Anton Pelinka ZWISCHEN BEFREIUNG UND SOUVERÄNITÄT Österreich 1945 und 1955 „Österreich ist frei“ – das war der Ausruf Leopold Figls im Marmorsaal des Schlosses Belvedere am 15.Mai 1955. Doch fast ein Jahrzehnt davor hatte derselbe Leopold Figl als Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945 bereits erklärt: „Österreich ist frei, dank dem großen Befreiungswerk, das die Hauptmächte der Welt vereinte, um diese Welt vom Einfall der Barbarei zu erlösen“. Die „Barbarei“ – das war der Nationalsozialismus; das war die Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes in und über Österreich. Die „Hauptmächte der Welt“ – das waren die Alliierten, deren Truppen in Österreich standen, nachdem sie die deutsche Wehrmacht besiegt hatten. Für den Figl des Jahres 1945 hatten sie Österreich befreit, ja „erlöst“. Dass Figl 1955 Österreich für nochmals befreit deklarierte, ändert nicht an diesem entscheidenden Faktum: Österreich verdankt seine Freiheit – seine Demokratie und seine Unabhängigkeit – dem Sieg der Alliierten; der Niederlage des Deutschen Reiches. 1945: Die eigentliche Weichenstellung Die österreichische Demokratie verdankt ihre Existenz dem Sieg der Alliierten im Jahre 1945. Ohne die Niederlage Hitler-Deutschlands und der deutschen Wehrmacht hätte es keine österreichische Demokratie, ja überhaupt keine Demokratie gegeben. Der Sieg der Alliierten ermöglichte, dass noch im November 1945 erstmals seit 1930 in freien Wahlen der Nationalrat gewählt werden konnte – noch vor den ersten Wahlen in Frankreich oder Italien oder der Tschechoslowakei. Der Sieg der Alliierten stellte die Voraussetzungen her, dass die demokratische Verfassung der Republik und ihre Organe wieder zu arbeiten beginnen konnten. Der friedliche Wettbewerb der Parteien um Wählerstimmen und das Funktionieren von Verfassungs- und Rechtsstaat – das waren die entscheidenden Ergebnisse des Jahres 1945. Das Österreich der unmittelbaren Nachkriegszeit wies alle Merkmale einer Demokratie auf. In deren Genuss kam auch die große Mehrheit der ehemaligen Nationalsozialisten, die 1949 1 D:\75879808.doc/April 2005 wieder in den Besitz ihrer politischen Rechte eingesetzt wurden. Die erste Direktwahl des Bundespräsidenten in der Geschichte der Republik fand 1951 statt – unter den Kandidaten ein ehemaliger Nationalsozialist und ein Kommunist und eine als Parteiunabhängige kandidierende Frau. Die militärische Präsenz der Befreier und Besatzer – also der Alliierten – behinderte diese demokratische Entwicklung nicht. Die Alliierten hatten vielmehr die Voraussetzungen für die Demokratie erst hergestellt. Die Republik Österreich verdankt ihre Unabhängigkeit ebenfalls dem Sieg der Alliierten. Deren Kriegsziel war – seit der Moskauer Deklaration vom 1.11.1943 – ein unabhängiges Österreich. Ein Sieg der deutschen Wehrmacht hätte hingegen bedeutet, dass Österreich von der Landkarte verschwunden bleibt. Die Präsenz der Befreier und Besatzer bedeutete zwischen 1945 und 1955 zwar eine Einschränkung der österreichischen Souveränität. Aber Österreich war in dieser Zeit als unabhängiger Staat von der internationalen Gemeinschaft ohne Vorbehalt anerkannt – zuvorderst von den Alliierten. Die Unabhängigkeit Österreichs war das Resultat des Sieges der Alliierten. Aber anders als 1918 und 1919 wurde diese Unabhängigkeit von Österreich selbst voll bejaht – von den drei Staatsgründenden Parteien ÖVP, SPÖ, KPÖ; von der Provisorischen Staatsregierung ebenso wie vom im November 1945 gewählten Nationalrat, von dem im Dezember 1945 von der Bundesversammlung gewählten Bundespräsidenten und von der im selben Monat bestellten Bundesregierung. Österreich musste – anders als 1919 – nicht zu seiner Unabhängigkeit erst gezwungen werden. Der „Anschluss“ an Deutschland war, wie das Adolf Schärf 1943 ausgedrückt hatte, tatsächlich „tot“. Das entscheidende Datum für Österreichs Unabhängigkeit und Demokratie ist somit das Jahr 1945 – die Niederlage Deutschlands und der Sieg der Alliierten. Das alles ist in der Unabhängigkeitserklärung vom 27.April 1945 ausgedrückt. Österreich als Staat und Österreich als Demokratie war ohne Einschränkung Nutznießer des Sieges der Alliierten. Österreichs Interessen waren – objektiv – auf der Seite der Alliierten. Deren Sieg war auch ein Sieg für Österreich. 