Anton Pelinka

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Anton Pelinka
ZWISCHEN BEFREIUNG UND SOUVERÄNITÄT
Österreich 1945 und 1955
„Österreich ist frei“ – das war der Ausruf Leopold Figls im Marmorsaal des Schlosses
Belvedere am 15.Mai 1955. Doch fast ein Jahrzehnt davor hatte derselbe Leopold Figl als
Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945 bereits erklärt:
„Österreich ist frei, dank dem großen Befreiungswerk, das die Hauptmächte der Welt
vereinte, um diese Welt vom Einfall der Barbarei zu erlösen“.
Die „Barbarei“ – das war der Nationalsozialismus; das war die Herrschaft des
nationalsozialistischen Regimes in und über Österreich. Die „Hauptmächte der Welt“ – das
waren die Alliierten, deren Truppen in Österreich standen, nachdem sie die deutsche
Wehrmacht besiegt hatten. Für den Figl des Jahres 1945 hatten sie Österreich befreit, ja
„erlöst“. Dass Figl 1955 Österreich für nochmals befreit deklarierte, ändert nicht an diesem
entscheidenden Faktum: Österreich verdankt seine Freiheit – seine Demokratie und seine
Unabhängigkeit – dem Sieg der Alliierten; der Niederlage des Deutschen Reiches.
1945: Die eigentliche Weichenstellung
Die österreichische Demokratie verdankt ihre Existenz dem Sieg der Alliierten im Jahre
1945. Ohne die Niederlage Hitler-Deutschlands und der deutschen Wehrmacht hätte es
keine österreichische Demokratie, ja überhaupt keine Demokratie gegeben.
Der Sieg der Alliierten ermöglichte, dass noch im November 1945 erstmals seit 1930 in
freien Wahlen der Nationalrat gewählt werden konnte – noch vor den ersten Wahlen in
Frankreich oder Italien oder der Tschechoslowakei. Der Sieg der Alliierten stellte die
Voraussetzungen her, dass die demokratische Verfassung der Republik und ihre Organe
wieder zu arbeiten beginnen konnten. Der friedliche Wettbewerb der Parteien um
Wählerstimmen und das Funktionieren von Verfassungs- und Rechtsstaat – das waren die
entscheidenden Ergebnisse des Jahres 1945.
Das Österreich der unmittelbaren Nachkriegszeit wies alle Merkmale einer Demokratie auf.
In deren Genuss kam auch die große Mehrheit der ehemaligen Nationalsozialisten, die 1949
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wieder in den Besitz ihrer politischen Rechte eingesetzt wurden. Die erste Direktwahl des
Bundespräsidenten in der Geschichte der Republik fand 1951 statt – unter den Kandidaten
ein ehemaliger Nationalsozialist und ein Kommunist und eine als Parteiunabhängige
kandidierende Frau. Die militärische Präsenz der Befreier und Besatzer – also der Alliierten –
behinderte diese demokratische Entwicklung nicht. Die Alliierten hatten vielmehr die
Voraussetzungen für die Demokratie erst hergestellt.
Die Republik Österreich verdankt ihre Unabhängigkeit ebenfalls dem Sieg der Alliierten.
Deren Kriegsziel war – seit der Moskauer Deklaration vom 1.11.1943 – ein unabhängiges
Österreich. Ein Sieg der deutschen Wehrmacht hätte hingegen bedeutet, dass Österreich
von der Landkarte verschwunden bleibt.
Die Präsenz der Befreier und Besatzer bedeutete zwischen 1945 und 1955 zwar eine
Einschränkung der österreichischen Souveränität. Aber Österreich war in dieser Zeit als
unabhängiger Staat von der internationalen Gemeinschaft ohne Vorbehalt anerkannt –
zuvorderst von den Alliierten.
Die Unabhängigkeit Österreichs war das Resultat des Sieges der Alliierten. Aber anders als
1918 und 1919 wurde diese Unabhängigkeit von Österreich selbst voll bejaht – von den drei
Staatsgründenden Parteien ÖVP, SPÖ, KPÖ; von der Provisorischen Staatsregierung
ebenso wie vom im November 1945 gewählten Nationalrat, von dem im Dezember 1945 von
der Bundesversammlung gewählten Bundespräsidenten und von der im selben Monat
bestellten Bundesregierung.
Österreich musste – anders als 1919 – nicht zu seiner Unabhängigkeit erst gezwungen
werden. Der „Anschluss“ an Deutschland war, wie das Adolf Schärf 1943 ausgedrückt hatte,
tatsächlich „tot“.
