Verfügung, auf das wir heutigen Europäer uns berufen können? Die althistorische Sektion diskutiert anhand von fünf Beiträgen (s.u.), welche Erkenntnismöglichkeiten die Antike dafür bietet, daß partikulare (?) Interessen mit ‚europäischen‘ Traditionen werben. Wie weit reicht Europa zurück? Der Befund der Schulbücher Elisabeth Erdmann, Erlangen-Nürnberg Europa soll im Unterricht, vor allem im Geschichtsunterricht, thematisiert werden, so lautet der Auftrag in den Lehrplänen. Welche Vorstellungen von Europa werden in den Schulgeschichtsbüchern vermittelt? Es reicht ja nicht aus, dass Europa in den Kapitelüberschriften genannt wird. Europa hat unterschiedliche Dimensionen: die geographische, die kulturelle, die politische und die wirtschaftlich-soziale, die auch zeitabhängig sind. Zuerst wird nach der Berechtigung gefragt, diese Dimensionen bis in die Antike zurückzuführen, dann wird die Umsetzung in den Geschichtsschulbüchern betrachtet. Vielfalt, Einheit, Bürgergesellschaft – griechische Lebensform und europäische Identität Jörg-Dieter Gauger, Bonn Gerade am Thema Europa lässt sich zeigen, dass die Antike mehr bietet als schöngeistige Reminiszenz. Denn Europa ist nicht nur geographisch eine „Erfindung“ der Griechen. Ihnen verdanken wir die Vorstellung vom „Kulturraum Europa“, indem sie auf vergleichbare politische „Problemkonfigurationen“ teils zu heute parallelisierbare, teils kontrastierende Antworten versucht haben. „Einheit in Vielfalt“, „Wertegemeinschaft“, 12 „freiheitliche Demokratie“, „Identität durch Gegenbild“, „Bürgergesellschaft“ sind moderne Formeln, aber damit verbinden sich dem griechischen Denken durchaus geläufige Inhalte. Zwischen Europa und Asien: Spartanische Außenpolitik des 5. Jahrhunderts v. Chr. Ernst Baltrusch, Berlin Bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts v.Chr. zieht sich eine Konstante wie ein roter Faden durch die spartanische Außenpolitik. Sie lautet: Das Interessengebiet Spartas liegt in Europa. Asien gehört dem Perserkönig. Doch war die Aufrechterhaltung dieser Konstante problematisch, weil es Griechenstädte auch in Asien gab und Sparta den Anspruch eines „Vorstehers“ aller Griechen erhob. So hatte Sparta im 5. Jahrhundert v.Chr. in und nach den Konflikten mit den Persern und Athen auch im Innern eine existentielle Zerreißprobe um die Außenpolitik zu bestehen. Die spezifisch spartanische Ordnung verlangte ein Festhalten an der Doktrin, die spartanische Position in Griechenland aber ein Fallenlassen. Daran zerbrach Sparta. Das römische Reich – Überlegungen zur Verwendbarkeit von Geschichte Eckhard Wirbelauer, Freiburg/ Br. Der Euro zeigt unfreiwillig, wo die Europäer der Schuh drückt: Sie besitzen so wenige gemeinsame Symbole ihrer Identität, daß eine Landkarte und eine architekturgeschichtliche Stilblütenlese das Outfit der Münzen und Scheine bestimmte. Dabei mangelt es nicht an Überlegungen und Vorschlägen, worin eine europäische Identität bestehen könnte, und das Römische Reich spielt darin die zentrale Rolle. Rémi Brague bringt dies in seinem Essay „Europe. La voie romaine“ auf die abschließende Frage: „Sie sind noch römisch“? Europa in und seit der Spätantike, oder: Eine Königstochter, ausgetretene Pfade und die Vision eines Preises Hartwin Brandt, Bamberg Europa liegt in der Spätantike auf dem Balkan und spielt weder als visionäre Idee noch als traditionsstiftendes Element eine nennenswerte Rolle. Auch der in der gelehrten Forschung geführten Diskussion, ob der Europagedanke schon um 400 n.Chr. oder vielleicht erst um 600 n.Chr. geschichtsmächtige Bedeutung erlangt, ist mit großer Skepsis zu begegnen. Der Vortrag zeichnet sowohl die zeitgenössische Europaauffassung als auch die heutige Diskussion nach, wirft einen Blick auf die früh- und hochmittelalterliche Europarezeption und endet in einem leicht satirischen Ausblick. 2.4 Vertrauen in die Macht des Namens. Gentilcharisma und Familientradition in der Mittleren Republik Leitung: Karl-Joachim Hölkeskamp, Köln Eröffnung Karl-Joachim Hölkeskamp, Köln Ein Ebenbild des Vaters. Wiederholungen in der historiographischen Traditionsbildung Uwe Walter, Köln 13 Daß Söhne das Ebenbild ihres Vaters sein sollten, war ein Kernbestand des kulturellen Wissens der Römer in republikanischer Zeit. Die Traditionsbildung, wie sie schließlich in der Historiographie ihren komplexesten Niederschlag fand, bildete indes die Umsetzung dieses durch Erziehung und Rechtsordnung immer wieder eingeschärften Modells in persönlichen Habitus und situatives Entscheidungshandeln nicht nur ab, sondern wirkte ihrerseits auch auf die Akteure zurück. Familie, nicht Faktion. Wahlen und Wahlerfolg im Ersten Punischen Krieg Hans Beck, Köln Keine andere Familie stellte im Ersten Punischen Krieg soviele Imperiumsträger wie die plebejische gens Atilia. Wie erklärt sich dieser rasante Aufstieg der Familie, die gerade erst zwei Generationen zuvor in die Nobilität vorgedrungen war? Gleich mehrere Mitglieder der Atilier erfüllten das vielschichtige römische Leistungsethos von individuellen und gesamtstaatlichen Verpflichtungen. Im aristokratischen Statuswettbewerb profitierten sie vor allem auch von ihrem ‘familialen Kapital’. Der Vortrag erläutert dessen spezifische Bedeutung für das Abstimmungsverhalten der Comitien und für die Verteilung der politischen Machtchancen in der Nobilität in der Mittleren Republik. Die Nemesis des Stereotyps: die gens Claudia Harriet Flower, Lancaster Das Thema des Beitrags ist die negative Seite der Traditionen der patrizischen Claudii, besonders ihre superbia, ihren überzogenen Ehrgeiz, ihre “Tradition” der Tyrannis. Die folgenden drei Fragen werden behandelt: Wann und wie wurden diese negativen Traditionen zuerst geformt? Wie reagierte dann die Familie in den folgenden Generationen auf dieses problematische Image? Was passierte mit Familienmitgliedern, die sich nicht regelkonform benahmen? Bilanz: Die Macht des Namens: symbolisches Kapital zwischen Konsens und Konkurrenz Karl-Joachim Hölkeskamp, Köln 2.5 Griechisch-römische Tradition und christliche Vision. Geschlechterverhältnisse in der römischen Kaiserzeit Leitung: Tanja Scheer, München und Hans-Ulrich Wiemer, Marburg Der Kaiser ist (k)ein Mann. Geschlechter im Widerstreit zwischen politischer Tradition und neuen Machtstrukturen im römischen Prinzipat Thomas Späth, Basel Politische Macht problematisieren römische Autoren um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert in den Begriffen des traditionellen Geschlechterdiskurses: als Position des pater familias. Doch die Unterschiede in der Verwendung dieser Konzepte für den princeps und die polititische Elite der Senatsaristokratie lassen erkennen, dass die Definition von Männlichkeit unter den politischen Bedingungen des Prinzipats in jenen Umbruch gerät, 14 den FOUCAULT postulierte: ein Beispiel dafür, wie sich Geschlechterdiskurs in seiner Umsetzung in politischgesellschaftliche Praxis verändert. Frauen beim Gastmahl Elke Stein-Hölkeskamp, Essen Im Gegensatz zu anderen antiken Gesellschaften war es in Rom üblich, daß Frauen an Gastmählern teilnahmen – Veranstaltungen, die seit jeher einen zentralen Schnittpunkt zwischen dem „öffentlichen und dem „privaten“ Leben der Familien der gesellschaftlichen Führungsschicht bildeten. Im Zentrum des Vortrages soll die Frage nach der Beschreibung und Beurteilung weiblichen Verhaltens bei solchen Banketten in den literarischen Quellen stehen. Am Beispiel des Gastmahls ergibt sich dabei – in einem Längsschnitt über eine Epochenschwelle hinweg – eine Geschichte des Diskurses über weibliche Verhaltensweisen generell, der zugleich als Teil der allgemeinen Entwicklung gesellschaftlicher und moralischer Normen angesehen werden kann. Frauenbildung – Männerbildung. Bildungskonzepte der römischen Kaiserzeit zwischen Tradition und Innovation Tanja Scheer, München Der Vortrag fragt nach der geschlechtsspezifischen Bedeutung von „Bildung“ in der Römischen Kaiserzeit. Welchen Zwecken dient sie und wie ist der Zugang zu ihr reglementiert? Welche Rolle spielt sie bei der Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in der römischen Gesellschaft? Heidnische Tradition und die Vision einer christlichen Gesellschaft: Ehe und Familie bei Libanios und bei Johannes Chrysostomos Hans-Ulrich Wiemer, Marburg Unter den profanen Diskursen, die im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts in Konkurrenz zur werdenden Sexualethik der Reichskirche standen, war die Rhetorik jedoch nicht etwa ein Fach neben anderen, sondern die höhere Allgemeinbildung schlechthin. Anhand eines Vergleichs zwischen den Schriften des Kirchenvaters Johannes und dem Schulgebrauch dienenden Texten des heidnischen Rhetors Libanios wird untersucht, welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten zwischen den in der Rhetorikschule vermittelten ethischen Gemeinplätzen und der kirchlichen Lehre bestanden. Wie war es möglich, daß „heidnische“ Bildung und „christliche“ Dogmatik koexistierten? Sind Priester Männer? Hartmut Leppin, Frankfurt/M. Die Spätantike ist eine Epoche verschwimmender Geschlechteridentitäten. Auch die Rolle der Priester kann unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, da ihnen die Möglichkeit einer Vaterschaft fehlte, sofern sie an den Zölibat gebunden waren. Dieses Problem wird von Ambrosius in seiner Schrift De officiis, einer Priesterethik, reflektiert und soll vor diesem Hintergrund erörtert werden. 3. Mittelalter 15 3.1 Altes Herkommen – neue Frömmigkeit. Reform in Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts Leitung: Franz J. Felten, Mainz und Sigrid Schmitt, Mainz Einführung Franz J. Felten, Mainz Bei der Beschäftigung mit den Klosterreformen des 15. Jahrhunderts hat sich die ältere Forschung weitgehend auf Darstellungen von Vertretern der sog. Observanz gestützt, die in der zeitgenössischen Publizistik wie auch in anderen Quellen oft eine dominante Stellung einnahmen. Die Aufarbeitung zunächst der politischen Hintergründe, die Einordnung in die kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen sowie sozialgeschichtlichen Zusammenhänge ließ zunehmend die Vielschichtigkeit der Problematik deutlich werden. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt die Sektion, neue Fragestellungen und Forschungsergebnisse zu den lange Zeit vernachlässigten Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts zur Diskussion zu stellen. Standesgemäßes Leben oder frommes Gebet: Die Haltung der weltlichen Gewalt zur Reform von Frauenklöstern Bernhard Neidiger, Stuttgart Das Referat untersucht die herrschaftlichen und religiösen Motive, die Städte und Landesherren bewogen, die Einführung der Observanz in Frauenklöstern ihres Herrschaftsgebiets zu fördern. Kirchen-, Außen- und Innenpolitik spielten dabei ebenso eine wichtige Rolle wie die Frömmigkeit von Nonnen und Laien. Die Klosterreformmaßnahmen werden mit der Territorialgeschichte des 15. Jahrhunderts und den Kirchenreformbestrebungen in der Folge der Konzilien von Konstanz und Basel in Bezug gesetzt. Dominikanerinnenreform und Familienpolitik: Die Einführung der Observanz im Kontext städtischer Sozialgeschichte Sigrid Schmitt, Mainz Am Beispiel der Straßburger Dominikanerinnenklöster St. Agnes (1464-66) und St. Margaretha (1475) wird die Einbindung von Klosterreformmaßnahmen in die städtische Sozialgeschichte vorgestellt. Unter Anwendung prosopographischer Methoden bzw. der Methode von Netzwerkanalysen wird eine in der Forschung gut bekannte Quelle (Johannes Meyers „Buch der Reformacio Predigerordens“) mit bisher weitgehend unbekannter lokaler Überlieferung konfrontiert, ergänzt und neu interpretiert. Dabei wird insbesondere die Familienstrategie städtischer und adliger Familien als maßgeblicher Faktor sichtbar. Vom Mythos der Observanz oder: Wo lagen die Grenzen zwischen observanter und nichtobservanter Frömmigkeit? Thomas Lentes, Münster Anhand einer kritischen Relektüre von historiographischen Quellen zur Reform des 15. Jahrhunderts sowie eines Vergleichs von Handschriftenbeständen, Frömmigkeitspraxis und Liturgie in reformierten und nichtreformierten Klöstern soll gezeigt werden, daß die Grenzen zwischen beiden in der Frömmigkeit in hohem Maße 16 fließend war. Reform-Frömmigkeit, so die These, war keine institutionell oder gruppenspezifisch faßbare, sondern ist Ausdruck eines kulturellen Transformationsprozesses, dem die gesamte Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts unterlag. Der Kern der Differenz? Klausurkonzepte von Observanten und Konventualen Gisela Muschiol, Münster/ Hannover 3.2 Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext des Mittelalters Leitung: Christine Reinle, Bochum und Stefan Esders, Bochum Einführung Christine Reinle, Bochum In Anknüpfung an das Rahmenthema ”Traditionen - Visionen” soll die Veränderung von Traditionen im Bereich des mittelalterlichen Rechts untersucht werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, daß die lange herrschende Vorstellung, das Mittelalter sei in erster Linie als traditionale Gesellschaft zu verstehen, in jüngerer Zeit immer stärker hinterfragt wurde: Ausgehend von den Rechtsveränderungen, die gleichsam ”dezentralisiert” in großer Zahl zu belegen sind, wird mittlerweile vermehrt über die Veränderbarkeit des Rechts im Mittelalter nachgedacht. Als ”Tradition” soll dabei das überkommene, in der Regel gewohnheitsrechtlich verankerte Recht gelten, als ”Visionen” werden solche Leitvorstellungen betrachtet, die den Prozeß der Rechtsveränderung steuerten und die auf grundsätzliche Umformulierungen des bestehenden Normenhorizonts zielten. Treueidleistung und Rechtsveränderung im frühen Mittelalter Stefan Esders, Bochum Der Beitrag versucht für das Frankenreich den Anteil allgemeiner Treueidleistungen an der Veränderung politisch-rechtlicher Strukturen näher zu bestimmen. Die Attraktivität des fränkischen Treueides als Instrument der Rechtsgestaltung wird dabei in Anlehnung an die jüngere Forschung mit dessen Adaption aus dem römischen Militärwesen erklärt. Im einzelnen wird dargestellt, wie über die militärische Leitvorstellung der Treue und die aus ihr abgeleiteten rechtlichen Konsequenzen (Infidelität, Banngewalt) eine Überformung und Neugestaltung der politischen und rechtlichen Organisation erfolgte, die weit über den engeren Bereich des Militärwesens hinausreichte. Regelung aus der Ferne und Klärung vor Ort. Moderne und traditionelle Instrumentarien herrscherlicher Einflußnahme auf das hochmittelalterliche Rechtswesen Detlev Kraack, Berlin/ Plön Unter Konzentration auf den nordalpinen Raum wird der Vortrag an ausgewählten Fallbeispielen aus der Regierungszeit Friedrich Barbarossas den konkreten Handlungsspielräumen bei der Entscheidungsfindung im Umkreis des hochmittelalterlichen Herrschers nachspüren. Um hier Wirkungsmechanismen offenlegen und die Möglichkeiten der Einflußnahme bei der Umsetzung von Entscheidungen vor Ort adäquat ausleuchten zu können, soll neben der Perspektive des Herrschers und seines Umfeldes auch die der jeweils klagenden Parteien sowie die der vor Ort von den Entscheidungen Betroffenen Beachtung finden. 