VorlesungSS14-skript14

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SS 2014
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Vorlesung: Zwischen Revolution und deutscher Reichsgründung 1871: Europäische
Geschichte 1848-1871.
14. Deutsch-französischer Krieg und Reichsgründung
- J. BECKER (Hrsg.), Bismarcks spanische „Diversion“ 1870 und der preußisch-deutsche
Reichsgründungskrieg, Bde. 1-3, Paderborn u. a. 2003-2008
- E. KOLB (Hrsg.), Europa und die Reichsgründung. Preußen-Deutschland in der Sicht der
großen europäischen Mächte 1860-1880. München 1980
- E. KOLB, Der Kriegsausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und
Verantwortlichkeiten in der Julikrise. Göttingen 1970.
- Ders., (Hrsg.), Europa vor dem Krieg von 1870. München 1987.
- D. WETZEL, Duell der Giganten. Bismarck, Napoleon III. und die Ursachen des deutschfranzösischen Krieges 1870-1871, Paderborn 2005.
A. Der deutsch-französische Krieg
I. Europäische Mächtekonstellation vor dem Krieg:
Großbritannien (vgl. Aufsätze von Hildebrand und Alter in den Sammelbänden von E.
KOLB): Für Großbritannien hatten die globalen Interessen Vorrang. In Europa ging es um die
Erhaltung des Gleichgewichts und damit des Friedens auf dem Kontinent. Bis 1870 sah man
in der Machtpolitik Napoleons III. größere Gefahren für dieses Gleichgewicht als in einer
Vollendung der deutschen Einheit, sofern sich dieser deutsche Nationalstaat weitergehender
machtpolitischer Ambitionen enthielt. Ein stärkeres Deutschland zwischen den Großmächten
Russland und Frankreich kam der britischen Politik durchaus gelegen.
Russland (vgl. Aufsätze von Beyrau in den Sammelbänden von KOLB) konzentrierte sich seit
dem Krimkrieg auf die inneren Reformen und die Ausweitung und Sicherung seiner östlichen
und südlichen Positionen. Der polnische Aufstand von 1863 hatte zu einer Entfremdung
gegenüber Frankreich geführt, die durch französische Balkanambitionen noch verstärkt
wurden. Die russische Furcht vor einer französisch-österreichischen Allianz war günstig für
Preußen, das auf eine gewisse russische Absicherung in einem Konflikt mit Frankreich hoffen
durfte. 1868 kam es sogar zu einer russisch-preußischen Militärabsprache.
Österreich-Ungarn (zusammenfassend: H. RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa.
Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburger Monarchie, Wien 1997) erfuhr
nach 1866 einen tiefen Wandlungsprozess. 1867 kam es zum österreichisch-ungarischen
Ausgleich. Die Habsburger Monarchie bestand fortan aus zwei selbständigen Reichsteilen mit
gemeinsamem Monarchen und gemeinsamen Institutionen (Außen-, Militär- und
Finanzpolitik). Die begonnenen verfassungspolitischen Weichenstellungen wurden
weitergeführt,
die
Mitgestaltungsmöglichkeiten
blieben
jedoch
hinter
dem
Konstitutionalismus in Deutschland zurück. Die Nationalitätenproblematik war nicht gelöst
und wurde durch die Begünstigung der Deutschen und Ungarn sogar weiter verschärft.
Bedeutung für die Außenpolitik: Kaiser Franz Joseph wollte zwar seine
deutschlandpolitischen Ambitionen nach 1866 nicht völlig preisgeben und berief den früheren
sächsischen Ministerpräsidenten BEUST zum Staatskanzler und Außenminister. Eine
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antipreußische Politik im Bündnis mit Frankreich war jedoch nicht durchzusetzen, weil
sowohl die Ungarn als auch die Mehrheit der Deutschösterreicher hierzu nicht bereit waren.