2 D:\75879808.doc/April 2005 1955: Bestätigung von und Spannung zu 1945 Demgegenüber war der Staatsvertrag von sekundärer Bedeutung. Der 15.Mai 1955 steht nicht für Demokratie und Unabhängigkeit – sehr wohl aber für die internationale Absicherung der schon 1945 erreichten Demokratie und Unabhängigkeit. Der Staatsvertrag brachte das Ende der spezifischen „Doppelautorität“, die in Österreich ein Jahrzehnt hindurch gegeben war – das Ende des Nebeneinanders der Autorität der Verfassungsorgane der Republik und der Autorität der Alliierten; des Alliierten Rates ebenso wie der Alliierten in ihren jeweiligen Besatzungszonen. Der Staatsvertrag bedeutete das Ende der Beschränkung der Souveränität des schon 1945 unabhängig und demokratisch gewordenen Österreich. Diese eindeutige Priorität des Jahres 1945 gegenüber dem Jahr 1955 steht in einem Spannungsverhältnis zur öffentlichen Wahrnehmung in Österreich. Leopold Figls „Österreich ist frei“ von 1955 provoziert den Eindruck, Österreich wäre erst 1955 – und nicht schon 1945 – frei geworden. Der Figl des Jahres 1955 ist mit dem Figl des Jahres 1945 nur mit Schwierigkeit in Einklang zu bringen. Musste Österreich von seinen Befreiern befreit werden? War der primäre Befreiungsakt gegen die Alliierten gerichtet, zu deren Kriegszielen Österreichs Unabhängigkeit gehört hatte? Wie ist dieser – zweite – Befreiungsakt mit dem des Jahres 1945 in Einklang zu bringen, als Österreich von der Niederlage einer Macht profitierte, die das Ende Österreichs schon verkündet und konkret durchgesetzt hatte? Dieses Spannungsverhältnis zwischen objektiver Priorität und öffentlicher (subjektiver) Wahrnehmung hängt eng mit der Parteilichkeit zusammen, die mit den Jahreszahlen 1945 und 1955 verbunden sind. 1945 bedeutet klare Trennung – 1955 hingegen diffuse Gemeinsamkeit. Das „Wir“, das hinter Österreich stand, war 1945 ein gebrochenes; das „Wir“ des Jahres 1955 hingegen ein ungebrochenes. 1945 standen Österreicher gegen Österreicher; identifizierten sich die einen mit der einen, die anderen mit der anderen Seite des zu Ende gehenden Krieges. Die Befreiung von 1945 war keine, die in Österreich mit ungeteilter Begeisterung aufgenommen worden wäre. 1955 hingegen konnten alle begeistert sein – diejenigen, die 1945 gejubelt; und diejenigen, die 1945 getrauert hatten. 3 D:\75879808.doc/April 2005 Jedes „Wir“ wird durch die Differenz zu den „anderen“ bestimmt. Die „anderen“ des Jahres 1945 waren auch und wesentlich Österreicher – für diejenigen, die jubeln konnten, hatten sie konkrete Namen: Kaltenbrunner und Eigruber, Seyss-Inquart und Hofer, Rainer und Eichmann. Die „anderen“ des Jahres 1955 hingegen waren diejenigen, die in das „Wir“ des Jahres 1945 eingeschlossen waren – die Alliierten; die Befreier; diejenigen, die – um mit Figl zu sprechen – „uns“ von der Barbarei „erlöst“ hatten; von einer Barbarei freilich, die auch eine österreichische war. Ein Teil der österreichischen Gesellschaft verbindet 1945 mit Befreiung, ein anderer Teil hingegen mit Niederlage. Der 27.April 1945 trennt – zwischen denen, die sich in ihrer kollektiven Erinnerung mit den Alliierten, bzw.dem österreichischen Widerstand; und denen, die sich mit Deutschland und der deutschen Wehrmacht identifizierten oder auch heute noch identifizieren. Diese