17 Landesherrliche Rechte? Regalien als statusstabilisierende Faktoren für spätmittelalterliche Adelsherrschaften Regina Schäfer, Mainz Regalien, insbesondere Zoll und Geleit, Münze und Judenschutz wurden im Spätmittelalter auch von Herren und Grafen als Landesherren wahrgenommen. In diesen Rechten wurden die nicht-fürstlich hochadeligen Landesherren aber immer mehr durch die Fürsten bedrängt, die Regalien als fürstliche Exklusivrechte verstanden. Dieser Änderung im Rechtsverständnis soll an einigen Beispielen sowohl des Diskurses als auch der faktischen Durchsetzung in der Herrschaft nachgegangen werden. Umkämpfter Friede. Politischer Gestaltungswille und geistlicher Normenhorizont bei der Fehdebekämpfung im deutschen Spätmittelalter Christine Reinle, Bochum Der Vortrag wird in zwei Teile zu gliedern sein. Zum einen soll - ausgehend von der Beobachtung, daß Fehdeführung keine Prärogative des Adels darstellte, sondern in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet war - nach der gewohnheitsrechtlichen Fundierung und nach der sozialen Logik der Selbsthilfe gefragt werden. In einem weiteren Schritt wird untersucht, dank welcher Mechanismen die fehdefeindlichen Vorgaben des gelehrten Rechts bekannt gemacht und allmählich Akzeptanz erlangten. Dabei wird besonders die Bedeutung der katechetischen Literatur betont. ´Versteinerte Grundherrschaft´? Zur stillen Enteignung von Grundherren durch ihre Hofrechte Dieter Scheler, Bochum Unter der Oberfläche gleichsam erstarrter Strukturen der hochmittelalterlichen Grundherrschaft vollzog sich im späten Mittelalter eine Auseinandersetzung um Besitzrechte zwischen Ober- und Untereigentümern, die - im Beispielfall des Niederrheins - nicht nur zu neuen spezifischen durch Landesordnungen fixierten Besitzrechten führte, sondern auch von großer Bedeutung für die Ausbildung eines schichtenübergreifenden Honoratiorentums wurde. Zusammenfassung Stefan Esders, Bochum 3.3 Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa Leitung: Martin Kintzinger, München und Jörg Rogge, Mainz Einführung Jörg Rogge, Mainz und Martin Kintzinger, München Die Monarchien des spätmittelalterlichen Europa zeigen deutliche Unterschiede im Grad einer Verrechtlichung von Herrschaft, bis hin zu Anfängen ständischer Mitwirkung. Die Vision einer Gewaltenkontrolle scheint 18 wirkmächtig gewesen zu sein. Zugleich blieb überall eine Tradition unkontrollierter Gewalt an der Tagesordnung. Nach Gewalt als Konstituens von Herrschaft, zugleich als Instrument des Konflikts mit und des Widerstands gegen die Herrschaft soll in der Sektion gefragt werden. Untersucht werden die Gegebenheiten im römisch-deutschen Reich, Frankreich, England und Ostmitteleuropa. Ein strukturierender Kommentar fügt die Entwicklungsstränge im Vergleich zusammen. Opposition to royal power in England, c. 1300-c. 1500 Christopher Allmand, Liverpool maleficium et venificium. Gewalt und Gefahr für den Fürsten im französischen Spätmittelalter Martin Kintzinger, München Macht ohne Mittel? Die „kleinen König“ und Gewalt im Reich um 1300 Jörg Rogge, Mainz Gewalt gegen Königsherrschaft im Ausbau der Herrschaftspartizipation im spätmittelalterlichen Böhmen Winfried Eberhard, Leipzig Zusammenfassung und Kommentar Gert Melville, Dresden 3.4 Verwandtschaft und Freundschaft. Zur Unterscheidung zweier Beziehungssysteme in der mittelalterlichen Gesellschaft Leitung: Peter Schuster, Bielefeld Amicitia ductus paterna. Freundschaft und Verwandtschaft im frühmittelalterlichen Recht. Verena Epp, Marburg Die beiden Beziehungsformen glichen sich sowohl hinsichtlich ihres rechtlichen Verpflichtungscharakters als auch hinsichtlich der Funktionen, die Freunde bzw. Verwandte im Rechtsleben der gentilen Nachfolgestaaten des weströmischen Reiches z.B. als (Trau)zeugen, Bürgen oder Gläubiger übernahmen, in wesentlichen Aspekten. Beide Bindungsformen waren der Vergeistlichung aufgeschlossen. Während die Verwandtschaft jedoch auch bei Fortfall des affektiven Gehalts der Beziehung (benevolentia, caritas) weiterbestand, löste sich personale amicitia mit deren Verschwinden auf. Zwischen Biologie und Kultur: Zum wissenschaftlichen Umgang mit einem begrifflichen Ordnungsinstrument sozialer Beziehungen Bernhard Jussen, Bielefeld und Gerhard Lubich, Köln 19 Der Beitrag skizziert zunächst die sehr unterschiedliche Entwicklung der mediävistischen Verwandtschaftsforschung in der deutschen mediävistischen Verwandtschaftsforschung einerseits und in der französisch-angelsächsischen andererseits: Streitpunkte, Referenzliteratur, Zäsuren und die Darstellungen des Forschungsstandes weichen signifikant voneinander ab. Sodann skizziert der Beitrag die wissenschaftliche Auffassung vom Gegenstand ‚Verwandtschaft’ seit den 60er Jahren, die selbst in der Sozialanthropologie trotz kulturalistischen Anspruchs letztlich biologistisch geblieben ist. Familie und Verwandtschaft im späten Mittelalter. Heuristische Überlegungen zur Ausrichtung sozialer und affektiver Bindungen Peter Schuster, Bielefeld Wenn im Mittelalter die amici oder Freunde etwa in der Fehde zu Hilfe eilten, so waren dies in der mediävistischen Interpretation seit jeher die Blutsverwandten. Warum aber sollten im Mittelalter Verwandte als Freunde bezeichnet worden sein? Der Vortrag versucht nachzuweisen, dass sich unter der mittelalterlichen „Freundschaft“ ein soziales Beziehungssystem verbirgt, welches Verwandte wie Nichtverwandte umschloss. Damit wird die angenommene überragende Bedeutung der Blutsverwandtschaft in Frage gestellt. Es eröffnen sich dergestalt neue Fragen an die Familienforschung sowie an die Struktur sozialer Beziehungen im Mittelalter. Freundschaft und Verwandtschaft: Zur soziologischen Unterscheidung zweier Beziehungssysteme Rudolf Stichweh, Bielefeld Der Vortrag wird sich auf vier Leitgesichtspunkte konzentrieren: 1. Den multifunktionalen Charakter von Freundschaftsbeziehungen, d.h. die Fluidität von Freundschaftsbeziehungen, die daher rührt, daß diese sich mit äußerst verschiedenartigen gesellschaftlichen Institutionen verbinden und inbsd. in der Genese dieser Institutionen prominent werden. 2. Im Kontrast zu den vormodernen Funktionszuweisungen für Freundschaft die Eigentümlichkeit der modernen Form der Freundschaft. 3. Die Proliferation neuer Beziehungstypen in der Moderne (Bekanntschaft, Netzwerke, Indifferenz gegenüber Fremden etc.), die den Kontext definieren, in dem sich die moderne Form von Freundschaft herausbildet. 4. Die divergierenden Pfade von Verwandtschaft und Freundschaft in der Moderne, die einerseits der Verwandtschaft einen stabilen infrastukturellen Status zuweist und gleichzeitig den Stellenwert der Freundschaft prekär werden läßt. 3.5 Der Weg in eine weitere Welt: Kommunikation und „politisches” Handeln im 12. Jahrhundert Leitung: Hanna Vollrath, Bochum Gleichrangigkeit in der Unterordnung: Lehensabhängigkeit und die Sprache der Freundschaft in den englisch-französischen Beziehungen des 12. Jahrhunderts Klaus van Eickels, Bamberg 20 Das Beispiel der englisch-französischen Beziehungen im 12. Jahrhundert zeigt, wie sich im Hochmittelalter Freundschaft und Lehensabhängigkeit als komplementäre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster reziproker Bindung wechselseitig ergänzten. Als umfassendes und zugleich rang-indifferentes (d.h. einen bestehenden Rangunterschied nicht betonendes, aber auch nicht aufhebendes) Konzept personaler Bindung war die Freundschaft mit der Lehensabhängigkeit vereinbar und ihre notwendige Ergänzung: Die Konzeptualisierung des Lehensverhältnisses als Freundschaft erlaubte es dem Vasallen, seine Ehre zu wahren; dies aber konnte ihm der Herr nur zugestehen, wenn durch die Lehenshuldigung die Rangverhältnisse klargestellt worden waren. Eine „internationale“ Sprache der Ehre? Gesandte vor Friedrich Barbarossa Knut Görich, München Ehre (honor) als äußeres Zeichen sozialer Schätzung stand im Zentrum der Kommunikation mit dem Herrscher. Das galt insbesondere für Gesandtschaften, deren Auftreten vom Zwang zur Repräsentation geprägt war. Welcher demonstrativer Verhaltensweisen bediente sich Friedrich Barbarossa beim Empfang von Gesandtschaften? Bildeten höfische Verhaltensweisen mit ihrer Akzentuierung des honor so etwas wie eine „internationale“ Sprache der Ehre, die Erwartungssicherheiten schuf und Mißverständnisse reduzierte? Die sozialen Aspekte der Außenpolitik: diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und England im 12. Jahrhundert Joseph Huffmann, Grantham, PA (USA) Das Referat wird diplomatische Beziehungen zwischen englischen und deutschen Herrschern des 12. Jahrhunderts als Einzelfallstudie der gesellschaftlichen Aspekte der mittelalterlichen Diplomatie behandeln. Hauptkrisen der Politikgeschichte vom Investiturstreit, dem Alexandrinischen Schisma bis zur Königswahl Ottos IV. werden als Beispiele für diplomatische Beziehungen zwischen politischen Gesellschaften verstanden, die von lokalen, regionalen und dynastischen Interessen anstatt von den Erfordernissen von Institutionen, Verfassungen und Staat bestimmt waren. Außerdem erscheinen die Deutschen und Engländer der Zeit bemerkenswert ähnlich in bezug auf die gesellschaftliche Dynamik ihrer Diplomatie, obwohl die politischen Ordnungen, in denen sie lebten, recht unterschiedlich waren. Kommunikation über große Entfernungen: Papst Alexander III. und der Becket-Streit Hanna Vollrath, Bochum Thomas Becket hat wie niemand vor ihm den Papst in den Streit mit seinem König Heinrich II. von England hineingezogen und ihm eine Fülle von Einzelentscheidungen abverlangt. Das unvergleichlich reichhaltige Quellenmaterial zum Becket-Streit erlaubt es, Formen und Weisen der Kommunikation über lange Distanzen hinweg zu erkennen und die Probleme zu analysieren, die sich daraus ergaben. 4. Frühe Neuzeit 4.1 Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte heute – Historiographische Konzepte im Umgang mit dem Alten Reich und der polnisch-litauischen Adelsrepublik 21 Leitung: Hans-Jürgen Bömelburg, Warschau Die polnische Historiographie und der polnisch-litauische Staatsverband – multinationales Erbe und polnische Geschichtsschreibung Dybas Boguslaw, Thorn Der tschechische Blick auf die Reichsgeschichte Jaroslav Pánek, Prag Der litauische Blick auf den polnisch-litauischen Staatsverband – „Verlust litauischer Staatlichkeit“ oder Bewahrung der Parität? Rimvydas Petrauskas, Wilna Der niederländische Blick auf die Reichsgeschichte Bastiaan Schot, Leiden Die ukrainische Historiographie und der polnisch-litauische Staatsverband Jurij A. Mycyk, Kiev 4.2 Traditionale Politik und visionäre Theologie? Politisch-theologische Debatten im Europa des 16. Jahrhunderts Leitung: Luise Schorn-Schütte, Frankfurt/M. und Robert von Friedeburg, Rotterdam Politik als Tradition, Theologie als Vision? Die Debatte um das Notwehr-/ Widerstandsrecht im Alten Reich des 16. Jahrhunderts Robert von Friedeburg, Rotterdam In den durch die visionären Forderungen der Theologen entstandenen Konflikten um eine Reform der Kirche kam es vor dem Hintergrund der besonderen traditionellen Verfassungssituation des Reiches zu einer besonderen Lösung. Auf allen Ebenen des Reiches verfestigte sich die ständische Ordnung in eine Ordnung von Obrigkeiten. Dieser Prozess darf keineswegs als Deutscher Sonderweg missverstanden werden, sondern stellte die spezifische Form dar, in der sich im Reich eine Ordnung herauskristallisierte, die als Richter in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen fungieren konnte. Religiöser Radikalismus und traditionale Politik: die französischen Religionskriege Michael Wagner, Gießen Der Vortrag untersucht Entstehung, Ideologie und politisch-gesellschaftliche Praxis des radikalkatholischen Aktionismus im Frankreich der Religionskriege (1562 - 1598). Im Zentrum steht die Frage, inwieweit der 22 militante Ultrakatholizismus eine potientiell revolutionäre Kraft darstellte, die die Machtstellung der Krone und der sozialen Eliten aus Schwertadel und Noblesse de Robe bedrohte. England and its reformations: traditional politics or the impact of radical religion? Ralph Houlbrooke, Reading 5. Späte Neuzeit/ Zeitgeschichte 5.1 Globalisierungsgegner? Die Abschottungstendenzen der NS-Wirtschaft und ihre Wirkungen im internationalen und intertemporalen Vergleich Leitung: Jörg Baten, Tübingen Die Autarkiepolitik des Dritten Reiches aus ökonomischer Sicht Albrecht Ritschl, Berlin In Erweiterung traditioneller Interpretationen, die die nationalsozialistische Autarkiepolitik vor allem als Kriegsvorbereitung deuteten, muss auf devisenpolitische Zwangslagen der deutschen Wirtschaft in den 1930er Jahren hingewiesen werden. Nicht allein die versuchte Umlenkung des deutschen Außenhandels nach Osten, sondern besonders der Verlust von Exporterlösen auf den Märkten Westeuropas und Amerikas nach der deutschen Zahlungseinstellung bei Auslandskrediten haben spätere autarkische Tendenzen hervorgebracht. Eine völlige Autarkisierung Deutschlands ist außer bei wenigen strategischen Rohstoffen jedoch weitgehend gescheitert. Autarkie, Marktdesintegration und Gesundheit: Die Ernährungs- und Mortalitätskrise während der frühen NS-Zeit 1933-37 Jörg Baten, Tübingen und Andrea Wagner, München Konnte die NS-Wirtschaftspolitik in der Vorkriegszeit bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und beim Wachstum des Bruttosozialprodukts einige - teilweise nur scheinbare - Erfolge verbuchen, so schlugen sich die Autarkiebestrebungen in den biologischen Komponenten des Lebensstandards, wie Morbidität, Sterberisiko und Ernährungssituation äußerst negativ nieder. Auch aufgrund fehlender Investitionen in das öffentliche Gesundheitswesen und wegen der zahlreichen Eingriffe in den Preismechanismus waren erhebliche soziale Kosten zu beklagen, die insbesondere von der Bevölkerung in den größeren Städten und den Küstenregionen zu tragen waren. Industrielle Exporte 1933-39 Michael Ebi, Mannheim Die nach 1933 steigende Nachfrage deutscher Verbraucher nach ausländischen Produkten und der steigende Rohstoffverbrauch der deutschen Industrie führten aufgrund des gleichzeitigen weiteren Rückgangs der deutschen Exporte zu einer negativen deutschen Handelsbilanz im Jahr 1934. Dadurch gingen die Devisenbestände bei der Reichsbank auf einen beängstigend niedrigen Stand zurück. Eine Erhöhung des Exportvolumens zur Verbesserung dieser Situation erschien daher unbedingt notwendig. Um dies zu erreichen, 23 verfolgten die NS-Machthaber unterschiedliche Strategien, die sowohl Wechselkursmanipulationen als auch eine direkte Förderung der Ausfuhr umfassten. Gewisse, wenn auch kurzfristige Erfolge brachte aber erst die Neuordnung der Exportförderung im Jahr 1935, durch die der deutsche Anteil am Weltausfuhrvolumen erhöht wurde, während andere wichtige Industrienationen Einbußen zu beklagen hatten. Internationale Zusammenarbeit und nationale Alleingänge: Die Entwicklung der Synthesekautschukindustrie in Deutschland und den USA vor und während des Zweiten Weltkriegs Jochen Streb, Heidelberg Nach der Unterbrechung der deutsch-amerikanischen Kooperationen in der Kautschuk-synthese durch den Zweiten Weltkrieg gewann die staatliche Technologiepolitik zunehmend Einfluss auf den Innovationsprozess in den nationalen Synthesekautschuk-industrien. Preis- und Absatzgarantien waren in beiden Ländern eine Vorbedingung für die privat-industrielle Fertigung von BUNA S. Während die deutschen Synthesekautschukerzeuger ihre Produktionskosten dabei durch innerbetriebliche Effizienzstei-gerungen erheblich stärker verringerten, verbesserten die amerikanischen Hersteller unter dem Druck heimischer Reifenhersteller vor allem die Verarbeitbarkeit ihres Produktes. 5.2 Zivilgesellschaft als Projekt und Prozeß. Konzept und Forschungserträge Leitung: Arnd Bauerkämper, Berlin und Jürgen Kocka, Berlin Einführung Die Sektion ist besonders dem Spannungsverhältnis zwischen der normativen und der deskriptiv-analytischen Dimension des Konzepts der Zivilgesellschaft gewidmet. Die Referate nehmen die theoretische Diskussion auf und zeigen den analytischen Nutzen und die Grenzen des Konzepts in der konkreten historischen und ethnologischen Forschung. Sie untersuchen dabei exemplarisch den Raum jenseits der Privatsphäre und unterhalb der staatlichen Herrschaft. Obgleich die Diskrepanz zwischen Projekt und Prozeß nicht aufzuheben ist, wird die Zivilgesellschaft auch im sich vereinigenden Europa nicht nur ein wichtiger Untersuchungsgegenstand, sondern auch ein inspirierendes politisches Ziel bleiben. Zivilgesellschaft zwischen Universalitätsanspruch und sozialer Exklusion Jürgen Kocka, Berlin Der seit den 1980er Jahren international revitalisierte Begriff „Zivilgesellschaft” hat eine verschlungene Geschichte, auf die rekurriert werden kann, um daraus Fragestellungen zu entwickeln, die auf die Entwicklung von Gesellschaft, Politik und Kultur europäischer Länder im 19. und 20. Jahrhundert gerichtet werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Spannung zwischen dem universalistischen Anspruch des von der Aufklärung geprägten Projekts der Zivilgesellschaft und der durchweg beobachtbaren Begrenztheit seiner praktischen Einlösung. Dieses historisch variable Spannungsverhältnis bietet sich als Gegenstand einer europäisch vergleichenden historischen Untersuchung an. Zivilgesellschaft – zwischen demokratietheoretischen Dissonanzen und sozialer Inklusion 24 Wolfgang Lauth (Mainz/Koblenz-Landau) Um die empirische Vielfältigkeit des Phänomens Zivilgesellschaft angemessen zu erfassen, ist es notwendig, mit einem Modell von Zivilgesellschaft zu arbeiten, das es erlaubt, diese Varianz angemessen zu erfassen, ohne in relativistische Positionen zu verfallen. Dieses Ziel wird mit dem Vorschlag eines funktionalistischen Zivilgesellschaftsmodells verfolgt, das anhand von ausgewählten Kriterien in verschiedene Subtypen untergliedert werden kann. Diese Grundlage bietet die Basis, um die demokratietheoretischen Implikationen von Zivilgesellschaften kontextspezifisch zu betrachten und die Dimensionen sozialer Inklusion und Exklusion adäquat zu erfassen. Zivilgesellschaft als Alternative zur Revolution Manfred Hildermeier, Göttingen Die Frage nach einer Alternative zur bolschewistischen Revolution von 1917 ist so alt wie diese selbst. Lange Zeit stand ihre Beantwortung im Zeichen der Selbstrechtfertigung des unterlegenen Liberalismus. Ebensowenig hat sich die nachfolgende sozialgeschichtliche, auf langfristige Faktoren orientierte Sehweise von den Kategorien und Betrachtungsfiltern der Zeitgenossen lösen können. Vielmehr hat sie die beschwörende Versicherung, eine andere Zukunft sei möglich gewesen, in vieler Hinsicht nur ins Negative gewendet. In der Sowjetunion verbot es die Staatsdoktrin, die Frage überhaupt ernsthaft zu stellen. Um so lebhafter war die Renaissance, die das Problem nach ihrem Untergang erfuhr. Auf der Suche nach einer anderen Vergangenheit ist es nachgerade geboten, zumindest Keime einer konträren Entwicklung zu entdecken. (Zivil-)Gesellschaft oder Gemeinschaft? Das Beispiel einer Dorfgemeinde in Ungarn Christopher Hann, Halle Der Begriff der Zivilgesellschaft hat in den vergangenen Jahren auch