Das entscheidende Datum für Österreichs Unabhängigkeit und Demokratie ist somit das
Jahr 1945 – die Niederlage Deutschlands und der Sieg der Alliierten. Das alles ist in der
Unabhängigkeitserklärung vom 27.April 1945 ausgedrückt. Österreich als Staat und
Österreich als Demokratie war ohne Einschränkung Nutznießer des Sieges der Alliierten.
Österreichs Interessen waren – objektiv – auf der Seite der Alliierten. Deren Sieg war auch
ein Sieg für Österreich.
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1955: Bestätigung von und Spannung zu 1945
Demgegenüber war der Staatsvertrag von sekundärer Bedeutung. Der 15.Mai 1955 steht
nicht für Demokratie und Unabhängigkeit – sehr wohl aber für die internationale Absicherung
der schon 1945 erreichten Demokratie und Unabhängigkeit.
Der Staatsvertrag brachte das Ende der spezifischen „Doppelautorität“, die in Österreich ein
Jahrzehnt hindurch gegeben war – das Ende des Nebeneinanders der Autorität der
Verfassungsorgane der Republik und der Autorität der Alliierten; des Alliierten Rates ebenso
wie der Alliierten in ihren jeweiligen Besatzungszonen. Der Staatsvertrag bedeutete das
Ende der Beschränkung der Souveränität des schon 1945 unabhängig und demokratisch
gewordenen Österreich.
Diese eindeutige Priorität des Jahres 1945 gegenüber dem Jahr 1955 steht in einem
Spannungsverhältnis zur öffentlichen Wahrnehmung in Österreich. Leopold Figls „Österreich
ist frei“ von 1955 provoziert den Eindruck, Österreich wäre erst 1955 – und nicht schon 1945
– frei geworden. Der Figl des Jahres 1955 ist mit dem Figl des Jahres 1945 nur mit
Schwierigkeit in Einklang zu bringen.
Musste Österreich von seinen Befreiern befreit werden? War der primäre Befreiungsakt
gegen die Alliierten gerichtet, zu deren Kriegszielen Österreichs Unabhängigkeit gehört
hatte? Wie ist dieser – zweite – Befreiungsakt mit dem des Jahres 1945 in Einklang zu
bringen, als Österreich von der Niederlage einer Macht profitierte, die das Ende Österreichs
schon verkündet und konkret durchgesetzt hatte?
Dieses Spannungsverhältnis zwischen objektiver Priorität und öffentlicher (subjektiver)
Wahrnehmung hängt eng mit der Parteilichkeit zusammen, die mit den Jahreszahlen 1945
und 1955 verbunden sind. 1945 bedeutet klare Trennung – 1955 hingegen diffuse
Gemeinsamkeit.
Das „Wir“, das hinter Österreich stand, war 1945 ein gebrochenes; das „Wir“ des Jahres
1955 hingegen ein ungebrochenes. 1945 standen Österreicher gegen Österreicher;
identifizierten sich die einen mit der einen, die anderen mit der anderen Seite des zu Ende
gehenden Krieges. Die Befreiung von 1945 war keine, die in Österreich mit ungeteilter
Begeisterung aufgenommen worden wäre. 1955 hingegen konnten alle begeistert sein –
diejenigen, die 1945 gejubelt; und diejenigen, die 1945 getrauert hatten.
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Jedes „Wir“ wird durch die Differenz zu den „anderen“ bestimmt. Die „anderen“ des Jahres
1945 waren auch und wesentlich Österreicher – für diejenigen, die jubeln konnten, hatten sie
konkrete Namen: Kaltenbrunner und Eigruber, Seyss-Inquart und Hofer, Rainer und
Eichmann. Die „anderen“ des Jahres 1955 hingegen waren diejenigen, die in das „Wir“ des
Jahres 1945 eingeschlossen waren – die Alliierten; die Befreier; diejenigen, die – um mit Figl
zu sprechen – „uns“ von der Barbarei „erlöst“ hatten; von einer Barbarei freilich, die auch
eine österreichische war.
Ein Teil der österreichischen Gesellschaft verbindet 1945 mit Befreiung, ein anderer Teil
hingegen mit Niederlage. Der 27.April 1945 trennt – zwischen denen, die sich in ihrer
kollektiven Erinnerung mit den Alliierten, bzw.dem österreichischen Widerstand; und denen,
die sich mit Deutschland und der deutschen Wehrmacht identifizierten oder auch heute noch
identifizieren.
