TEXTE „Schiffbruch und entgleiste Züge einberechnet“

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TEXTE „Schiffbruch und entgleiste Züge einberechnet“
Eine Reise um die Erde in drei Monaten - dies preist 1871
ein Pariser Reisebüro an. Zur damaligen Zeit ist das eine
Sensation. Jules Verne (1828 - 1905) inspiriert dies zu
seinem berühmten Buch: «Reise um die Erde in 80 Tagen.»
Wie gross ist die Erde?
Vier Herren diskutieren am Spieltisch: «.. Aber
die Erde ist ziemlich gross.»
«Das war sie einmal. Früher ...», erwiderte
Phileas Fogg.
«Was heisst früher? Ist die Erde zufällig
geschrumpft?»
«Zweifellos», antwortete Mr. Ralph. «Ich bin,
wie Mr. Fogg, der Meinung, dass die Erde kleiner geworden ist. Weil wir sie heute sechsmal
schneller bereisen können als vor 90 Jahren.»
Mr. Stuart war ein hartnäckiger Zweifler: «Ich
muss zugeben, dass das eine amüsante
These ist, dass unser Planet kleiner geworden
ist, weil man heutzutage in drei Monaten um
die Erde reisen kann ...»
«In achtzig Tagen», verbesserte ihn Phileas.
«Ja, meine Herren, es geht tatsächlich in
achtzig Tagen», mischte sich Mr. Sullivan in
die Unterhaltung ein, «hier ist die Rechnung,
die die Morgenzeitung veröffentlicht hat: von
London über Italien nach Suez und weiter
nach Indien, nach Hongkong und Japan, von
dort weiter nach San Francisco und New York
und von dort wieder zurück nach London.
Insgesamt achtzig Tage Reisezeit.»
«Ja, ja!», rief Mr. Stuart, «aber dabei sind
Unwetter, ungünstige Winde, Schiffbruch und
entgleiste Züge nicht berücksichtigt.» «Alles in
allem achtzig Tage», gab Phileas Fogg zurück
und spielte weiter.
Doch jetzt hatte das Diskussionsfieber die
Oberhand über das Spiel gewonnen.
«Selbst wenn die Inder oder die Indianer die
Eisenbahnschienen abbauen?», rief Mr. Stuart.
«Wenn sie die Züge aufhalten und die
Gepäckwagen plündern und die Reisenden
skalpieren!?»
«Alles in allem!», wiederholte Phileas Fogg
und legte seine letzten beiden Karten auf den
Tisch.
«Das möchte ich gerne sehen.»
«Das liegt ganz bei Ihnen, Mr. Stuart. Machen
wir die Reise gemeinsam.»
«Der Himmel bewahre mich, aber ich möchte
wetten, dass eine solche Reise unmöglich ist.»
«Ganz im Gegenteil, sie ist sehr wohl
möglich», erwiderte Fogg.
«Na dann machen Sie sie doch!»
«Eine Reise um die Erde in achtzig Tagen?»
«Ja.» - «Einverstanden.»
«Und wann gehts los?» - «Sofort!»
«Aber Mr. Fogg», rief Mr. Sullivan dazwischen,
«die Zeitspanne von achtzig Tagen ist als
äusserstes Minimum gerechnet! Um dieses
Minimum nicht zu überschreiten, müssten Sie
mit mathematischer Genauigkeit von den
Zügen in die Schiffe und von den Schiffen in
die Züge springen!»
«Dann werde ich eben mathematisch genau
springen», sagte Phileas Fogg ruhig. Dann
fuhr er fort: «Meine Herren, ich wette
zwanzigtausend Pfund gegen jeden, der will,
dass ich in achtzig Tagen um die Erde reisen
werde. Genauer: in 1900 Stunden oder in
115‘200 Minuten. Nehmen Sie die Wette an?»
Damit beginnt Phileas Foggs fantastischer
Wettlauf gegen die Zeit. Der Gentleman
bewahrt dabei immer und überall seine Ruhe.
Die Nervosität überlässt er seinem Diener
Passepartout - und der Leserschaft.
Jetzt nicht die Nerven verlieren!
Phileas Fogg hatte nun zwanzig Stunden Verspätung. Passepartout war verzweifelt,
weil er ungewollt diese Verspätung verschuldet hatte. Da trat ein Herr auf Phileas Fogg
zu: «Ich habe gehört, Sie müssen am 11. Dezember vor neun Uhr abends, also vor der
Abfahrt des Postschiffes, in New York sein.»
«Unbedingt.»
«Wären Sie denn am 11. Dezember in New York angekommen, wenn ihre Reise nicht
durch den Überfall der Indianer unterbrochen worden wäre?» «Ja, zwölf Stunden vor
der Abfahrt des Dampfers.»
«Gut, Sie haben jetzt zwanzig Stunden Verspätung. Die Differenz zwischen zwanzig
und zwölf beträgt acht. Das heisst, acht Stunden müssen aufgeholt werden. Wollen Sie
das versuchen?»
«Wie denn, zu Fuss?»
«Nein! Im Schlitten», erwiderte der Herr, «im Segelschlitten. Ein Einheimischer hat mir
dieses Transportmittel angeboten.»