unter Ethnologen große Resonanz gefunden. Es existieren bereits viele Fallstudien über die Einführung der Zivilgesellschaft durch NGOs in Entwicklungsländern oder auch über die Unterstützung ihrer Durchsetzung in der postsozialistischen Welt. Paradoxerweise meinen die Menschen, die in diesen Welten leben, dass sie unter der alten Diktatur einfacher in den Genuss der propagierten Vorteile einer solchen Gesellschaft kommen konnten als dies gegenwärtig der Fall ist. Im ländlichen Ungarn erlebte man vor dem Sozialismus eine bürgerliche Gesellschaft, die durch soziale Ungleichheiten und Polarisierungen geprägt war; heute fühlen sich viele in diese Zeit zurück versetzt. Zivilgesellschaft und Kultur. Entstehung, Organisation und Programmatik gesellschaftlich getragener Theater in Europa Philipp Ther, Berlin Der Vortrag beruht auf drei Fallstudien über das Stadttheater in Leipzig, das vom Adel dominierte Polnische Theater in Lemberg und das bürgerlich geprägte Tschechische Nationaltheater in Prag. Dabei werden die Entstehungsgeschichte, die Organisation und Trägerschichten, die soziale Reichweite der Häuser und ihre Repertoires verglichen. Eines der Ergebnisse ist, daß der polnische Adel bei der Gründung, Finanzierung und Programmatik gesellschaftlich getragener Theater funktional äquivalent zum Bürgertum in Deutschland und Böhmen agierte. An den Vergleich schließt sich eine Analyse kultureller Netzwerke in Mitteleuropa an, mit denen die Konvergenz der Repertoires und der Aufführungspraxis im Bereich des Musiktheaters erklärt wird. 25 5.3 Wissenstraditionen Leitung: Lorraine Daston, Berlin Einleitung: Wissenstradition und Wissenschaft um 1800 Lorraine Daston, Berlin Ein Anfang ohne Ende – Die klassische Naturgeschichte und ihr Archiv Staffan Müller-Wille, Berlin Der Vortrag unterwirft die These Michel Foucaults und Wolf Lepenies' vom Übergangs "der Naturgeschichte zur Geschichte der Natur" um 1800 einer kritischen Würdigung. Insbesondere wird nachgezeichnet, wie spezifische Institutionen des Sammelns und Archivierens dafür sorgten, dass naturgeschichtliches Wissen auch über die "Zeitenwende" um 1800 hinaus tradiert wurde. Wissenstraditionen: Heterogenität und Kohärenz Ursula Klein, Berlin Der Vortrag vergleicht die pflanzenchemische Experimentalgeschichte des 18. Jahrhunderts, in der praktischtechnologische und kommerzielle Ziele auf engste mit akademischen Erkenntnisinteressen verwoben waren, mit der Frühphase der Experimentalkultur der synthetisierenden Kohlenstoffchemie, die von ca. 1860 an neue Allianzen mit der chemischen Industrie schmiedete (Farbenchemie). Experimentalwissen und der Wandel gelehrter Aufmerksamkeit im späten 18. und 19. Jahrhundert Otto H. Sibum, Berlin Jüngste wissenschaftshistorische Untersuchungen zeigen, daß das Experimentalwissen als integraler Bestandteil nicht-schriftlicher Überlieferungstraditionen zu betrachten ist, welches nur schwer mit den Praktiken der Schriftgelehrten und deren Auffassung von Wissenschaft zu vereinbaren. Dieser sich an der „Kunst des Experimentierens“ entzündende Konflikt steht beispielhaft für einen folgenreichen Prozess der Ausdifferenzierung von Wissen und Wissenschaft, dessen zentrale Entwicklungsphase um 1800 untersucht wird. 5.4 „Vision Europa“: Die Europa-Diskussion in Polen und in Deutschland im 19. und rühen 20. Jahrhundert Leitung: Heinz Duchhardt, Mainz Einführung Heinz Duchhardt, Mainz 26 Zu den großen Visionen des 18./19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte die „europäische Föderation“, die seit den Römischen Verträge von 1957 allmählich Gestalt annimmt und in letzter Zeit in bezug auf die Zielperspektive wieder verstärkt und kontrovers diskutiert wird. Der Europa-Gedanke speiste sich in seiner Hoch-Zeit, im frühen 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert, aus ganz unterschiedlichen Quellen: der Vorstellung, nur geeint den politischen und ökonomischen Herausforderungen von jenseits der Meere gewachsen zu sein, der Ideologie von der zu wahrenden Überlegenheit der abendländisch-christlichen Kultur, der Perspektive, im Verbund Reformen und politisch-soziale Veränderungen besser durchsetzen zu können, der Überzeugung, daß nur so der Krieg aus dem Staatenleben verbannt werden könne. Die Gegenüberstellung Polens und Deutschlands - als zweier Nachbarn, die als „verspätete Nation“ bzw. fehlender Unabhängigkeit und geostrategischer Lage wegen besondere Hoffnung auf „Europa“ setzten erscheint methodisch besonders reizvoll. Europa-Vorstellungen und Europa-Pläne im Umfeld des Wiener Kongresses Wolf G. Gruner, Rostock Krisenzeiten waren in der europäischen Geschichte stets auch Perioden des Nachdenkens über ein „wiedervereinigtes“ Europa. Dies gilt auch für die Jahre zwischen 1792 und 1815. Unterschiedliche Personen und Gruppen, wie Kant, Gentz oder die Friedensgesellschaften legten Konzepte vor, die einen europäischen Völkerbund, eine europäische Föderation oder ein dauerhaftes Gleichgewicht anstrebten, um ewigen Frieden, Recht und Sicherheit in Europa zu gewährleisten. Vom „ewigen Bündnis der zivilisierten Völker“ (1831) zur „Dämmerung Europas“ (1867). Der Wandel des Europa-Diskurses in der polnischen Publizistik des 19. Jahrhunderts Malgorzata Morawiec, Mainz In dem Vortrag werden zwei Schriften der polnischen Autoren aus dem 19. Jahrhundert analysiert und ihre Einbettung in die Tradition des Europa-Diskurses dieser Zeit skizziert. Dabei spielen sowohl die romantischen als auch aufklärerisch-rationalistischen Züge des polnischen Gedankenguts eine nicht unwesentliche Rolle. Sie im Kontext der Entwicklung von deutschen Europaschriften auf Synergie zu prüfen, ist das Ziel dieses Unternehmens. Das polnische Konzept einer europäischen Föderation – zwischen den Vereinigten Staaten von Europa und dem konföderativen Mitteleuropa (1917-1939) Wieslaw Bokajlo, Breslau Irrweg Mitteleuropa. Deutsche Konzepte zur Neugestaltung Europas aus der Zwischenkriegszeit Jürgen Elvert, Köln Es wird gezeigt, dass „Mitteleuropa“ anders als bisher angenommen im deutschen politischen Denken der Zwischenkiegszeit, besonders im deutsch-nationalen und konservativ-revolutionären Lager einen prominenten Platz einnahm. Wie vor 1914 wurde Mitteleuropa auch nach 1918 als der Raum betrachtet, über den das Deutsche Reich einen gleichsam naturrechtlich begründeten Herrschaftsanspruch besaß, wenngleich kein Einvernehmen darüber erzielt wurde, wie diese Herrschaft ausgeübt werden sollte. Somit entstand eine Vielzahl unterschiedlicher Entwürfe, von denen einige besonders aussagekräftige vorgestellt werden. Es wird ebenfalls 27 gezeigt, wie die Überlegungen über das Jahr 1933 hinaus weiterwirken und letztlich in die nationalsozialistischen Europapläne einmündeten. 5.5 Gemeinschaft und Politik. Praxistheoretische Ansätze in der Geschichtswissenschaft Leitung: Martin Geyer, München Einleitung Die Sektion will einen Beitrag zur Debatte zwischen Sozialgeschichte und neuerer Kulturgeschichte leisten. Im Mittelpunkt stehen Ansätze, die sich auf eine „Theorie sozialer Praktiken“ beziehen und die sowohl die körperlichen Verhaltensroutinen, kollektiven Sinnmuster und subjektiven Sinnzuschreibungen historischer Akteure als auch die historische Verankerung ihrer Identitäten und Symbole zum zentralen Gegenstand der Analyse und Theoriebildung machen. Regeln und Ressourcen als brüderliche Bande: Praxistheorie und die frühe deutsche Sozialdemokratie, 1848-1878 Thomas Welskopp, Berlin Aus praxistheoretischer Perspektive ergibt sich für eine Geschichte der frühen Sozialdemokratie in Deutschland eine gewisse Lockerung der sozioökonomischen Kausalannahme, die die ältere Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte organisiert hatte. Dafür werden nun die sozialdemokratischen Organisationen selber als Handlungsfelder, als Arena sozialer Praktiken, erfassbar. In die Identitätsstiftung als Arbeiterbewegung gingen neben den Erfahrungen mit der Abhängigkeit vom „großen Kapital“ nunmehr die Erfahrungen prägend mit ein, die in den Arbeitervereinen und ihren Versammlungen selber gemacht wurden. Der ideologische Diskurs avancierte dabei selber zu einer Praxisform, deren performative Seite ebenso wichtig war wie ihre semantischen und semiotischen Bezüge. Gewalt und Gemeinschaft. Ein Vergleich des italienischen Squadrismus und der deutschen SA als Fallbeispiel einer praxeologischen Faschismustheorie Sven Reichardt, Berlin Der Vortrag legt für die Aufstiegsphase der faschistischen Massenbewegungen in Italien und Deutschland den Versuch einer praxeologischen Bestimmung des Faschismus vor. Im Zentrum stehen hierbei die dynamischen Gewaltorganisationen des Squadrismus und der SA. Im Hinblick auf deren Gewalt wird eine Analyse der Verhaltensregeln, der Organisationskultur und des Lebensstils der faschistischen Kampfbündler vorgenommen. Die faschistischen Kampfbünde werden mit Hilfe eines praxeologischen Ansatzes als spezifische Ausformung einer sozialen Bewegung und als ein Erfahrungsraum analysiert, bei der die Gewalthandlungen der Faschisten sich aus ihrer Lebenspraxis ergaben und der Verfestigung ihres identitätsstiftenden Lebensstils galten. Das Parlament als sozialer Raum. Kommunikation, Alltag und soziale Netzwerke im Reichstag der Weimarer Republik Thomas Mergel, Bochum 28 In dem Vortrag geht es um die kommunikative Dynamik, die Institutionen entwickeln, selbst wenn sie so umkämpft sind und in einer solch zerrissenen Umwelt stehen wie der Weimarer Reichstag. Es soll gezeigt werden, daß sich gegnüber den politischen Fronten „draußen“ im parlamentarischen Alltag die kommunikative Logik von auf Dauer gestellten sozialen Verbünden durchsetzt. Auch hier wurde im Konflikt die Anschlußfähigkeit gesucht, denn der Gegner von heute konnte morgen ein Partner sein, auch hier wirkte der enge Kontakt zu anderen Abgeordneten in der „Lebensform des Parlamentariers“ (Gustav Radbruch) entkrampfend, ebenso aber auch eine politische Mentalität, die im Reichstag einen utopischen Hohlspiegel des ganzen Volkes sah und ihm deshalb Vorbildcharakter zusprach. Die – zunächst paradox wirkende – Folge war aber keineswegs eine höhere Legitimität gegenüber der Öffentlichkeit, sondern vielmehr die Wahrnehmung einer politischen Klasse, die unter einer Decke steckte. Kommentar Jürgen Kocka, Berlin 5.6 Europäische „Volksgeschichten“ in der Zwischenkriegszeit Leitung: Manfred Hettling, Halle Einführung Manfred Hettling, Halle Deutschland Willi Oberkrome, Freiburg Der Kurzvortrag greift einige Fragen auf, die bei der Diskussion über deutsche Historiker im ‚Dritten Reich’ nicht immer hinreichend berücksichtigt wurden. Vor allem stellt er auf interne Fraktionierungen und unterschiedliche Resonanzebenen der Volkstumshistoriographie ab, die als ein wissenschaftsgeschichtliches Phänomen von vergleichsweise ‚langer Dauer’ kenntlich gemacht werden soll. Deutsch-jüdischer Zionismus Moshe Zimmermann, Jerusalem Seit dem 19. Jahrhundert verhalf der Begriff 'Volk' (hebr. Am) dazu, die jüdische Geschichte als Volksgeschichte zu verstehen, und zwar weitgehend in dem Sinn, in dem sich dieser Begriff in der deutschen Geschichtsschreibung verankern konnte. Die Existenz jüdischer Diaspora(s) bot dem Historiker vor wie nach der Gründung des jüdischen Staates die Grundlage für eine auf Volk, Kultur und Sprache, nicht auf Staat und Staatlichkeit ausgerichtete Geschichtsschreibung. Polen Jan Piskorski, Posen Die 'polnische Westforschung' entstand nach dem Ersten Weltkrieg und war intensiv in die politischen Kontroversen der Zeit eingebettet, wie auch in anderen ostmitteleuropäischen Ländern. Methodisch orientierte man sich dabei überwiegend an der deutschen Historiographie - und konnte dennoch zu politisch 29 entgegengesetzten Urteilen gelangen. Kaum vertreten jedoch waren in Ostmitteleuropa rassische Konzeptionen von Volksgeschichte - jedoch ist das bisher kaum untersucht worden ist. Generell verbreitet war hingegen in Ostmitteleuropa Volksgeschichte vor allem in traditionellem nationalistischem Sinne, die als origo gentis eigentlich schon im Mittelalter entstanden war. Frankreich Lutz Raphael, Trier Das Fehlen einer mit der deutschsprachigen Volksgeschichte vergleichbaren historiographischen Strömung, aber auch einer entsprechenden Verzahnung nationalpolitischer Zielsetzungen mit fachinternen Strategien der Etablierung/Durchsetzung neuer integrativer Forschungsmethoden, -themen und Konzepte macht Frankreich zu einem idealtypischen Gegenbeispiel. Der defensive Grundzug des integralen Nationalismus, die Distanz der universitären Kulturwissenschaften zum "Rasse"begriff und der Aufstieg der Annales-Strömung als neuem integrativem Programm auf dem Feld der Sozial- und Kulturgeschichte sind wichtige Faktoren, die eine wissenschaftliche Verknüpfung zeittypischer Ideologeme wie "sol", "communauté" oder "peuple/race" jenseits von Einzelfällen zwischen 1910 und 1960 verhindern. Jugoslawien Holm Sundhaussen, Berlin Der Beitrag gibt einen Überblick über ideologische Voraussetzungen, Entstehung und Funktion der „Volksgeschichte“ im jugoslawischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der serbischen Historiographie und Anthropogeographie von den Krisenjahren 1908/09 bis zum Ende der Zwischenkriegszeit. Italien Christian Jansen, Bochum Die Durchsicht der wichtigsten historischen Fachzeitschriften, einiger populärwissenschaftlicher Zeitschriften mit historiographischem Schwerpunkt sowie von nationalgeschichtlichen Publikationen jüngerer Historiker aus der Zeit des Faschismus ergab, daß es eine "Volksgeschichte" wie in Deutschland nicht gab. Dieser Negativbefund wird erklärt 1. mit prinzipiellen Unterschieden zwischen faschistischem und nationalsozialistischem Regime, 2. mit Unterschieden im Verhältnis beider Regime zur Geschichtswissenschaft und 3. mit Unterschieden zwischen dem deutschen und dem italienischen nationalistischen Diskurs. Teilweise lassen sich aus der unterschiedlichen Entwicklung der Geschichtsschreibung Rückschlüsse auf prinzipielle Differenzen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus ableiten. 5.7 Gesellschaftspolitische Zukunftsentwürfe zwischen 1890 und 1940 im europäischen Vergleich Leitung: Wolfgang Hardtwig, Berlin und Lucian Hölscher, Bochum Historische Zukunftsforschung – theoretische Überlegungen und historische Forschungsperspektiven. Lucian Hölscher, Bochum 30 Die Ziele der Historischen Zukunftsforschung bestehen 1. in der Rekonstruktion vergangener Zukunftsvorstellungen als partiell autonomen Wirklichkeitsbereichen, 2. in der Erweiterung historiographischer Darstellungen um das Spektrum ihrer nicht eingetretenen Möglichkeiten und 3. in der Ermittlung der mittel- und langfristigen Konjunkturen vergangener Zukunftsvorstellungen sowie der Bedingungen ihrer Entstehung und ihres Verfalls. Die Zukunft der Weimarer Republik: Prognosen, Utopien und Planungen der Gesellschaft in Deutschland 1918-1933 Rüdiger Graf, Berlin In den Krisenprozessen und -diskursen der Weimarer Republik florierte neben pessimistischen Untergangsvisionen auch eine weitreichende Gestaltbarkeitseuphorie, die sich in vielfältigen Plänen und Utopien niederschlug. Der Vortrag analysiert die Diskurse über „Deutschlands Zukunft“ unter der Fragestellung, wie sich das Verhältnis von passiver Zukunftserwartung und aktiver Zukunftsgestaltung innerhalb des politischen Spektrums entwickelte. Damit soll ein Beitrag zur Klärung der Frage geleistet werden, ob und inwiefern in den Krisen der Weimarer Republik bestimmte Modi der Zukunftsaneignung an Plausibilität und Attraktivität gewannen. Der schwarze Spiegel. Afrika als Ausweichraum europäischer Zukunftsentwürfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Dirk van Laak, Jena In der Geschichte des Kolonialismus waren Plan, Phantasie und Praxis stets eng aufeinander bezogen. Die mental maps der Kolonialisten waren ebenso einflußreich wie die Kartenwerke, auf denen die frontiers der Erschließung verzeichnet waren. