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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
9. Hermeneutik
Die geschilderten drei Ansätze von Gustave Lanson, Leo Spitzer und Benedetto Croce zeichnen sich
zweifellos durch das gemeinsame Bemühen aus, die eigene Wesenheit der Kunst zu finden, den
Betrachter mit einzubeziehen und daher die ästhetischen Elemente textimmanent zu erklären. Wie
Spitzer selbst in einem Aufsatz über Vigny schreibt:
[...] immanente Stilerklärung ist allein imstande, dem Kunstwerk gerecht zu werden, d.h. man muß
vorerst bei der Stilerklärung innerhalb des Literaturdenkmales bleiben, während etwa apriorische
ästhetische Ansichten, philologisch-geographische Kritik, Erforschung von Biographischem,
Einflüssen, früherer Textgestaltung usw. nicht die Meinung und Wirkung des in sich ruhenden
Kunstwerks aufdecken können. (S. 261f.)
Um die besprochenen Persönlichkeiten herum entwickeln sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts
zahlreiche Vorgangsweisen, die alle in Opposition zum Positivismus stehen und daher das
Kunstwerk als Monument betrachten. Als Sammelbegriff für diese weit gestreute Bewegung wird
häufig die Bezeichnung geistesgeschichtliche Methode verwendet, weil man sich in der Ablehnung
der Gleichstellung von Natur- und Geisteswissenschaft einig ist und eine eigene,
geistesgeschichtliche Basis der Wissenschaft finden möchte. Diese Methode stützt sich
hauptsächlich auf einen bis dahin ziemlich vernachlässigten Bereich: nämlich das so genannte
Erlebnispotential des Wissenschaftlers. Das literarische Werk wird nicht von einem teilnahmslosen
Subjekt passiv aufgenommen, sondern es wird durch die Tätigkeit der Phantasie des Rezipierenden
umgestaltet, erscheint somit immer als individuelles Erlebnis und in seiner Wirkung vom
Aufnehmenden wesentlich mitbestimmt. Es bedeutet das eine bewusste Ausweitung dessen, was
Lanson als sentir anerkannte und Spitzer und Croce als Intuition bezeichneten. Die werkimmanente
Dichtungslehre, die sich in ihrer Erfassung des Kunstwerks auf die Beziehung des Interpreten zum
Text beschränken möchte, nimmt daher eine sehr subjektivistische und dadurch zumindest teilweise
a-historische Position ein. Begründet wird diese Haltung durch das Argument, dass sich das
Kunstwerk nur an sich selbst zeigt und nicht durch etwas anderes indirekt wahrgenommen werden
kann. Wie es Wolfgang Kayser in Das sprachliche Kunstwerk (Bern 1948) einleitend ausdrückt:
„Eine Dichtung lebt und entsteht nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich
geschlossenes sprachliches Gefüge.“ (S. 5) Methoden, die ihre Kriterien außerhalb der Literatur
ansiedelten, sind folglich abzulehnen, weil sie auf vorgefasste, ihr gar nicht entsprechende
Wirkungsbereiche transzendieren. Es heißt daher: Zu den Werken selbst, und nur zu dem, was aus
ihnen spricht! Einer der Schlüsselbegriffe dieser werkimmanenten Dichtungslehre ist das Erlebnis
der Lektüre, das natürlich im untersuchenden Geist zu situieren wäre und das den eigentlichen
Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft darstellt. Das vorliegende literarische
Kunstwerk, der Text mit seinen ästhetischen Signalen, ist nur Auslöser zu diesem geistigen Prozess
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des Erlebens, dessen Analyse dann die Interpretation des Werkes herbeiführt. Der Gehalt des
Kunstwerks wird sichtbar aus der Summe der Individualerlebnisse, die zu einem Mosaik
zusammengesetzt ein Schattenbild ergeben vom eigentlichen Wesen, dessen wahre Gestalt mehr als
diese Summe darstellt. Die wesentlichen Hypothesen der werkimmanenten Dichtungslehre sind,
dass sich eine Idee in der Literatur zeigt und dass das menschliche Denken die Literatur erst aus
dem Material des Textes erschafft. Der schöpferische Geist, und zwar jener des Autors und jener der
Leser, bringt ein überzeitliches Wesen hervor, das als autonom und transzendent zu respektieren ist.
