Prof. Dr. Wjatscheslaw Daschitschew Was Amerika mit Europa vorhat (veroeffentlicht in National-Zeitung, 18.06.2004) Ich verstoße nicht gegen die Wahrheit; wenn ich sage, das wir, Europäer, das ganze XX. Jahrhundert tragisch verloren haben. Drei Weltkriege - zwei „heiße“ und ein „kalter“ - erschütterten unseren ganzen Kontinent vom Grund auf. Hunderte Millionen Gefallene, Verwundete, Vergiftete, Gefolterte, Vertriebene, verzweifelte Witwen und verweiste Kinder, Hunderttausende in Trümmer und Asche verwandelte Städte und Dörfer, die schonungslose Zerstörung des industriellen und wissenschftliche Potenzials Europas, Militarisierung des Bewußtseins und des Lebens der Völker, Haß, Argwohn, Feindschaft, geistige und ideologische Verwilderung, die zum Totalitarismus führte, KZs und Gulags, der Verfall der Moral und Sittlichkeit – das waren schicksalhafte Begleiterscheinungen der Entwicklung Europas im vorigen Jahrhundert. Die Pausen zwischen den Kriegen wurden für die Vorbereitung neuer blutiger Konfrontationen genutzt. Ihnen gingen immer wieder die Spaltungen Europas und die Schaffung von Trennungslinien zwischen seinen Völkern voran. Eines der größten Übel Europas des XX. Jahrhunderts war die Spaltung der deutschen Nation im Herzen Europas und die Verwandlung beider Teile Deutschlands in Protektorate der USA und der Sowjetunion. Es schien, als ob die Europäer nach der Wiedervereinigung Deutschlands verstanden, was ihnen passierte, und aus ihrer schrecklichen Vergangenheit richtige Lehren zogen. In der Parieser Carta verkündeten sie im November 1990 das Ende des Kalten Krieges und ihren Willen, ein friedliches, freies, demokratisches und einheitliches Europa zu schaffen. Aber sehr bald gerieten die guten Prinzipien dieser Carta in Vegessenheit. Die alten bösen Geister kehrten wieder in die europäische Wirklichkeit zurück. Schuld daran sind die USA – die außereuropäische Supermacht, die es vermochte, von den Weltkriegen nicht versengt, aus dem XX. Jahrhundert als Gewinner hervorzugehen. Aus der Schutzmacht, die Europa im Kalten Krieg vor dem Zugriff der messianischen expansiven Politik der sowjetischen Führung gerettet hatte, verwandelten sich die USA in einen Faktor der Herrschaft über europäische Länder. Als Hauptinstrument ihrer europäischen Politik blieb auch weiterhin die NATO. Bald nach der Geburt dieses Bündnisses waren auf dessen Fahnen die Zielsetzungen der USA aufgetragen: „die Amerikaner in Europa, die Deutschen im Zaume und die Russen außerhalb Europas zu halten“. Obwohl die „Gefahr vom Osten“ nach dem Zerfall der UdSSR dahinschwand, ließen die Amerikaner diese Triade ihrer europäischen Politik in Kraft bleiben. Die unveränderte Präsenz der USA in Europa symbolisiert die Stationierung der amerikanischen Truppen auf dem deutschen Boden. Deutschland bleibt also ein quasi-okkupiertes Land. Die NATO dient auch weiterhin als ein bequemes Instument, „die Deutschen im Zaume zu halten“ und sie im Fahrwasser der amerikanischen Politik schwimmen zu lassen. Unter dem Druck der USA mußte die Regierung der Bundesrepublik ihre Verträge und das Völkerrecht grob verletzen, indem sie die Bundeswehr im amerikanischen Krieg gegen Jugoslawien einsetzte. Zu demselben „Thema“ gehört die vor der Bundeswehr gestellte Aufgabe, die nationalen Interessen der Bundesrepublik am Hindukusch zu verteidigen (!?). Nur im Falle von Irak gelang es dem Weißen Haus nicht, der Bundesregierung seinen Willen aufzudrängen. Zu evident war die allgemeine Proteststimmung in Europa, insbesondere in Deutschland, gegen