Diese Differenz hängt nicht nur mit Uniformen und Kriegshandlungen zusammen. Anfang
1945 wurde im Mühlviertel eine Jagd auf aus dem KZ Mauthausen entflohene Häftlinge
veranstaltet. Bei dieser „Mühlviertler Hasenjagd“ beteiligten sich – aktiv auf der Seite der
Verfolger, österreichische Zivilisten. Ohne jeden direkten Zwang halfen sie mit, die meisten
der Entflohenen zu ermorden. Bei dieser Jagd beteiligten sich aber auch österreichische
Zivilisten auf der Seite der Entflohenen – und retteten, unter eigener Lebensgefahr, einigen
das Leben. Zwischen den einen und den anderen – was war das „Wir“, das sie verband?
Im März und April 1945 zogen ungarische Juden auf ihrem Todesmarsch durch Österreich.
Österreicherinnen und Österreicher beteiligten sich, ohne erkennbaren Zwang, an der
Drangsalierung dieser Todgeweihten. Andere Österreicherinnen und Österreich versuchten,
unter erheblicher persönlicher Gefahr, den Juden zu helfen. Was war das „Wir“, das die
einen und die anderen Österreicher verbunden hätte?
Das unbequeme Jahr 1945 – und das bequeme 1955
Am 15. Mai 1955, vor dem Schloss Belvedere, waren sie aber verbunden – die einen und die
anderen; die Mittäter des NS-Regimes und dessen Gegner. 1955 wurde zugedeckt, was
1945 als Bruch offen erkennbar war. 1945 standen Österreicher gegen Österreicher. Die
Befreiung des Landes – einschließlich des Wiederbeginns der Demokratie – hatte die
Menschen des Landes getrennt.
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Die gesamte österreichische Gesellschaft, mit vernachlässigbaren Ausnahmen, verband und
verbindet hingegen 1955 mit einer positiven Entwicklung. Die beiden Teile der Gesellschaft,
deren Erinnerung an 1945 sie gegeneinander stellt, sind in der Erinnerung an 1955
verbunden.
Es ist eine Verbindung, die nicht oder nicht nur versöhnt; die vielmehr auch und wesentlich
zudeckt. 1955 wurden die „schwer belasteten“ Nationalsozialisten politisch wieder voll in die
österreichische Gesellschaft integriert: SS-Offiziere und hohe Partei- und GestapoFunktionäre. 1955 begannen österreichische Geschworenengerichte, Kriegsverbrecher
freizusprechen. Unter den letzteren Franz Murer – Kommandant des Gettos von Riga, in
dem Zehntausende Juden systematisch ermordet oder ihrer Ermordung zugeführt worden
waren, darunter auch tausende Juden aus Österreich. Unter denen, die 1955 wieder in ihre
politische Karriere zurückkehren konnten, war Anton Reinthaller – General der SS, Mitglied
des Reichskabinetts Hitler, Minister der „Anschlussregierung“ Seyss-Inquart.
1955 schien Österreich einen Schlussstrich zu ziehen – unter jene Barbarei, von der uns die
Alliierten gerettet, „erlöst“ hatten. 1955 war das Jahr, an dem die österreichische Amnesie
einsetzte. Unter einem maximal diffusen Opferbegriff wurden alle subsumiert – die Opfer
Hitler-Deutschlands ebenso wie die Opfer einer (um mit einem österreichischen Gesetzgeber
des Jahres 2005 zu sprechen) „brutalen Nazi-Verfolgung“. Alle, wir alle sind Opfer. Wer aber
waren die Täter? Diese Frage wurde 1955 nicht mehr zu oft gestellt – zunächst jedenfalls.
Bis dann die Frage wieder gestellt wurde – heftiger und immer heftiger: 1965 im Zuge der
Borodajkewycz-Affäre; 1975 im Zuge der Peter-Kreisky-Wiesenthal Affäre; 1985 im Zuge der
Reder-Affäre; ab 1986 im Zuge der Waldheim-Affäre; und – mit dem Höhepunkt im Jahr
2000 – im Zuge der endlosen Haider-Affären.
Der Schlussstrich des Jahres 1955 hatte seinen Preis. Den aber sollte die nächste
Generation, sollten die nächsten Generationen bezahlen.