„Die Sätze der Dichtung schaffen sich ihre eigene Gegenständlichkeit.“ (S. 14), wie Kayser es
ausdrückt. Autonom in dem Sinne, dass die Literatur, wie jede Kunst, von keinerlei Kausalität oder
Notwendigkeit determiniert sein kann; transzendent deshalb, weil die Idee der Dichtung über die
vorhandene Wirklichkeit hinaus in den Bereich des Metaphysischen führt. Diese Annahmen bringen
es mit sich, dass die bloße Beschreibung und die zergliedernde Erklärung eines literarischen Werkes
sinnlose Unternehmen darstellen. Die atomisierenden Beschreibungen des Positivismus, das
Aufzählen von Daten, berühren nur die schillernde Oberfläche des Werkes, sie dringen nicht zu den
ästhetischen Qualitäten vor. Das wirkliche Verstehen des Wesens eines sprachlichen Kunstwerks
setzt zunächst das Erlebnis der Dichtung voraus, das Einfühlen in ihren Geist, was dann erst
anderen mehr oder weniger überzeugend mitgeteilt werden kann, so dass eine Art von Nacherleben
oder Nachvollzug des Erlebnisses möglich wird. Im Zentrum dieser Art von Verstehen muss
natürlich das personale Bewusstsein des rezipierenden Subjekts stehen, dessen schöpferischer Geist
eine intuitive Synthese seiner Eindrücke vornimmt. Aus der Einheit des Erlebnisses werden dazu,
nicht unbedingt im logischen Sinn, einzelne Aussagen deduziert, um diese dann zu einer
Interpretation zusammenzufassen. Es erfolgt dabei eine bewusste Reduktion der Fragestellungen auf
den eigentlichen Bereich des Kunstwerks, nämlich seiner Wirkung auf den Geist des Lesers. Diese
Reduktion sieht ab von Fragen wie z.B. wo?, wann? oder wer? In Ablehnung jeder Art von
Klassifizierung, wie z.B. der zahlenmäßigen Erfassung sprachlicher Mittel, soll sich der
schöpferische Geist des Forschers mit dem Mut zur individuellen Sprechweise dem Gegenstand
nähern. Der schöpferische Geist des Dichters findet sein Pendant in dieser Annäherung des
Forschers, die in der Bildlichkeit des Erlebnisses zum Ausdruck kommt. Wolfgang Kayser sieht das
Erlebnispotential als eine der Voraussetzungen des Literaturwissenschaftlers:
Das Studium der Literatur setzt bei dem Studierenden eine gewisse theoretische Begabung voraus.
[...] Aber wie jede Wissenschaft verlangt sie darüber hinaus eine besondere Begabung für ihren
Gegenstand. Ohne eine besondere Empfänglichkeit für das Phänomen des Dichterischen würden
alle Begriffe der Literaturwissenschaft leer bleiben und bei ihrer Anwendung nicht recht greifen. (S.
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Diese Empfänglichkeit ist Voraussetzung für den Prozess der Interpretation, der, wie Gero von
Wilpert formuliert, „[...] zu einem vertieften Verständnis und voller Einfühlung in die
eigenständigen, weltschöpferischen Kräfte des Sprachkunstwerks führen, die Dichtung als Dichtung
erschließen will.“ (Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 6. erw. Aufl. 1979, S. 374) Neben der
Dichterpersönlichkeit sind die wenigen anerkannten Ordnungsprinzipien dieser Methode formale
Typen, Problemgeschichte und Epochenbegriffe. Eine besondere Stellung nimmt dabei unter den
formalen Typen bei Kayser das Gefüge der Gattung ein. Es geht hier selbstverständlich nicht um die
äußere Darbietungsform, sondern um die so genannten Naturformen der Poesie, die in den drei
Grundhaltungen lyrisch, episch und dramatisch zum Ausdruck kommen. Unter Berufung auf
sprachphilosophische Überlegungen zur Leistung der Sprache ordnet Kayser jede der Naturformen
einer Richtung, einer Person und einer Erlebnissphäre zu. Der Lyrik z.B. wird die Sprachleistung
der Kundgabe in der ersten Person, mit expressiver Richtung und emotionaler Erlebnissphäre
zugeschrieben; dem Epischen entspricht die Leistung der Darstellung in demonstrativer Richtung,
mit einer rationalen Erlebnissphäre in der dritten Person.
