VorlesungSS14-skript13

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SS 2014
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Vorlesung: Zwischen Revolution und deutscher Reichsgründung 1871: Europäische
Geschichte 1848-1871.
13. Deutsche Integrationspolitik und französische Reaktionen
I. Der Norddeutsche Bund und die süddeutschen Staaten:
Alle vier süddeutschen Staaten - die Königreiche Bayern und Württemberg sowie die
Großherzogtümer Baden und Hessen-Darmstadt - hatten im Krieg von 1866 auf der Seite
Österreichs gestanden, obwohl seit der Zollvereinsgründung von 1834 enge wirtschaftliche
Bindungen an Preußen bestanden und obwohl es auch in diesen Staaten durchaus eine teileise
beachtliche kleindeutsch-liberale Parteirichtung gab (vor allem in Baden und HessenDarmstadt). Der Hauptgrund für die Haltung der Monarchen in den süddeutschen Staaten lag
in ihrer Furcht vor einer preußischen Hegemonie und in der Sorge vor Einbußen staatlicher
Eigenständigkeit (Eine Ausnahme bildete hier das Großherzogtum Baden).
Süddeutsche Deutschland-Politik nach dem Krieg von 1866:
Baden mit seiner liberalen Regierung und dem auch aus verwandtschaftlichen Gründen
propreußischen Großherzog Friedrich I. entwickelte sich nach 1866 sehr schnell wieder zum
Parteigänger Preußens und setzte auf eine rasche Integration des Südens in den
Norddeutschen Bund.
Das Großherzogtum Hessen(-Darmstadt) betrieb unter Großherzog Ludwig III. und seinem
Ministers DALWIGK nach wie vor eine antipreußische Politik. Dieser Kurs stieß aber auf
heftige Kritik im eigenen Lande. Auch außenpolitisch besaß Hessen-Darmstadt kaum
Handlungsspielraum, weil fast die Hälfte des Staatsgebietes nördlich des Mains lag und damit
zum Norddeutschen Bund gehörte.
BAYERN und WÜRTTEMBERG betrieben unter den Regierungschefs HohenloheSchillingsfürst und Varnbüler eine Politik, die die Eigenständigkeit bewahren wollte, aber
auch den neuen Realitäten Rechnung zu tragen suchte (wirtschaftliche Abhängigkeit vom
Norden, kleindeutsche Partei im eigenen Land, sicherheitspolitische Bedürfnisse). Ausgehend
von Bayern gab es 1866/67 Diskussionen über einen eigenen SÜDBUND. Dieser Bund, der in
lockerer Form mit dem Norden verbunden sein sollte, scheiterte aber am bayerischen
Hegemonieanspruch, anderen inneren süddeutschen Zwistigkeiten und der Obstruktionspolitik, die Bismarck über Baden betrieb.
Eine sofortige Integration der süddeutschen Staaten musste am Widerspruch Frankreichs
und Österreichs, aber auch an der Abwehr der partikularen Kräfte im Süden scheitern.
Bismarck war hier realistisch. Aber er wollte schon 1866/67 Voraussetzungen für einen
späteren Anschluss schaffen und vor allem alles vermeiden, was wie der Südbund diese
Integration erschwerte. In dieser Haltung wurde Bismarck von den Nationalliberalen kräftig
unterstützt. Auch sie betonten die Notwendigkeit eines Anschlusses des Südens. Aus Sicht der
Liberalen musste die Vollendung des Nationalstaates vorangebracht werden. Zudem
versprachen sie sich von der Integration des Südens ein stärkeres Gewicht in der deutschen
Politik. Bismarck wollte die Integration, weil auch aus seiner Sicht die
Nationalstaatsgründung noch unvollendet war, der nationale Gedanke für eine konservative
Strategie aber nur dann zu benutzen war, wenn man ganz auf ihn einging. Bis 1866 war das
Spiel mit der Nationalidee für Bismarck weitgehend taktischer Natur gewesen. Jetzt begann er
damit, die nationale Idee als Integrationsklammer für eine konservative, standes-, klassenund konfessionsübergreifende Politik einzusetzen, weil alte monarchische und konfessionelle
Bindungen allein nicht mehr auszureichen schienen (Funktionswandel des Nationalismus).