Die von Napoleon III. angestrebte Allianz zwischen Frankreich, Österreich und Italien kam
daher nicht zustande. Ein weiterer Hinderungsgrund war die Aufrechterhaltung des
französischen Schutzes für den verbliebenen Rest des Kirchenstaates. Das Königreich Italien
nutzte dann im September 1870 den deutsch-französischen Krieg, um sich den Rest des
Kirchenstaates einzuverleiben.
II. Die Hohenzollernsche Thronkandidatur als Anlaß des deutsch-französischen
Krieges:
Im September 1868 vertrieben „progressistische Kräfte“ des spanischen Militärs – unterstützt
von großen Teilen der Bevölkerung – die Königin Isabella II. (unterschiedliche
Einschätzungen des Vorgangs zwischen bloßem Staatsstreich der Militärs und Revolution).
Die provisorische Regentschaft wollte an der Monarchie festhalten, suchte aber einen
Monarchen, der sich auf eine konstitutionelle Regierungsform verpflichtete. Das im Februar
1870 erfolgende spanische Angebot an den Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen
war das Ergebnis längerer Sondierungen. Die süddeutsch-katholische Linie des Hauses
Hohenzollern war zwar mit Napoleon III. näher verwandt als mit den preußischen
Hohenzollern. Aber es war eine deutsche Adelsfamilie, die mit den preußischen Hohenzollern
durch Hausverträge und enge Kontakte verbunden war und ihr Land nach 1848/49 freiwillig
an Preußen angeschlossen hatte. Sowohl Frankreich als auch Bismarck kam die spanische
Thronfrage als Konfliktherd sehr gelegen. Keine der beiden Seiten war im Vorfeld bemüht,
den Konfliktstoff zu entschärfen.
Im April 1870 lehnte Leopold das spanische Angebot ab, weil sich der preußische König
als Chef des Hohenzollernhauses nicht voll hinter die Sache gestellt hatte. Bismarck war
enttäuscht, griff die spanische Frage aber schon bald wieder auf. Mitte Mai 1870 gab es in
Frankreich nach der Volksabstimmung über die liberalen Reformen Napoleons III. einen
außenpolitischen Kurswechsel. Das Außenministerium fiel an den Herzog von Gramont, der
ein Wortführer der bonapartistischen Rechten war. Er plädierte für einen harten
antipreußischen Kurs und spielte mit dem Gedanken, über einen erfolgreichen Krieg das alte
bonapartistische System wieder zu errichten. Dies veranlasste Bismarck, selbst wieder in die
Offensive zu gehen. Es kam seiner Strategie sehr entgegen, dass in Spanien inzwischen die
hohenzollernsche Thronkandidatur noch einmal neu aufgerollt wurde. Bismarck förderte
diesen Prozess und schaffte es jetzt, sowohl den Sigmaringer Prinzen Leopold als auch König
Wilhelm I. zur Zustimmung zu bewegen.
Frankreich sollte vor vollendete Tatsachen gestellt werden, doch am 2/3. Juli 1870 platzte
die "spanische Bombe" durch Bekanntwerden der neuen Pläne vorzeitig. Am 6. Juli drohte
Gramont in einer Kammererklärung der französischen Regierung, dass es bei
Aufrechterhaltung der Kandidatur wegen der möglichen Einkreisungsgefahr für Frankreich
zum Krieg kommen werde. Am 12. Juli entschloss sich Leopold von HohenzollernSigmaringen, bzw. sein Vater Karl Anton zur Verzichtserklärung, nachdem auch
Großbritannien und Rußland Bedenken geäußert hatten. Frankreich drängte nun aber auf eine
offizielle Entschuldigung der Preußen und eine offizielle Verzichtserklärung Wilhelms I. für
alle Zeiten. Der preußische König lehnte am 13. Juli 1870 in Bad Ems die Forderungen des
französischen Gesandten Benedetti ab. Bismarck gab die Ablehnung der französischen
Garantieforderung in verschärfter Form der Presse bekannt (Emser Depesche). Frankreich
fühlte sich beleidigt. Am 15. Juli bekräftigte Gramont vor der Kammer, die die Kriegskredite
bewilligte, die französische Bereitschaft zum Krieg, weil nur so die Ehre Frankreichs
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wiederhergestellt werden könne. Trotz Zurückhaltung Napoleons III. erfolgte am 19. Juli
1870 dann die Kriegserklärung an den Norddeutschen Bund.