Leistung
Richtung
Person
Erlebnissphäre
Gruppen
Kundgabe
expressiv
ich
emotional
Stimmung, Gefühl
Auslösung
impressiv
du
intentional
Befehl, Wunsch,
Frage, Zweifel,
Streben
Darstellung
faktiv
er, sie, es
(demonstrativ)
rational
Vorstellung,
Denken
Die stimmige Zuordnung zu einer der drei Grundhaltungen und den auftretenden geschlossenen
Strukturen stellt laut Kayser den Höhepunkt der Einfühlung und den Endpunkt der Interpretation
dar: „Inhalt und Gehalt, Vers und Rhythmus, Sprache und Stil, Aufbau und auch Darbietungsform,
die wir getrennt betrachtet haben, sie lassen sich wie wir meinen vom Gattungshaften in ihrem
Zusammenwirken verstehen.“ (S. 387)
Die Reduktion auf das, was augenblicklich aus dem Werk spricht, betrifft auch das aufnehmende
Subjekt, denn es soll bei sich eine radikale Vorurteilslosigkeit herbeizuführen. Der Betrachtende
soll von seinem Vorwissen absehen, insbesondere von allen vorher über diesen Gegenstand
gefällten Urteilen. Diese mens rasa erst soll laut Roman Ingarden (Das literarische Kunstwerk.
Tübingen 1931) zur reinen Wesensschau fähig sein, weil nur so das Mitgegebene, das Mitgedachte
und das Hineingedeutete zu vermeiden sind. Eine lange und strenge Schulung ist nötig, um die
Selbstgegebenheit des Kunstwerks auf sich wirken zu lassen. Das Subjekt verfügt letzten Endes nur
mehr über die Gewissheit des Schauens in das Werk und über das aus dem Werk Erlebte. Die
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Grundlagen dieser Haltung wären, in parodistischer Übertragung der rationalistischen Prinzipien
von Descartes und den mittelalterlichen Aristotelikern: contemplor ergo sum und nihil est in
intellectu quod non prius fuerit in textu.
Die Hauptkritik an dieser Methode der Literaturbetrachtung richtet sich natürlich gegen die Isolation
der Beziehung Text-Interpret von jeglichem Kontext. Es erfolgt eine völlige Loslösung von der
Geschichte, die beide mit sich führen und damit eine doppelte Vernachlässigung der Tradition:
einerseits der literarischen Tradition, in der das Werk steht, und andererseits der
Wissenschaftstradition, der der Interpret verpflichtet ist. Im Blickpunkt der Kritik steht damit auch
der fragwürdige Begriff der radikalen Vorurteilslosigkeit, der zwar theoretisch Anerkennung finden
mag, praktisch jedoch vollkommen undurchführbar ist. Hans-Georg Gadamer beschreibt die
Weiterentwicklung dieses Problems bei Martin Heidegger:
Die Theorie des Verstehens gipfelte in einem divinatorischen Akt, der sich ganz in den Verfasser
versetzt und von da aus alles Fremde und Befremdende des Textes zur Auflösung bringt. Heidegger
dagegen erkennt, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des
Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. (Hermeneutik II – Wahrheit und Methode. Tübingen
1986, S. 61)
Das Subjekt kann sich nicht ausschalten und es verändert sich außerdem ständig im Lichte seiner
Erfahrungen. Das gesteht auch Kayser zu: „Der Deutende kann niemals seiner Individualität, seiner
Zeit und Nationalität entfliehen.“ (S. 11f.) Will man das leugnen, begeht man letzten Endes den
gleichen Fehler wie der Positivismus, indem man eine künstliche Objektivität fordert, die sich auf
der Abbildungsfläche des Subjekts nur widerspiegelt, durch sie aber nicht verzerrt wird.