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Literatur zu den integrationspolitischen Fragen:
- Th. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866-1918, 1. Bd., Arbeitswelt und Bürgergeist,
München 1990 (mit guten Ausführungen zu den Religionsfragen)
2. Bd.: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992.
- R. WILHELM, Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund 18671870. Husum 1978.
- H. BÖHME, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und
Staat 1848-1881, 3. Aufl. Köln 1974.
Integrationsversuche und Integrationsblockaden:
Bismarck bereitete die aus seiner Sicht erforderliche Integration Süddeutschlands Wege nach
1866 zunächst vor allem auf zwei Wegen vor:
a) Militärpolitische Vorbereitung:
Sofort nach dem Krieg von 1866 zwang Bismarck die besiegten süddeutschen Staaten zum
Abschluss so genannter Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen. Diese zunächst geheim
gehaltenen Verträge sahen eine gegenseitige militärische Unterstützung bei jeder Verletzung
der Integrität des jeweiligen Staatsgebietes vor, unterstellten die süddeutschen Truppen im
Verteidigungsfall dem preußischen König und waren weder befristet noch kündbar. Damit
war der Süden auf militärpolitischem Gebiet eng an Preußen angekoppelt. Zugleich schuf
Bismarck bessere Voraussetzungen für einen Krieg mit der Macht, die der Integration des
Südens am feindlichsten gegenüberstand, also Frankreich. Sehr früh wurden bereits
gemeinsame Aufmarschpläne gegen Frankreich entwickelt. Bezeichnenderweise machte
Bismarck die Bündnisverträge mit dem Süden 1867 angesichts der Luxemburg-Krise
(Drohung gegen Frankreich) öffentlich bekannt.
Ist Bismarck damit nicht von Anfang an auf die militärische Lösung der deutschen Frage
zugesteuert? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Bismarck hat die militärische
Lösung nicht ausgeschlossen, hat aber zunächst einmal auch andere Wege zur Integration des
Südens versucht. Im übrigen hätte auch eine liberale norddeutsche Regierung vermutlich zu
keiner friedlicheren Politik geführt, da die deutschen Liberalen sich noch klarer zu einem
"gerechten" Einigungskrieg gegen Frankreich bekannten als Bismarck, der in seinen
Entscheidungen stärker als die Liberalen die Architektur des gesamten europäischen
Staatensystems vor Augen hatte. Die schwierige gesamteuropäische Situation hat Bismarck
nach 1866 bekanntlich auch veranlasst, zunächst einmal auf einen evolutionären
Anschlusskurs zur Vollendung der deutschen Einheit zu setzen.
b) Deutsche Integrationspolitik mit Hilfe des Zollvereins:
Durch den Krieg von 1866 waren die bisherigen Zollvereinsverträge erloschen. Nördlich des
Mains wurde durch die neue Verfassung ein einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen. Der
bisherige staatenbündisch strukturierte Zollverein wurde hier also überflüssig. Gegenüber den
vier süddeutschen Staaten wurden die alten Zollvereinsverträge nach dem Friedensschluss
von Preußen zunächst nur provisorisch wieder in Kraft gesetzt. Da der Süden wirtschaftlich in
hohem Maße auf den Norden angewiesen war und nicht auf die zollpolitische Anbindung
verzichten konnte, hatte Bismarck ein weiteres wichtiges Druckmittel in der Hand. Die
süddeutschen Staaten mussten am 8. Juli 1867 neue Zollvereinsverträge unterzeichnen, die
den bisherigen Zollverein von einem Zoll-Staatenbund in einen Zoll-Bundesstaat
umwandelten. Der neue Zollverein erhielt eine dem Norddeutschen Bund entsprechende
Verfassung (allerdings nur bezogen auf die Zollgesetzgebung). Die Einzelstaaten verloren ihr
bisheriges Vetorecht, mussten sich also nun auch juristisch der preußischen Hegemonie
unterordnen und Mehrheitsentscheidungen akzeptieren. Hinzu kam ein Zollparlament, das
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sich aus den Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages und 85 nach dem allgemeinen
Wahlrecht gewählten Abgeordneten des Südens zusammensetzte. Bayern opponierte bis
zuletzt gegen das Zollparlament, das Bismarck und die Nationalliberalen bewusst als
Einigungsmotor installieren wollten.