Differenz hängt nicht nur mit Uniformen und Kriegshandlungen zusammen. Anfang 1945 wurde im Mühlviertel eine Jagd auf aus dem KZ Mauthausen entflohene Häftlinge veranstaltet. Bei dieser „Mühlviertler Hasenjagd“ beteiligten sich – aktiv auf der Seite der Verfolger, österreichische Zivilisten. Ohne jeden direkten Zwang halfen sie mit, die meisten der Entflohenen zu ermorden. Bei dieser Jagd beteiligten sich aber auch österreichische Zivilisten auf der Seite der Entflohenen – und retteten, unter eigener Lebensgefahr, einigen das Leben. Zwischen den einen und den anderen – was war das „Wir“, das sie verband? Im März und April 1945 zogen ungarische Juden auf ihrem Todesmarsch durch Österreich. Österreicherinnen und Österreicher beteiligten sich, ohne erkennbaren Zwang, an der Drangsalierung dieser Todgeweihten. Andere Österreicherinnen und Österreich versuchten, unter erheblicher persönlicher Gefahr, den Juden zu helfen. Was war das „Wir“, das die einen und die anderen Österreicher verbunden hätte? Das unbequeme Jahr 1945 – und das bequeme 1955 Am 15. Mai 1955, vor dem Schloss Belvedere, waren sie aber verbunden – die einen und die anderen; die Mittäter des NS-Regimes und dessen Gegner. 1955 wurde zugedeckt, was 1945 als Bruch offen erkennbar war. 1945 standen Österreicher gegen Österreicher. Die Befreiung des Landes – einschließlich des Wiederbeginns der Demokratie – hatte die Menschen des Landes getrennt. 4 D:\75879808.doc/April 2005 Die gesamte österreichische Gesellschaft, mit vernachlässigbaren Ausnahmen, verband und verbindet hingegen 1955 mit einer positiven Entwicklung. Die beiden Teile der Gesellschaft, deren Erinnerung an 1945 sie gegeneinander stellt, sind in der Erinnerung an 1955 verbunden. Es ist eine Verbindung, die nicht oder nicht nur versöhnt; die vielmehr auch und wesentlich zudeckt. 1955 wurden die „schwer belasteten“ Nationalsozialisten politisch wieder voll in die österreichische Gesellschaft integriert: SS-Offiziere und hohe Partei- und GestapoFunktionäre. 1955 begannen österreichische Geschworenengerichte, Kriegsverbrecher freizusprechen. Unter den letzteren Franz Murer – Kommandant des Gettos von Riga, in dem Zehntausende Juden systematisch ermordet oder ihrer Ermordung zugeführt worden waren, darunter auch tausende Juden aus Österreich. Unter denen, die 1955 wieder in ihre politische Karriere zurückkehren konnten, war Anton Reinthaller – General der SS, Mitglied des Reichskabinetts Hitler, Minister der „Anschlussregierung“ Seyss-Inquart. 1955 schien Österreich einen Schlussstrich zu ziehen – unter jene Barbarei, von der uns die Alliierten gerettet, „erlöst“ hatten. 1955 war das Jahr, an dem die österreichische Amnesie einsetzte. Unter einem maximal diffusen Opferbegriff wurden alle subsumiert – die Opfer Hitler-Deutschlands ebenso wie die Opfer einer (um mit einem österreichischen Gesetzgeber des Jahres 2005 zu sprechen) „brutalen Nazi-Verfolgung“. Alle, wir alle sind Opfer. Wer aber waren die Täter? Diese Frage wurde 1955 nicht mehr zu oft gestellt – zunächst jedenfalls. Bis dann die Frage wieder gestellt wurde – heftiger und immer heftiger: 1965 im Zuge der Borodajkewycz-Affäre; 1975 im Zuge der Peter-Kreisky-Wiesenthal Affäre; 1985 im Zuge der Reder-Affäre; ab 1986 im Zuge der Waldheim-Affäre; und – mit dem Höhepunkt im Jahr 2000 – im Zuge der endlosen Haider-Affären. Der Schlussstrich des Jahres 1955 hatte seinen Preis. Den aber sollte die nächste Generation, sollten die nächsten Generationen bezahlen. Es ist daher innenpolitisch bequem, an 1955 zu erinnern – und es ist innenpolitisch heikel, die Erinnerung an 1945 in den Vordergrund zu schieben. Ein positives Hervorstreichend es Staatsvertrages verärgert – niemanden ein positives Hervorkehren der Unabhängigkeitserklärung hingegen verstößt