III. Kriegschuldfrage und Kriegsziele:
Der Krieg von 1870/71 ging auf zwei Offensiven zurück, die ihren tieferen Grund in
unterschiedlichen französischen und deutschen Interessen hatten. Obwohl auch Bismarck die
Krise mächtig angeheizt hatte, traf die französische Seite die Hauptverantwortung für den
Ausbruch des Krieges (THESE KOLB).
Kriegsziel der Franzosen war die Eindämmung der preußischen Macht und die Neuordnung
des deutschen Raumes in Form einer Föderation unter stärkerem Einfluss Frankreichs. Das
Kriegsziel der deutschen Seite bestand zunächst in der Vollendung des Nationalstaates.
Kriegsbegeisterung und Chauvinismus waren auf beiden Seiten weit verbreitet und wurden
durch das Handeln der Politiker noch mächtig angeheizt. Im Süden Deutschlands traten nicht
nur die Regierungen an die Seite des Nordens, auch in der Bevölkerung des Südens gab es
einen klaren Stimmungsumschwung. Nicht mehr Preußen, sondern Frankreich war nun der
große Gegner. Es trat das ein, was Bismarck erhofft hatte.
IV. Verlauf des Krieges bis September 1870.
Frankreich begann den Krieg unter den ungünstigeren Voraussetzungen. Es war in Europa
isoliert, erhielt keine Unterstützung und war vor allem auch militärisch schlecht gerüstet
(weniger Soldaten, schlechtere Artillerie). Der Aufmarsch der französischen Armee verlief
schleppend und teilweise chaotisch. Dagegen gab es unter Generalstabschef Helmuth Graf
von Moltke (1800-1891) eine schnelle Mobilisierung der deutschen Truppen sowie eine
anfängliche zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen. Sehr schnell zeigte sich, dass
Frankreich zur geplanten Offensive nicht fähig war. Schon zwischen dem 4. und 6. August
1870 gab es deutsche Erfolge in den Grenzschlachten von Weißenburg, Wörth und Spichern
(bei Saarbrücken), durch welche die Franzosen zum Rückzug gezwungen wurden. Am 9.
August stürzte in Paris der Kabinettschef Ollivier.
Zwischen dem 14. und 18. August 1870 kam es zu den Schlachten im Vorfeld der Festung
von Metz (Mars la Tour, Vionville, Gravelotte, St.-Privat). Angesichts der allerdings unter
großen Opfern vorrückenden deutschen Truppen zog sich die erste französische Armee unter
Marschall Bazaine (170 000 Mann) in die Festung Metz zurück, wo sie von Moltke
eingekesselt wurde. Die zweite französische Armee unter Marschall Mac-Mahon wurde am 1.
September 1870 bei Sedan besiegt und in der alten Festung eingeschlossen. Am 2. September
erfolgte die Kapitulation. Unter den 100 000 Gefangenen war auch Napoleon III. Trotz der
klaren Erfolge der Deutschen war der Krieg jedoch nicht so rasch zu beenden.
IV. Vergebliche Friedensversuche 1870:
Schon am 4. September 1870 kam es zu Unruhen in Paris, die zum Sturz des
bonapartistischen Systems führten. Die Kaiserin floh, man rief die Republik aus und bildete
eine "Regierung der nationalen Verteidigung" unter den Republikanern Jules Favre und Léon
Gambetta. Am 6. September folgten erste Friedensangebote der neuen Regierung. Am 19./20.
