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Das Rußlandbild zwischen 1830 und 1848
Kemper /
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Heinrich Heine: Reisebilder (1826-31):
Was die Alarmisten bisher über die Gefahr gefabelt, der wir durch die Übergröße Rußlands
ausgesetzt sind, ist törigt. Wenigstens wir Deutsche haben nichts zu riskieren, etwas mehr oder
weniger Knechtlichkeit, darauf darf es uns nicht ankommen, wo das Höchste, die Befreiung von
den Resten des Feudalismus und Klerikalismus, zu gewinnen ist. Man droht uns mit der
Herrschaft der Knute, aber ich will gern etwas Knute aushalten, wenn ich sicher weiß, daß unsre
Feinde sie mitbekommen. Ich wette aber, sie werden, wie sie immer getan, der neuen Macht
entgegen wedeln, und graziöse lächeln, und zu den schandbarsten Diensten sich darbieten, und
sich dafür, da doch einmal geknutet werden muß, das Privilegium einer Ehrenknute ausbedingen,
so wie der Adlige in Siam, der, wenn er bestraft werden soll, in einen seidenen Sack gesteckt und
mit parfümierten Stöcken geprügelt wird, statt daß der straffällige Bürgerliche nur einen leinenen
Sack und keine so wohlriechende Prügel bekömmt." (WA 4, 302 f.)
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Heinrich Heine: Reisebilder (1826-31):
,,[ ... ] vergleicht man in freiheitlicher Hinsicht England mit Rußland, so bleibt auch dem
Besorglichsten kein Zweifel übrig, welche Partei zu erfassen sei. Die Freiheit ist in England aus
historischen Begebenheiten, in Rußland aus Prinzipien hervorgegangen. Wie jene Begebenheiten
selbst, so tragen auch ihre geistigen Resultate das Gepräge des Mittelalters, ganz England ist
erstarrt in unverjüngbaren mittelalterlichen Institutionen, wohinter sich die Aristokratie
verschanzt und den Todeskampf erwartet. Jene Prinzipien aber, woraus die russische Freiheit
entstanden ist, oder vielmehr täglich sich weiter entfaltet, sind die liberalen Ideen unserer
neuesten Zeit; die russische Regierung ist durchdrungen von diesen Ideen, ihr unumschränkter
Absolutismus ist vielmehr Diktatur, um jene Ideen unmittelbar ins Leben treten zu lassen; diese
Regierung hat nicht ihre Wurzeln im Feudalismus und Klerikalismus, sie ist der Adel- und
Kirchengewalt direkt entgegenstrebend; schon Katharina hat die Kirche eingeschränkt und der
russische Adel entsteht durch Staatsdienste; Rußland ist ein demokratischer Staat, ich möchte es
sogar einen christlichen Staat nennen, wenn ich dieses oft mißbrauchte Wort in seinem süßesten,
weltbürgerlichsten Sinne anwenden wollte: denn die Russen werden schon durch den Umfang
ihres Reichs von der Engherzigkeit eines heidnischen Nationalsinnes befreit, sie sind
Kosmopoliten, oder wenigstens Sechstel-Kosmopoliten, da Rußland fast den sechsten Teil der
bewohnten Welt ausmacht. Und wahrlich, wenn irgend ein Deutschrusse, wie mein livländischer
Reisegefährte, prahlerisch patriotisch tut, und von unserem Rußland und unserem Diebitsch
spricht, so ist mir, als hörte ich einen Hering, der das Weltmeer für sein Vaterland und den
Walfisch für seinen Landsmann ausgibt." (WA 4, 303 f.)
Heinrich Heine, 1830:
"Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marseillaise ... Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich
weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was Ich muß ... Ich bin der Sohn der Revolution und
greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen
... Blumen! Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Und auch die Leier, reicht
mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied ... " (WA 8, 405)
Heinrich Heine: Einleitung zu Kahldorf über den Adel (1830):
„[...] in Frankreich flammt immer mächtiger die Sonne der Freiheit [...]. Seltsame Umwandlung!
in dieser Not wendet sich der Adel an denjenigen Staat, den er in der letzten Zeit als den ärgsten
Feind seiner Interessen betrachtet und gehaßt, er wendet sich an Rußland. Der große Zar, der
noch jüngst der Gonfaloniere der Liberalen war, indem er der feudalistischen Aristokratie
feindseligst gegenüber stand, und gezwungen schien, sie nächstens zu befehden, eben dieser Zar
wird jetzt von eben jener Aristokratie zum Bannerführer erwählt, und er ist genötigt, ihr
Vorkämpfer zu werden. Denn ruht auch der russische Staat auf das [sic!] antifeudalistische
Prinzip einer Gleichheit aller Staatsbürger, denen nicht die Geburt, sondern das erworbene
Staatsamt einen Rang erteilt, so ist doch auf der anderen Seite das absolute Zarentum
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unverträglich mit den Ideen einer konstitutionellen Freiheit, die den geringsten Untertan selbst
gegen eine wohltätige fürstliche Willkür schützen kann: – und wenn Kaiser Nikolas I. wegen
jenes Prinzip der bürgerlichen Gleichheit von den Feudalisten gehaßt wurde, und obendrein
offener Feind Englands und heimlicher Feind Österreichs, mit all seiner Macht der faktische
Vertreter der Liberalen war, so wurde doch er seit dem Ende Juli der größte Gegner derselben,
nachdem deren siegende Ideen von konstitutioneller Freiheit seinen Absolutismus bedrohen, und
eben in seiner Eigenschaft als Autokrat weiß ihn die europäische Aristokratie zum Kampfe gegen
das frank und freie Frankreich aufzureizen.« (WA 5,403 f.)
Heinrich Heine, 1840:
Ja, wir Deutschen waren nahe daran, eine Revolution zu machen und zwar nicht aus Zorn und
Not, wie andere Völker, sondern aus Mitleid, aus Sentimentalität, aus Rührung, für unsere armen
Gastfreunde, die Polen. Tatsüchtig schlugen unsre Herzen, wenn diese uns am Kamin erzählten,
wie viel sie ausgestanden von den Russen, wie viel Elend, wie viele Knutenschläge ... bei den
Schlägen horchten wir noch sympathetischer, denn eine geheime Ahnung sagte uns, die
russischen Schläge, welche jene Polen bereits empfangen, seien dieselben, die wir in der Zukunft
noch zu bekommen haben. Die deutschen Mütter schlugen angstvoll die Hände über den Kopf,
als sie hörten, daß der Kaiser Nikolas, der Menschenfresser, alle Morgen drei kleine Polenkinder
verspeise, ganz roh, mit Essig und Öl." (W A 8, 437)
Vgl.:
Kopelew, Lew: Heines russische Phantasien. In: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19.
Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1800 - 1871). Hg. v.
Mechthild Keller unter red. Mitarb. von Claudia Pawlik.. München 1992 (= West-östliche
Spiegelungen. Russen und Rußland aus deutscher Sicht und Deutsche und Deutschland aus
russischer Sicht von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert. Wuppertaler Projekt zur
Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew
Kopelew. Reihe A, Bd. 3), S. 521–546.
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