gegen einige, gegen einige erhebliche Interessen. Diese Interessen können konkret benannt werden – anhand eines Beispiels. Die Republik Österreich hat es bis heute versäumt, mit einem generellen Gesetzesbeschluss alle Urteile 5 D:\75879808.doc/April 2005 gegen Wehrmachtsdeserteure für nichtig zu erklären. Große und kleine Koalitionen, SPÖund ÖVP-Alleinregierungen – sie alle haben ihre parlamentarischen Mehrheiten bisher nie für ein solches Gesetz genutzt. Während Österreicher, die in der Uniform der Wehrmacht einer Sache dienten, die der der österreichischen Freiheit entgegengesetzt war, nie den Nachweis zu erbringen hatten, von welchen Motiven sie bei ihrem Militärdienst geleitet waren, wird nach wie vor von Deserteuren der Nachweis „edler Motive“ verlangt – für ein Verhalten, das die schwächte, die gegen Österreichs Freiheit kämpften. Österreich – mehr Objekt als Subjekt der Weltpolitik Doch Unabhängigkeitserklärung und Staatsvertrag haben einiges gemeinsam, an das zu erinnern sich lohnt. Vor allem verbindet diese beiden Daten, dass sie Österreichs Abhängigkeit von der Weltpolitik deutlich machen. Es waren nur sekundär Österreicherinnen und Österreicher, denen die Freiheit, denen auch die volle Souveränität zu danken ist. Die Entwicklungen, die zu der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik führten, waren vor allem Entwicklungen der Weltpolitik. Österreich war nur am Rande Subjekt dieser Politik – Österreich war vor allem Objekt. Das gilt natürlich vor allem für 1945: Die Unabhängigkeitserklärung und der Beginn der Zweiten Republik waren Folgen der Niederlage der einen und des Sieges der anderen Seite im Zweiten Weltkrieg. Der österreichische Beitrag dazu war nicht irrelevant, er war aber eindeutig sekundär. Der österreichische Widerstand gegen das NS-Regime war wichtig – vor allem, um der Moskauer Deklaration die materielle Rechtfertigung zu geben; um Österreichs Unabhängigkeitswillen glaubhaft zu machen. Aber der österreichische Widerstand war nicht entscheidend für den Sieg der Alliierten – war nicht entscheidend für die Niederlage Deutschlands. Das gilt aber ebenso für 1955. Ohne die Flexibilisierung der sowjetischen Außenpolitik im Zusammenhang mit der beginnenden Entstalinisierung hätte es keine Chance auf einen Konsens zwischen Ost und West bezüglich Österreichs Status gegeben. 1954 wurde, im Zuge der Berliner Außenministerkonferenz, die allmählich wachsende Bereitschaft der Alliierten deutlich, die Österreich-Frage von der Deutschland-Frage abzukoppeln. Die Alliierten sahen in der für sie zweitrangigen Österreich-Problematik die 6 D:\75879808.doc/April 2005 Chance für einen Kompromiss, der in der erstrangigen Deutschland-Problematik nicht möglich war. Dazu kam die zunehmende Bereitschaft der neuen sowjetischen Führung, durch bestimmte Signale außenpolitischer Beweglichkeit abzutesten, mit welcher Antwortbereitschaft von Seiten des Westens zu rechnen sei. Die Flexibilisierung der sowjetischen Österreich-Politik steht im Zusammenhang mit dem Waffenstillstand in Korea, 1953, und dem in Indochina, 1954. Die USA signalisierten ebenfalls Bereitschaft zum Kompromiss bezüglich Österreich: Die skeptisch bis ablehnende prinzipielle Haltung der der Eisenhower-Administration zum Konzept der Neutralität wurde im Fall Österreichs von amerikanischer Seite überwunden – und so konnte die weltpolitische Vereinbarung abgeschlossen werden: Staatsvertrag und, damit rechtlich verbunden, Abzug der Besatzungsmächte aus Österreich; gleichzeitig aber, in Form einer politischen Koppelung mit dem Staatsvertrag, eine Garantie für die Sowjetunion gegen einen österreichischen NATO-Beitritt in Form der Neutralitätserklärung. Das Verdienst österreichischer Politik war 1945 und 1955, dass Vertreter der politischen Elite ein „window of opportunity“ erkannt und genützt haben. Dass dieses Fenster zweimal geöffnet wurde, das war hingegen kein österreichisches Verdienst. Die Vertreter der beiden großen Lager – des katholisch-konservativen und des sozialistischen – hatten 1945 die Chance erkannt, aus der durch Hitler-Deutschland angerichteten Katastrophe optimal auszusteigen. In diesem Sinne war die Politik der Provisorischen Staatsregierung unter Renner und der Bundesregierung unter Figl ein bestmögliches Reagieren. Ähnlich auch 1955: Die Regierung Raab begriff, was da an Chance auf Österreich zukam; und sie griff zu. Es ist fraglich, ob 1956 – nach den Ereignissen in Ungarn – ein ÖsterreichKompromiss noch so leicht zustande gekommen wäre. Österreich reagierte, indem die Regierung zugriff – als sich, ohne besonderes österreichisches Zutun, die Chance eröffnete. Die Friedensfunktion der Großen Koalition Ein weiteres Verdienst österreichischer Politik war, dass zwischen 1945 und 1955 auf der Basis eines Elitenkonsenses zwischen dem katholisch-konservativen und dem sozialistischen Lager eine stabile Demokratie westlichen Zuschnitts aufgebaut wurde. Dazu aber mussten diese beiden Lager ihre historisch bedingten Unvereinbarkeiten hintanstellen. 7 D:\75879808.doc/April 2005 Die Große Koalition der Nachkriegszeit war der Brückenschlag über den tiefen Graben, den der Bürgerkrieg des Februar 1934 aufgerissen hatte. Die Große Koalition war vor allem auch ein innenpolitischer Friedensschluss – nicht oder kaum bezüglich des Gegensatzes, der sich im März 1938 manifestiert hatte; sondern bezüglich des Konfliktes, der im Februar 1934 seinen bitteren Höhepunkt erreicht hatte. Um diesen Brückenschlag zu ermöglichen, mussten die beiden großen Lager Abstriche von nicht kompromissfähigen Maximalvorstellungen machen – von den Visionen, denen der Politische Katholizismus und der Austromarxismus so lange angehangen hatten. Eine sozialistische Gesellschaft mit einem aus einer marxistischen Heilserwartung heraus erhofften „Neuen Menschen“ – diese Erwartung hörte auf, die reale Politik der SPÖ zu prägen. Die ÖVP wiederum akzeptierte de facto die Abkehr vom Konzept eines „christlichen Staates“, dessen Orientierung sich aus der Katholischen Soziallehre und anderen Doktrinen der Päpste ableitete. Westorientierung und Antikommunismus Dieser Elitenkonsens orientierte sich am Prinzip des politischen Pluralismus und damit der liberalen Demokratie. Dadurch wurde Österreich schon vor 1955 „westlich“ – die österreichische Demokratie wurde keine „Volksdemokratie“ wie sie die Nachbarstaaten CSR und Ungarn vorlebten. Der Antikommunismus wurde bald nach 1945 zu einer Klammer zwischen den beiden Großparteien. Der Antikommunismus ergänzte und ersetzte teilweise den 1945 gepredigten Antifaschismus, der – angesichts der Sympathien weiter Teile des katholisch-konservativen Lagers – immer schon weniger Antifaschismus und mehr Antinazismus gewesen war. Dieser Antikommunismus hatte viele Wurzeln: Die historische Schwäche der KPÖ, eine Schwäche, die sich im katastrophalen Abschneiden der Partei im November 1945 abermals ausdrückte; das Weiterleben „antibolschewistischer“ Propagandabilder, die vor allem zwischen 1941 und 1945 das NS-Regime mit einigem Erfolg verbreitete; das reale Verhalten der Roten Armee, das nur zu oft diese Propagandabilder zu bestätigen schien; und schließlich das Schicksal der Länder Ost-Mitteleuropas, die in den Jahren zwischen 1945 und 1948 zu kommunistischen Einparteiendiktaturen wurden – mit den entsprechenden schrecklichen Folgen für die Opposition der demokratischen Rechten wie der demokratischen Linken. 