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg wurde Afrika zur Projektionsfläche einer gemeinsamen europäischen Kultur-Aufgabe. Im scheinbar so natürlichen „Ergänzungsraum“ Afrika sollte sich die Einheit Europas formen, sollten sich überlegene Technologie und Wissenschaft bewähren. In zahlreichen Visionen und Planungen zur Entwicklung Afrikas spiegelten sich die emotionalen und gedanklichen Horizonte der Epoche wider. Grigorij Landaus „Dämmerung Europas“ – Vorahnungen vor dem Großen Krieg Karl Schlögel, Frankfurt/ O. Im Jahre 1923 erschien in Berlin in russischer Sprache Grigorij Landaus (1877-1941) Buch "Die Abenddämmerung Europas". Der Autor, russischer Jude, prominenter Liberaler der Vorrevolutionszeit, Herausgeber und Publizist in der Berliner Emigration, hatte ein Buch veröffentlicht, das im wesentlichen vor 1914 bzw. 1917 geschrieben worden war. Es enthält eine Zeitdiagnose und einen Ausblick auf den Niedergang Europas. Diese negative Vision, die im Lärm der Debatten um Oswald Spenglers Buch untergegangen ist, soll hier erstmals zu Gehör gebracht werden. Zukunftsvisionen und Vergangenheitsrhetorik im italienischen Faschismus Gustavo Corni, Trient 31 Aus verschiedenen (wirtschaftlichen, demographischen und zum Teil ideologischen) Gründen hatte der italienische Faschismus ein besonderes Interesse an einer Stärkung der Landwirtschaft und der Bodenverbundenheit der Bevölkerung. In diesem Bereich ist insbesondere die vom Regime mit grossem Aufwand durchgesetzte Politik der „bonifica integrale“, also der „integralen“ Entwässerung und Regulierung sumpfiger Böden, wo Tausende von Kolonisten angesiedelt werden sollten. Die „bonifica integrale“ ist eng mit der Planung und Realisierung von sog. „neuen Städten“ verknüpft. Mit diesem Unternehmen beabsichtigte das Regime die Realisierung eines Vorhabens, das eindeutig utopistische Züge innehatte: eine Stadt, die eigentlich keine Stadt hätte sein sollen; eine Stadt, die in ihrer gesamten architektonischen und sozial-urbanistischen Planung einem utopistischen Ziele diene, insbesondere die Errichtung eines neugearteten sozialen Gebildes. Moderation und Zusammenfassung Wolfgang Hardtwig, Berlin 5.8 Brüche und Kontinuitäten in der Medizin und in den Naturwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts Leitung: Andreas Kleinert, Halle und Josef N. Neumann, Halle Gesamt Unter dem Einfluß von Hermann von Helmholtz unterwarf sich die Medizin im 19. Jahrhundert den Wissenschaftsprinzipien von Physik und Chemie, die ihrerseits von der als Leitwissenschaft verstandenen Mechanik beherrscht wurden. Diesem Wechsel im medizinischen Denken folgte ein Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften, in dessen Verlauf die Physik zur Aufgabe des aus der Mechanik stammenden deterministischen Denkens gezwungen wurde. Angesichts dieser signifikanten Brüche ergibt sich die Frage, wie weit Elemente der traditionellen Medizin und der klassischen Naturwissenschaft im modernen Wissenschaftsverständnis wirksam geblieben sind. Diskontinuität in der Entwicklung der Medizin im 19. Jahrhundert und die Rolle der Romantischen Medizin Nelly Tsouyopoulos, Münster Im 19. Jahrhundert hat ein Paragdimawechsel in der Entwicklung der Medizin stattgefunden. Die Naturphilosophie der Romantik spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die Konzeption der Medizin erfuhr eine Veränderung: von einer Medizin der qualitativen Veränderungen hin zu einer Medizin der Lebensreaktionen. Diese Wendung hatte Konsequenzen für die Auffassung von Gesundheit und Krankheit, für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt und für die Gestaltung der experimentellen Methode. Die Diskontinuität in der Entwicklung – als Folge des Paradimawechsels – hatte neben wissenschaftlichen, auch soziale, politische und standespolitische Gründe. „Eine vollständige Umwälzung?“ Wissenschaftliche Medizin zur Mitte des 19. Jahrhunderts Volker Hess, Berlin Der Beitrag wird mit Blick auf die klinische Medizin zur Mitte des 19. Jahrhunderts die „Geburt der naturwissenschaftliche Medizin“ einer Neubesichtigung unterziehen. Dabei soll am Beispiel der klinischen 32 Thermometrie nachvollzogen werden, in welcher Weise die neuen quantifizierenden Diagnosetechniken eine Übersetzung medizinischer Modelle in eine naturwissenschaftliche Sprache vornahmen, die in der Tat bald nur noch von Eingeweihten verstanden werden sollte. Ausgehend von der Frage, in welcher Weise sich diese neue Medizin tatsächlich von der bisherigen unterschied, soll weitergehend die identitätsstiftende Funktion dieser „gänzlichen Umwälzung“ im Mittelpunkt stehen, um die Rolle der Labor- und Experimentalpraktiken für das Selbstverständnis und Selbstbild der Medizin zu thematisieren. Die Krisendiskussion in der Medizin zur Zeit der Weimarer Republik. Josef N. Neumann, Halle Die im 19. Jahrhundert vollzogene Selbstbestimmung der Medizin als Naturwissenschaft führt in Deutschland bereits in der Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg zu einer unter Medizinern geführten Grundlagendiskussion, die unterschiedliche wissenschafts- und handlungstheoretische Ansätze hervorbringt mit dem Ziel, das funktionale Menschenbild und technizistisch verkürzte Praxisverständnis der naturwissenschaftlich-technischen Medizin zu überwinden. Es steht somit die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Medizin sowie die nach der Möglichkeit einer Vermittlung von technischem Handeln am Menschen und dessen Anspruch freier Selbstbestimmung („Ganzheit“) im Vordergrund. Relativitätstheorie und Quantenphysik – Brüche in der Entwicklung der Physik? Gunnar Berg, Halle Beide Theorien kennzeichnen den Umbruch in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es existieren aber fundamentale Unterschiede. Die Relativitätstheorie ist eine, wenn auch revolutionäre Fortsetzung -vielleicht auch Vollendung - der klassischen Physik. Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß die sie beschreibenden Differentialgleichungen die bekannten physikalischen Größen, wenn auch in teilweise modifizierter Form, enthalten und daß sie deterministisch sind. Die Quantenphysik dagegen bricht mit dem Jahrtausende alten Paradigma: Die Natur macht keine Sprünge. Dieser radikale Bruch, der untrennbar mit dem prinzipiellen Zufallscharakter mikrophysikalischer Prozesse verbunden ist, machte selbst vielen ihrer Urheber wie Planck, Einstein, de Broglie und Schrödinger zeitlebens zu schaffen. Die neue quantenphysikalische Denkweise wirkt sich auf alle Naturwissenschaften aus, da z.B. der Ablauf chemischer Reaktionen und das Auftreten von Mutationen von elementaren Prozessen dieser Art bestimmt sind. Die Etablierung der Physikalischen Chemie als eigenständige Disziplin – Bruch oder Kontinuität? Horst Remane, Halle Aufgrund der Berufung von Wilhelm Ostwald (1853 - 1932) auf den Leipziger Lehrstuhl für Physikalische Chemie, der Begründung der Zeitschrift für Physikalische Chemie und der Bereitstellung wichtiger theoretischer Fundamente durch den Holländer Jacobus Henricus van't Hoff (1852 - 1911) und den Schweden Svante Arrhenius (1859 - 1927) wird das Jahr 1887 verschiedentlich als das der Etablierung der Physikalischen Chemie als eigenständige Disziplin angesehen. Es ergibt sich die Frage, inwieweit vorangegangene Entwicklungen diesen Prozess katalysiert haben. Die Biologie und ihre Geschichte. Zur Konstruktion einer Traditionslinie Kai Torsten Kanz, Lübeck 33 Die Wissenschaft vom Leben hat eine vergleichsweise junge Geschichte, als deren Ausgangspunkt vielfach die multiple Einführung des Begriffs „Biologie“ um 1800 gesehen wird. Eine Analyse der Begriffsgeschichte belegt gleichwohl, dass der Terminus weit älter ist und sehr uneinheitlich verwendet wurde; eine Rekonstruktion der Disziplingenese zeigt, dass sich Biologie erst im 20. Jhdt. als Oberbegriff oder Metadisziplin für die einzelnen biologischen Disziplinen durchsetzte. Die Brüche und Kontinuitäten der disziplinären Entwicklung der Wissenschaft Biologie legen nahe, dass traditionelle Vorstellungen von „disziplinärer Innendifferenzierung“ in ihrem Fall modifiziert werden müssen. 5.9 Remigration nach Deutschland in der Nachkriegszeit Leitung: Marita Krauss, Bremen Einführung Marita Krauss, Bremen „Das unterbrochene Leben wieder zusammenbinden...“ Die Rückkehr deutscher Juden aus der Emigration Karin Hartewig, Erfurt Der Vortrag geht den Beweggründen für die Rückkehr deutscher Juden in ein geteiltes Land nach. Er beschreibt, welche Traditionen und biographischen Erfahrungen die Option für die DDR oder die Bundesrepublik bestimmten, auf welche Weise der Holocaust und der Antisemitismus diese Entscheidung nach 1945 immer wieder fragwürdig werden ließen und was viele der Zurückgekehrten dennoch in der DDR oder in der Bundesrepublik hielt. Rückkehr in die Politik Hartmut Mehringer, München Knapp die Hälfte der „Politemigranten“ kehrte nach 1945 in die alliierten Besatzungszonen bzw. die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und Österreich zurück. In den späten 40er, in den 50er und z. T. auch noch in den 60er Jahren ist ihr Anteil an den Leitungsgremien von politischen Parteien und Gewerkschaften vielfach überdurchschnittlich hoch. Die Frage nach einer gruppenspezifischen Wirksamkeit ist methodisch und analytisch eine Zentralfrage der gegenwärtigen Exilforschung. Hochschulen und Remigration in Ost- und Westdeutschland Ralph Jessen, Berlin Die Rückkehr emigrierter Wissenschaftler an die Hochschulen Ost- und Westdeutschlands und die akademische Karriere anderer Remigranten spielten sich in den vierziger und fünfziger Jahren in einer konfliktträchtigen Dreieckskonstellation zwischen Universitäten, politischen Instanzen und den betroffenen Wissenschaftlern ab. Der Vortrag wird Verlauf und Ergebnisse der Remigration im Hochschulbereich mit Bezug auf diese Konstellation ost-west-vergleichend skizzieren und dabei fachspezifische Unterschiede, Zusammenhänge zu 34 allgemeinen Trends der Wissenschaftlermigration und zu den Bedingungen akademischer Karrieren in der SEDDiktatur und der westdeutschen Nachkriegsdemokratie erörtern. Rückkehr in die Großstadt: München, Hamburg, Leipzig Marita Krauss, Bremen Die Großstädte, hier untersucht an München, Hamburg und Leipzig, gehörten zu den bevorzugten Zielen zurückkehrender Emigranten. Am Beispiel der Stadtgesellschaften lassen sich Namen der Rückkehrer, Formen ihrer Rückkehr, Aufnahmebedingungen, Zuwahl zurückgekehrter Eliten in Politik, Wissenschaft, Presse und Kultur, aber auch Ablehnung und Gründe der Weiterwanderung sichtbar machen. München, Hamburg und Leipzig bieten dafür dichtes Anschauungsmaterial: Sie sind politische und wirtschaftliche Zentren, Universitätsstädte und Medienstandorte. Es lohnt sich jedoch auch der Vergleich: Sie liegen in verschiedenen Besatzungszonen und sind von unterschiedlichen Traditionen geprägt. 5.10 Gewalt in den USA: Traditionen und Visionen in den 1960er und 1970er Jahren Leitung: Jürgen Martschukat, Hamburg Die „National Advisory Commission on Civil Disorders“ und der Diskurs um Gewalt in den USA, 1968 Norbert Finzsch, Köln Heftige Ausbrüche von Gewalt in den Gettos von Newark, New Jersey und Detroit, Michigan im Juli 1967 schienen zu signalisieren, dass es zu einer gewaltsamen Erhebung von African Americans kommen würde. Studien zur Untersuchung der Gründe für diese Unruhen kamen zu dem Ergebnis, dass die meisten eine verzweifelte Antwort auf die rassistische Diskriminierung im Erziehungssystem und auf dem Wohnungs- und Stellenmarkt waren. In dieser Situation wurde die National Advisory Commission on Civil Disorders eingesetzt, um der Ursache für die Aufstände auf den Grund zu gehen. Die Kommission verband in der Analyse der Unruhen die Faktoren Armut und Rassendiskriminierung. Mein Beitrag wird sich auf die Diskussion des Papiers der Commission beschränken und diese Diskussion in Beziehung zu anderen Diskursen über Gewalt in den USA zu setzen versuchen. „Violence Hits Home“: Kriegsverbrechen in Vietnam und die inneramerikanische Debatte über die Ursachen von Gewalt und Destruktivität Bernd Greiner, Hamburg Kaum ein Ereignis der 60er Jahre hat die amerikanische Öffentlichkeit derart aufgewühlt wie die in Vietnam begangenen Kriegsverbrechen. Die über Jahre sich hinziehenden Auseinandersetzungen gehören zu den außergewöhnlichen Kapiteln der US-Zeitgeschichte. Der Vortrag bilanziert diese Debatte und stellt sie in den Kontext der seit dem Zweiten Weltkrieg in den USA geführten politischen und juristischen Diskussion über „crimes against humanity“. Die Politik der starken Trope: Vergewaltigung und feministische Kritik in den USA 35 Sabine Sielke, Bonn Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung sind Themen, die die amerikanische feministische Kritik von den späten 1960er Jahren bis in die 90er Jahre dominiert haben. Warum jedoch redet die amerikanische Kultur derart obsessiv über Vergewaltigung? Und wie hat diese Kultur gelernt, über sexuelle Gewalt zu sprechen? Mein Beitrag wird diese Fragen beantworten, indem ich die kulturelle Funktion der „rhetoric of rape“ ins späte 18. und 19. Jahrhundert zurückverfolge. „With Grace and Dignity“: Gary Gilmore und die Rückkehr der Todesstrafe in den USA, 1977 Jürgen Martschukat, Hamburg Der Vortrag über die Hinrichtigung Gary Gilmores 1977 soll das Zurück zur Todesstrafe in den USA und somit die feste Verankerung der tradierten Gewaltmuster zeigen. Zudem führte Gilmore durch sein Sterben, in dem er seine Vorstellungen von Männlichkeit, Würde und Gewalt zum Ausdruck brachte, die Brutalität des Hinrichtens vor Augen, die sich die moderne Gesellschaft so sehr zu verbergen bemühte. Der Vortrag wird sowohl die Perspektive des Verurteilten als auch den öffentlichen Umgang mit dem Fall Gilmore erörtern. 5.11 Amerika in Deutschland/ Deutschland in Amerika Leitung: Christof Mauch, Washington Moderation Christof Mauch, Washington Alexander von Humboldt in der amerikanischen Festkultur und Einwanderergesellschaft des 19. Jahrhunderts Andreas Daum, Harvard Der deutsche Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt (1769-1859) genoß während des 19. Jahrhunderts in den USA eine enorme Wertschätzung. Doch erst nach Humboldts Tod wurde der Universalgelehrte zu einer öffentlichen Figur stilisiert. Der Vortrag erklärt diese Entwicklung aus der Dynamik der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft und den Funktionen der multiethnischen Festkultur in den USA. Die “Erfindung eines Helden” diente gleichermaßen der Rückversicherung ethnischer Gruppen an ihre Herkunft wie dem Versuch, eine amerikanische Identität auszubilden. „Cultur“ und „Gemütlichkeit“: Die Feste deutscher Einwanderer in den USA im Spannungsfeld zwischen Deutschland und Amerika, 1849-1924 Heike Bungert, Köln Der Vortrag zeigt auf, wie sich anhand von Festen als Grundform des kulturellen Gedächtnisses ab 1848 eine deutsch-amerikanische Identität konstituierte. Diese Ethnizität entfaltete sich insbesondere nach 1871 und nahm im Einklang mit der Entwicklung in Deutschland um die Jahrhundertwende nationalistischere Züge an. Die Deutsch-Amerikaner bewahrten einerseits deutsche Traditionen und übernahmen andererseits Charakteristika der 36 amerikanischen „Civil Religion“. Durch eine kreative Nutzung der gemeinschaftstiftenden Elemente von „Fest“ und „Feier“ konnte die Trennung der Deutschen nach Region, sozialem Stand, Geschlecht und Konfession zeitweise überwunden werden. German Catholic Immigrants and the American ´Kulturkampf´ 1836-1892 Kathleen Conzen, Chicago During the 1880s, German-speaking American Roman Catholics engaged in an unprecedented burst of organization and activism, exemplified at the national level by America’s first annual Katholikentag in 1887. American Catholics saw themselves as defenders of ultramontane orthodoxy within American Catholicism, and filtered their reactions to American political issues through perceptions molded in the church-state conflicts of Germany. Their 19th century American Kulturkampf helps explain a distinctive German Catholic presence within both American religious and political life that endured through much of the 20 th century. Von der „politischen Geländekunde“ zur „Demokratisierungswissenschaft“: Amerikanistik in Deutschland, 1917-1953 Philipp Gassert, Heidelberg Die wechselvolle Geschichte der deutschen Amerikaforschung zwischen Erstem Weltkrieg und früher Bundesrepublik wird in ihren doppelten zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet: Auf der einen Seite die amerikanischen Reedukations- und Reorientierungsbemühungen der Nachkriegszeit („Amerikaforschung als Demokratisierungswissenschaft“) sowie die Einflüsse der Area Studies und American Studies in den USA; auf der anderen Seite die personellen und inhaltlichen Kontinuitäten, die von der fächerübergreifenden Auslandsund Amerikawissenschaft der Weimarer Republik und des Dritten Reiches („Amerikaforschung als politische Geländekunde“) in das „kooperative Projekt“ westdeutscher Amerikastudien münden. Vietnam in Deutschland: Amerikas Krieg und die Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik Wilfried Mausbach, Heidelberg Dieser Beitrag will die Bedeutung des Vietnamkrieges für die Bundesrepublik anhand zweier konkurrierender Diskurse nachzeichnen: im ersten Fall geht es um die Analogie zwischen Berlin und Saigon; im zweiten Fall um diejenige zwischen Vietnam und Auschwitz. Beide handeln erst in zweiter Linie vom deutsch-amerikanischen Verhältnis, in erster Linie aber von Deutschland selbst. Die in ihnen konstruierte Bedeutung Vietnams bezog sich nicht nur auf kollektive Erfahrungen, die im eigenen nationalen Rahmen anschlussfähig waren, sondern sie diente zugleich der eigenen politischen und kulturellen Selbstvergewisserung bzw., aus oppositioneller Perspektive, dem Umbau des politischen und kulturellen Gefüges der eigenen Gesellschaft. Kommentar Axel Schildt, Hamburg 5.12 Traditionale Elite und neue Gesellschaft. Adlige Gesellschaftsentwürfe in Mittel- und Osteuropa im 19. Jahrhundert 37 Leitung: Michael Müller, Halle und Heinz Reif, Berlin Einleitung Michael Müller, Halle Kommentar Heinz Reif, Berlin Polen Witold Molik, Posen Böhmen Milos Rezník, Leipzig/ Prag Ungarn Victor Karady, Paris Rußland Martin Schulze Wessel, Halle Kurland Matthias Mesenhöller, Leipzig Preußen Monika Wienford, Bielefeld 5.13 Der Sozialstaat – ein europäisches Modell für die Welt? Leitung: Hans-Jürgen Puhle, Frankfurt/M. Gesamt In dieser Sektion soll es im wesentlichen um Prozesse der Proliferation von Modellen und Mechanismen europäischer Sozialstaatlichkeit in die aussereuropäische Welt gehen, um hinderliche und förderliche Konstellationen, neue Mischformen und die damit verbundenen Transfer- und Kommunikationsprozesse. