Krens, I., Krens, H. (Hg.): Grundlagen einer

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Krens, I., Krens, H. (Hg.): Grundlagen einer vorgeburtlichen Psychologie.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, EUR 24,90.
Vor etwa drei Jahren fand im niederländischen Nijmegen ein sehr gut besuchter
Internationaler „Kongress für Embryologie, Therapie und Gesellschaft“ statt, an
dessen Organisation die Herausgeber des vorliegenden Buches maßgeblich
beteiligt waren. Dem Ehepaar Krens ist es ein Anliegen, die pränatale
Psychologie als ernstzunehmendes und psychotherapierelevantes Gebiet in die
Kollegenschaft einzuführen – was insofern verständlich ist, als die mit ihren
Namen assoziierte „Tiefenpsychologische Körpertherapie“ seit einiger Zeit im
Zusammenhang mit missbräuchlichen Anwendungen dieser Therapie ins
Kreuzfeuer der Kritik geraten ist. Dazu kann und will ich mich an dieser Stelle
nicht äußern, sondern mich auf den Eindruck beschränken, den der Sammelband
auf mich gemacht hat.
Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz – Embryologen,
Verhaltensforscher, Neurobiologen, Stressforscher, Neonatologen,
Psychotherapeuten – stellen diese noch in ihren Anfängen befindliche Disziplin,
die „vorgeburtliche Psychologie“, als Knotenpunkt interdisziplinären
Austausches vor. Die bekanntesten Autoren im deutschen Sprachraum sind wohl
Gerald Hüther und Wolfgang Milch.
Insgesamt imponieren an diesem knapp 180 Seiten starken Buch die gute
Übersichtlichkeit und gute Lesbarkeit, sodass es für ein breites Publikum, über
psychotherapeutische Leserschaft hinaus, interessant ist. Dem Ehepaar Krens ist
es mit diesem Buch gelungen, Interesse für die pränatale Psychologie als
ernstzunehmendes Forschungsgebiet zu wecken. In Fortsetzung der Metapher
vom „kompetenten Säugling“ wird hier der im Mutterleib heranwachsende Fetus
als Wesen charakterisiert, der mit seiner Umwelt in direktem Kontakt steht,
Einfluss auf sie nimmt, auf Reize reagiert und aus Erfahrungen lernt. Es wird
eingeräumt, dass man in der pränatalen Entwicklungsforschung insgesamt noch
wenige spezifische Antworten, vor allem im Hinblick auf die Abschätzung
spezifischer pränataler Ereignisse in ihrer Wirkung auf die weitere Entwicklung
des ungeborenen Kindes zu geben vermag. Dennoch kann mittlerweile das alte
Paradigma, nach dem die Entwicklung des Feten und vor allem des fetalen
Gehirns, gesteuert durch genetische Programme, weitgehend autonom abläuft,
als überholt gelten.
Schon in der Fetalperiode entwickelt sich aufgrund der intrauterinen Ausbildung
sinnlicher Modalitäten eine Wechselseitigkeit, vor allem als körperliche
Abstimmung zwischen Mutter und Kind: „Vielleicht kann man bei Feten noch
nicht von Subjekten sprechen, aber Intersubjektivität ist unserer Auffassung
nach von Anfang an als ein Möglichkeitsraum vorhanden, als eine
konstituierende Bedingung des auftauchenden Selbst, das bereits ein
charakteristisches subjektives Design aufweist“ (Milch S. 149).
Eine ungefähre Ahnung von den pränatalen regulatorischen Möglichkeiten, die
dem Feten zur Verfügung stehen, kann man bekommen, wenn man sich die
Entwicklung der Sinneskanäle vor Augen hält. Ein auditorischer Reiz löst von
der 20. bis 24. Schwangerschaftswoche an eine motorische Reaktion aus und ab
der 28. Woche eine Steigerung der Herzschlagrate. Die Reaktion des Feten wird
durch die Art des Geräusches, seine Häufigkeit, seine Intensität, seine Dauer und
durch den momentanen Verhaltenszustand des Feten beeinflusst. Auch auf einen
basalen Geruchs- und Geschmackssinn kann der Fetus zurückgreifen, und diese
beiden Sinneskanäle fungieren intrauterin Hand in Hand. Aufgrund der
Fähigkeit des Säuglings, Gerüchte und Geschmacksnoten wiederzuerkennen,
geht man von der Annahme eines ab der Geburt funktionierenden
chemosensorischen Systems aus, auch wenn bisher unbekannt ist, wann es sich
entwickelt.