Eine der methodischen Grundlagen der werkimmanenten Dichtungslehre ist die Denkform des
Zirkels, der manchmal nach Wilhelm Dilthey, dem Begründer der geisteswissenschaftlichen
Eigenständigkeit, benannt wird. Dabei wird von der Überzeugung ausgegangen, dass die Teile eines
Werkes nicht ohne ihren Bezug zum Ganzen verstanden werden können, ein Verstehen des Ganzen
aber ohne das Vorverständnis der Bestandteile unmöglich ist. „Ein Kunstwerk ist kein räumliches
Gebilde, an dem man verschiedene Seiten getrennt untersuchen kann, sondern eine Ganzheit, in der
alle Schichten, die die Betrachtung sondern kann, letztlich aufeinander bezogen sind und zusammen
wirken.“ (Kayser, S. 240) und: „Im lebendigen Kunstwerk gibt es keine Isolierung einzelner Teile:
alle Formen weisen stets über sich hinaus und wirken stets zusammen.“ (Kayser, S. 330) Durch ein
ständiges Wechseln des Bezugspunktes, das nach traditionellen logischen Gesetzen nicht erlaubt ist,
ergibt sich ein gegenseitiges Erhellen der Teile und des Ganzen. Es wird also aus der Analyse eines
Teiles dann durch den Blick auf das Ganze eine vorläufige Synthese erstellt, aus der dann wieder
die Einordnung der Teile abgeleitet und überprüft werden kann. Dieses Hin und Her zwischen
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
deduktiver und induktiver Methode, das auch Spitzer für sich beschrieben hat, ergibt zeichnerisch
und gedanklich nachvollzogen die Gestalt eines Zirkels, eines Kreises oder einer Spirale.
Diese Vorgangsweise ist durchaus mit dem von Heidegger beschriebenen Vorverständnis des
Subjekts vereinbar. In den Fragestellungen, die der Zirkelbewegung Schwung verleihen, tritt die
Intentionalität des Fragenden zutage. Die so genannte Vorstruktur der Auslegung wäre eine
Projektion der subjektiven Haltung zum Objekt schon in die Fragestellung, und damit eine
Vorbestimmung des Ergebnisses. Weil ja nur Antworten auf aufgeworfene Fragen zu erwarten sind,
ist dadurch jedes Resultat eigentlich von der Erkenntnisabsicht des Forschers vor- und mitbestimmt.
Um fragen zu können, muss man zunächst das Problem des Nichtwissens erkennen und beseitigen
wollen. Der Sinn der Frage ist also auf etwas gerichtet, worin man die Antwort vermutet.
Eine gründliche methodische Ausarbeitung all dieser Problemstellungen erfolgt in der modernen
Hermeneutik, d.h. in der auf eine lange Tradition zurückgehenden Kunst des Verstehens und des
Auslegens. Das aus der spätantiken Rhetorik stammende Bild von caput und membra für das rechte
Verhältnis der Einzelteile und des Ganzen einer Rede, weist bereits einen Ansatz zu dem oben
erwähnten Problem auf. Deutlicher wird das im Umkreis von Luther, wo das Verständnis der
Einzelheiten eines Textes in ihren contextus, ihren Zusammenhang, gestellt und ihre Bedeutung für
den Sinn, auf den das Ganze abzielt, den scopus, untersucht wird. In ihrer romantischen Ausprägung
bei Friedrich Schleiermacher 1838 ist die Hermeneutik eine psychologische Interpretation, die der
besprochenen geistesgeschichtlichen Methode vorausgeht. Interpretatives Verstehen ist eine
Umkehr des schöpferischen Aktes, ein divinatorisches Sich-Versetzen in den Dichter, um ihn
letztlich besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat. Der Interpret setzt sich mit seinem
Autor in eine künstliche Gleichzeitigkeit und versucht, den vergangenen Akt als gegenwärtig, den
fremden Geist als vertrauten zu erleben. „Die Gleichzeitigkeit erfüllt in den Geisteswissenschaften
dieselbe Funktion wie in den Naturwissenschaften die Wiederholbarkeit des Experiments: die
Austauschbarkeit des Erkenntnissubjekts wird garantiert.“ (Jürgen Habermas: Erkenntnis und
Interesse. Frankfurt 5. Aufl. 1979, S. 229)
Die moderne Hermeneutik des 20. Jahrhunderts möchte diesen Psychologismus und vor allem die
daraus resultierende Geschichtslosigkeit überwinden. Aus der Erfahrung der begrenzten
Möglichkeiten von Auslegungstechniken setzt Gadamer einen kritischen Neubeginn, indem er für
die moderne Hermeneutik feststellt, dass es „[...] ihre Aufgabe überhaupt nicht ist, ein Verfahren
des Verstehens zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzuklären, unter denen Verstehen
geschieht.“ (Hermeneutik I – Wahrheit und Methode. Tübingen 1986, S. 300)
Die Hermeneutik hat sich deshalb als der zentrale Bereich der nach-positivistischen Positionen