Die Zollparlamentswahlen im Februar 1868 brachten dann aber für Bismarck und die
Liberalen ein enttäuschendes Ergebnis. Die große Mehrheit des Südens votierte in einer
Protestwahl gegen eine drohende "Verpreußung" für Kandidaten, die die Funktionen des
Zollparlamentes auf die rein handelspolitischen Aufgaben beschränken wollten (bayerische
und württembergische "Partikularisten"/Patrioten, politischer Katholizismus, großdeutsche
Demokraten). Damit waren die Chancen auf einen evolutionären, von den wirtschaftlichen
Sachzwängen forcierten Integrationskurs gegenüber dem deutschen Süden deutlich gesunken.
Nach dem für Bismarck und die Nationalliberalen negativen Ausgang der
Zollparlamentswahlen konnten die eine rasche Integration hemmenden Faktoren auch in den
ersten Sitzungsperioden des Zollparlaments nicht überwunden werden. Der Antrag der
nationalliberalen Abgeordneten Metz, Bamberger (Hessen-Darmstadt) und Bluntschli
(Baden), mit Hilfe des Zollvereins "eine vollständige Einigung des ganzen deutschen Vaterlandes in friedlicher und gedeihlicher Weise" herbeizuführen, wurde vom Zollparlament mit
186 gegen 150 Stimmen abgelehnt. Die süddeutschen Gegner einer preußisch geführten
deutschen Einigungspolitik wurden in dieser Frage von den preußischen Altkonservativen
unterstützt. Das Zollparlament leistete im wirtschaftlichen Bereich gute Arbeit, trug zum
Ausbau des deutschen Wirtschaftsraumes bei und förderte damit langfristig auch das politische Zusammenwachsen. Dennoch verhinderten es die Mehrheitsverhältnisse, dass dieses
Parlament wie anfangs erhofft zum echten Motor eines politischen Einigungsprozesses
werden konnte.
Antipreußische Stimmung im deutschen Süden:
Bismarck und die Liberalen mussten nicht nur ihre integrationspolitischen Hoffnungen auf
das Zollparlament zumindest vorerst zurückstellen. Sie mussten zugleich hinnehmen, dass die
antipreußischen Kräfte in den beiden wichtigsten süddeutschen Staaten über die
Zollparlamentswahlen hinaus weiter an politischem Gewicht gewannen. Im Königreich
Württemberg errangen die Demokraten und die Großdeutschen bei den nach allgemeinem
gleichem Wahlrecht abgehaltenen Landtagswahlen des Jahres 1869 einen klaren Sieg. Sie
setzten die Regierung VARNBÜLER unter Druck. Die heftige Kritik an der zu
preußenfreundlichen Militärpolitik führte 1870 zu einer schweren Regierungskrise. Die
württembergischen Demokraten (Moritz Mohl) wollten zwar einen deutschen Nationalstaat,
aber keinen unter preußischen Vorzeichen, sondern eine Einheit nach einem demokratischföderativen Modell (SCHWEIZ). Die kleindeutsch-liberale "Deutsche Partei" unter Julius
HÖLDER blieb in Württemberg in der Minderheit.