dieses abenteuerliche Unternehmen der Bush-Administration. Die Absicht der Amerikaner, die Europäer weitgehend in den Dienst ihrer Interessen zu stellen, fand in den Plänen der Globalisierung der NATO ihren Niederschlag. Zum Hauptobjekt der amerikanischen Europapolitik nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde begreiflicherweise Rußland. Mit seinem großen strategischen Nuklearpotenzial, für das „das Fenster der Verwundbarkeit“ Amerikas offen stand, mit wissenschaftlichen Ressourcen seinen bedeutsamen wirtschaftlichen und war es ein „Dorn im Auge“ für die USA- Administration und ein potenzielles Hindernis für ihre globale Herrschaftspolitik. Deswegen wurde die Zielsetzung „Rußland außerhalb Europas zu halten“ durch viele andere ergänzt: Rußland möglichst maximal zu schwächen, in Rußland ein starkes amerikanisches Lobby in den höheren Etagen der Macht zu schaffen, die Ruinierung und die Ausplünderung des Landes durch die Oligarchen, korrupte und kriminelle Kreise zu fördern und, was besonders wichtig war, die russischen Bürger und den russischen Staat mit all seinen Strukturen (die Wissenschaft, die Streitkräfte, Schulwesen, Gesundheitswesen u.a.) in den Zustand der goßen Armut und des Elends zu versetzen. Diese Ziele wurden mit Hilfe der antinationalen, auf die USA orientierte Führung von Jelzin, die in ein mafia-oligarchisches Regime 2 entartete, erreicht. Die entscheidende Rolle spielte dabei die von den Amerikanern erfundene und von der Jelzin-Mannschaft durchgeführte „Schocktherapie“ der Wirtschaft und der Gesellschaft Rußlands. Man braucht 20 bis 30 Jahre, um die verheerenden Folgen dieser „Therapie“ zu beseitigen und Rußland wiedergutzumachen. Nach Schätzungen von Experten sind die Schäden dieser „Therapie“ für Rußland größer als die des Zweiten Weltkrieges. Die Unterminierung Rußlands von innen wurde durch den militärischen Druck von außen begleitet: die Osterweiterung der NATO. Sie erfüllt gleichzeitig viele Aufgaben. Der europäische Kontinent wird durch die Schaffung einer neuen Trennungslinie gespalten; Rußland wird von Europa isoliert; die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland wird gravierend erschwert in Erkenntnis dessen, daß es auf der Welt zwei Völker überhaupt nicht gibt, die sich besser ergänzen und gegenseitig voranbringen können als Russen und Deutsche; die Amerikaner messen der NATO - Osterweiterung eine große Bedeutung bei, um damit ihre Präsenz in Europa zu rechtfertigen und zu legitimieren. Mit der Eingliederung der osteuropäischen Länder in die NATO erhalten die USA ein weites Aufmarschgebiet unmittelbar an der westlichen Grenze Rußlands. Ein Teil der in Deutschland stationierten Truppen wird laut dem Beschluß Bushs über die globale Umdislozierung der amerikanischen Streitkräfte in dieses Aufmarschgebiet transportiert. Daneben planen die Amerikaner, eine Bedrohung für Rußland im Süden zu schaffen und ihre Basen im Kaukasus, an der Küste des Schwarzen Meeres und in Mittelasien zu errichten. Den Kaukasus haben sie zur Sphäre ihrer nationalen Interessen erklärt. Wie kann all das in Rußland im Hinblick auf die amerikanische Doktrin des „präventiven Interventionismus“ wahrgenommen werden? Stellen wir uns vor: die Amerikaner stationieren in Polen und in baltischen Staaten ihre nukleare Missiles, die imstande sind, in wenigen Minuten Moskau und die russischen strategischen Waffen zu zerstören. Rußland wird der Kapazität eines Zweitschlages zur Vorbeugung eines Überfalls beraubt. Wird die russische Führung das hinnehmen? Dies ist nicht möglich. Dann entsteht auf dem europäische Territorium eine „umgekehrte Kubakrise“ wie 1962. Oder eine andere Option. Die USA mischen sich im Namen der NATO in die Konflikte auf dem ehemaligen Territorium der UdSSR ein. Wird Rußland beiseite stehen? Ich glaube nicht. Man darf nicht vergessen, daß die beiden Weltkriege durch lokale Konflikte, in die sich die Großmächte einmischten, provoziert wurden. 