September kam es zu Verhandlungen zwischen Bismarck und Favre in Ferrières. Bismarck
wollte mit der neuen Regierung des militärisch schwer angeschlagenen Frankreichs rasch
einen Waffenstillstand abschließen. Je länger der Krieg nach den ersten Entscheidungen
zugunsten der Deutschen noch andauerte, desto größer wurde für Bismarck nämlich die
Gefahr, dass sich die anderen europäischen Mächte an der Suche nach einem Frieden
beteiligen könnten (europäischer Kongress) und damit der eigene Handlungsspielraum
begrenzt wurde. Die französische Außenpolitik (THIERS als Sonderbotschafter) versuchte,
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diese Tendenzen zugunsten einer europäischen Lösung kräftig zu fördern. Hinzu kam, dass
sowohl bei Bismarck als auch bei den französischen Verantwortlichen die Sorgen wegen
unkalkulierbarer innerfranzösischer Entwicklungen die Friedensbemühungen vergrößerten.
Die hohen deutschen Forderungen (Elsaß-Lothringen) verstärkten aber dann den
Widerstand der Franzosen. Frankreich lehnte die deutschen Bedingungen (vor allem die
Abtretung von Elsaß-Lothringen) ab und bereitete nun einen Volkskrieg vor. Die neu
aufzustellenden Truppen sollten durch Franctireurs (Freischützen) ergänzt werden, um auch
mit Partisanenverbänden im Rücken des Feindes operieren zu können. Es gab zwar weitere
deutsche Erfolge im September/Oktober: Bazaine kapitulierte Ende Oktober in Metz, Paris
wurde eingeschlossen, Orléans besetzt. Aber die Gegenwehr der französischen Seite wurde
heftiger, der Krieg zog sich länger hin, als es die deutsche Seite nach Sedan gedacht hatte.
Anfang November 1870 verhandelte Bismarck in Versailles (seit Anfang Oktober neuer Sitz
des Großen Hauptquartiers) mit dem französischen Sonderbotschafter Adolphe Thiers wieder
über einen Waffenstillstand. Beide waren am baldigen Frieden interessiert, Bismarck mehr
aus außenpolitischen, Thiers vor allem aus innenpolitischen Überlegungen. Die provisorische
Regierung lehnte jedoch die von Preußen gestellten Bedingungen noch immer ab.
Mit der Dauer des Krieges wuchs die Gefahr, dass sich die Haltung anderer europäischer
Mächte ändern könnte, weil man eine allzu große Machtverschiebung zugunsten PreußenDeutschlands ebenso wenig hinnehmen wollte wie eine zuvor drohende französische
Hegemonie. Hinzu kam die Furcht, dass sich die innere Entwicklung Frankreichs in auch für
die deutsche Seite gefährliche Bahnen entwickeln könnte. Da Bismarck dies verhindern
wollte, drängte er die Militärs zu einem energischen Vorgehen, wies aber gleichzeitig auch
die Vorstellungen der Militärs von einem totalen Sieg und einer vollständigen Entmachtung
Frankreichs zurück. Wegen der unterschiedlichen Vorstellungen kam es zu einer Entfremdung
zwischen Bismarck und Moltke. Ende Dezember 1870 zog Bismarck aber den König dann auf
seine Seite. Der Druck auf Paris sollte nun durch die Beschießung der Stadt verstärkt werden,
um den Krieg rascher zu beenden.
V. Neue Waffenstillstandsverhandlungen und innenpolitische Veränderungen in
Frankreich:
Nach der Ende Dezember 1870 einsetzenden Beschießung des eingeschlossenen Paris
begannen am 23. Januar 1871 neue Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Bismarck und
dem französischen Vertreter Favre. Am 28. Januar 1871 kam es zum Abschluss eines
Waffenstillstandsvertrages, der aus der Sicht des deutschen Militärs viel zu milde ausfiel, von
Bismarck aber als richtiger Weg zur Beendigung des Krieges eingestuft wurde. Auch auf
französischer Seite war die Vereinbarung heftig umstritten. Léon Gambetta, der die
inzwischen in Bordeaux sitzende Regierungsdelegation führte, kritisierte die Friedenspolitik
der Pariser Regierungsvertreter heftig und trat für die Fortsetzung des Krieges ein. Am 6.
