Fritz Fischer Hillgruber - Lise-Meitner

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Kriegsschuldfrage
Uehlein
Fritz Fischer: Vom Zaun gebrochen - nicht hineingeschlittert
Anlässlich des Wiener Historikertages 1965 vertrat Fritz Fischer seine Überzeugung von einem deutschen „Kriegswillen" vor
und wahrend der Julikrise 1914 in einem Beitrag der Wochenzeitung „Die Zeit". Die - hier gekürzte - Interpretation der
Ereignisse -basiert auf seinen Ausführungen in einem Streitgespräch mit seinem Kieler Kollegen K. D. Erdmann, Gegen die
von der Redaktion gewählte Überschrift „Vom Zaun gebrochen. ..“ protestierte Professor Fischer in einem Leserbrief:
„Mutwillen war es [...] keineswegs, was die Aktionen der deutschen Reichsleitung kennzeichnete [...]. Es war nicht
grundloses Streitsuchen, sondern wohlüberlegtes politisches Handeln mit dem Ziel, die - wie man es sah- Deutschland
umschließenden Bündnisse zu sprengen und die Nachbarmächte für dauernd so zu schwächen, daß Deutschland in Europa
unangreifbar und zugleich für seine weltpolitischen Aspirationen nicht mehr der Blockierung durch andere Machte ausgesetzt
werden würde."
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Deutschland hat im Juli 1914 nicht nur das Risiko eines eventuell über den österreichisch-serbischen .Krieg ausbrechenden
großen Krieges bejaht, sondern die deutsche Reichsleitung hat diesen großen Krieg gewollt, dementsprechend vorbereitet
und herbeigeführt. [....] Der Krieg war im Sommer 1914 geistig, militärisch, politisch-diplomatisch und wirtschaftlich wohl
vorbereitet. Er mußte nur noch ausgelöst werden. Vorbedingung für das Gelingen des deutschen Kalküls war aber, daß der
Krieg auf dem Balkan begann, daß Österreich-Ungarn in seinen Interessen durch Rußland tangiert zu sein schien; denn
allein eine solche Konstellation verbürgte die Bundestreue Österreich-Ungarns. [ . . . ]
Der Mord an dem österreichisch-ungarischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, aber bot den idealen Anlaß zur
Herbeiführung des Krieges. Denn Österreich, dessen militärischer Macht Deutschland so dringend für den geplanten
Krieg bedurfte, mußte mitgehen, und die deutsche Reichsleitung konnte vor der Welt und der eigenen Nation eine
Bedrohung Österreichs durch das von Rußland protegierte Serbien behaupten.
Das österreichische Ultimatum an Serbien, dessen Hauptinhalt Berlin lange vor Überreichung bekannt war, hatte im
deutschen Kalkül nur eine Funktion: Es sollte eine den Krieg herbeiführende Provokation gegen Rußland sein. Nur
insofern zeigte die deutsche Reichsleitung Interesse am Inhalt des Ultimatums, nur in diese Richtung liefen die ständigen
Anfragen und das deutsche Drängen in Wien. (…)
Die österreichische Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli ließ alle Hoffnungen auf einen friedlichen Ausweg aus der
von Deutschland und Osterreich inszenierten Krise illusorisch werden und enthielt eine erneute Provokation gegen
Rußland, die am nächsten Tag durch die Beschießung Belgrads noch verstärkt wurde. Der russische Außenminister,
Sazonov, antwortete darauf zunächst mit dem Bemühen, durch sofortige Aufnahme der Vermittlungsaktionen der vier
unbeteiligten Mächte den Frieden zu retten - direkte Gespräche zwischen Wien und Petersburg schienen durch Berchtolds,
des österreichischen Außenministers, „Nein" und durch das österreichische Vorgehen ausgeschlossen zu sein. Gleichzeitig
aber beschloß Petersburg, den 30. Juli zum ersten Teilmobilmachungstag zu erklären. Die Intransigenz1) Österreichs und
die schroffe Haltung Deutschlands verdichteten den von den Botschaftern Frankreichs, Englands und Rußlands in
Berlin ausgesprochenen Verdacht, Deutschland habe die Absicht, über den serbisch-österreichischen Krieg den Krieg mit
Rußland herbeizuführen.
Rußland beschloß die für diesen Fall notwendigen Maßnahmen - also die Gesamtmobilmachung. Sie sollte Wien und
Berlin zeigen, daß Rußland nicht bereit war, Serbien vernichten zu lassen; denn die österreichische Zusage es selbst wolle
nichts von Serbien nehmen, vermochte Rußland keine Sicherheit zu geben, weil es durchaus nicht notwendig erschien,
sich ein Land um es wirksam zu beherrschen, auch territorial einzuverleiben (die auf den Ministerratssitzungen in Wien ins
Auge gefaßte Aufteilung serbischen Territoriums unter seine Nachbarn zeigt, auf welche Weise Österreich-Ungarn den
Faktor Serbien auf dem Balkan auszuschalten gedachte. [...] Die Politik Bethmann Hollwegs verlangte ja als „gebieterische
Notwendigkeit, daß vor der Welt Rußland als die zum Krieg schreitende Macht dastehe. Dadurch wäre es Grey
unmöglich geworden, seine Nation sofort in den Krieg zu führen; dadurch wäre andererseits jedoch die deutsche Nation,
einschließlich der Sozialdemokratie, zu einer unlösbaren Einheit verschmolzen. Diese Politik machte es nun notwendig,
daß mit einer öffentlichen Erklärung der Verhandlungsbereitschaft die Bekanntmachung der russischen
Gesamtmobilmachung zusammenfiel.