Somatosensorische Reize sind die ersten, die eine Wirkung auf den Feten
ausüben. Wenn er in der 8. Schwangerschaftswoche an den Lippen berührt wird,
reagiert er mit Bewegung; diese Reaktionsbereitschaft dehnt sich allmählich auf
die Wangen, die Stirn, die Handflächen und danach auf die Oberarme aus.
Außer dem Rücken und der Schädeldecke reagieren alle Körperteile von der 14.
Schwangerschaftswoche an auf Berührung. Von da an stimuliert sich der Fetus
auch selbst. Ab der 13. Schwangerschaftswoche nimmt die Hand des Feten
Kontakt mit seinem Mund auf und man kann beobachten, dass der Fetus am
Daumen saugt – d. h. ein kinästhetischer Sinn entwickelt sich, der sich auf der
Position der verschiedenen Körperteile untereinander stützt. Ab der 25.
Schwangerschaftswoche zeigt der Fetus den sog. Aufrichtungsreflex und begibt
sich gegen Ende der Schwangerschaft in eine bevorzugte Position, was auf ein
funktionierendes vestibuläres System, das die Position des Körpers im Raum in
Beziehung zur Schwerkraft reguliert, schließen lässt.
Bisher ist umstritten bzw. unbekannt, ob der Fetus Schmerz spürt; auf
Stressreize reagiert er ab der 23. Schwangerschaftswoche. Da der mütterliche
Organismus für eine gleich bleibende Temperatur in der Gebärmutter sorgt, ist
unwahrscheinlich, dass der Fetus größere Temperaturschwankungen spürt.
Im letzten Schwangerschaftsdrittel hört der Embryo bereits die Stimme seiner
elterlichen Bezugsperson und kann sich nach der Geburt erkennen. Zu dieser
Zeit werden auch durch die Zusammensetzung des Fruchtwassers bedingte
Geruchs- und Geschmacksempfindungen verarbeitet und als frühe Erfahrungen
verankert. Von den Brustwarzen der stillenden Mütter werden identische
Pheromone abgegeben, die auch im Fruchtwasser enthalten waren. Ändert man
die Duftstruktur des Fruchtwassers, suchen neugeborene Kaninchen die
spezifischen Duftzugaben überall dort, wo es darnach riecht. Auch beim
Menschen scheint es so zu sein, dass Geschmack und Geruch der Muttermilch
dem Neugeborenen bereits vertraut sind.
Im Mutterleib wird bereits sehr viel gelernt. Die intrauterinen Lernvorgänge
manifestieren sich auf Gehirnebene in zunehmend effizienteren neuronalen
Verknüpfungen und in autonomer werdenden Teilfunktionen. Alles, was ein
Neugeborenes an Kompetenzen scheinbar automatisch mit auf die Welt bringt,
„hat es intrauterin bereits erfahren, kennen gelernt und in der einen oder anderen
Weise bereits „geübt“. Das gilt für die Bewegungskoordination, für die
Gleichgewichtsregulation, für die Atmung, für einfache Greifreflexe, aber auch
für sehr gezielte Handlungen wie beispielsweise das Daumenlutschen“ (Hüther
S. 53-54).
Diese umfassende Lernfähigkeit des Feten wird biologisch begründet: Es ist für
sein Überleben wichtig, dass bestimmte Bewegungen und Funktionen (wie die
Atemfunktion) bereits im Vorfeld geübt werden, um sicherzustellen, dass sie gut
funktionieren, wenn sie gebraucht werden (Hepper S. 76). Zu diesem Lernen
gehören auch all jene Fähigkeiten, die den späteren Säugling in die Lage
versetzen, die eigene Mutter wiederzuerkennen. Da das visuelle System des
Neugeborenen noch nicht ausgereift ist, liefert der Gehör- und Geruchssinn die
beste Grundlage für das Erkennen von Menschen in seiner Umgebung, denn
diese beiden Sinne funktionieren auch über die Entfernung ohne direkten
Blickkontakt zwischen Mutter und dem Neugeborenen. „Indem er etwas über
seine wichtigste Bezugsperson lernt, stellt der Fetus sicher, dass er bevorzugt
auf den Menschen reagiert, der sich nach der Geburt mit großer
Wahrscheinlichkeit um ihn kümmert. Dieser Vorgang stellt wahrscheinlich auch
den Beginn der Bindung dar. Die Mutter (oder eher die Gruppe von Reizen, die
die Mutter ausmachen) ist der einzige bekannte Reiz, den das Neugeborene
kennt, und stellt daher die ideale und sichere Basis dar, von der aus der
neugeborene Säugling seine Umgebung erkunden und etwas über sie lernen
kann“ (Hepper S. 77).