Februar 1871 trat er angesichts des innerfranzösischen Widerstandes von seinen Ämtern
zurück. Die im Waffenstillstand vereinbarten und am 8. Februar 1871 stattfindenden Wahlen
zur französischen Nationalversammlung zeigten, dass die Mehrheit der Franzosen einen
baldigen Frieden wollte. Es gab einen großen Erfolg der monarchistischen Kräfte (Orleanisten
und Legitimisten), während die auf Fortführung des Krieges setzenden radikalen
Republikaner nur wenige Mandate gewannen.
Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse wurde THIERS zum neuen Regierungschef gewählt. Er
handelte bis zum 26. Februar 1871 in Versailles einen Präliminarfrieden zwischen Frankreich
und dem Deutschen Reich aus. Wichtigste Bestimmungen waren die Abtretung ElsaßLothringens und die Zahlung einer Kriegsentschädigung in Höhe von 5 Milliarden Francs.
Der Vertrag ermöglichte einen vor allem von Moltke gewünschten Truppeneinmarsch in Paris
(1. März 1871). Doch schon drei Tage später waren die Truppen wieder abgezogen, weil
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Bismarck dies bei einer raschen Ratifizierung der Friedensbestimmungen durch die
französische Nationalversammlung zugesagt hatte. Auch jetzt spielte die Sorge vor der
Einmischung auswärtiger Mächte eine wichtige Rolle bei Bismarcks Entscheidungen. Nach
weiteren Verhandlungen kam es dann am 10. Mai 1871 zum endgültigen deutschfranzösischen Friedensvertrag von Frankfurt.
VI. Die Elsaß-Lothringen-Frage:
Durch die deutsche Annexion von Elsaß-Lothringen wurde nicht nur das deutschfranzösische Verhältnis dauerhaft belastet, vielmehr verstärkte der deutsche Schritt auch die
Sorgen der Europäer über ein zu stark werdendes Deutsches Reich. Über die Motive der
Annexion ist in einer Forschungskontroverse heftig diskutiert worden (Literaturhinweise
finden sich in den zitierten Bänden von KOLB und DOERING-MANTEUFFEL). W.
LIPGENS hat die These vertreten, Bismarck habe die Annexionsforderung in der deutschen
Presse lanciert, um die süddeutschen Staaten aus der Reserve zu locken und seine
kleindeutsche Reichseinigungspolitik erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Bismarck habe
dabei aus ganz eigennützigen Motiven mit machiavellistischen Methoden die gesamte
europäische Politik für Jahrzehnte belastet.
Diese These von der alleinigen Urheberschaft und Schuld Bismarcks ist von den meisten
Historikern inzwischen verworfen worden (so bei GALL, KOLB, FENSKE). Ihre wichtigsten
Argumente lauten:
- territoriale Kompensationen waren in der europäischen Politik noch ein normaler Vorgang.
Die europäischen Regierungen rechneten auch 1870/71 damit.
- Bismarck hat die annexionistische Stimmung in Deutschland nicht allein hervorgerufen. Die
Forderung nach der Annexion von Elsaß-Lothringen war seit Sommer 1870 überall in der
deutschen Presse zu lesen. Sie war im Übrigen schon 1814/15 vorgetragen worden und
seitdem aus der öffentlichen Meinung Deutschlands nie ganz verschwunden. Die
Annexionsforderung war angesichts der kulturellen und konfessionellen Bindungen und der
negativen Erfahrungen mit französischer Kriegspolitik (Elsaß als Einfallstor für Vorstöße
nach Deutschland) besonders im deutschen Süden populär, gerade auch bei den bisherigen
Gegnern der Bismarckschen Politik. Wichtige Annexionsbefürworter waren aber vor allem
auch die deutschen Liberalen. Sie betonten die Zugehörigkeit der Elsässer und
deutschsprachigen Lothringer zur deutschen Kultur- und Volksnation und wiesen den
französischen Anspruch (Bekenntnis der Elsässer zur französischen Staatsnation) zurück.