herausgestellt, weil sie imstande ist, der Person des Text-Aufnehmenden und Text-Auslegenden
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ebenso wie der historischen Relation eine Bedeutung für den Verstehensprozess zuzuordnen. „Der
Zeitenabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muss. [...] In Wahrheit kommt es
darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu
erkennen.“ (Gadamer: Hermeneutik II, S. 63) Die Vorwegnahme von Sinn, die unsere Fragestellung
an den Text leitet, ist nämlich keine unkontrollierte Subjektivität, sondern wird durch die Bindung
des Subjekts an die Überlieferung geprägt: „Die Hermeneutik muß davon ausgehen, daß wer
verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an
die Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt.“ (Gadamer: Hermeneutik I, S. 300) Die radikale
Konsequenz daraus ist, dass unsere Vorurteile weit mehr geschichtliche Wirklichkeit beinhalten als
unsere Urteile. Hier erweist sich das Wort von Brunetière teilweise als richtige Vermutung:
Aucun de nous n’a le droit de se poser en maître absolu de ses actes ni de ses pensées mêmes, parce
qu’il n’est aucun de nous qui n’appartienne autant à la société qu’à lui-même. (Nouveaux essais sur
la littérature contemporaine. Paris 1895, S. 37)
Die Hermeneutik ersetzt allerdings die Gesellschaft durch die Geschichte und akzeptiert diese
Bestimmung außerdem als ein Instrument der Erkenntnis: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht
uns, sondern wir gehören ihr.“ (Gadamer: Hermeneutik I, S. 281) Das bedeutet für Gadamer, daß
der Zirkel des Verstehens nicht nur irgendein methodischer Zirkel ist, sondern dass er ein
Strukturmoment unseres Verstehens darstellt. In konzentrischen Kreisen von immer weiter oder
enger gefassten Kontexten sind die Beziehungen des einzelnen Wortes zum Satz, des einzelnen
Satzes zum Text, des einzelnen Textes zum Gesamtwerk usw. aufzuspüren. Meines Erachtens ist
das herkömmliche Bild des Zirkels oder des Kreises zu korrigieren: es handelt sich vielmehr um
eine sich ausdehnende oder verengende, sich jedenfalls räumlich erstreckende Spirale. Die
Veränderung des Subjekts durch die Erfahrung innerhalb des Prozesses ist zu berücksichtigen, und
somit auch die Tatsache, dass man nicht mehr wirklich an den Ausgangspunkt des Kreises auf der
selben gedanklichen Ebene zurückkehrt. Darüber hinaus verschiebt sich durch die neue
Fragestellung des Subjekts auch räumlich das Zentrum des Kreises, indem es sich nähert oder
entfernt.
Auf Grund ihrer historischen Erfahrung bei der Auslegung verschiedener Arten von Texten aus dem
theologischen, juridischen und literarischem Bereich ist die Hermeneutik darauf vorbereitet, die
jeweilige Besonderheit einer Textsorte bzw. ihrer Funktionen zu berücksichtigen. Gadamer widmet
sich daher ausführlich der Frage, was eigentlich einen literarischen Text vor anderen auszeichnet. Es
wird damit das Kriterium der Literarizität erstmals nicht auf die Zugehörigkeit zu einem Kanon, auf
die Beachtung von vorgegebenen Regeln oder auf die ästhetische Empfindung des Rezipierenden
bezogen, sondern auf die Kommunikationsfunktion oder Sprechabsicht. Die Hauptschwierigkeit des
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
literarischen Textes im Vergleich zu anderen Handlungen in der Sprache ist dabei die Tatsache, dass
nicht der mitgeteilte Sachverhalt, sondern die besondere Weise der Mitteilung die Information
darstellt. Gadamer präzisiert diesen Unterschied zu einer gewöhnlichen Sprechsituation mit dem
sinngerichteten Interesse des Gesprächspartners so: „Wenn es sonst den Charakter von Rede
ausmacht, dass der Zuhörende gleichsam durch sie hindurchhört und ganz auf das gerichtet ist, was
ihm die Rede mitteilt, kommt hier die Sprache selber in eigentümlicher Weise zur Erscheinung.“
(Gadamer: Hermeneutik II, S. 352) Wenn man sonst durch die Äußerlichkeit des sprachlichen
Materials auf den mitgeteilten Sachverhalt hinhört oder hinliest, hat im Gegensatz dazu beim
literarischen Text gerade die Beschaffenheit der Botschaft für das durch sie Mitgeteilte
konstitutiven Charakter. Diese Konzeption zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit der poetischen
Funktion bei Roman Jakobson, auf die ich im Abschnitt über den Strukturalismus eingehen werde.