8 D:\75879808.doc/April 2005 Die Ereignisse in Prag, 1948, und die Schauprozesse gegen Slansky, davor schon gegen Rajk und gegen andere willkürlich ausgewählte „Abweichler“ überzeugten viele, dass die Sowjetunion eine Gefahr für die österreichische Demokratie war – und dass die KPÖ sich der sowjetischen Politik willenlos unterordnete. Die große Mehrheit der österreichischen Bevölkerung orientierte sich am Westen – an der konkreten Politik der Westmächte, aber auch an dem von diesen vertretenen Modell der Demokratie. Ein Teil dieser Verwestlichung Österreichs betraf auch die außenpolitische Orientierung. Österreich war der einzige Staat, auf dessen Territorium sowjetische Truppen standen, der sich ab 1947 am Marshall-Plan beteiligen wollte und konnte. Aus der Beteiligung am Marshall-Plan entwickelte sich eine ökonomische Westorientierung, die in Österreichs Mitgliedschaft in der OEEC, bzw. der OECD mündete. Diese Entwicklung war aber wiederum durch die Weltpolitik ermöglicht. Im Gefolge des OstWest-Konflikts war der Alliierte Rat, der ja auf Grund der beiden Kontrollabkommen eine Art Über-Souveränität besaß, praktisch gelähmt – und Österreich so, schon vor 1955, weitgehend de facto souverän. Das 1946 in Kraft getretene Zweite Kontrollabkommen räumte dem Alliierten Rat de facto nur noch ein Vetorecht gegen Verfassungsgesetze, nicht aber mehr gegen einfache Gesetze ein. Gegen diese hätte der Alliierte Rat einstimmige Beschlüsse fassen müssen. Die regierende Mehrheit in Österreich konnte daher ihre Politik auf die Interessen der Westmächte abstimmen – die Sowjetunion hatte dann keine Möglichkeit mehr, ihre Widersprüche mit Berufung auf das Kontrollabkommen umzusetzen. Das Zweite Kontrollabkommen machte Österreich auf gesamtstaatlicher Ebene de facto souverän – bereits neun Jahre vor dem Staatsvertrag. Diese Souveränität war freilich durch die in den einzelnen Besatzungszonen nach wie vor möglichen Eingriffe der jeweiligen Besatzungsmacht relativiert. Diese Eingriffe wurden jedoch immer seltener. Auch die wirtschaftliche Belastung durch die Besatzungskosten hörte auf, als zuerst die USA, dann die Sowjetunion und schließlich auch Großbritannien und Frankreich auf die Refundierung dieser Kosten verzichteten. Der Politik der Großen Koalition ist in diesem Jahrzehnt daher weniger Tapferkeit und sicherlich nicht Heldenhaftigkeit zu bestätigen – sehr wohl aber pragmatisches Geschick und das Erkennen dessen, was möglich; und dessen, was nicht möglich war. 9 D:\75879808.doc/April 2005 Die Erfolgsbilanz – und ihr Preis Diese außenpolitische Erfolgsbilanz der Koalition wurde auch durch ihre erfolgreiche innenpolitische Friedensfunktion ergänzt. Aus einer Republik, die nach 1918 an ihrer „Lebensfähigkeit“ zweifelte; die zu keinem stabilen demokratischen Konsens finden konnte; und die schließlich im Bürgerkrieg unterging, bzw. zu einer autoritären Diktatur mutierte – aus dieser Republik wurde nach 1945 eine stabile Demokratie mit wachsendem Selbstbewusstsein. Diese Erfolgsbilanz ist vor allem auch deshalb erstaunlich, weil es dieselben Lager waren, auf der Grundlage derselben Verfassung, die nach 1945 das zu erreichten vermochten, was nach 1918 verspielt worden war: eine stabile, eine westliche, eine liberale, eine pluralistische Demokratie. Der innenpolitische Friede hatte freilich seinen Preis: Zu diesem zählte, dass beide Großparteien sich „braune Flecken“ zulegten; dass beide Seiten diese Flecken, Resultat der Integration der ehemaligen Nationalsozialisten, nicht wirklich thematisierten – ebenso wenig die entsprechende Farbe des VDU, bzw.der FPÖ. Die Nachkriegszeit überbrückte – grundsätzlich mit Erfolg – den Graben, der mit der Jahreszahl 1934 verbunden ist. Die Nachkriegszeit ignorierte letztlich den Graben, der mit der Jahreszahl 1938, der mit der österreichischen Beteiligung am NS-Regime verbunden ist. Diese Brüche sollten erst später bewusst werden. 10 D:\75879808.doc/April 2005