Auch im Königreich Bayern mündeten die innenpolitischen Konflikte aufgrund der
Deutschlandpolitik in eine schwere Regierungskrise. Im Mai 1869 errang die katholischkonservativen bayerische Patriotenpartei (Dr. Joseph Edmund JÖRG) die Mehrheit im
Landtag. Die Auflösung und Neuwahl des Landtages im Herbst 1869 brachten einen noch
klareren Erfolg für die Patriotenpartei. Die bayerischen Landtagswahlen waren Protestwahlen
des Landes, aber auch des städtischen Kleinbürgertums gegen eine zu nachgiebige Politik
gegenüber Preußen (Militär- u. Einigungspolitik), gegen den auch in Bayern forcierten
wirtschaftsliberalen Kurs und nicht zuletzt auch gegen die kulturelle Hegemonie des liberalen
Bürgertums. Hinzu kamen die innerkatholischen Konflikte. Während Ministerpräsident Fürst
HOHENLOHE-Schillingsfürst, König Ludwig II. und das katholische Bildungsbürgertum
(Ignaz DÖLLINGER) den konservativen Kurs von Papst PIUS IX. ablehnten (1854 Dogma
der unbefleckten Empfängnis, 1864 Syllabus Errorum, 1869/70 1. Vatikanisches Konzil und
Unfehlbarkeitsdogma), blieb die Basis des bayerischen Katholizismus auf dem
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„ultramontanen“ Kurs. Infolge der inneren Konflikte trat Hohenlohe-Schillingsfürst Anfang
1870 vom Amt des Ministerpräsidenten zurück, Nachfolger wurde der konservativere Graf
BRAY.
Die Krisen in Bayern und Württemberg zeigten, wie schwierig die innenpolitische Strategie
zur Vollendung der deutschen Einheit zwischen 1868 und 1870 geworden war. Gerade die
nationalliberalen Kräfte taten sich nun zunehmend schwer mit dem Aufkommen neuer
politischer Massenbewegungen, die sich auf vorindustrielle, modernisierungsskeptische
Kräfte und Mentalitäten stützten. Dies zeigte sich im Großherzogtum Baden, wo die Liberalen
die Regierung stellten und Zweifel aufkamen, ob sie mit ihren wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und politischen Konzepten den neuen Aufgaben und dem zunehmenden
Mitgestaltungswillen der Gesellschaft gewachsen waren. Die soziale Basis des Liberalismus
begann Ende der sechziger Jahre hier bereits zu bröckeln. Die Träger der parlamentarischen
Ideen hatten Probleme bei ihrer Umsetzung in die Praxis. These GALL: Das liberale
Regierungsexperiment in Baden ist weitgehend gescheitert. (Lothar GALL, Der Liberalismus
als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung.
Wiesbaden 1968).
II. Vorgeschichte des deutsch-französischen Krieges.
Literatur:
- E. KOLB (Hrsg.), Europa und die Reichsgründung. Preußen-Deutschland in der Sicht der
großen europäischen Mächte 1860-1880. München 1980
- E. KOLB, Der Kriegsausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und
Verantwortlichkeiten in der Julikrise. Göttingen 1970.
- Ders., (Hrsg.), Europa vor dem Krieg von 1870. München 1987.
- D. WETZEL, Duell der Giganten. Bismarck, Napoleon III. und die Ursachen des deutschfranzösischen Krieges 1870-1871, Paderborn 2005.
Eingeengte Handlungsspielräume und der Umweg über die Außenpolitik:
Liberaler Aufbruch und Fortschrittsoptimismus erhielten durch die gescheiterten
Hoffnungen auf ein rasches Zusammenwachsen von Nord und Süd und die innenpolitischen
Krisen im Süden zwischen 1866/67 und 1870 einen Dämpfer. Dies machte die Dinge auch für
Bismarck nicht einfacher, denn je länger sich die Fortschritte in der deutschen Frage
hinzogen, desto schwieriger wurde der von Bismarck begonnene Balanceakt zwischen den
alten und den neuen gesellschaftlichen Kräften. Stand er deshalb bei der Kriegsentscheidung
von 1870 unter Zugzwang? Nipperdey verneint dies, Gall und Engelberg sehen die Dinge
etwas anders. Sie verweisen darauf, dass im Süden die antipreußische Stimmung wuchs und
die kleindeutschen Liberalen Bismarck zunehmend zu einer Flucht nach vorn drängten
(Anfang 1870 Antrag Laskers auf Anschluss Badens an den Norddeutschen Bund) und damit
den Einigungsprozess selbst stärker bestimmen wollten. Hinzu kam, dass 1871 die bisherige
Militärbudget-Bewilligung auslief. Anfang 1870 startete Bismarck mit dem Kaiserplan einen
Versuchsballon. Wilhelm I. sollte zum Kaiser des Norddeutschen Bundes ausgerufen werden,
um die Deutschlandpolitik in Bewegung zu bringen. Frankreich erhob sofort Einspruch. Auch
Bayern lehnte ab. Bismarck war nun vollends überzeugt, dass man die Dinge nur über neue
außenpolitische Krisensituationen verändern konnte. Er hat die Krisensituation jedoch nicht
selbst künstlich herbeigeführt, sondern auf eine günstige Gelegenheit gewartet.