Interessant fand ich auch die Überlegungen zum Körper-Gedächtnis, die auf die
umfassende Bedeutsamkeit des „impliziten Wissens“ hinauslaufen: „Alles, was
auf den Einfluss vergangener Erfahrungen auf bestimmte, durch die
Beschaffenheit der jeweiligen Lebenswelt ausgelöste Veränderungen der
Genexpression oder der Herausformung bestimmter Merkmale zurückzuführen
ist, muss als eine in der Struktur des sich entwickelnden Organismus
festgehaltene Erinnerung an das betreffende Ereignis verstanden werden. Als
Gedächtnis wären dann all die vielen Spuren zu betrachten, die sich als Folge
der Interaktionen eines Lebewesens mit der äußeren Welt in seine Struktur und
seine innere Organisation eingegraben haben. So betrachtet besitzt jede Zelle,
jedes Organ, jedes Individuum, ja sogar jede Lebensgemeinschaft ihr eigenes,
durch ihre jeweiligen bisher gemachten Erfahrungen herausgeformtes
Gedächtnis. Das menschliche Gehirn zeichnet sich dabei nur durch eine
Besonderheit aus: Es kann die spezifischen Verhaltensmuster, die durch
bestimmte Erfahrungen als innere Repräsentanzen im Gehirn herausgeformt
worden sind, zu späteren Zeitpunkten wieder aktivieren und damit ein inneres
Erinnerungsbild der betreffenden Erfahrungen erzeugen... Deshalb sind all jene
Erfahrungen, die bereits im Säuglingsalter oder gar intrauterin gemacht werden,
zwar im Gedächtnis der Zellen, einzelner Organe, einzelner Hirnbereiche oder
des ganzen Körpers abgespeichert. Sie können jedoch nicht bewusst explizit
erinnert oder mitgeteilt werden“ (Hüther S. 60-61).
Daraus folgert er: „Während der ersten drei Lebensjahre, wenn die Fähigkeit zur
bewussten Erinnerung allmählich herausgeformt wird, kommt es im Gehirn,
insbesondere in den höheren assoziativen Zentren des Kortex, zu tief greifenden
Reorganisationsprozessen. Es ist denkbar, dass von diesen Umbauprozessen
auch solche Verschaltungen mit erfasst werden, die durch vorher gemachte,
frühe Erfahrungen entstanden sind. Dann ließen sich unter Umständen später,
wenn die Fähigkeit zum bewussten Erinnern voll ausgereift ist, diese früh
entstandenen inneren Bilder zumindest bruchstückhaft, sehr verschwommen
oder vorwiegend über Körperempfindungen abrufen“ (Hüther S. 61-62).
Fazit: Innerhalb der Psychotherapie und im Speziellen der Psychoanalyse wird
seit geraumer Zeit mehr und mehr auf die Bedeutsamkeit körperlicher
Austauschprozesse hingewiesen – Stichworte „nonverbale Kommunikation“ und
„Enactment“. Diese Schwerpunktverschiebung in der Betrachtung des
psychotherapeutischen Geschehens hat im Prinzip weitreichende technische
Konsequenzen, v. a. im Hinblick auf die Art der Handhabung der
Gegenübertragung. Die Videomikroanalyse interaktiver Prozesse hat dazu einen
wesentlichen Beitrag geleistet. Nun können wir u. a. aufgrund moderner
Ultraschalltechnik auch den Feten, innerhalb eines gewissen Rahmens, als
kompetenten Interaktionspartner begreifen. Auf die Konsequenzen dieser
Erweiterung der Sicht des Menschen in allen möglichen Anwendungsfeldern,
nicht nur im psychotherapeutischen Bereich, können wir jetzt schon gespannt
sein.
Peter Geißler, Neu-Oberhausen bei Wien
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