Diese Besonderheit der literarischen Produktion in der Sprache garantiert auch deren überzeitliche
Wirkung, unabhängig von der Vergänglichkeit der darin genannten Bezugspunkte aus der
Wirklichkeit:
Was Literatur ist, hat vielmehr eine eigene Gleichzeitigkeit mit jeder Gegenwart erworben. Sie
verstehen, heißt nicht primär, auf vergangenes Leben zurück schließen, sondern bedeutet
gegenwärtige Teilhabe an Gesagtem. Es handelt sich dabei nicht eigentlich um ein Verhältnis
zwischen Personen, etwa zwischen dem Leser und dem Autor (der vielleicht ganz unbekannt ist),
sondern um Teilhabe an der Mitteilung, die der Text uns macht. (Gadamer: Hermeneutik I, S. 395)
Die Literatur überträgt durch die Lektüre, durch die sie erst eigentlich wirksam wird, ihre
verborgene Geschichte in die gegenwärtige Situation des Aufnehmenden. Der Begriff der
hermeneutischen Situation trägt das Problem der Vorbestimmung des Aufnehmenden in sich, weil
man sich ja immer schon in ihr befindet und daher keine objektive Kenntnis von ihr haben kann.
Eng verbunden mit dem Bewusstsein der Situation, in der der Aufnehmende sich befindet, ist die
Gebundenheit und die Beschränktheit seines Denkens durch seinen Gesichtskreis. „Zum Begriff der
Situation gehört daher wesenhaft der Begriff des Horizontes.“ (Hermeneutik I, S. 307) schließt
Gadamer. Das ist auch einer der Gründe, warum ich oben das Bild der Spirale vorgeschlagen habe,
weil sich durch die weiter schreitende Erfahrung die Situation und damit natürlich auch der
Horizont des Subjekts verändert. Allein durch die Möglichkeit des Lernens in einer Situation wird
die Stabilität des Gesichtskreises erschüttert und die Augen können nicht mehr die gleiche
Horizontlinie wahrnehmen: „Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit
uns mitwandert. Dem Beweglichen verschieben sich die Horizonte.“ (Gadamer: Hermeneutik I, S.
309)
Durch diesen rezeptiven Ansatz wird die Hermeneutik der sich zeitlich immer verschiebenden
Aufnahme des Kunstwerks gerecht, und akzeptiert dadurch auch ausdrücklich das Bewusstsein von
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der Unmöglichkeit der vollkommenen und endgültigen Erschließung eines Textes: „Auch der Sinn
eines Kunstwerks wird erst im Prozeß seiner fortschreitenden Rezeption erarbeitet; er ist keine
mystische Ganzheit, die sich bei ihrer ersten Manifestation vollständig offenbart hätte.“ (Hans
Robert Jauß: Geschichte der Kunst und Historie, S. 190) Die aus der hermeneutischen Theorie
hervorgegangenen Methoden sind vielfältig: sie reichen von der so genannten Rezeptionsästhetik
bis zu einem Übergangsbereich zum Strukturalismus, und sogar in jüngster Zeit zur modernen
Texttheorie, die die Instrumente der Hermeneutik für sich zu nutzen versucht. Ich möchte mich hier
auf die Darstellung der Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß und auf die so genannte
strukturale Stilistik von Michael Riffaterre konzentrieren, um dann anschließend den
Übergangsbereich zum Strukturalismus bei Roland Barthes und einem frühen Werk von Umberto
Eco zu besprechen.