Es ist daher innenpolitisch bequem, an 1955 zu erinnern – und es ist innenpolitisch heikel,
die Erinnerung an 1945 in den Vordergrund zu schieben. Ein positives Hervorstreichend es
Staatsvertrages
verärgert
–
niemanden
ein
positives
Hervorkehren
der
Unabhängigkeitserklärung hingegen verstößt gegen einige, gegen einige erhebliche
Interessen.
Diese Interessen können konkret benannt werden – anhand eines Beispiels. Die Republik
Österreich hat es bis heute versäumt, mit einem generellen Gesetzesbeschluss alle Urteile
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gegen Wehrmachtsdeserteure für nichtig zu erklären. Große und kleine Koalitionen, SPÖund ÖVP-Alleinregierungen – sie alle haben ihre parlamentarischen Mehrheiten bisher nie
für ein solches Gesetz genutzt. Während Österreicher, die in der Uniform der Wehrmacht
einer Sache dienten, die der der österreichischen Freiheit entgegengesetzt war, nie den
Nachweis zu erbringen hatten, von welchen Motiven sie bei ihrem Militärdienst geleitet
waren, wird nach wie vor von Deserteuren der Nachweis „edler Motive“ verlangt – für ein
Verhalten, das die schwächte, die gegen Österreichs Freiheit kämpften.
Österreich – mehr Objekt als Subjekt der Weltpolitik
Doch Unabhängigkeitserklärung und Staatsvertrag haben einiges gemeinsam, an das zu
erinnern sich lohnt. Vor allem verbindet diese beiden Daten, dass sie Österreichs
Abhängigkeit von der Weltpolitik deutlich machen. Es waren nur sekundär Österreicherinnen
und Österreicher, denen die Freiheit, denen auch die volle Souveränität zu danken ist. Die
Entwicklungen, die zu der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik führten, waren vor allem
Entwicklungen der Weltpolitik. Österreich war nur am Rande Subjekt dieser Politik –
Österreich war vor allem Objekt.
Das gilt natürlich vor allem für 1945: Die Unabhängigkeitserklärung und der Beginn der
Zweiten Republik waren Folgen der Niederlage der einen und des Sieges der anderen Seite
im Zweiten Weltkrieg. Der österreichische Beitrag dazu war nicht irrelevant, er war aber
eindeutig sekundär.
Der österreichische Widerstand gegen das NS-Regime war wichtig – vor allem, um der
Moskauer
Deklaration
die
materielle
Rechtfertigung
zu
geben;
um
Österreichs
Unabhängigkeitswillen glaubhaft zu machen. Aber der österreichische Widerstand war nicht
entscheidend für den Sieg der Alliierten – war nicht entscheidend für die Niederlage
Deutschlands.
Das gilt aber ebenso für 1955. Ohne die Flexibilisierung der sowjetischen Außenpolitik im
Zusammenhang mit der beginnenden Entstalinisierung hätte es keine Chance auf einen
Konsens zwischen Ost und West bezüglich Österreichs Status gegeben.
1954 wurde, im Zuge der Berliner Außenministerkonferenz, die allmählich wachsende
Bereitschaft der Alliierten deutlich, die Österreich-Frage von der Deutschland-Frage
abzukoppeln. Die Alliierten sahen in der für sie zweitrangigen Österreich-Problematik die
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Chance für einen Kompromiss, der in der erstrangigen Deutschland-Problematik nicht
möglich war. Dazu kam die zunehmende Bereitschaft der neuen sowjetischen Führung,
durch
bestimmte
Signale
außenpolitischer
Beweglichkeit
abzutesten,
mit
welcher
Antwortbereitschaft von Seiten des Westens zu rechnen sei. Die Flexibilisierung der
sowjetischen Österreich-Politik steht im Zusammenhang mit dem Waffenstillstand in Korea,
1953, und dem in Indochina, 1954.
Die USA signalisierten ebenfalls Bereitschaft zum Kompromiss bezüglich Österreich: Die
skeptisch bis ablehnende prinzipielle Haltung der der Eisenhower-Administration zum
Konzept der Neutralität wurde im Fall Österreichs von amerikanischer Seite überwunden –
und so konnte die weltpolitische Vereinbarung abgeschlossen werden: Staatsvertrag und,
damit rechtlich verbunden, Abzug der Besatzungsmächte aus Österreich; gleichzeitig aber,
in Form einer politischen Koppelung mit dem Staatsvertrag, eine Garantie für die
Sowjetunion gegen einen österreichischen NATO-Beitritt in Form der Neutralitätserklärung.