Bismarcks Motive bei der Entscheidung für die Annexion:
1. allgemeinpolitische Motive: Schwächung Frankreichs, das aus der Sicht Bismarcks ohnehin
ein unversöhnlicher Gegner des Deutschen Reichs bleiben wird.
2. sicherheitspolitisches Motiv: vor allem Eingliederung des ostfranzösischen Festungsgürtels;
die Militärs gingen hier in ihren Forderungen noch viel weiter als Bismarck und setzten auch
die Einbeziehung des französischsprachigen Metz durch.
3. nationalpolitisches Motiv, das aber zunächst eher eine untergeordnete Rolle spielt.
Bismarck hat die Anschlussstimmung nicht geschaffen. Sie war vorhanden und so stark, dass
Bismarck 1871 kaum daran vorbei gekommen wäre. Er hat diese Situation dann aber auch für
die Stärkung der eigenen Position genutzt.
Kritik an der Annexion kam vor allem von Seiten der deutschen Sozialdemokratie (Bebel,
Liebknecht; Warnungen von Karl Marx), die vor den friedensgefährdenden Folgen der
Annexion warnte. Aber auch auf der deutschen Linken gab es andere Stimmen.
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VII. Folgen des Friedens:
Für KOLB zeigte der Krieg von 1870/71, dass es in Zeiten eines National- oder
Volkskrieges immer schwieriger wurde, selbst nach den klar gewonnenen Schlachten auch zu
einem Frieden zu kommen. Durch Industrialisierung, sozialen Wandel, politische Mitsprache
breiter Schichten und die öffentliche Meinung gab es eine neue Dynamik in den
internationalen Beziehungen, die einen Friedensschluss im Stile der Kabinettsdiplomatie nicht
mehr zuließen. Bismarck trug den neuen Gegebenheiten insofern Rechnung, als er nach dem
erfolgreichen Krieg versuchte, den Status quo zu zementieren, das neue, zugleich jetzt
"saturierte" Reich in das europäische System einzupassen und auf diese Weise weitere
militärische Konflikte zu verhindern. Dies war aber langfristig alles andere als einfach.
B. Die Gründung des Deutschen Reiches
I.
Bismarck innenpolitische Ziele:
Auch in der deutschen Innenpolitik wollte Bismarck den erfolgreichen Ausgang des Krieges
von 1870/71 nutzen, um die Dinge in seinem Sinne für möglichst lange Zeit festzuschreiben.
Die vom Kriegserfolg und Übersteigerung des Nationalismus geprägte Stimmungslage, die
bei vielen Liberalen und Demokraten die alte Bismarck-Kritik jetzt völlig zurücktreten ließ,
konnte vom "Reichsgründer" natürlich zur Stärkung seiner Position genutzt werden. Obwohl
die Liberalen bei den Reichstagswahlen von 1871 einen großen Wahlerfolg errangen, stand
Bismarck durch die Erfolge von 1870/71 noch stärker da als zuvor. Die Reichsgründung und
die bei der Integration des deutschen Südens vorgenommenen politischen Weichenstellungen
wurden von Bismarck erfolgreich zum Ausbau seiner Machtstellung genutzt.