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Machtpolitische Offensiven Deutschlands und Frankreichs:
Der Kriegsausbruch von 1870 war nicht allein Bismarcks Werk. Er war nicht die Folge eines
genialen Planes, sondern eher das Aufeinandertreffen zweier machtpolitischer Offensiven, die
jeweils viel mit der innenpolitischen Situation zu tun hatten. Bismarck wurde getrieben durch
den Stillstand der nationalen Integrationspolitik. Die französischen Entscheidungsträger
wurden durch die instabile innenpolitische Lage und die seit 1866 in der französischen
Öffentlichkeit stark angewachsene antipreußische Stimmung zu einer Politik getrieben, die
sich einer Integration der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund entschieden
widersetzte.
Politische Lage in Frankreich
Literatur
- Heinz-Gerhard HAUPT u. a., Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 1994.
- Francois CARON, Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851-1918 (Geschichte
Frankreichs , hrsg. v. J. Favier, Bd. 5), Stuttgart 1990.
Vorsichtige Systemöffnung in den frühen sechziger Jahren:
Die französische Innenpolitik der sechziger Jahre war von einem allmählichen Anwachsen
einer breit gefächerten Opposition bestimmt, auf die Napoleon III. nicht mit einem Ausbau
seiner diktatorialen Exekutivgewalt und der Verschärfung der Repression reagierte, sondern
mit eigenen Reformansätzen zur Öffnung des bonapartistischen Herrschaftssystems. Die
ersten wichtigen Reformschritte erfolgten im November 1860. Ihr Ziel war es, den Dialog
zwischen dem Kaiser und den gewählten Repräsentanten des Landes durch eine Erweiterung
der parlamentarischen Rechte (Debatten über die Thronrede, 1861 Ausbau des Budgetrechts)
zu verbessern. Dem echten parlamentarischen Prinzip (volle Ministerverantwortlichkeit
gegenüber dem Parlament) wollte Napoleon III. aber noch keine Entfaltungsmöglichkeiten
geben. Treibende Kraft der Reformen war Napoleons Halbbruder MORNY. Nach ersten
Ansätzen der Liberalisierung kam es um 1863/64 wieder zum Stillstand des Reformprozesses,
weil die Abgeordneten von dem neuen Recht nach Ansicht Napoleons zu regen Gebrauch
machten und weil die Lockerung des Systems der öffentlichen Kritik eher zusätzlichen
Auftrieb gab. Die Macht des Kaisers schien auf den ersten Blick aber noch gefestigt zu sein.
Die Zahl oppositioneller Abgeordneter war nicht groß. Zudem zerfiel die Opposition in ganz
unterschiedliche Richtungen.
- Rechte Opposition: Legitimisten (Graf von Chambord) und Katholiken, die sich nicht zuletzt
wegen der Italienpolitik vom Kaiser gelöst hatten.
- Liberale Opposition: 1863 Gründung einer "Union libérale". Wichtigster Kopf dieser
Richtung war der linke Orleanist, Staatsmann und Historiker Adolphe Thiers, der 1863 als
oppositioneller Abgeordneter in Paris gewählt wurde und 1864 ein umfassendes Programm
entwickelte, das politische Freiheiten und die Parlamentarisierung forderte.