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei den jeweiligen Prioritäten, eigenen Akzenten in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kontexten, den Adaptationsprozessen und den Problemen des Umbaus und der Reformfähigkeit der Systeme zukommen. Europäisierung, Amerikanisierung, oder was? Nordatlantische Entwicklungsmuster und die außereuropäische Welt 38 Hans-Jürgen Puhle, Frankfurt/M. ‚Westliche Modernisierungen’ sind nicht einheitlich verlaufen und weisen doch spezifische gemeinsame Charakteristika auf: Hier werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklungswege (trajectories) der Länder Westeuropas und Nordamerikas herausgearbeitet, in verschieden akzentuierten Mischungen aus Faktoren der Bürokratisierung, Industrialisierung und Demokratisierung. Die einzelnen Ausprägungen dieses ‚atlantischen Syndroms’ (und deren zunehmende Konvergenzen im 20. Jahrhundert) werden auf ihre prägenden Funktionen für die jeweilige Sozialstaatlichkeit untersucht und mit aussereuropäischen Entwicklungsmustern verglichen. Wohlfahrtsstaat oder Wohlfahrtsgesellschaft? Die USA seit 1880 Marcus Gräser, Frankfurt/M. Verspätung und Rückständigkeit des amerikanischen Wohlfahrtstaates werden im allgemeinen als die Folge eines Ausbleibens genuin europäischer Faktoren (Anstaltsstaat, Bürokratisierung, politische Arbeiterbewegung) analysiert. Tatsächlich aber folgten die USA dem Muster einer welfare society, die im Primat der privaten, vereinsbasierten Fürsorge den schlüssigen Ausdruck eines bürgerlichen, republikanischen, anti-bürokratisch motivierten Gemeinwesens sah. Praxis und regulative Idee der welfare society erschwerten das welfare state building und blockierten das Lernen von den entfalteten Wohlfahrtsstaaten in Deutschland und England. Erst das Versagen der privaten Fürsorge in der Großen Depression der Jahre nach 1929 ließ den welfare state des Social Security Act 1935 möglich werden. Sozialwissenschaft und Sozialpolitik in Japan um 1900 Wolfgang Schwentker, Essen Der Vortrag behandelt den Transfer und die praktische Umsetzung der deutschen Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung im Japan der späten Meiji-Zeit. Für Japan war dies eine Epoche beschleunigter Modernisierung. Insbesondere wird danach gefragt, inwieweit die japanische "Vereinigung für Sozialpolitik" ihrem deutschen Vorbild in Themenstellungen und Lösungsvorschlägen zur Zeit der Industrialisierung Japans zu folgen bereit war und an welchen Stellen sie eigene Akzente bei der Entstehung des modernen Sozialstaats in Japan gesetzt hat. Structural Reform of Social Security in Latin America Carmelo Mesa-Lago, Pittsburgh An breitem empirischen Material untersucht wird der grundlegende strukturelle Umbau (überwiegend: Privatisierung) der sozialen Sicherungssysteme in 10 bis 12 ausgewählten lateinamerikanischen Ländern während der letzten 20 Jahre, insb. im Hinblick auf die Rentenversicherung, die Reform der Gesundheitsversorgung und den (wesentlich weniger entwickelten) Bereich der Sozialhilfe (welfare, social assistance). Dabei werden im Kontext der breiteren Entwicklungsbedingungen (Wirtschaftskrise, neoliberale Neuorientierung, Exportumstellung, Deindustrialisierung) durchaus unterschiedliche Kombinationen verschiedener Reformtypen mit verschiedenen Ergebnissen festgestellt. Vom Betrieb zu Markt und Staat: Umbau der Sozialpolitik im gegenwärtigen China Eberhard Sandschneider, Berlin 39 Kommentar Marianne Braig, Berlin 5.14 Stefan George und die Geschichtswissenschaft. Versuche zu einer Bilanz Leitung: Ulrich Raulff, Berlin und Johannes Fried, Frankfurt/M. Arthur Salz – ein Ökonom zwischen Max Weber und Stefan George Johannes Fried, Frankfurt/M. Percy Gothein und die Entdeckung des politischen Humanismus Stephan Schlak, Berlin Gemina persona – Ernst H. Kantorowicz Olaf Rader, Berlin Die amerikanischen Freunde: Erich von Kahler, Ernst Kantorowicz und Ernst Morwitz Ulrich Raulff, Berlin Mythische Gestalt – magischer Name – historische Person: Friedrich Gundolfs Bibliothek zum Nachleben Caesars und die Traditionsforschung Michael Thimann, Berlin 5.15 Skandal und Öffentlichkeit in der Diktatur Leitung: Martin Sabrow, München/ Potsdam Der folgenlose Skandal. Korruptionsaffären im Nationalsozialismus Frank Bajohr, Hamburg Trotz der propagandistisch gelenkten und deformierten Öffentlichkeit des "Dritten Reiches" entwickelte sich die im NS-Regime weit verbreitete Korruption zu einem Skandalphänomen, das in den informellen Öffentlichkeiten von der Bevölkerung vehement diskutiert und kritisiert wurde, wenngleich es stets im Bereich der partiellen Regimekritik verblieb und niemals die NS-Herrschaft insgesamt in Frage stellte. Der Beitrag skizziert die Skandalisierung der Korruption und fragt nach ihren Folgen für die Öffentlichkeit des "Dritten Reiches" und die Beziehungen zwischen NS-Regime und Bevölkerung. Priesterprozesse und Euthanasieprotest. Skandalisierung durch und gegen das NS-Regime Winfried Süß, München 40 Die Predigt des Bischofs von Münster am 3. August 1941 war weder der erste noch der einzige öffentliche Protest eines kirchlichen Würdenträgers gegen das “dämonische Werk der Euthanasie” (Kardinal Faulhaber), zweifellos aber derjenige, der bei den Machthabern und den Gegnern des “Dritten Reiches” das größte Aufsehen erregte. Welche Sonderbedingungen waren dafür verantwortlich, daß eine Predigt in der diktatorisch verformten Öffentlichkeit des “Dritten Reiches” eine solche Resonanz erzielen konnte? Was unterschied diesen erfolgreichen Akt der Skandalisierung gegen das NS-Regime von anderen weniger erfolgreichen Formen des Aufbegehrens gegen die nationalsozialistischen Krankenmorde? Und schließlich: Wie begegnete das Regime dieser Herausforderung? Eine Rekonstruktion der kommunikativen und repressiven Strategien, die von verschiedenen Teilen des nationalsozialistischen Machtapparats zur Einhegung des Skandals entworfen wurden, liefert Einblicke in die Risikokalkulationen und Güterabwägungen, die mit der Durchführung der Krankenmorde verbunden waren. Sie verweist zudem auf grundlegende Strukturprobleme der NS-Herrschaft, insbesondere auf die Gefährdung der charismatischen Diktaturlegitimierung durch öffentlich ausgetragene Wertkonflikte. Skandal ohne Öffentlichkeit: Die Aufdeckung der Verbrechen Stalins Susanne Schattenberg, Nürnberg Der Skandal ist ein Ritual mit karnevalesken Elementen, in dem scheinbar „das Volk“ über „die Mächtigen“ triumphiert. Im Stalinismus wurde dieses Machtmittel instrumentalisiert, um der Bevölkerung zu suggerieren, der Terror geschehe in ihrem Namen und ihrem Interesse. Chruščev schwor dieser Kampagnenart ab, versuchte aber den dosierten Skandal der Stalinschen Verbrechen gegen seine Kontrahenten einzusetzen und dabei dieses Wissen nur langsam über die Parteiöffentlichkeit hinausdringen zu lassen. Doch warum setzte die Parteiführung die Gesellschaft nach dem XX. Parteitag 1956 nur in wohldosierten Portionen über den Stalinschen Personenkult in Kenntnis, während sie nach dem XXII. Parteitag 1961 eine breite Diskussion der Stalinschen Verbrechen offenbar nicht mehr für riskant hielt? Skandalisierung als Herrschaftsinstrument in der früheren DDR am Beispiel der Volkspolizei Thomas Lindenberger, Potsdam Das Fehlen von staatsunabhängiger Polizeikritik und damit von öffentlich in den Medien ausgeschlachteten Polizeiskandalen begleiteten zwangsläufig die diktatorische Steuerung von Öffentlichkeit in der DDR. Vor allem in den späten fünfziger Jahren skandalisierte statt dessen die Partei in der internen Kommunikation Mißstände in Dienststellen der Deutschen Volkspolizei, und dies nicht nur, um die Arbeitsmoral und politische Zuverlässigkeit des einfachen Wachtmeisters zu erzwingen, sondern auch um deren Chefs im Ministerium des Innern an die kurze Leine des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates zu nehmen. Wie am Beispiel des Films „Spur der Steine“ (DDR 1966) abschließend zu zeigen ist, wußte sich aber auch die Polizeiführung selbst gegen die zarten Ansätze öffentlicher Polizeikritik, wie sie Filmemacher und Autoren in der „liberalen“ Phase der Kulturpolitik bis 1965 vereinzelt wagten, durch Skandalisier-Inszenierungen zu wehren. Die Wiedergeburt des Skandals: Zum Formenwandel öffentlicher Empörung in der späten DDR Martin Sabrow, München/ Potsdam Entgegen landläufigen Annahmen haben auch Diktaturen ihre Skandale – wenn auch in der Regel in besonderer Ausbildung. Skandale stellen in diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts außergewöhnliche 41 Durchbruchstellen der behaupteten identitären Verschmelzung von Volk und Führung dar, mit der sich Diktaturen in der Moderne legitimieren: Im Skandal als dem systemwidrigen Unfall treten die Mechanismen der diktatorischen Konsensbildung zutage – und ihre Grenzen. Was kann eine Untersuchung der Beziehung zwischen empfundenen Mißständen und ihrer öffentlichen Behandlung für das Verständnis diktatorischer Herrschaft im Zusammenspiel von „oben“ und „unten“ und in der Interaktion zwischen Herrschern und Beherrschten beitragen? 5.16 Entdecken oder gestalten, entwerten oder erhalten. Der Umgang mit Geschichte in städtischen Politikentscheidungen und Zukunftsentwürfen des 20. Jahrhunderts Leitung: Adelheid von Saldern, Hannover und Dieter Schott, Leicester Einführung Adelheid von Saldern, Hannover Ziel der Sektion ist, herauszuarbeiten, wie die jeweiligen Anknüpfungen an die Geschichte bzw. die Verwerfungen von historischen Traditionen sowie die damit verbundenen Zukunftsvorstellungen in den einzelnen Phasen geprägt waren. Erinnert sei zum Beispiel an die Entwertung von Geschichte durch den Abriss geschichtsträchtiger Gebäude, an denkmalpflegerische Tätigkeiten, die auf Erhaltung ausgerichtet waren, an das Entdecken von Geschichte, nicht zuletzt durch invention of tradition sowie an die Gestaltung von Geschichte und vergangener Lebenswelten durch Museen, Jubiläen, Denkmäler etc. Der Rückblick auf die Geschichte bedeutete stets auch einen Blick in die Zukunft, der nicht selten mit visionären Planungen im jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Gesamtrahmen und den darauf beruhenden Zukunftsvorstellungen verbunden war. Zukunft und Geschichte der Stadt: Stadtplanungen im 20. Jahrhundert Werner Durth, Darmstadt Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war die Reform des Städtebaus mit der Absage an historisch überkommene Stadtstrukturen verbunden. Zwar bestimmten unterschiedliche Gesellschaftsleitbilder die Stadt der Zukunft, doch bildete die Absage an die „steinerne Stadt“ des 19. Jahrhunderts den gemeinsamen Nenner. Erst im letzten Viertel des Jahrhunderts erfolgte in Reaktion auf das Neue Bauen der Zwischenkriegszeit und auf die Folgen des Wiederaufbaus ein weitreichender Wechsel der Leitbilder in Architektur und Stadtplanung, die gegenwärtig in einer breiten Strömung "traditionalistischen" Bauens und in "kritischer Rekonstruktion" ausradierter Stadtgrundrisse ihre gegenständliche Entsprechung finden. Zukunft und Geschichte der Stadt: Stadtrepräsentationen im 20. Jahrhundert Dieter Schott, Leicester Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kann man von einer kontinuierlichen und zunehmend systematischen Öffentlichkeitsarbeit deutscher Stadtverwaltungen sprechen, die eine Vielzahl wechselnder Ziele verfolgt und unterschiedliche Adressatengruppen anspricht. Der Vortrag wird am Beispiel von Stadtjubiläen und städtischen Großereignissen, städtischer Öffentlichkeitsarbeit, städtischen Wahrzeichen und kommunaler Geschichtsarbeit untersuchen, wie wechselnde Lesarten der jeweiligen Stadtgeschichte Zukunftsprojektionen mit prägten, wie 42 Stadtrepräsentationen gestaltet und rezipiert wurden und wie zukunftsorientierte Stadtpolitik wieder auch auf die Geschichtlichkeit der Städte rückwirkte. Traditions and Visions – Rethinking Provincial Cities in Europe 1960-1980 Helen Meller, Nottingham und David Pomfret, Nottingham After World War Two, cities everywhere were faced with the challenge of reconstruction. In response to the almost wanton destruction was a new hope. The future was to be one where all urban dwellers would enjoy an environment which was cleaner, healthier and modern. By the 1960s, however, the vision had become tarnished. The rebuilding and modernising of cities had not met the aspirations of the people. There was more demand for personal and public space for leisure and pleasure. The huge problems of the larger cities and ports left them vulnerable when trying to meet these changing aspirations. It was in smaller cities, with established urban traditions, where experiments to pioneer new responses to 'green' space developed. 'Green' space was an important part of a new vision of sustainable urban growth. Two totally contrasting examples of how this came about are Freiburg im Breisgau and Bologna, two old university cities that became European leaders in rethinking the use of 'green' urban space. Geschichtskultur und Histo-Schick. Industriegeschichte in altindustriellen Städteregionen zwischen Museum und Themenpark. Das Ruhrgebiet und Nordostengland 1970-2000 Heinz Reif, Berlin Der Vortrag geht in vergleichender Perspektive der Frage nach, welches Gewicht und welche Funktion die industrielle Vergangenheit beider Städte gewonnen hat im Prozess des strukturellen Wandels, der Deindustrialisierung und der kommunalen (wie regionalen) Politik städtischer Revitalisierung. Oberhausen und Middlesbrough sind Partnerstädte und repräsentieren in den Industriestadtagglomerationen, denen sie zugehören, typologisch die Industriestadt, welche auf der grünen Wiese entstand, weitgehend ohne vorindustrielle städtische Traditionen. Gesucht wird zum einen nach den Spuren der vergangenen Industriegeschichte im Sprach-Handeln der kommunalen politischen Akteure und in der Topographie, zum anderen nach den amalganen Verbindungen (mit Kunst, Ökologie, Erlebniskonsum etc.), die bestimmte Erinnerungsfragmente in den Zukunftskonzepten dieser Städte eingegangen sind. Wie brauchbar war die Industriegeschichte für die Erneuerungsvisionen beider Städte, und wie anpassungsfähig? 5.17 Naturwissenschaftler im Nationalsozialismus Leitung: Reinhard Rürup, Berlin und Wolfgang Schieder, Köln Einführung Wolfgang Schieder, Köln Reinhard Rürup, Berlin Der Psychiater Ernst Rüdin Volker Roelcke, Lübeck 43 Ernst Rüdin (1874-1952) war von 1917 bis 1945 Leiter der weltweit ersten Forschungseinrichtung für psychiatrische Genetik an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie im Kontext der Kaiser-WilhelmGesellschaft. Vor und auch nach 1933 galt er international als einer der führenden Forscher seines Faches. Gleichzeitig war er ein Protagonist der deutschen Eugenik und mitverantwortlich für die nationalsozialistischen Programme der Zwangssterilisation und Krankentötungen ("Euthanasie"). Der Beitrag analysiert am Beispiel von Biographie und Werk Rüdins die untrennbare Verknüpfung von Eugenik und psychiatrischer Genetik in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Der Biologe Richard Goldschmidt Helga Satzinger, Berlin Richard Goldschmidt (1878-1958), Genetiker und Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, wurde 1936 zur Emigration gezwungen. Die rassistische Deutung seiner Forschungen über die Vererbung des Geschlechts konnte er in den zwanziger Jahren nicht verhindern, seine Vorstellung von der Wirkungsweise der Gene jedoch wurde mit seiner Emigration ins wissenschaftliche Abseits verdrängt. Der Züchtungsforscher Hans Stubbe Susanne Heim, Berlin Hans Stubbe, ein Schüler Erwin Baurs und von 1943 an Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Züchtungsforschung, war einer der führenden deutschen Genetiker in der NS-Zeit sowie später in der DDR. Obwohl er politisch keine Sympathien für den Nationalsozialismus hegte, versuchte er die materiellen und ideellen Ressourcen, die der Nationalsozialismus ihm bot, für eine erfolgreiche Karriere zu nutzen. Am Beispiel Stubbes sollen in dem Vortrag Überlegungen zur wechselseitigen Indienstnahme von Wissenschaft und Politik im Nationalsozialismus angestellt werden. Der Biochemiker Adolf Butenandt Carola Sachse, Berlin Der Biochemiker und Nobelpreisträger von 1939 förderte nach 1945 den universitären Neuanfang des umstrittenen Erbpathologen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Otmar von Verschuer. Zugleich verhinderte er dessen Wiederaufnahme in die umgegründete Max-Planck-Gesellschaft. In der Analyse dieses Doppelspiels werden die vergangenheitspolitischen Interessen Butenandts erkennbar, die sich sowohl auf seine biowissschaftliche Profession als auch auf die Max-Planck-Gesellschaft erstreckten, deren Präsident er später werden sollte. Der Strömungsforscher Ludwig Prandtl Moritz Epple, Mainz Der Vortrag diskutiert die Anpassung der Forschungstätigkeit des Göttinger Kaiser-Wilhelm-Instituts für Strömungsforschung an die Bedingungen von Aufrüstung und Krieg in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Es soll gezeigt werden, daß die Göttinger Aero- und Hydrodynamiker Nationalsozialismus, Aufrüstung und Krieg als einen Raum begriffen, der ihnen vielfältige und attraktive Forschungsmöglichkeiten eröffnete. An der Gestaltung dieses Möglichkeitsraumes war Prandtl selbst maßgeblich beteiligt. 