Nach den militärischen Erfolgen wollte Bismarck bei der inneren Gestaltung des neuen
Reiches den 1866/67 bereits erreichten Zustand unter Einbeziehung der süddeutschen Staaten
weitgehend festschreiben. Es sollten keine zusätzlichen Konzessionen an die Liberalen
gemacht werden. Im Gegenteil, die Reichsgründung sollte dazu genutzt werden, durch die
Sicherung föderalistischer Strukturen allen Parlamentarisierungstendenzen einen weiteren
Riegel vorzuschieben. Ein unitarisches Reich konnte leichter in ein parlamentarisch regiertes
umgebaut werden. Anders als 1866 wollte Bismarck den unitarischen Tendenzen deshalb
diesmal nicht noch weiter entgegenkommen. Er lehnte folglich auch alle Pläne ab, die auf
einen Einheitsstaat mit einem parlamentarisch verantwortlichen Reichsministerium zielten
(englisches Modell, vorgeschlagen von Ernst II. von Coburg-Gotha, unterstützt von Kronprinz
Friedrich Wilhelm). Bismarck verwarf aber auch alle Wege, die zurück hinter die
Verfassungsordnung von 1867 geführt hätten. Bismarck handelte auch innenpolitisch aus
einer Position der Stärke. Die süddeutschen Regierungen standen unter Zugzwang, weil die
kleindeutschen Kräfte jetzt stärker wurden. Die liberale und nationale Bewegung stand noch
unter dem Eindruck eines lange kaum für möglich gehaltenen Durchbruchs (Faszination der
Macht, übersteigerter Nationalismus im deutschen Bürgertum) und wollte die
Reichsgründung möglichst rasch vollzogen sehen.
II. Die Beitrittsverträge mit den süddeutschen Staaten:
Bismarck wollte nach dem militärischen Sieg keine vollendeten deutschlandpolitischen
Tatsachen schaffen, sondern die föderativen Traditionen des Südens berücksichtigen und das
Reich als Föderation monarchischer Staaten gründen. Er setzte auf ein freiwilliges
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Entgegenkommen der süddeutschen Staaten. Letzteres war im Falle Badens, auch im Falle
Hessen-Darmstadts nicht so schwer, problematischer war es in Bezug auf die beiden
Königreiche. Bayern und Württemberg mussten sich am Ende aber in die neuen Strukturen
einfügen. Sie erhielten zur Bekräftigung der eigenen Staatlichkeit einige Reservatrechte, die
in der Praxis allerdings nicht allzu bedeutend waren:
- 15. November 1870: Beitrittsverträge mit Baden und Hessen-Darmstadt.
- 23. November: Beitrittsvertrag mit Bayern
- 25. November Beitrittsvertrag mit Württemberg
Die Reservatrechte (Eisenbahn, Post- und Telegraphenverwaltung, Sonderregelungen beim
Heer und in der Diplomatie) wurden von den zahlreichen bayerischen Patrioten zwar als
unzureichend angesehen. Dennoch fand der Beitrittsvertrag in der bayerischen Kammer die
notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Die deutsche Nationalbewegung hat dagegen die
Reservatrechte als Hindernis zum Einheitsstaat kritisiert, im Reichstag aber trotzdem
zugestimmt. Die liberalen Sorgen erwiesen sich als überzogen. Das Reich wuchs rascher
zusammen, als es die Skeptiker erwartet hatten.
III. Kaiserfrage und Kaiserproklamation:
Reichsidee und Kaisertum spielten im politischen Denken der Deutschen auch nach 1806
eine wichtige Rolle und erfuhren schon während der Befreiungskriege eine kräftige
Neubelebung. Obwohl die liberale Nationalbewegung der sechziger Jahre gegenüber Reichsund Kaiserbegriff zunächst eher zurückhaltend reagierte und die neuen Elemente eines
deutschen Nationalstaates betonte, kam man an der Legitimierung der nationalen Politik
durch Rückgriff auf Traditionen nicht vorbei. Der Reichsbegriff war im Volke noch immer
recht populär. Die Varianten reichten von einer liberal-fortschrittlichen Kaiser- und
Reichsidee (preußisches Reich deutscher Nation) bis hin zu föderalistisch begründeten
Vorstellungen. Bismarck versuchte, mit dem Kaisertitel unterschiedlichen Strömungen der
öffentlichen Meinung gerecht zu werden und dem neuen Reich so zusätzlichen Halt zu geben.