- Neben diesem Oppositionsliberalismus bildete sich nach 1863 noch eine andere Spielart von
Liberalismus heraus, der sogenannte "tiers parti". Diese dritte Partei, die vom eigentlichen
Liberalismus zunächst strikt getrennt marschierte, entstand innerhalb des bonapartistischen
Regierungslagers. Zunächst regierungstreue Abgeordnete formierten sich hier um die Mitte
der sechziger Jahre zu einer systemimmanenten Opposition, die ihre Loyalität zu Napoleon
III. nicht aufkündigte, gleichzeitig aber eine Fortsetzung der 1860 begonnenen Reformen
verlangte, die auf eine Parlamentarisierung des Regimes hinausliefen.
- Republikanische Opposition: Innerhalb des republikanischen Lagers gewannen die
radikaleren Kräfte (Léon Gambetta) in den sechziger Jahren immer stärker an Gewicht. Diese
"Unversöhnlichen" lehnten die Reform des bestehenden Systems ab und forderten die
Rückkehr zur demokratischen Republik.
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Auch in der Arbeiterbewegung gab es neue Entwicklungen in den sechziger Jahren.
Einerseits unternahm Napoleon III. nochmals neue Versuche zur Integration der
Arbeiter (1864 Koalitionsrecht). Andererseits wuchsen innerhalb der Arbeiterschaft
die Ansprüche auf angemessene politische Mitbestimmung. Dies führte große Teile
auf die Seite der republikanischen Opposition. Frankreich erlebte ein Ansteigen der
Streikbewegungen.
Reaktionen Napoleons III.
Innerhalb der engeren bonapartistischen Führungsclique herrschte keine Einheit, was den
künftigen politischen Kurs betraf. Napoleon III. stoppte den Reformkurs und versuchte
zunächst einmal, seine Stellung durch Angebote an die Arbeiter und durch neue
außenpolitische Erfolge zu festigen. Beides schlug aber fehl. In der Außenpolitik brachte die
Italienpolitik Napoleon III. mehr Schwierigkeiten (französische Katholiken) als
durchschlagende Erfolge. Das 1861 begonnene Engagement in Mexiko, wo ein Kaiserreich
unter französischem Protektorat errichtet werden sollte (unter dem Habsburger Erzherzog
Maximilian 1864-67), scheiterte. Frankreich zog auf Druck der USA seine Truppen wieder
zurück und überließ Maximilian seinem Schicksal. Der mexikanische Präsident Benito Juarez
ließ den gefangen genommenen Kaiser 1867 standrechtlich erschießen. In der europäischen
Politik erlitt Napoleon III. durch die Entfremdung gegenüber Rußland (Polenaufstand 1863),
vor allem aber durch die deutsche Entscheidung von 1866 weitere Schlappen. Die
Hoffnungen auf eine Schiedsrichterrolle mit territorialen Konzessionen im preußischösterreichischen Konflikt (Pfalz, Rheinhessen, Saar) erfüllten sich nicht. 1867 gab es eine
weitere Demütigung in der Luxemburg-Krise.
Kritik der öffentlichen Meinung und weitere Systemöffnung:
Die französische Öffentlichkeit, allen voran die Opposition, forderte nach dem
unbefriedigendem Ausgang der deutschen Dinge seit 1866 Rache für SADOWA/Königgrätz.
1867 war Napoleon III. durch außenpolitische Misserfolge, eine Wirtschaftskrise, wachsende
Staatsverschuldung und innere Unruhen schwer angeschlagen. 1868 gab er dem öffentlichen
Druck durch eine neue, liberalere Pressegesetzgebung nach. Ansätze zu einer umfassenden
Militärreform kamen wegen der Opposition aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft nicht
voran. Auch Teile der Bauern gingen nun auf Distanz. Der entscheidende Anstoß zu
umfassenden Reformen des politischen Systems kam dann mit den Wahlen von 1869, die sich
von der Vorbereitung, vom Verlauf und vom Ergebnis von den vorangegangenen Wahlen
deutlich unterschieden. Von 10,4 Millionen Wahlberechtigten stimmten 4,4 Millionen - also
nur noch 42,5% - für die Regierungskandidaten. Aber auch darunter waren viele, die eine
grundlegende Reform des Herrschaftssystems befürworteten. Die Opposition kam auf 3,4
Millionen Stimmen, also auf etwa 33% der Wahlberechtigten (1,3 Millionen neue Wähler !).