Fogg nahm ein ziemlich eigenartiges Fahrzeug in Augenschein: Das Gestell ruhte auf
zwei langen Balken, die vorne wie zwei Schlittschuhkufen nach oben abgerundet
waren. Der Aufbau bot fünf bis sechs Personen Platz. In seinem vorderen Drittel ragte
ein sehr hoher Mast auf, an dem ein riesiges Segel Platz hatte. Hinten befand sich eine
Art Steuerruder, mit dem man das Gefährt lenken konnte. «Gut», sagte Phileas Fogg,
«wenn nichts bricht, kommen wir rechtzeitig an ... »
Ereignis des Jahres
Die «Reise um die Erde in 80 Tagen» erscheint 1872 und wird sofort ein sensationeller
Erfolg. Wie damals üblich erscheint der Roman zuerst in Fortsetzungen in einer
Zeitschrift - diese verdoppelt innerhalb weniger Wochen die Auflage. Als die Geschichte von Phileas Foggs Wette als Theaterstück angekündigt wird, reisst sich ganz Paris
um Eintrittskarten. Die Uraufführung wird zum gigantischen Spektakel: Sogar ein
Elefant wird aus einem Londoner Zoo nach Paris transportiert. Bald wird das Stück in
ganz Europa gespielt, und im 20. Jahrhundert erobern Phileas Fogg und Passepartout
auch die Welt des Kinos.
Weltruhm und Selbstzweifel
Trotz seines Erfolgs zweifelt Verne zeit seines Lebens immer wieder an sich und seiner
Begabung. Ihn quält die Einschätzung der Fachwelt, er sei ein guter, aber kein grosser
Autor. Seine Bewunderer kümmert das nicht. In Scharen pilgern sie in die französische
Provinz, wohin sich Verne zurückgezogen hat. Täglich treffen Briefe ein aus aller Welt.
So kommt nicht nur eine stattliche Briefmarkensammlung zu Stande, sondern auch
eine Sammlung «internationaler Haarlocken». Verne nennt diese Zeichen der
Verehrung belustigt seine «Skalps» und lässt sie von seiner Frau wöchentlich
abstauben. Als Verne 1905 stirbt, wohnen mehr als 5000 Menschen seiner Beerdigung
bei. Seine Bücher werden auch nach hundert Jahren noch gelesen: Verne ist bis heute
der meistübersetzte französische Schriftsteller überhaupt.
Spannung bis zur letzten Sekunde
«Acht Uhr vierundvierzig!», sagte Mr. Sullivan mit einer Stimme, der man anhörte, wie
erregt er war. Noch eine Minute, und die Herren hatten die Wette wirklich gewonnen.
Mr. Stuart und die anderen spielten nicht mehr, sie hatten die Karten sinken lassen, sie
zählten die Sekunden! Die Zeit verging. Nichts! Bei der fünfzigsten immer noch nichts.
Bei der fünfundfünfzigsten brandete draussen ein ungeheurer Lärm auf: Beifall,
Hurragebrüll wogten hin und her und kamen näher. Die Spieler sprangen auf. In der
siebenundfünfzigsten Sekunde der letzten Minute der vereinbarten Frist öffnete sich
die Tür zum grossen Salon des Clubs: «Hier bin ich, meine Herren», stellte Phileas
Fogg mit ruhiger Stimme fest.
Segelschlitten und Elefantenrüssel: Alle
Fortbewegungsmittel werden eingesetzt.
Passepartout rettet eine Prinzessin: Um
1875 liegen Schokoladetafeln solche
Werbe-Bildchen bei.
Die raffinierte Mischung
Eigentlich will Jules Verne Rechtsanwalt werden wie sein Vater. Doch als er aus der
französischen Kleinstadt zum Studium nach Paris kommt, spürt er bald, dass seine
Liebe der Literatur gilt. Begeistert taucht er in die bunte Künstler-Szene der Hauptstadt
ein und beginnt Theaterstücke zu schreiben. Allerdings wird seine Leidenschaft kaum
von Erfolg gekrönt. Sein Ziel, von der Schriftstellerei leben zu können, scheint in weiter
Ferne. Umso mehr, als Verne mit 29 Jahren eine Frau heiratet, die zwei Töchter hat.
Das Blatt wendet sich erst, als Verne 1863 den Verleger Pierre Hetzel trifft. Der
Geschäftsmann hat eine untrügliche Nase dafür, was bei seiner Leserschaft ankommt.
Hetzel «bestellt» bei Verne Geschichten, in denen fantastische Abenteuer und
wissenschaftliche Fakten miteinander verschmelzen.
Verne ist in seinem Element! Er schickt seine Leserinnen und Leser auf Reisen zum
Mond, zum Mittelpunkt der Erde und 20 000 Meilen unter Meer; sie werden Zeugen
fernöstlicher Begräbniszeremonien, bereisen Indien und die Hauptstadt von China.
Ganz nebenbei lernen sie noch, was die Schwierigkeiten beim Bau einer Dampf lokomotive sind und worauf es bei der Konstruktion einer Hängebrücke ankommt.
Und die Rechnung geht auf: Das bunte Nebeneinander von Natur- und Länderkunde,
von Technik, Abenteuer und Sciencefiction ist lehrreich und gleichzeitig unterhaltsam:
Mit Hetzels Rezept wird Jules Verne weltberühmt. Der Autor und sein Verleger sehen
oder schreiben sich täglich. Es sei, als würden sie sich gegenseitig «elektrisieren»,
schreibt Jules Verne. Er liefert die Fantasie, Hetzel die Erfolg versprechende Form. So
entstehen über 60 Romane. Der berühmteste ist bis heute «Reise um die Erde in 80
Tagen». Es ist die Geschichte einer - für die damalige Zeit - äusserst kühnen Wette:
Beim Kartenspiel behauptet der englische Gentleman Phileas Fogg (sprich Failas Fog),
er könne in 80 Tagen um die Welt reisen. Am 21. Dezember 1872 um fünf Uhr
nachmittags will er wieder bei seinen Freunden am Spieltisch erscheinen. Schafft er es
nicht, verliert er sein ganzes Vermögen.
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