44 5.18 Zwischen reformerischem Pragmatismus und neokonservativer Tendenzwende: Westdeutscher Konservatismus von den 1960er bis in die 1980er Jahre Leitung: Axel Schildt, Hamburg Zum Forschungsstand: Die Rekonstruktion des Konservatismus in den 1960er und 1970er Jahren Axel Schildt, Hamburg Europa als konservatives Projekt. Der Europadiskurs im Wandel des westdeutschen Konservatismus zwischen 1960 bis 1980 Vanessa Conze, Tübingen Die Analyse konservativer, konfessionell-katholisch geprägter Europaideen zwischen den fünfziger und siebziger Jahren zeigt den Wandel, den der westdeutsche Konservatismus in diesen Jahrzehnten durchlief. Antimoderne und antiwestliche Vorbehalte, die ihre Wurzeln in der Zwischenkriegszeit hatten, wurden seit dem Ende der fünfziger Jahre in einem langwierigen Prozeß abgelegt. Dies ermöglichte konservativen Europavorstellungen - nach der Blütezeit „abendländischen“ Denkens in der frühen Nachkriegszeit - Anfang der siebziger Jahre eine Phase neuer Wirksamkeit. Hochschulreform und Bildungskrise. Christdemokratische Bildungspolitik, 1960 und 1980 Philipp Gassert, Heidelberg Die bildungspolitischen Debatten der 1960er und 1970er Jahre werden am Beispiel der badenwürttembergischen Hochschulpolitik im Kontext ihrer nationalen und internationalen Zusammenhänge untersucht. Diese bildungspolitische Reformpolitik stand zunächst im Zeichen eines parteiübergreifenden, „liberalen“ Konsens, der unter dem Eindruck des Kulturbruchs um 1968 und der beginnenden Diskussion über die „Grenzen des Wachstums“ zerbrach. Unter dem Schlagwort der neokonservativen „Tendenzwende“ suchten einige der ehemaligen Vertreter einer pragmatischen Reformpolitik aus dem christdemokratischen Lager die Bildungs- und Planungsutopien der 1960er und der frühen 1970er Jahre vor dem Hintergrund der krisenhaften Entwicklung an den Universitäten einzuhegen. Auf der Suche nach dem neuen Ort. Katholizismus und konservatives Spektrum nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Michael Hochgeschwender, Tübingen Der Vortrag behandelt die ideellen, organisatorischen und personellen Wandlungen des deutschen Katholizismus von den späten 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre hinein. Dabei geht es primär um die weltanschaulichen Reaktionen auf gesamtgesellschaftliche und binnenkatholische Modernisierungsprozesse, die seit Mitte der 1960er Jahre dazu führten, daß sich der römische Katholizismus weltweit ideologisch neu zu positionieren begann, wodurch er seine legitimatorische Funktion als verläßliche konservative Ordnungsmacht partiell einbüßte. The Neoconservative Moment in the History of the Federal Republic, 1968-1985 45 Jerry Z. Muller, Washington The German neo-conservatives were intellectuals who during the 1950s and 1960s had regarded themselves as reformist supporters of the institutions of the Bundesrepublik. After 1968, in response to the rise of the New Left and its influence on educational policy, foreign policy, and the self-interpretation of the Federal Republic, the neo-conservatives articulated a defense of existing liberal institutions which was distinct from earlier forms of conservative or right-wing thought in Germany. By creating a brand of conservatism not defined by nationalism and no longer confined by region and confession, they contributed to the modernization of German political culture. Kommentar Paul Nolte, Bremen 5.19 Traditionelle Agrargesellschaften und Visionen politischer Modernisierung. Ein interkultureller Vergleich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Leitung: Peer Schmidt, Erfurt und Gunther Mai, Erfurt Einführung Gunther Mai, Erfurt und Peer Schmidt, Erfurt Visionen einer traditionalen Moderne. Reaktionen agrarischer Gesellschaften und Bewegungen in Europa auf die Herausforderung der industriellen Moderne Gunther Mai, Erfurt Die Wahrung der Tradition? Die Bedeutung der Agrarfrage im Industrialisierungsprozeß in Lateinamerika: Die mexikanische Revolution (1910-1940) Peer Schmidt, Erfurt Bäuerliche Tradition und politische Modernisierung: Vom sozialen Protest zur Vision der „Bauernrevolution“ in China (1930-1945) Thoralf Klein, Erfurt Syrisches (flaches) Land und arabische Nation: Tradition versus Vision? Birgit Schäbler, Erfurt 5.20 Ein „europäischer Sonderweg“? Visionen und(Re-)Konstruktionen der europäischen Modernität im interkulturellen Vergleich (20. Jahrhundert) Leitung: Alexander Schmidt-Gernig, Berlin Die besondere Modernität Europas und ihre Antinomien im interkulturellen Vergleich 46 Shmuel N. Eisenstadt, Jerusalem Das kulturelle und politische Programm der Moderne breitete sich von Westeuropa nach Nord- und Südamerika, nach Osteuropa und dann nach Afrika und Asien aus. In der soziologischen und historischen Theorie neigte man lange dazu, die europäische Moderne als Moderne schlechthin, als Beginn eines Konvergenzprozesses zu verstehen. Dagegen geht man heute eher von einer Vielfalt der Moderne aus. In diesem Beitrag werden die Besonderheiten der europäischen Moderne im Zusammenhang mit dem ständigen Wandel und den verschiedenen Dimensionen der Moderne diskutiert. Als Vergleichspunkte werden im wesentlichen Nordamerika und Japan hinzugezogen. Die Wahrnehmung Europas und der europäischen Modernität in China nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Kalten Krieg Dominic Sachsenmaier, Cambridge Die Enttäuschung durch die Versailler Friedensverträge verstärkte die Suche Chinas nach Selbstbehauptung durch Übernahme westlicher Elemente. Die verschiedenen Ansätze zur Gestaltung Chinas konkurrierten stets auch darum, den „Westen“ und seine verschiedenen Nationalgesellschaften deuten zu können. Dabei wurde Europa als Ebene zwischen Stereotypisierungen des „Westens“ und seiner einzelnen Nationalgesellschaften mit jeweils unterschiedlichen Attributen belegt. Diese sind nicht nur innerhalb des chinesischen Kontexts zu verstehen, sondern – selbst im Falle des Konservatismus – als Teile transnationaler Ideengemeinschaften. Ein Ausblick vergleicht die heutigen Debatten zu Europa. Europäische Historiker im Exil: Die historiographische (Re-)Konstruktion Europas und die Erfahrung der Schattenseiten der „Moderne“ (30er bis 60er Jahre) Martin Kirsch, Berlin Die persönliche Erfahrung des Exils teilweise bereits auch des Ersten Weltkriegs spielte bei der historiographischen (Re-)Konstruktion Europas eine wichtige Rolle. Der Wunsch nach Erklärung des Zusammenbruchs des europäischen Mächtesystems und der europäischen Zivilisation führte zu einer Suche nach dauerhaften positiven Werten, die dem Menschenbild des Faschismus und nach 1945 auch des Kommunismus entgegengestellt werden konnten. Der interkulturelle Vergleich erfolgte dabei zumindest implizit mit den USA oder Russland. Das Europabild der Historiker spiegelte damit in gewisser Weise auch die politischen Entwicklungen der Zeit wider. „Euro-Visionen“ – Szenarien der Zukunft Europas in der internationalen Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre Alexander Schmidt-Gernig, Berlin Besonders signifikanter Ausdruck des allgemeinen „Zukunfts-Booms“ der 60er Jahre war die Etablierung einer Fülle von „think tanks“ in den USA und Europa, die sich systematisch und mit wissenschaftlichinterdisziplinärem Anspruch mit „der Zukunft“ von Politik und Gesellschaft in zunehmend globaler Perspektive zu beschäftigen begannen. Diese neue Form der „Zukunftsforschung“ bzw. „futurology“ oder „prospective“ zielte dabei ganz konkret auf direkte Politikberatung und beeinflusste damit auch in unterschiedlichem Ausmaß politische Handlungsstrategien in der Praxis. Der Beitrag versucht, einige der wichtigsten Szenarien für Europa zu skizzieren und vergleichend zu bewerten. 47 5.21Politik – Gesellschaft – Geschichte: Wie ging die deutsche Gesellschaft nach 1945 mit Geschichte um? Leitung: Peter Steinbach, Karlsruhe Der Systembruch von 1945 in der kollektiven Erinnerung der Deutschen: Nationale Identität und Geschichtsbewußtsein – empirisch erforscht Horst-Alfred Heinrich, Gießen Vergangenheitspolitik – Verjährungsdebatten und Strafverfolgungspolitik in den sechziger Jahren Marc von Miquel, Bochum Kritische Vergangenheitspolitik und Wertkonflikte in Westdeutschland in den fünfziger und sechziger Jahren Michael Kohlstruck, Berlin und Claudia Fröhlich, Berlin Zeitgeschichte – die Durchsetzung einer geschichtswissenschaftlichen Bindestrichdisziplin in der Politikwissenschaft Peter Steinbach, Karlsruhe 5.22 Staatssymbolik und Geschichtskultur im „neuen“ Osteuropa Leitung: Stefan Troebst, Leipzig und Wilfried Jilge, Leipzig/ Kiew Gesamt Nach dem Zerfall der sowjetischen, jugoslawischen und tschechoslowakischen Bundesstaaten steht in den Nachfolgestaaten das Problem der Konstruktion einer Nationalgeschichte im Zentrum öffentlicher Debatten. So werden mit einer neuen nationalstaatlichen Symbolik sowie mit Gedenk- und Feiertagen bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten mit dem Ziel erinnert (oder vergessen), die Existenz der heutigen Staaten durch den Nachweis einer bis in älteste Zeiten zurückgehenden Tradition zu legitimieren. Zwischen Geschichtskultur und Erinnerung einerseits und Nationsbildungsprozessen andererseits besteht ein komplexer Zusammenhang. Divergierende Erinnerungskulturen in der Republik Kroatien: Nationalismus als verbindendes Element einer ideologisch gespaltenen Gesellschaft Holm Sundhaussen, Berlin Die gesamte Ära Tito hindurch waren politische Elite und Gesellschaft der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien entlang einer ideologischen Trennlinie gespalten: Den Anhängern des autoritären „Unabhängigen Staates Kroatien“ (NDH) von Hitlers und Mussolinis Gnaden, wie er von 1941 bis 1944 bestanden hat, standen die 48 Parteigänger des kroatischen Widerstandes kommunistischer Prägung gegen eben dieses staatsähnliche Gebilde gegenüber. Franjo Tudjman, der erste Präsident der 1991 gegründeten Republik Kroatien, verkörperte diesen Widerspruch gleichsam in seiner Person, und die šahovica, das rot-weiße Schachbrettwappen, symbolisierte diese nationale Idee. Tradition und Innovation in der Staatssymbolik der Slowakei nach 1992 Silvia Miháliková, Bratislava Für den politischen Entwurf neuer Staatsgebilde, wie die Slowakei, ist die Auswahl und Kombination der Staatssymbolik ein wichtiger Prozeß zur Bildung ihrer staatlichen bzw. nationalen Identität. Nationale Feiertage sowie die Symbolik des Geldes, der Straßennamen und Denkmäler sind unterschiedliche Ebenen der symbolischen Staatlichkeitsbildung. Die Interpretation dieser Symbolik in den Medien und in Expertenkreisen führte in der Slowakei zur gesellschaftlichen und politischen Polarisierung. Das Verhältnis zwischen Tradition und Innovation spielte dabei eine wesentliche Rolle. Irredentismus als historischer Selbstentwurf in Wissenschaftsdiskurs und Staatssymbolik der Republik Makedonien Christian Voss, Freiburg/Br. Hinter dem Streit und den „Stern von Vergina“ in der (1995 modifizierten) makedonischen Flagge steht die zentrale Funktion des seit 1913 griechischen Teils der Großregion Makedonien für die ethnisch-nationale Eigendefinition im jugoslawischen und post-jugoslawischen Makedonien. Nach 1991 wird – auch auf Druck der Diaspora – die „Brüderlichkeit und Einigkeit“-Ideologie schrittweise durch ein auf die Antike und osmanische Territorialgrenzen fixiertes und somit irredentistisches Selbstverständnis abgelöst, das auch auf eine Umwertung des zentralsten Nationalsymbols der Makedonen, ihre Standardsprache, abzielt. „National im Inhalt – sowjetisch in der Form?“ Ukrainische Geschichtspolitik und nationalstaatliche Symbolik seit 1991 Wilfried Jilge, Leipzig/ Kiew Die Schaffung einer neuen nationalstaatlichen Symbolik ist in der Ukraine weiterhin umstritten. Entsprechend ist die Frage, ob und wie in den letzten Jahren versucht wurde, russophone und andere kulturelle Identitäten und verschiedene regionale Traditionen in die geschichtsträchtigen Identitätskonstruktionen der nationalstaatlichen Symbolik zu integrieren, höchst aktuell. Desgleichen von Brisanz ist, wie Elemente des sowjetukrainischen Geschichtsbildes und Formen der sowjetischen Geschichtskultur in das offiziöse nationale Geschichtsbild zurückkehren und als überregionales Bindemittel bei der Konzeptualisierung der ukrainischen Nation eingesetzt werden. „Alle Attribute eines normalen Staates“? Staatssymbolik und Geschichtspolitik in den Landesteilen Transnistrien und Gagausien der Republik Moldau Stefan Troebst, Leipzig In der Perestrojkaperiode entstanden in der Sowjetrepublik Moldawien neben einer moldauischen nationalen Volksfrontbewegung die separatistischen Bewegungen der türksprachigen christlich-orthodoxen Gagausen im Süden des Landes und der multiethnischen russophonen Wirtschafts-, Militär-, Staats- und Parteielite im Osten. 49 Während die 1990 proklamierte „Gagausische Sowjetrepublik“ mittels Verhandlungslösung 1994 als „Autonomes Gebiet ‚Gagauz Yeri‘“ in den Gesamtstaat reintegriert werden konnte, kam es 1992 zu einem Krieg zwischen der Zentralregierung und der abtrünnigen „Transnistrisch-Moldauischen Republik“ samt Bildung eines „Pseudo-Staats“. 5.23 Geschichte und Medien zwischen Unterhaltung und Aufklärung – Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Film und Fernsehen der Bundesrepublik Leitung: Barbara von der Lühe, Berlin Das Leben unter Diktaturen – der Fernsehfilm der fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik Knut Hickethier, Hamburg Eine Form der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und mit der DDR im Fernsehfilm der Bundesrepublik erfolgt über die Darstellung individueller Schicksale. Dabei werden unterschiedliche Strategien der Individualisierung und der symbolischen Repräsentation von Machtverhältnissen verwendet, wobei sich daraus relativ schnell spezifische Stereotypen der Darstellung undemokratischer Machtverhältnisse herausgebildet haben. An exemplarischen Beispielen - und hier wiederum an einem gezielten Vergleich von Motiven - werden Formen der medialen Stereotypisierung und ihre tendenzielle Auflösung untersucht. Denn es zeigt sich, dass dieser Motivgebrauch mit den jeweils dominanten gesellschaftlichen Auffassungen von der NS-Zeit und der DDR korrespondiert, sich die Frage also beantworten lässt, wie sich die Totalitarismusthese in einem solchen Motivgebrauch im fiktionalen Fernsehfilm wiederfindet, wie Strategien der Annäherung dieser wieder in Frage stellen usf. Der Beitrag soll auch exemplarisch Ausschnitte aus Fernsehfilmen von Dieter Meichsner, Egon Monk u. a. zur Anschauung bringen. Vom „Dritten Reich“ zum „Holocaust“. Der Nationalsozialismus in Dokumentationssendungen des Fernsehens der Bundesrepublik 1960-2000 Edgar Lersch, Halle Mit der 13teiligen Dokumentarserie “Das Dritte Reich” begann 1960/61 das Deutsche Fernsehen die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Seitdem ist das Thema in weiteren Serien und Einzelsendungen, von übergreifenden Dokumentationen in allen drei öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen und selten auch im privatkommerziellen immer wieder behandelt worden. Dokumentationen im Fernsehen müssen einerseits im Hinblick auf ihren medialen Kontext analysiert und bewertet werden. Andererseits sind sie integriert in den Diskurs der “öffentlichen Erinnerungskultur” der jeweiligen Epoche über die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte, die ein kleiner werdender, jedoch immer noch nicht zu vernachlässigender Teil der Bevölkerung selbst miterlebt hat. Selbstverständlich sind auch abhängig vom Stand der wissenschaftlichen Debatte über diese Frage. In drei, vier exemplarischen Beispielen aus unterschiedlichen Zeiten soll in einem historischen Rückblick dieses Beziehungsgeflecht vorgestellt werden. Aus dem Rückblick ergeben sich dann möglicherweise in der Diskussion Standpunkte für den gegenwärtig „richtigen“ Umgang mit der NS - Zeit im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen in Deutschland. Jugend und faschistische Verführungen bei Volker Schlöndorff 50 Bernd Möller, Austin Schon beim ersten Anschauen von Schlöndorffs Film "Der Unhold" (1996) fällt dem Kenner der früheren Werke des Filmemachers das Gewebe von Analogien und Beziehungen zu seinen anderen Filmen auf. Die anfänglichen Szenen im Internat greifen Elemente aus "Der junge Törless" (1966) auf. Der naive Unhold-Held mit der Mentalität eines Knaben im Körper eines erwachsenen Mannes kann als Umkehrung des Oskars aus "Die Blechtrommel" (1979) gelten, der die Mentalität eines Erwachsenen im Körper eines Knaben besaß. Auch die spektakulären politischen