Einem Kaiser konnten sich süddeutsche Könige, aber auch andere deutsche Monarchen
leichter unterordnen als einem preußischen König. Gegenüber den nationalen Kräften sollte
der Kaisertitel die vermeintlichen föderalen Mängel des neuen Einheitsstaates überdecken und
signalisieren, dass ein Kaiser doch das Ganze verkörperte und zusammenhielt.
Wer sollte Wilhelm I. die Kaiserwürde antragen? Am 10. Dezember fasste der Reichstag
des Norddeutschen Bundes den Beschluss, Wilhelm I. darum zu bitten, "durch Annahme der
deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen" und dem neuen Reich damit Tage der
"Macht, des Friedens, der Wohlfahrt, Sicherheit und Freiheit" zu eröffnen. Eine
Reichstagsdelegation unter dem Reichstagspräsidenten Eduard Simson (er war schon 1849
dabei gewesen) trug am 18. Dezember 1870 in Versailles dem König diesen Wunsch vor.
Wilhelm I. war eher unangenehm berührt, weil all das an die Situation vom April 1849
erinnerte. Auch Bismarck war von Anfang an der Überzeugung, dass ein deutscher Monarch
(der ranghöchste) Wilhelm die Kaiserwürde antragen müsse. Es begannen Verhandlungen mit
König Ludwig II. von Bayern, den Bismarck durch hohe Geldzuweisungen am Ende dazu
brachte, den gewünschten Schritt zu tun. Ludwigs berühmter Kaiserbrief vom 27. November
wurde von Bismarck selbst entworfen.
Wilhelms I. lehnte zunächst den Titel "Deutscher Kaiser" ab und verlangte den Titel "Kaiser
von Deutschland", was Bismarck aus mehreren Gründen ablehnte. Der Streit war noch bei der
Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles zu spüren. Der
Großherzog von Baden umging den noch laufenden Streit durch sein Hoch auf "Kaiser
Wilhelm".
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IV. Bedeutung der Reichsgründung:
Die symbolische Vorbelastung des neuen Reiches durch die militärisch geprägte
Kaiserproklamation wurde schon von Zeitgenossen kritisiert. Die Reichstagsdelegation wurde
bewusst im Hintergrund gehalten. Während in Geschichtsschreibung und Geschichtskultur
der Deutschen nach 1871 das neue Reich und vor allem auch Bismarck als Reichsgründer als
Vollendung deutscher Geschichte verklärt wurden, setzten sich erst nach 1945 die (von
Anfang an vorhandenen) kritischen Bewertungen stärker durch. Vor allem die SonderwegsHistoriker bewerteten das 1871 gegründete Reich als Bollwerk gegen den Geist der Zeit
(militaristisch, antiliberal, antiparlamentarisch, großpreußisch) und vertraten die These, dass
es im Grunde von Anfang an seine Chancen bereits verspielt habe.
In den letzten Jahren hat sich nicht zuletzt durch die historisierende Bismarck-Biographie
von Lothar Gall wieder eine differenzierte Sicht durchgesetzt. Man betont dabei zum einen,
dass die zeitweise diskutierten Alternativen zur Reichsgründung kaum Chancen hatten. Man
hebt zum zweiten wieder stärker die "Normalität" einer deutschen Nationalstaatsgründung
(NIPPERDEY) und auch der preußisch-kleindeutschen Lösung (ENGELBERG) hervor. Und
schließlich wird drittens auf die Offenheit verwiesen, die auch nach der Reichsgründung
zunächst in bezug auf die deutsche Innenpolitik bestand. Wolfgang J. Mommsen (Deutsche
Geschichte 1850-1890) schreibt: "Einstweilen war freilich noch offen, wie die Dinge
weitergehen würden und ob es den Nationalliberalen und der Fortschrittspartei, die den
Ereignissen notgedrungen ihren Segen gegeben hatten, ohne sie nennenswert beeinflussen zu
können, gelingen würde, die autoritären Ursprünge dieses nationalen Staates zu überwinden
und den von ihnen angestrebten Umbau von Staat und Gesellschaft im liberalen Sinne zu
erreichen."
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