Hans Robert Jauß hat seine Rezeptionsästhetik als Kritik an den marxistischen und formalistischen
Methoden der Literaturgeschichtsschreibung entworfen, weil er bei diesen Ansätzen die Frage der
Wirkung des Kunstwerks völlig vermisst. Einseitig auf eine Produktionsästhetik ausgerichtet
vernachlässigen diese Methoden eine wesentliche Dimension des ästhetischen Phänomens, nämlich
seine Rezeption durch die Leser. Durch diese in einen geschichtlichen Ablauf eingegliederte
Tätigkeit des Konsumenten von Literatur erschließt sich zudem ein Bereich, in dem historische und
ästhetische Argumente einander begegnen können. Die Rezeptionsgeschichte wird die ästhetischen
Elemente nicht vernachlässigen können, weil der aufnehmende Leser ja immer auf charakteristische
Bestandteile des Textes reagiert und in seiner Beurteilung auf sie hinweist. Die ästhetische
Beurteilung muss sich an den historischen Äußerungen der Rezeption orientieren, um nicht
willentlich die Augen vor wichtigen Eigenschaften des Textes verschließen zu wollen. Jauß hat
seine Methode u.a. in dem Aufsatz Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft
1970 (u.a. in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 1975, S. 126-162) mit sieben
Thesen festgelegt, die ich hier zusammenfassen möchte:
1. These: Die Erneuerung der Literaturgeschichte muss die traditionelle Produktionsästhetik mit
einer neu zu schaffenden Rezeptions- und Wirkungsästhetik verbinden. Die Geschichtlichkeit der
Literatur besteht nicht, wie das der historische Objektivismus vorgibt, aus einer nachträglich
erstellten Kausalkette literarischer Fakten, sondern auf der Erfahrung des Werkes durch die Leser.
Der Literarhistoriker wird selbst zuerst zum Leser und hat sein eigenes Urteil im Bewusstsein seiner
gegenwärtigen Situation in der historischen Reihe der vorhergegangenen Leserreaktionen zu
begründen. Gegenstand der Literaturwissenschaft ist mithin nicht die monologische Aussage des
literarischen Monuments, sondern das dialogische Verhältnis in seiner geschichtlich sich
verändernden Aktualisierung. Die weitere Wirkung des literarischen Werkes nach seiner Produktion
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
ist auf die Rezeption der Nachkommenden angewiesen, sie ist weder ein Naturereignis noch die
unausweichliche Folge einer Ursache, sondern bedarf des Interesses von Lesern, die es sich wieder
aneignen wollen, oder von Autoren, die sich in ihrem Werk mit ihm auseinandersetzen.
2. These: Die Analyse der literarischen Erfahrungen der Leser vermeidet den Psychologismus, wenn
sie die Rezeption eines Werkes in Bezug auf die ästhetischen Erwartungen zum historischen
Zeitpunkt der Produktion beschreibt. Dieser so genannte Erwartungshorizont ist aus dem
Vorverständnis der Gattung, der Form und der Thematik zuvor bekannter Werke und aus der
Auffassung von poetischer Sprache nachzuzeichnen. Wie Jauß das wörtlich beschreibt:
Ein literarisches Werk, auch wenn es neu erscheint, präsentiert sich nicht als absolute Neuheit in
einem informatorischen Vakuum, sondern prädisponiert sein Publikum durch Ankündigungen,
offene und versteckte Signale, vertraute Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte
Weise der Rezeption. Es weckt Erinnerungen an schon Gelesenes, bringt den Leser in eine ganz
bestimmte emotionale Einstellung und stiftet schon mit seinem Anfang Erwartungen für ‚Mitte und
Ende‘, die im Fortgang der Lektüre nach bestimmten Spielregeln der Gattung oder Textart
aufrechterhalten oder abgewandelt, umorientiert oder auch ironisch aufgelöst werden können. (S.
131)
Die Literaturproduktion ist somit ein fortwährender Prozess der ästhetischen Horizontstiftung und
Horizontveränderung, während die Rezeption einen Versuch der Zuordnung innerhalb der
Kategorien dieser Erwartungshaltung darstellt. Die hermeneutische Intentionalität des Lesers in
seiner Situation wird beschreibbar durch den Verlauf dieses Erwartungshorizonts, und die an den
Text gestellten Fragen sind vom historischen Stand der Erwartungshaltung vorbestimmt.