Showelemente kollektiver Nazirituale in "Der Unhold" gemahnen an ähnliche Veranstaltungen in "Die Blechtrommel". Und Schlöndorffs Faszination mit den kriegslädierten baltischen und ostpreußischen Gegenden, die er in "Der Fangschuss" (1976) und "Die Blechtrommel" etablierte, kehrt im "Unhold" neuerlich in einer invertierten Abwandlung des Heimatfilms wieder. Gleichzeitig betritt der Regisseur mit "Der Unhold" Neuland. In Törless ging es ihm um das Sadomasochistische, die psychosexuelle Komponente faschistischer Kontrolle, in der Blechtrommel um die Aggression des Kleinbürgertums zur Zeit des Dritten Reichs. In "Der Unhold" verwendet er eine umfassende Metapher, welche die verführerischen Attribute des Faschismus mit Pädophilie assoziiert. Wie in Törless und Blechtrommel erörtert der Filmemacher im Unhold die Themen von Unschuld und Schuld, wobei er diesmal nahe legt, dass Schuld wegen des Dritten Reichs nicht nur das Schuldbewusstsein über den Holocaust, sondern auch das über das Leben Tausender junger Deutscher, die geopfert wurden, einschließen sollte. Ikonen des Jahrhunderts. Über die verschwindende Differenz von Authentizität und Inszenierung der Bilder in der Geschichte Reinhold Viehoff, Halle Am Beispiel einiger Ikonen, die die Vorstellung von Sieg und Niederlage, Furcht und Schrecken, Triumph und Untergang, Macht und Herrschaft in diesem Jahrhundert geprägt haben, wird die Frage diskutiert, wieweit in der visuellen Medienkultur authentische Bilder immer schwieriger und seltener werden. Bilder wie das der auf dem zerstörten Reichstag aufgepflanzten Fahne der Roten Armee, der Händedruck von Pieck und Grotewohl, der Kniefall von Warschau machen bestimmte Gesten als politisch authentische nicht wiederholbar. Bilder wie die der H-Bombe über dem Bikini-Atoll haben den Kalten Krieg und die balance of power visuell eingerahmt, interpretiert und legitimiert. Bilder wie das der vor einem Napalmangriff der US-Amerikaner fliehenden Kinder irgendwo in Vietnam haben sich in das visuelle Gedächtnis einer ganzen Generation eingetragen. In dem Beitrag wird versucht, zentrale Ikonen aus dem historischen Zusammenhang dieses Jahrhunderts der Bilder so zu rekonstruieren, dass deutlich wird, wie sehr durch solche Bilder die kulturelle Wahrnehmung sozusagen medienpolitisch „diszipliniert“ wird. An die Stelle von authentischen Bildern tritt das visuelle Zitat, an die Stelle von Tradition tritt die visuelle Inszenierung bewährter Bilder. Wissen sichern ohne Histotainment – Zeitzeugen der NS-Zeit im Offenen Kanal Berlin Barbara von der Lühe, Berlin 6. Didaktik 6.1 Bilder als Quellen im Geschichtsunterricht 51 Leitung: Herwig Buntz, Erlangen Gesamt Mit Bildern als Quellen haben sich Fachwissenschaft und Fachdidaktik in den letzten Jahren verstärkt beschäftigt. Trotzdem ist ihr Einsatz im Geschichtsunterricht noch immer die Ausnahme. Neuere Erkenntnisse der Kognitionspsychologie und die Kommunikationswissenschaft zeigen die Bedeutung von Bildern für Lernen und Verstehen und fordern eine „piktoriale Literalität“ als grundlegende Kompetenz für die Gegenwart. Die Sektion greift diese Ansätze auf und gibt Anregungen für die praktische Umsetzung. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Anmerkungen zu einem weit verbreiteten Irrtum Elisabeth Erdmann, Erlangen Häufig begegnet man der Vorstellung, Bilder benötigten keine Erläuterungen. Das lässt sich so freilich nicht halten. Unbestritten ist, dass wir von Bildern nicht nur kognitiv, sondern auch emotional beeinflusst werden. Dazu kommt, dass der Betrachter nicht nur Bilder wahrnimmt, sondern dass in ihm Bilder entstehen, die nicht allein durch Wahrnehmung zustande kommen, sondern kulturell geprägt sind. Es ist notwendig, die psychologische und kunstgeschichtliche Forschung zur Kenntnis zu nehmen und die Konsequenzen, die sich daraus auf den Geschichtsunterricht ergeben, zu diskutieren. Multiperspektivisches Lernen mit Bildern Günther Kaufmann, Kronhagen Wenn man Bilder als historische Quellen ernst nehmen will, muss man ihren motivlichen Zusammenhang aufspüren. Dabei lassen sich häufig scheinbar belanglose Varianten als Darstellungen unterschiedlicher Perspektiven erkennen. Die Sensibilität für solche Wahrnehmungen kann vor Missverständnissen der Bilder als schlichte Wiedergabe der historischen Realität schützen. Denn Doppelbilder relativieren sich gegenseitig und verweisen auf Interpretationsspielräume verschiedener Bildversionen. Geschichtsaneignung durch Fotographie Christoph Hamann, Berlin Im kollektiven Bildgedächtnis haben Fotoikonen einen besonderen Stellenwert. Je stärker der Status eines Symbols, desto mehr wird bei solchen Fotos vom konkreten historischen Moment der Aufnahme zugunsten des Symbolwertes abstrahiert. Die Forderung, das Foto als Quelle ernst zu nehmen, bedeutet in diesen Fällen auch, die Rezeptionsgeschichte einzubeziehen und nach den Gründen der Symbolbildung/Kanonisierung zu fragen. Die Analyse von zwei Fotografien (1948: Rosinenbomber, 2001: Ground Zero Flag) arbeitet sich an diesen Zusammenhängen ab. Umgang mit Bildern. Probleme der redaktionellen Arbeit Michael Sauer, Seelze Bilder werden in Unterrichtsmedien noch nicht konsequent genug als Quellen angeboten und genutzt. Das geht von Grundregeln der Präsentation bis zum methodischen Instrumentarium der Interpretation. Die Entwicklung einer Bildgattungskompetenz von Schülerinnen und Schülern liegt noch in weiter Ferne. Allerdings ist die 52 traditionelle Vernachlässigung von Bildern als Quellen kein spezielles Problem der Geschichtsdidaktik oder des Geschichtsunterrichts, sondern ein allgemeines der historischen Wissenschaft. In der fachwissenschaftlichen Forschung, in Archiven, in Agenturen fehlt es an den notwendigen Vorarbeiten, die bei der Erstellung von Unterrichtsmedien nicht geleistet werden können. Umso wichtiger ist die grundsätzliche Orientierung an einem gewünschten Standard. 6.2 Geschichte im virtuellen Raum Leitung: Klaus Fieberg, Leverkusen Einführung Klaus Fieberg, Leverkusen LeMO – Das lebendige virtuelle Museum Online. Konzeption – Erfahrungen – Perspektiven Burkhard Asmuss, Berlin Der Vortrag stellt die wichtigsten Komponenten des LeMO-Angebots dar und fasst die bisherigen Erfahrungen hinsichtlich der Rezeption zusammen. Der Beschreibung der gegenwärtigen Projektarbeit zur Anpassung der vorhandenen Inhalte an Lehrmaterialien folgen Thesen zur zukünftigen Nutzung von Museums-Websites durch Schüler und Lehrer. Dem Gedächtnis Gestalt geben: Computer-Rekonstruktionen zerstörter Bauwerke. Anwendung, Sinn und Nutzen Manfred Koob, Darmstadt Ausgehend von verschiedenen 3D-Rekonstruktionen zerstörter bzw. in ihrer historischen Gestalt nicht mehr existenter Bauwerke zeigt der Vortrag auf, welches Potenzial die digitalen Medien besitzen, um das vorhandene Wissen zu verifizieren, zu fusionieren und gleichzeitig zu verdichten. Colonia Ulpia Traiana. Ein Informationssystem zur Archäologie der römischen Stadt Claus Dießenbacher, Dessau Der Vortrag befasst sich mit dem multimedialen Informationssystem zur Archäologie der Colonia Ulpia Traiana / Xanten (CUT) sowie dem dreidimensionalen computererzeugten Schichtenmodell der Kulturlandschaft um die ehemalige CUT und zeigt die die sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten der Vermittlung und Darstellung archäologischer Befunde auf. 6.3 Kulturwissenschaftliche Erneuerung der Mittelalter-Didaktik Leitung: Wolfgang Hasberg, Köln; Manfred Seidenfuß, Regensburg und Uwe Uffelmann, Heidelberg Einführung 53 Wolfgang Hasberg, Köln Dialog über die Notwendigkeit neuer Impulse für die Mittelalter-Didaktik Uwe Uffelmann, Heidelberg und Manfred Seidenfuß, Regensburg Trotz eines partiellen Rückzugs von einer chronologischen Ausrichtung sind die Epochen in zahlreichen Bundesländern weiterhin die fundamentale Ordnungsinstanz für das historische Lernen. Am Beispiel des Mittelalters wird danach gefragt, inwiefern sich aus dieser historischen Kategorie Lernpotentiale eröffnen, wenn die zentralen Gedanken der Geschichtsdidaktik (Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur) zugrunde gelegt werden. Vorstellungen und Wahrnehmungen mittelalterlicher Zeitzeugen. Neue Fragen an die mittelalterliche Historiographie. Möglichkeiten und Probleme Hans-Werner Goetz, Hamburg Die "Vorstellungswelt" der Menschen bildet ein neueres Thema der Geschichtswissenschaft, das deren Paradigmenwechsel zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung gut repräsentiert. Das Thema spiegelt neue, anthropologische Perspektiven ebenso wider wie neuere Herangehensweisen (Methoden), ein verändertes Erkenntnisinteresse (der mittelalterliche Geschichtsschreiber als Zeitzeuge, nicht als "Faktenlieferant") und ein verändertes Verhältnis zu den Quellen (die Quelle als stilisierte Darstellung). Der Vortrag will diesen Sachverhalt theoretisch reflektieren, am Beispiel des karolingischen Geschichtsbildes erläutern und Folgerungen für den Geschichtsunterricht ziehen. Vorstellungen und Wahrnehmungen: Reisen und Vielfalt der Kulturen im späteren Mittelalter Folker Reichert, Stuttgart Die Geschichte des Reisens läßt erkennen, in welchem Maße interkulturelle Begegnungen im Mittelalter möglich waren oder auch mißlingen konnten. Fernreisende wie Marco Polo, Christoph Kolumbus oder Felix Fabri erfuhren kulturelle Distanzen und erhielten einen Eindruck von der Vielfalt der Kulturen. Reflexionen über die Unterschiede, Erinnerungen an heimische Maßstäbe und Vorurteile ergaben sich daraus. Kulturelle Identitäten, aber auch die Grenzen von Wahrnehmungsvermögen und Handlungsspielräumen werden sichtbar. Eckpunkte einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Mittelalter-Didaktik Wolfgang Hasberg, Köln Verstärkt wird die historische Mediävistik von der kulturwisssenschaftlichen Wende erfasst. Die Mittelalter-Didaktik kann diesem Trend nicht vorbehaltlos nachfolgen, sondern muß sich die Frage stellen, inwieweit die dieser Strömung zuzurechnenden Ansätze dazu in der Lage sind, historisches Denken und Lernen zu fördern. Die vorliegenden Ansätze werden deshalb am Leitprinzip eines reflekierten Geschichtsbewusstseins gemessen und in ihrer Potenz für die Förderung desselben an einem konkreten Beispiel beleuchtet. Schließlich sollen Umrisse eines kulturwissenschaftlichen Curriculums für den Mittelalter-Unterricht zur Diskussion gestellt werden. Aussprache/ Diskussion/ Zusammenfassung Manfred Seidenfuß, Regensburg 54 6.4 Historische Sinnbildung Leitung: Hans-Jürgen Pandel, Halle Historische Sinnbildung als geschichtsdidaktisches Problem Jörn Rüsen, Essen/ Witten-Herdecke Geschichtsbewusstsein: Neuere Befunde und ältere Desiderate psychologischer Forschung Jürgen Straub, Essen Das Fremde aneignen? Historische Sinnbildung zwischen den Kulturen Monica Juneja-Huneke, Halle/ New Delhi Historische Sinnbildung in der Praxis des historischen Lernens Hans-Jürgen Pandel, Halle 6.5 Die Vermittlung jüdischer Geschichte in Schulen, Universitäten und Museen Leitung: Monika Richarz, Hamburg Die Darstellung jüdischer Geschichte in deutschen Schulbüchern Wolfgang Marienfeld, Hannover Der Vortrag geht von den 1981 formulierten Empfehlungen der deutsch-israelischen Schulbuchkommission für die deutschen und die israelischen Schulbücher aus und untersucht die nachfolgende Schulbuchgeneration in Deutschland unter der Frage, inwieweit die Empfehlungen aufgenommen worden sind. Jüdische Geschichte hat in den jüngeren Schulbuchwerken einen deutlich höheren Stellenwert bekommen; traditionelle Sichtweisen jüdischer Geschichte - Juden nur als Objekte und Opfer - sind weitgehend erhalten geblieben. Orchideenfach, Modeerscheinung oder ein ganz normales Thema? Jüdische Geschichte und Kultur im universitären Rahmen Michael Brenner, München War die Judaistik seit den sechziger Jahren ursprünglich als eigenes Fach angelegt, so ist sie inzwischen häufig als interdisziplinärer Studiengang oder als Schwerpunkt eines anderen Studienfaches anzutreffen. Der Vortrag soll untersuchen, wie sich diese Entwicklung im Rahmen des insgesamt angestiegenen Interesses für jüdische Thematik innerhalb der deutschen Gesellschaft gestaltete. Es soll auch darum gehen, die thematischen Schwerpunkte herauszuarbeiten und deren Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs aufzuzeigen. Gehört die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur in die Rubrik „Orchideenfach?“ Oder auch umgekehrt: Läuft man angesichts des mittlerweile inflationären publizistischen Gebrauchs jüdischer Themen auch in der Wissenschaft die Gefahr einer Beliebigkeit, die auf bestimmte Ansprüche wie Sprachkenntnisse verrichtet? 55 Exemplarisches Lernen: Jüdische Geschichte im Kontext von Migrations- und Minderheitengeschichte Dan Diner, Leipzig Musealisierung jüdischer Geschichte? Jüdische Museen in Deutschland und ihre Rezeption Stefanie Schüler-Springorum, Hamburg An drei ausgewählten Beispielen (Berlin, Franken, Halberstadt), deren Entstehungsgeschichte und Konzeption kurz erläutert wird, werden die lokale Rezeption jüdischer Museen in Deutschland und die jeweiligen Formen ihrer Instrumentalisierung für verschiedene, nichtjüdische wie jüdische Bedürfnisse herausgearbeitet. Anschließend werden mögliche Perspektiven der musealen Wissensvermittlung über jüdische Geschichte in Deutschland und ihre aktuellen Verwirklichungschancen diskutiert. 6.6 Neue Perspektiven des Geschichtsunterrichts? Leitung: Hans Woidt, Tübingen Standortbestimmung des Geschichtsunterrichts Hans Woidt, Tübingen In den siebziger Jahren war es nicht selbstverständlich, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Das Fach schien in der Krise. Heute hat Geschichte in der Öffentlichkeit Konjunktur. Der Massendrang bei historischen Ausstellungen , eine wahre Flut von Publikationen mit historischen Inhalten, aber auch viele historische Romane und Filme bestätigen dies. Auch bei den Schülern scheint das Fach wieder an Bedeutung zu gewinnen. In BadenWürttemberg entschieden sich derzeit fast 20 Prozent der Schüler für den Leistungskurs Geschichte. Auch die Rahmenbedingungen scheinen besser zu werden. Im künftigen achtjährigen Gymnasium wird Geschichte von Klasse 6 bis 12 durchgängig zweistündig unterrichtet, im sog. Neigungsfach vierstündig. In an deren Bundesländern mag es weniger gut um unser Fach bestellt sein, von einer Krise des Geschichtsunterrichts kann jedoch heute keine Rede mehr sein! Wird aber der derzeitige Geschichtsunterricht an unseren Schulen dem neuen „Interesse an der Geschichte“ gerecht? Wieviele Visionen braucht der Geschichtsunterricht, um den neuen Entwicklungen gerecht zu werden, welche neuen Inhalte sind im Zeitalter der Globalisierung relevant? Welchen Stellenwert sollen die „neuen“ Unterrichtsformen und die neuen Medien erhalten? Auf welche Traditionen, auf welche bewährten „essentials“ darf der Geschichtsunterricht auf keinen Fall verzichten? Über die Relevanz des Geschichtsunterrichts Norbert Zwölfer, Freiburg/Br. Schülerorientierte Unterrichtsformen und eigenverantwortliches Lernen im Geschichtsunterricht Fred Binder, Herrenberg 56 Die sogenannten „Offenen Unterrichtsformen“ sollen durch ihre produktionsorientierte Arbeitsweise nachhaltigere Ergebnisse, lustvolleres Lernen und Eigenverantwortlichkeit des Schülers ermöglichen und fördern. Welche dieser Unterrichtsformen unter welchen didaktischen Zielsetzungen im Geschichtsunterricht fruchtbar gemacht werden können, soll unser erster Fragehorizont sein. Diese Formen dürfen aber nicht zum Selbstzweck werden, sondern bedürfen einer didaktischen Einbettung in - und der Ergänzung durch vertiefende, problemorientierte traditionelle Unterrichtsmethoden. Dies soll an einem „Lernzirkel“ gezeigt werden. Diese Wechselwirkung und eine neue Diskussion über das „Exemplarische“ kann hier zwar nicht ausgelotet werden, wird aber unumgänglich werden, wenn eigenverantwortliches Lernen ein Teil des Geschichtsunterrichts werden soll. Trans- und interkulturelle Vergleiche. Eine Perspektive für den Geschichtsunterricht im Zeitalter der Globalisierung Ulrich Maneval, Freiburg Multimedia als Herausforderung an den Geschichtsunterricht Vadim Oswalt, Weingarten Die Integration der Neuen Medien stellt eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an den Geschichtsunterricht dar. Multimedia scheint einerseits ob seiner Vielfältigkeit ein vielversprechendes, anderseits ob seiner labyrinthischen Vielfalt und Unüberschaubarkeit ein schwer zu bändigendes Medium zu sein. Wie jedes andere Medium muss es allerdings auf seine Eignung zur Veranschaulichung und Vergegenwärtigung historischer Inhalte und Strukturen befragt werden. Dabei stehen andere Kriterien im Mittelpunkt als die des Multimediamarktes, der vor allem auf technische Brillianz und Vielseitigkeit Wert legt. Denn die inhaltlichen Standards des Geschichtsunterrichts müssen unverrückbar gegenüber den medialen Möglichkeiten Vorrang haben; das Medium darf seinerseits nicht die Standards eines didaktisch reflektierten Geschichtsunterrichts verschieden. Die Eigenschaften der Neuen Medien zu erkennen und ihre Möglichkeiten zur Präsentation von Geschichte im sogenannten Hypertext zu verstehen, stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, um zu begreifen, in welchen didaktischen und methodischen Bereichen historischen Lernens Multimedia besondere Chancen bietet. 