Diesem Ziel dienten auch die gleichzeitig an Petersburg gesandten, in provozierendem Tone vor weiteren russischen
Rüstungen warnenden Telegramme und die Zurückhaltung eigener öffentlicher Mobilmachungsmaßnahmen. Aber
Österreich „mißverstand" die deutschen Telegramme als Abwiegelung, zumal es selber eindringlich von England gewarnt
worden war.
Und an Stelle öffentlicher Demonstrationen begann Wien am 30./31. Juli freundschaftliche diplomatische Gespräche mit
Petersburg, die den Frieden zu retten schienen. (…)
Eine Einigung zwischen Wien und Petersburg hätte die Krise ohne den Krieg, den Deutschland bejaht und eingeleitet
hatte, vorübergehen lassen. Nach der Anbahnung der direkten österreichisch-russischen Gespräche verbürgte selbst die
inzwischen beschlossene, am 31. Juli bekanntgegebene russische Gesamtmobilmachung nicht mehr den Krieg. Deshalb
beschloß die deutsche Reichsleitung an Frankreich wie an Rußland Ultimaten zu schicken, in denen von Rußland nicht
nur die Einstellung aller Mobilmachungsmaßnahmen gegen Deutschland, sondern auch gegen das selbstmobilisierte
Österreich-Ungarn und von Frankreich als Pfand für sein Wohlverhalten im Falle eines isolierten russisch-deutschen
Krieges die Herausgabe der Festungen Toul und Verdun verlangt wurden.
Die Antwort vom 1. August auf das auf 12 Stunden befristete Ultimatum war - wie von der Reichsleitung
erwartet - ablehnend; aber Sazonov betonte ausdrücklich, daß Rußland sich, solange die Gespräche fortdauerten, aller
kriegerischen Maßnahmen enthalten werde. Pourtales der deutsche Botschafter in Petersburg, überreichte dem
russischen Außenminister daraufhin die deutsche Kriegserklärung.
Fritz Fischer in: Die Zeit vom 3. 9. 1965, S. 30, und vom 1. 10. 1965, S. 46
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Kriegsschuldfrage
Uehlein
Von der Politik des „kalkulierten Risikos" zum Durchbruch des
Präventivkriegsgedankens
In einer von Fritz Fischer abweichenden Form erklärt Andreas Hillgruber Motive und Überlegungen der deutschen
Reichsregierung nach dem Attentat von Sarajevo.
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Von einer zielbewußt auf den großen Krieg hin orientierten Reichspolitik, wie sie Fritz Fischer zu sehen meint, kann [...]
keine Rede sein. [...] Auch in der Julikrise 1914 hat sich die politische Reichsleitung [...], in ihrer Haltung zunächst
nicht von Präventivkriegsvorstellungen leiten lassen. Vielmehr sah sich die Reichsleitung nach dem Attentat von Sarajewo
(28.6.1914) vor einem ihr unausweichlich erscheinenden Dilemma. Sie glaubte, aktiv werden zu müssen, aus
bündnispolitischen Gründen (um der zunehmenden Schwächung Österreich-Ungarns entgegenzuwirken), aus
innenpolitischer Rücksichtnahme (Druck von „rechts"), aber auch - entscheidend - aus einem eigenen außenpolitischen
Kalkül heraus. Sie meinte, dabei das Risiko eines großen Krieges, ja, eines Weltkrieges auf sich nehmen zu müssen,
spekulierte jedoch darauf, ihn dennoch vermeiden zu können, weil es auch die anderen Mächte bei einer bloß
diplomatisch-politischen Kraftprobe belassen würden. Sie ging davon aus, daß die anderen Mächte, und das hieß vor
allem Rußland, wie 1908/09 sich eingedenk der noch unfertigen Rüstungen rational verhalten würden. Bethmann
Hollweg orientierte sich dabei an einer von seinem Berater Kurt Riezler in seiner Schrift „Grundzüge der Weltpolitik der
Gegenwart" im Winter 1913/14 entwickelten „Theorie des kalkulierten Risikos", einer Art Politik der „brinkmanship"1).