Der Anteil der Nichtwähler war weiter auf 22% gesunken. Das Wahlergebnis brachte in der
Kammer eine Mehrheit aus liberal gesinnten Reformern (Liberale und regierungsloyale
Reformer), die bereit waren, gegen entsprechende Konzessionen in Richtung
Parlamentarismus das System Napoleons III. zu unterstützen. Napoleon III. hat sich dieser
neuen Situation dann auch nicht verschlossen und neue Reformen eingeleitet.
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Das Empire libéral:
Am 8. September 1869 erhielt das Corps législatif aufgrund eines Senatsbeschlusses weit
reichende Vollmachten (Recht der Gesetzesinitiative, volles Budgetrecht sowie eine noch
vage
Andeutung,
dass
die
Entwicklung
in
Richtung
parlamentarischer
Ministerverantwortlichkeit gehen könne). Am 2. Januar 1870 bildete der bisherige
Oppositionspolitiker Emile Ollivier (1825-1913) ein von der Kammermehrheit getragenes
Kabinett. Im April 1870 wurde eine Verfassungsrevision abgeschlossen, die die rechtlichen
Voraussetzungen des "Empire libéral" schuf. Napoleon III. verlor an Macht, behielt aber das
Recht, sich in wichtigen Fragen selbst an das Volk zu wenden. Am 8. Mai 1870 ordnete er ein
Plebiszit über "seine" liberalen Reformen an, dessen klarer Ausgang (7,3 Millionen JaStimmen, 1,5 Mill. Nein-Stimmen) von ihm erneut als Bestätigung interpretiert wurde. In den
folgenden Wochen bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges (19. Juli 1870)
konnte das "Empire libéral" keine großen Wirkungen mehr entfalten, zumal es an einem
engen Zusammenwirken von Kaiser und parlamentarischer Regierung fehlte. Napoleon III.
hat wenig getan, um Ollivier zu stützen. Die Kriegsniederlage von 1870 ließ das System wie
ein Kartenhaus zusammenbrechen. Am 4. September 1870 wurde in Paris die Republik
ausgerufen. Einerseits war die Systemänderung kaum von Anfang an intendiert.
Entscheidende Konzessionen durch Napoleon kamen erst, als er in die Krise geraten war.
Andererseits war das Empire libéral aber vielleicht doch mehr als ein rein taktisches Manöver,
der Wandel des Systems ging auf realistische Einsichten Napoleons III. zurück, dass man in
eine moderne Gesellschaft nicht auf Dauer mit alten Methoden weiterregieren konnte.
Folgen der innerfranzösischen Situation für die Beziehungen zu Deutschland
Der innenpolitisch geschwächte Napoleon III. durfte sich nach den außenpolitischen
Schlappen der Jahre 1866/67 keine weitere machtpolitische Schwäche erlauben. Das gleiche
galt für die Anfang 1870 installierte Regierung Ollivier, die über keine starke Basis verfügte.
Die Furcht, dass Frankreichs Stellung in Europa und vor allem auch Frankreichs Ehre durch
eine Fortsetzung des Bismarckschen Einigungskurses beeinträchtigt werden könnte, war auf
fast allen Seiten des politischen Spektrums sehr groß. Die französische Seite vertrat die
Ansicht, dass die Integration des deutschen Südens das europäische Gleichgewicht zerstöre.
Diese Argumentation war im Übrigen auch aus britischer Sicht wenig glaubwürdig, weil
zuvor ja gerade die französische Außenpolitik auf die Überwindung der Wiener Ordnung von
1815 gedrängt hatte. Neben entschiedenen Gegnern des deutschen Einigungsprozesses
standen in Frankreich allerdings auch gemäßigte Stimmen, die eine Einigungspolitik unter
Berücksichtigung französischer Sicherheitsbelange akzeptieren wollten. Die in der Forschung
vertretene These, die Franzosen hätten bei einer deutschen Einigungspolitik unter liberalen
Vorzeichen möglicherweise nicht zu den Waffen gegriffen, ist nach Ansicht neuerer Arbeiten
aber wenig überzeugend.
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