7. Podiumsdiskussionen 7.1 Homer und Troja: Visionen und Traditionen Ein Runder Tisch der Altertumswissenschaften Leitung: Justus Cobet, Essen Gesamt Mit Heinrich Schliemann verknüpft sich die nicht vergehende Vision, der Spaten vermöchte die mythischen Traditionen der Alten „überraschend“ zu einer uns unmittelbar zugänglichen Wirklichkeit werden zu lassen. Quellenkritische und hermeneutische Traditionen geraten dabei leicht unter die Erde. Im aktuellen Streit um Troia verstehen sich offensichtlich die Disziplinen der Altertumswissenschaft nicht mehr. Worum geht es dabei methodisch, und worum inhaltlich? Darüber sprechen Archäologen, Philologen und Althistoriker. 57 Alte Geschichte Gustav Adolf Lehmann, Göttingen Sollten wir uns für die Frage nach historischen Hintergründen der homerischen Troiasage weiterhin zwischen den extremen Positionen Bezug auf die frühgriechische Palastkultur des 13. Jahrhunderts v. Chr. oder Tradition des frühen 8. Jahrhunderts entscheiden müssen? Ich möchte vielmehr auf solche Bezugspunkte der Traditionsbildung verweisen, die von den Verhältnissen der sog. Seevölker-Zeit um 1200 über Bilddokumente des späten 12. Jahrhunderts bis zu der fürstlichen Grablege in Lefkandi im 10. Jahrhundert hinabreichen. Susanne Heinhold-Krahmer, Feldkirchen Hethitologie Auf dem Tübinger Troia-Symposion im Februar 2002 stellte ich bereits die Behauptung in Frage, eine Identität von hethitisch Wiluša mit der homerischen Ilios und damit also Troia/ Hisarlιk sei definitiv erwiesen. Nun erscheint mir die Überprüfung und Diskussion einiger auf diese Gleichung gestützter Argumente angebracht. Wie also steht es mit einem anatolischen Hintergrund für Elemente der Ilias? Anatolistik Frank Starke, Tübingen Hethitische Vorgaben insbesondere in politischem Denken und historiographischen Konzepten sind verantwortlich für bei Homer zuerst greifbaren spezifischen Merkmalen der griechischen Kultur. Des weiteren stehe ich dafür, als Kontaktzone altorientalischer Einflüsse auf die Griechen das nachbronzezeitliche Kleinasien stärker in Betracht zu ziehen mit seiner reichen luwischen inschriftlichen Überlieferung, die sich auf eine gebildete und mehrsprachige Führungsschicht zurückführen lassen. Klassische Archäologie Dieter Hertel, Köln 1. Die bronzezeitlichen Zerstörungsschichten von Troia VI, VIIa, VIIb1 und b2/3 geben keine Hinweise auf Belagerung und Eroberung. 2. Nach dem Ende von Troia VIIb2/3 ging die Besiedlung von Hisarlik weiter: Seit dem späten 11. Jahrhundert siedelten hier äolische Griechen. Darauf deuten auch die Homer geläufigen griechischen Toponyme der Troas. 3. Die Annahme einer „Äolischen Kolonisation“ Kleinasiens und der Troas kann die Enstehung einer Sage von Kämpfen um Troia befriedigend erklären. 4. Den Siedlern erschien die Mauer von Troia VI/VII als das gewaltige Werk übermenschlicher Wesen der mythischen Vorzeit, für die auch die Mauern Mykenes stehen konnten. Klassische Archäologie Ulrich Sinn, Würzburg Heinrich Schliemann schien den Nachweis erbracht zu haben, daß der sicherste Weg zu einer ertragreichen Ausgrabung die Orientierung an einschlägigen antiken Texten sei. Die daraus abgeleitete Methodik, Grabungsbefunde auf Angaben in der schriftlichen Überlieferung zu justieren, hat sich oft als fragwürdig, in vielen Fällen sogar als irreführend erwiesen. Demgegenüber hat sich seit geraumer Zeit die Norm etabliert, daß Ausgrabungen einen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der Aussagekraft, zum Verständnis der Intention und zur Authentizität einer in Schriftform auf uns gekommenen Darstellung zu leisten haben. 58 Klassische Philologie Wolfgang Kullmann, Freiburg 1. Von archäologischer Seite wurde neuerdings zur Diskussion gestellt, als Alternative zur Zerstörung von Troia VIIa um 1200 v. Chr. den Untergang von Troia VII b 2 im 11. Jh. auf einen griechischen Angriff zurückzuführen und diesen mit der äolischen Kolonisation in Kleinasien zu verknüpfen. Dazu paßt, daß Sagen dieser griechischen Kolonisatoren die Troiasage entscheidend beeinflußt haben. 2. In der in der Ilias imaginierten mykenischen Frühzeit spiegeln sich Tendenzen von Homers eigener Zeit, die die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts sein muß, wie zunehmend angenommen wird. Alte Geschichte Hans-Joachim Gehrke, Freiburg Gerade in der Auseinandersetzung um die Troia-Ausstellung hat sich die Debatte auf den mykenischen Hintergrund der Epen und auf den bronzezeitlichen Kontext konzentriert. Demgegenüber wird hier dafür plädiert, aktuelle historisch-philologische Forschungen mit in den Blick zu nehmen, die vor allem den Zusammenhang zwischen den homerischen Epen und der sozialen und politischen Konstellation und Vorstellungswelt ihrer Entstehungszeit herausgestellt haben. Dabei geht es im engeren Sinne um die konkrete Situation in der Troas in nachmykenischer Zeit sowie generell um die Bedeutung der Epen im Rahmen der griechischen Ethnogenese, die man als Prozeß zu sehen gelernt hat. 7.2 Nach dem HRG – Wissenschaftlicher Nachwuchs an der Universität Leitung: Thomas Mergel, Bochum Im Mittelpunkt der Informations- und Diskussionsveranstaltung soll die Lage des Wissenschaftlichen Nachwuchses nach der Verabschiedung des HRG stehen. Neben der Information über die neue Gesetzeslage, die sicher nicht allen Teilnehmern vertraut ist, soll im Mittelpunkt stehen, was die Reform für die weitere Nachwuchspolitik bedeutet, welche Grenzen und Möglichkeiten sie hat und welche Umsetzungsmöglichkeiten im Bundesland, an der einzelnen Hochschule und im Fach Geschichtswissenschaft gegeben sind. 7.3 Wohin führt der Weg? Fachzeitschriften im elektronischen Zeitalter Leitung: Winfried Schulze, München, Gudrun Gersmann, München und Matthias Schnettger, Mainz Lothar Gall, Frankfurt/M. Winfried Schulze, München Gudrun Gersmann, München 59 Matthias Schnettger, Mainz Rüdiger Hohls, Berlin Vittorio Klostermann, Frankfurt Hermann Leskien, München 7.4 Die Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte Leitung: Klaus-Dietmar Henke, Dresden Seit der friedlichen Revolution von 1989/90 ist der Umgang mit den Unterlagen der SED-Geheimpolizei Gegenstand politischer und wissenschaftlicher Kontroversen. Nach dem Rechts-streit zwischen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und Helmut Kohl sowie heftigen Debatten, in denen sich auch der Historikerverband zu Wort meldete, hat sich der Deutsche Bundestag kürzlich für die Beibehaltung eines insgesamt forschungsfreundlichen Nutzungsrechtes entschieden. Als die „Gauck-Behörde“ ihre Arbeit aufnahm, konferierte der Historikertag 1992 in Hanno-ver noch mit gemischten Gefühlen über die Perspektiven dieser Institution ohne Beispiel. Nach zehn Jahren ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Ist die Behörde ihrem Auftrag gerecht geworden? Welchen Wert haben die Stasi-Unterlagen für den Historiker? Sind die Akten ein Sonderfall in dem unaufhebbaren Spannungsverhältnis von Persönlichkeitsschutz und Forschungsfreiheit? Welche Folgen haben die neuen Bestim-mungen für die Geschichtswissenschaft? Was kann in der Zusammenarbeit von Historikerschaft und Behörde verbessert werden? Welche Zukunft haben die StasiUnterlagen und die Einrichtung, die sie verwahrt? Das Symposium dient vor allem dem Gedankenaustausch zwischen dem Auditorium und dem Podium. Johannes Beleites, Leipzig Marianne Birthler, Berlin Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler Hartmut Weber, Koblenz 7.5 Der 11. September: Ursachen und Folgen Leitung: Manfred Hildermeier, Göttingen Hans-Ulrich Klose, MdB, Berlin (Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses) 60 Kai Hafez, Hamburg/Erfurt Detlef Junker, Heidelberg Jürgen Paul, Halle Hermann-Josef Rupieper, Halle 8. Junge Historiker 8.1 Junge Historiker stellen sich vor - Alte Geschichte Leitung: Hans Kloft, Bremen Das ökonomische System des antiken Griechenlands Armin Eich, Passau Der Staat war der wichtigste Faktor, der die dynamische Entwicklung, die die griechischen Gesellschaften zwischen dem 8. und 5. Jh. erlebten, vorantrieb. Die Poleis schufen Münzgeld vor allem als Medium zur Steuerung der zentralen staatlichen Tätigkeit: der Kriegführung. Damit das Geld diese ihm vom Staat zugedachte Aufgabe erfüllen konnte, mußte es von Privatpersonen in Zirkulation gehalten werden. Die Perpetuierung dieser Zirkulationsbewegung wurde von den Poleis durch kontinuierlich ausgeübten Abgabendruck erzwungen. Das Phänomen der Fahnenflucht in der römischen Geschichte Joachim Lehnen, Aachen In zahlreichen antiken Quellenzeugnissen fällt die zuweilen positive Darstellung des römischen Soldaten auf, der alles daran setzt, einen Sieg für die römische patria zu erringen. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Vortrag die Aufgabe, anhand des Phänomens der Fahnenflüchtigen und Überläufer diese Sichtweise zu überprüfen, zumal bereits in Roms Frühzeit Desertionen belegt sind. Dabei sollen die Verlaufsformen von Fahnenflucht, die Motive und Funktionen der Deserteure sowie die bei ihnen angewandten Methoden zur Ergreifung und Bestrafung unter Heranziehung des Geschichtswerkes des Ammianus Marcellinus exemplarisch vorgestellt werden. Inszenierung des Todes: Philosophisches Sterben in der Antike U. Huttner, Leipzig Das Sterben vieler „Intellektueller“ in der Antike erweist sich als Inszenierung nach dem Vorbild des Sokrates. Hieraus lassen sich bemerkenswerte Schlüsse auf die Mentalität vor allem römischer Oberschichten ziehen. Das andere Zeitalter Justinians, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jh. n. Chr. Mischa Meier, Bielefeld 61 Die Arbeit geht der Frage nach Wechselwirkungen zwischen Endzeiterwartungen in Verbindung mit Naturkatastrophen auf der einen Seite sowie politischen und mentalitätengeschichtlichen Entwicklungen auf der anderen Seite nach. Die Herausbildung von Strukturen, die allgemein als „byzantinisch“ gelten (Marienverehrung, Bilderkult u. a.), läßt sich auf diese Weise aus spezifischen historischen und mentalitätengeschichtlichen Rahmenbedingungen im 6. Jahrhundert erklären, wodurch u. a. eine Neubewertung des „Zeitalters Justinians“ ermöglicht wird. Daneben stellt die Arbeit einen Beitrag zur Frage nach dem Epochenübergang Spätantike/Byzanz dar. 8.2 Junge Historiker stellen sich vor - Mittelalter Leitung: Klaus Herbers, Erlangen Das Crimen laesae maiestatis Thomas Wünsch, Konstanz Aspekte der päpstlichen Legatenpolitik im 11. und 12. Jahrhundert Claudia Zey, München Parallel zur Autoritätssteigerung des Papsttums im ausgehenden 11. und im 12. Jahrhundert veränderte sich auch die Stellung seiner Gesandten. Von reinen Boten wurden sie zu Stellvertretern des Papstes mit umfangreichen Vollmachten und damit zu wichtigen Trägern der auswärtigen kurialen Beziehungen. Im Rahmen eines Kurzreferats sollen die wichtigsten Ergebnisse meiner 2002 als Habilitationsschrift eingereichten Untersuchung zur päpstlichen Legatenpolitik von 1049 bis 1198 vorgestellt werden. Dabei geht es besonders um die Frage, wie sich jeder einzelne Papst das Legatenwesen zunutze machte, um europaweit in die kirchlichen Verhältnisse vor Ort einzugreifen. Zwischen Heiligkeit und Häresie. Die Religiosität der städtischen Eliten in Toulouse (12./ 13. Jahrhundert) Jörg Oberste, Dresden Der Vortrag untersucht das Spektrum religiöser Verhaltensweisen kaufmännisch-städtischer Eliten in der Stadt Toulouse während des 12. und 13. Jahrhunderts, insbesondere ihre komplexen Interaktionen mit kirchlichen und klösterlichen Einrichtungen des lokalen und regionalen Umfelds sowie ihre pastorale Betreuung und Integration. Die spezifischen Manifestationen stadtbürgerlicher Frömmigkeit gehen mit dem Aufbau einer sozialen Führungsposition in der Stadt einher und bilden – so die These des Vortrags – eine essentielle Strategie des Sozialen und Politischen ab. Stefan Weiß, Augsburg Bestritten wird die Lehrmeinung, die Päpste in Avignon (1316-1378) seien vom französischen Hof abhängig gewesen. Im Gegensatz dazu wird gezeigt, daß die 1316 vorgenommene Umsiedlung des päpstlichen Hofes von Lyon nach Avignon gerade den Zweck hatte, das Papsttum vom französischen Einfluß zu befreien. Es wird dann die weitere Entwicklung unter Johannes' XXII. Nachfolgern bis zur Rückkehr Gregors XI. nach Rom skizziert. 62 8.3 Junge Historiker stellen sich vor - Frühe Neuzeit Leitung: Johannes Burkhardt, Augsburg Moderation Johannes Burkhardt, Augsburg Renate Dürr, Frankfurt/M. Kirchenräume. Handlungsmuster von Pfarrern, Obrigkeiten und Gemeinden in Stadt und Stift Hildesheim 15501750 Die Studie analysiert den Kirchenraum als einen Handlungsraum. Durch die Bikonfessionalität in der Stadt und dem Kleinen Stift Hildesheim gab es eine Vielzahl potentieller Koalitionen, die die Handlungsoptionen von Pfarrern, Obrigkeiten und Gemeinden vervielfältigten. Erst seit dem 18. Jahrhundert verfestigte sich dieses Beziehungsgefüge und begrenzte dadurch die Gestaltungsmöglichkeiten der Gemeinden. Die zahlreichen,etwa zeitgleichen Konflikte über Kirchenfragen zeigen, daß die Gläubigen sich gegen diese Entwicklung zur Wehr setzten. Delinquenz und städtische Lebenswelten. Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert Joachim Eibach, Potsdam Der Vortrag thematisiert auf der Quellengrundlage von Vernehmungsprotokollen städtische Lebenswelten und Strafjustiz im 18. Jahrhundert. Dabei geht es um die Funktionslogik der Justiz und Rechtserfahrungen der städtischen Einwohnerschaft. Im Vordergrund stehen Gewaltdelinquenz, Eigentumsdelinquenz und Proteste gegen die Obrigkeit. Das 18. Jahrhundert erweist sich dabei in vielen Aspekten als „Scharnierjahrhundert“ zwischen Ständegesellschaft und bürgerlicher Moderne. Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat Birgit Emich, Freiburg/ Br. Territoriale Integration ist und bleibt ein grundlegendes Thema der neuzeitlichen Geschichte. Aber wie lassen sich die Prozesse des strukturellen wie mentalen Zusammenwachsens untersuchen? Wohl nur, wenn der Brückenschlag zwischen Makro- und Mikrogeschichte, zwischen institutioneller und individueller Ebene gelingt. Daß dies mithilfe des Konzepts der politischen Kultur möglich ist, wird am Beispiel des frühneuzeitlichen Ferraras illustriert. Die Konstruktion kollektiver Identitäten im Hamburg der Frühaufklärung Martin Krieger, Greifswald Die Elbmetropole Hamburg erlebte zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach einem mehrere Jahrzehnte andauernden bürgerkriegsähnlichen Konflikt die Formierung einer gesellschaftspolitischen Strömung – des „Patriotismus“. Dieser setzte sich nach angelsächsischem Vorbild die Verbesserung des Schul- und Armenwesens sowie die Schaffung einer gesamtgesellschaftlichen Integration zum Ziel. Gleichwohl blieb er immer als Konstrukt bestimmter städtischer Eliten ein bewußt initiierter und bestimmte Interessen vertretender Diskurs. 63 8.4 Junge Historiker stellen sich vor - Neuere und Zeitgeschichte Leitung: Friedrich Lenger, Gießen Moderation Friedrich Lenger, Gießen Der Mythos vom Befreiungskrieg. Zur Relativierung eines preußischen Ideologems Ute Planert, Tübingen Während der Revolutions- und napoleonischen Kriege überwogen in den Rheinbundstaaten traditionelle und regionale Loyalitäten sowie religiöse Bindungen landespatriotische oder gar nationale Haltungen bei weitem. Erst in den Gedenkfeiern der 1830er und 1840er Jahre wurden die divergierenden Kriegserfahrungen so eingeebnet, daß sich auch die Geschichte des deutschen Südens in die dominante Erinnerung vom „Befreiungskrieg“ zu fügen begann. Wider die Abolitionistenfanatiker und Temperenzbestien: Der US-amerikanische Katholizismus und die Sklavenfrage, 1840-1865 Michael Hochgeschwender, Tübingen Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa 1930-1956. Eine politische Glaubensgeschichte im 20. Jahrhundert Thomas Kroll, Salzburg/ Giessen Vom Beginn der 1930er Jahre bis zur Ungarnkrise von 1956 engagierten sich die westeuropäischen Intellektuellen besonders zahlreich in der kommunistischen Bewegung. Dieses Engagement lässt sich als Ausdruck einer säkularen, politischen Glaubenshaltung interpretieren. Wie und weshalb ein solcher politischer Glaube entstehen, bewahrt werden oder verloren gehen konnte, illustriert der Vortrag am Beispiel der kommunistischen Historiker Albert Soboul und Christopher Hill. Der Mythos der Kameradschaft und die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges Thomas Kühne, Bielefeld Der im NS-Deutschland jedem vertraute Mythos der Kameradschaft arbeitete an einem Moralsystem, das die Scham - das „Auge“ der anderen - als oberste Richtinstanz inthronisierte und die um individuelle Verantwortung kreisende Gewissenskultur obsolet machte. Der Beitrag thematisiert, in welcher Weise sich die Wehrmachtsoldaten diese Kultur der Scham angeeignet haben und welche Bedeutung sie für ihre Durchhaltebereitschaft im II. Weltkrieg hatte. Familienrecht als Gesellschaftspolitik. Das Familiengesetzbuch der DDR Ute Schneider, Darmstadt 64