Da es keine Möglichkeit zur Verschiebung der Machtverhältnisse in Europa zwischen den einander gegenüberstehenden
Bündnisblöcken im großen mehr geben konnte ohne eine Kriegskatastrophe, die - so Riezlers optimistische Prämisse bei
diesem Gedankengang - niemand wolle, richteten sich die Anstrengungen der Großmächte auf die wenigen Räume, in
denen kleinere Verschiebungen noch möglich seien, wenn man mit taktischen Finessen vorginge. Eine Verschiebung dort
sollte gleichsam erst wahrgenommen werden, „wenn sie bereits erfolgt war, nicht mehr oder nurmehr durch Gewalt (also
einen großen Krieg) rückgängig gemacht werden
konnte". [ . . . ] •
Dementsprechend ging es konkret in der Julikrise 1914 zunächst darum zu ergründen, ob Rußland eine von der deutschen
Reichsleitung zur Stützung des verbündeten Österreich-Ungarn und zur erneuten Stärkung von dessen Prestige auf dem
Balkan für notwendig erachtete „Strafexpedition" der Habsburger Monarchie gegen Serbien in Gestalt eines lokalisierten,
sozusagen eines „Stellvertreter"-Krieges, d. h. eine „kleine" Machtverschiebung, hinnehmen würde, weil damit zwar
Rußlands Prestige, aber (in der Sicht Riezlers) nicht seine Lebensinteressen berührt wurden. [...]
„Zeigten sich die Russen jetzt kriegsbereit, dann war umso mehr zu erwarten, daß sie es sein würden, wenn es in den
folgenden Jahren und eben unter für Deutschland ungünstigeren Umständen zu Krisen und Machtproben kommen würde"
(E. Zechlin). Dies schloß die Bereitschaft der deutschen Führung, der politischen Reichsleitung, ein, einen Krieg in
Rechnung zu stellen, wenn die versuchte Ausnutzung der Krise, die Entente-Mächte und Rußland
auseinanderzumanövrieren nicht zum Erfolg führte. Die Konstellation war aus deutscher Sicht insofern ähnlich günstig
wie in der Bosnien-Krise 1908/09, als wieder Österreich-Ungarn als erste Macht aktiv wurde und Deutschland in der
Position der „Hinterhand" verblieb. [...]
Der Zar und seine Regierung, voran der vom Prestige der russischen Großmacht aus urteilende Außenminister Sasonov,
reagierten jedoch nicht im Sinne der Riezlerschen „Theorie des kalkulierten Risikos" rational, sondern unter dem Druck der
nationalistischen Petersburger Gesellschaft, die ihrerseits aus Furcht vor einer sozialen Revolution eine „Flucht nach vorn"
in den Krieg anstrebte, ohne Rücksicht auf das noch nicht abgeschlossene Rüstungsprogramm mit
Mobilmachungsmaßnahmen. Anders als in der Bosnien-Krise wagte die russische militärische Führung diesmal nicht, dem
Zaren die Wahrheit über den unzureichenden Stand der eigenen Rüstung einzugestehen. In dem rationalen Kalkül der
deutschen politischen Reichsleitung fehlte demnach eine angemessene Berücksichtigung der (...) vom Prestigedenken
bestimmten Reaktion Rußlands auf die beabsichtigte begrenzte Machtverschiebung der deutsch-österreichisch-ungarischen
Mächtegruppe auf dem Balkan. So wie die Führungsstruktur im Deutschen Reich mit dem Nebeneinander von politischer und
militärischer Führung „unterhalb" des diese nur formal integrierenden Monarchen beschaffen war und wie die Stimmung
in der öffentlichen Meinung in Deutschland, verstärkt seit einer letzten großen antirussischen Pressekampagne im Frühjahr
1914, schon „angeheizt" war, bewirkten die Nachrichten von den russischen Mobilmachungsmaßnahmen, die die
politische Reichsleitung zu dem Eingeständnis zwangen, daß ihre Politik des „kalkulierten Risikos" gescheitert war, den
vollen „Durchbruch" der Präventivkriegsvorstellungen des Generalstabes nun auch bei der politischen Reichsleitung. Sie
überließ fatalistisch dem Präventivkriegs-Konzept des Generalstabes das Feld. Am 29.7. fiel sowohl in Deutschland als auch in
Rußland die Entscheidung zum Kriege. Bethmann Hollweg räumte am 30. 7. ein, „daß alle Regierungen - und die große
Mehrheit der Völker an sich friedlich seien, aber es sei die Direktion verloren und der Stein ins Rollen geraten".
Reichskanzler und Auswärtiges Amt wurden faktisch in den noch verbleibenden Stunden bis zur Kriegseröffnung in eine
dienende Funktion zur Abschirmung der jetzt anlaufenden Operationsvorbereitungen gemäß modifiziertem Schlieffen-Plan
verwiesen. Auf dem Höhepunkt der Krise hatte sich der Generalstab mit dem Argument durchgesetzt, daß ein weiteres
Zuwarten angesichts des Termindrucks, der von der russischen Mobilmachung ausgehe, nicht vertretbar sei, da dies einem
kampflosen militärischen „Matt-Setzen gleichkomme.
Andreas Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871-1945, Düsseldorf, 4. Auflage
1984, S. 44 ff.
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