Das Verdienst österreichischer Politik war 1945 und 1955, dass Vertreter der politischen Elite
ein „window of opportunity“ erkannt und genützt haben. Dass dieses Fenster zweimal
geöffnet wurde, das war hingegen kein österreichisches Verdienst. Die Vertreter der beiden
großen Lager – des katholisch-konservativen und des sozialistischen – hatten 1945 die
Chance erkannt, aus der durch Hitler-Deutschland angerichteten Katastrophe optimal
auszusteigen. In diesem Sinne war die Politik der Provisorischen Staatsregierung unter
Renner und der Bundesregierung unter Figl ein bestmögliches Reagieren.
Ähnlich auch 1955: Die Regierung Raab begriff, was da an Chance auf Österreich zukam;
und sie griff zu. Es ist fraglich, ob 1956 – nach den Ereignissen in Ungarn – ein ÖsterreichKompromiss noch so leicht zustande gekommen wäre. Österreich reagierte, indem die
Regierung zugriff – als sich, ohne besonderes österreichisches Zutun, die Chance eröffnete.
Die Friedensfunktion der Großen Koalition
Ein weiteres Verdienst österreichischer Politik war, dass zwischen 1945 und 1955 auf der
Basis
eines
Elitenkonsenses
zwischen
dem
katholisch-konservativen
und
dem
sozialistischen Lager eine stabile Demokratie westlichen Zuschnitts aufgebaut wurde. Dazu
aber mussten diese beiden Lager ihre historisch bedingten Unvereinbarkeiten hintanstellen.
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Die Große Koalition der Nachkriegszeit war der Brückenschlag über den tiefen Graben, den
der Bürgerkrieg des Februar 1934 aufgerissen hatte. Die Große Koalition war vor allem auch
ein innenpolitischer Friedensschluss – nicht oder kaum bezüglich des Gegensatzes, der sich
im März 1938 manifestiert hatte; sondern bezüglich des Konfliktes, der im Februar 1934
seinen bitteren Höhepunkt erreicht hatte.
Um diesen Brückenschlag zu ermöglichen, mussten die beiden großen Lager Abstriche von
nicht kompromissfähigen Maximalvorstellungen machen – von den Visionen, denen der
Politische Katholizismus und der Austromarxismus so lange angehangen hatten. Eine
sozialistische Gesellschaft mit einem aus einer marxistischen Heilserwartung heraus
erhofften „Neuen Menschen“ – diese Erwartung hörte auf, die reale Politik der SPÖ zu
prägen. Die ÖVP wiederum akzeptierte de facto die Abkehr vom Konzept eines „christlichen
Staates“, dessen Orientierung sich aus der Katholischen Soziallehre und anderen Doktrinen
der Päpste ableitete.
Westorientierung und Antikommunismus
Dieser Elitenkonsens orientierte sich am Prinzip des politischen Pluralismus und damit der
liberalen Demokratie. Dadurch wurde Österreich schon vor 1955 „westlich“ – die
österreichische Demokratie wurde keine „Volksdemokratie“ wie sie die Nachbarstaaten CSR
und Ungarn vorlebten.
Der Antikommunismus wurde bald nach 1945 zu einer Klammer zwischen den beiden
Großparteien. Der Antikommunismus ergänzte und ersetzte teilweise den 1945 gepredigten
Antifaschismus, der – angesichts der Sympathien weiter Teile des katholisch-konservativen
Lagers – immer schon weniger Antifaschismus und mehr Antinazismus gewesen war.
Dieser Antikommunismus hatte viele Wurzeln: Die historische Schwäche der KPÖ, eine
Schwäche, die sich im katastrophalen Abschneiden der Partei im November 1945 abermals
ausdrückte; das Weiterleben „antibolschewistischer“ Propagandabilder, die vor allem
zwischen 1941 und 1945 das NS-Regime mit einigem Erfolg verbreitete; das reale Verhalten
der Roten Armee, das nur zu oft diese Propagandabilder zu bestätigen schien; und
schließlich das Schicksal der Länder Ost-Mitteleuropas, die in den Jahren zwischen 1945
und 1948 zu kommunistischen Einparteiendiktaturen wurden – mit den entsprechenden
schrecklichen
Folgen
für
die
Opposition
der
demokratischen
Rechten
wie
der
demokratischen Linken.