3 Im Unterschied zu der NATO-Osterweiterung birgt in sich die EUErweiterung keine geopolitischen und geoökonomischen Gefahren für Rußland. Die Einigung Europas nach dem Prinzip „Einheit in Vielfalt“ ist ein natürlicher und unaufhaltsamer Prozess. Ich glaube, Rußland, die Ukraine, Weißrußland sowie andere europaorientierte Republiken der ehemaligen Sowjetunion werden sich in der fernen Zukunft der europäischen Integration anschließen, sobald sie wirtschaftlich und politisch dazu reif sind. Bis dahin kann sich in Osteuropa eine Integrationsgruppierung entwickeln, bestehend aus oben genannten Ländern. Die Zusammenarbeit zwischen zwei europäischen Integrationen wird unbedingt zu ihrer Verschmelzung führen und zur Bildung eines gesamteuropäischen Hauses und eines gesamteuropäischen Sicherheitssystem. Das entspricht keinesfalls den Interessen der regierenden Elite der USA. Schon jetzt macht sie alles, um die Herausbildung dieser gigantischen wirtschaftlichen und politischen Machtballung zu vereiteln. Das verdeutlicht unter anderem, warum die USA einen starken Druck auf die EU ausübt, damit sie die muslemische Türkei, die den europäischen Werten fremd ist, in die Union aufnimmt. Die Verwirklichung dieser amerikanischen Idee wird das Funktionieren der EU lähmen. Es gibt noch ein wichtiges Aspekt der amerikanische Politik, die die Interessen der europäischen Länder sehr stark angeht. Um die Durchsetzung der Ziele der globalen Herrschaftspolitik zu erleichtern, unterzogen die politischen Strategen der USA das Völkerrecht einer Revision und einer groben und gefährlichen Entstellung. Sie erklärten das Prinzip der Souveränität der Völker für veraltet und überholt und usurpierten für sich das Recht, in die inneren Angelegenheiten jedes Staates gewaltsam einzumischen und dessen Regierung zu stürzen, wenn sie den Vorstellungen des Weißen Hauses und den amerikanischen Werten nicht entspricht. Diese neue amerikanische „Erfindung“ birgt in sich eine große Gefahr für den Weltfrieden. Das Beispiel Jugoslawiens und Iraks verdeutlicht das zur Genüge. Noch Emmanuel Kant schrieb in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“, daß die Nichteinhaltung des Prinzips der Souveränität der Völker zum Chaos in den internationalen Beziehungen führt. Ein richtiges Urteil über das Wesen der neuen Interpretation des Völkerrechts durch die amerikanische regierende Elite kann man an Hand folgender Worte des Rechts – und Staatswissenschaftlers Paul Johann Аnselm Ritter von Feuerbach fällen: „Es ist die Absicht der Natur, daß die Menschheit in mannigfaltigen Volksgeschlechtern blühe und jades Volk in seiner Eigentümlichkeit und 4 originellen Verschiedenheit sich entwickle und ausbilde. Nicht in einförmigem Einerlei, sondern in unergründlicher Mannigfaltigkeit offenbart sich der große Weltgeist. Selbständigkeit der Völker, souveräne Freiheiten der Staaten, in welchen sie leben, ist das heiligste Palladium der Menschenwürde und der Persönlichkeit eines jeden Volkes. Das Gleichmachen ist einer der ersten Grundsätze in dem Plane eines Welteroberers“ Die Europäer dürfen das XXI. Jahrhundert nicht verlieren. 5