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Die Ereignisse in Prag, 1948, und die Schauprozesse gegen Slansky, davor schon gegen
Rajk und gegen andere willkürlich ausgewählte „Abweichler“ überzeugten viele, dass die
Sowjetunion eine Gefahr für die österreichische Demokratie war – und dass die KPÖ sich
der sowjetischen Politik willenlos unterordnete. Die große Mehrheit der österreichischen
Bevölkerung orientierte sich am Westen – an der konkreten Politik der Westmächte, aber
auch an dem von diesen vertretenen Modell der Demokratie.
Ein Teil dieser Verwestlichung Österreichs betraf auch die außenpolitische Orientierung.
Österreich war der einzige Staat, auf dessen Territorium sowjetische Truppen standen, der
sich ab 1947 am Marshall-Plan beteiligen wollte und konnte. Aus der Beteiligung am
Marshall-Plan entwickelte sich eine ökonomische Westorientierung, die in Österreichs
Mitgliedschaft in der OEEC, bzw. der OECD mündete.
Diese Entwicklung war aber wiederum durch die Weltpolitik ermöglicht. Im Gefolge des OstWest-Konflikts war der Alliierte Rat, der ja auf Grund der beiden Kontrollabkommen eine Art
Über-Souveränität besaß, praktisch gelähmt – und Österreich so, schon vor 1955,
weitgehend de facto souverän.
Das 1946 in Kraft getretene Zweite Kontrollabkommen räumte dem Alliierten Rat de facto nur
noch ein Vetorecht gegen Verfassungsgesetze, nicht aber mehr gegen einfache Gesetze
ein. Gegen diese hätte der Alliierte Rat einstimmige Beschlüsse fassen müssen. Die
regierende Mehrheit in Österreich konnte daher ihre Politik auf die Interessen der
Westmächte abstimmen – die Sowjetunion hatte dann keine Möglichkeit mehr, ihre
Widersprüche mit Berufung auf
das Kontrollabkommen umzusetzen. Das Zweite
Kontrollabkommen machte Österreich auf gesamtstaatlicher Ebene de facto souverän –
bereits neun Jahre vor dem Staatsvertrag.
Diese Souveränität war freilich durch die in den einzelnen Besatzungszonen nach wie vor
möglichen Eingriffe der jeweiligen Besatzungsmacht relativiert. Diese Eingriffe wurden
jedoch immer seltener. Auch die wirtschaftliche Belastung durch die Besatzungskosten hörte
auf, als zuerst die USA, dann die Sowjetunion und schließlich auch Großbritannien und
Frankreich auf die Refundierung dieser Kosten verzichteten.
Der Politik der Großen Koalition ist in diesem Jahrzehnt daher weniger Tapferkeit und
sicherlich nicht Heldenhaftigkeit zu bestätigen – sehr wohl aber pragmatisches Geschick und
das Erkennen dessen, was möglich; und dessen, was nicht möglich war.
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Die Erfolgsbilanz – und ihr Preis
Diese außenpolitische Erfolgsbilanz der Koalition wurde auch durch ihre erfolgreiche
innenpolitische Friedensfunktion ergänzt. Aus einer Republik, die nach 1918 an ihrer
„Lebensfähigkeit“ zweifelte; die zu keinem stabilen demokratischen Konsens finden konnte;
und die schließlich im Bürgerkrieg unterging, bzw. zu einer autoritären Diktatur mutierte –
aus dieser Republik wurde nach 1945 eine stabile Demokratie mit wachsendem
Selbstbewusstsein. Diese Erfolgsbilanz ist vor allem auch deshalb erstaunlich, weil es
dieselben Lager waren, auf der Grundlage derselben Verfassung, die nach 1945 das zu
erreichten vermochten, was nach 1918 verspielt worden war: eine stabile, eine westliche,
eine liberale, eine pluralistische Demokratie.
Der innenpolitische Friede hatte freilich seinen Preis: Zu diesem zählte, dass beide
Großparteien sich „braune Flecken“ zulegten; dass beide Seiten diese Flecken, Resultat der
Integration der ehemaligen Nationalsozialisten, nicht wirklich thematisierten – ebenso wenig
die entsprechende Farbe des VDU, bzw.der FPÖ. Die Nachkriegszeit überbrückte –
grundsätzlich mit Erfolg – den Graben, der mit der Jahreszahl 1934 verbunden ist. Die
Nachkriegszeit ignorierte letztlich den Graben, der mit der Jahreszahl 1938, der mit der
österreichischen Beteiligung am NS-Regime verbunden ist. Diese Brüche sollten erst später
bewusst werden.
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