3. These: Der Kunstcharakter eines Werkes kann an der Art und dem Grad der Wirkung auf das
Publikum gemessen werden, indem man die Reaktionen der Leser (spontaner Erfolg des Werkes,
Ablehnung, vereinzelte Zustimmung, verspätetes Verständnis) auf einen Horizontwandel hin
untersucht. Der in diesen Reaktionen auffindbare Abstand zwischen der Erwartung und der
tatsächlichen Beschaffenheit des neuen Werkes wird als ästhetische Distanz bezeichnet. Dieses
Kriterium der ästhetischen Distanz schafft erstmals auch die Möglichkeit, zwischen Höhenkammund Konsumliteratur nicht normativ sondern an Hand der Leserurteile zu unterscheiden:
[…] in dem Maße wie sich diese Distanz verringert, [...] nähert sich das Werk dem Bereich der
‚kulinarischen‘ oder Unterhaltungskunst. Die letztere läßt sich rezeptionsästhetisch dadurch
charakterisieren, daß sie keinen Horizontwandel erfordert, sondern Erwartungen [...] geradezu
erfüllt, indem sie das Verlangen nach der Reproduktion des gewohnten Schönen befriedigt,
vertraute Empfindungen bestätigt, Wunschvorstellungen sanktioniert, unalltägliche Erfahrungen als
‚Sensation‘ genießbar macht oder auch moralische Probleme aufwirft, um sie als schon
vorentschiedene Fragen im erbaulichen Sinne zu ‚lösen‘. (S. 133)
4. These: Die Rekonstruktion des Erwartungshorizontes bringt die hermeneutische Differenz
zwischen dem zeitgenössischen und dem heutigen Verständnis des Werkes vor Augen und macht
damit die Geschichte der Rezeption durch die Veränderbarkeit des Vorverständnisses und der
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
dadurch bestimmten Erfahrungen aus dem Text bewusst. Jauß beruft sich in diesem Punkt explizit
auf die oben dargestellte Argumentation Gadamers.
5. These: Das Verfolgen des Horizontwandels erlaubt es, die geschichtliche Position eines Werkes
durch seine mehr oder weniger große Auswirkung darauf zu beschreiben. Jauß greift hier
uneingestanden auf das Konzept der Evolution der Gattungen von Brunetière zurück, allerdings mit
dem zusätzlichen Aspekt der Interaktion von Werk und Rezipient. Die Einschätzung von der
literarischen Evolution ist daher keine definitive sondern nur eine vorläufige, die an die
gegenwärtige Perspektive des Literaturwissenschaftlers gebunden bleibt.
6. These: Die Unterscheidung und methodische Verbindung von diachronischer und synchronischer
Analyse sollte die Überwindung der bisher allein üblichen diachronischen Betrachtung ermöglichen
und den Begriff der literarischen Epoche an die Prozesse der Horizontstiftung und des
Horizontwandels binden. Wie Jauß selbst formuliert:
Die Geschichtlichkeit der Literatur tritt gerade an den Schnittpunkten von Diachronie und
Synchronie zutage. Also muß es auch möglich sein, den literarischen Horizont eines bestimmten
historischen Augenblicks als dasjenige synchrone System faßbar zu machen, auf welches bezogen
die gleichzeitig erscheinende Literatur diachronisch in Relationen der Ungleichzeitigkeit, das Werk
als aktuell oder unaktuell, [...] als verfrüht oder verspätet aufgenommen werden konnte. (S. 146)
Wirkungsgeschichte also in einer horizontalen und einer vertikalen Linie, einerseits die Aufnahme
eines Textes als Ereignis, das im Verhältnis zur Umgebung bedeutend erscheint, und andererseits
die weitergehende Beschäftigung mit diesem Text als Ereignis, das die Evolution der Literatur
mitbestimmt.
7. These: Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist darin zu sehen, dass sie eine besondere Geschichte
im Verhältnis zur allgemeinen Geschichte zu schreiben hat. Die literarischen Texte spiegeln nicht
nur durch ihre Haltung einen gesellschaftlichen Zustand wider, ihre Rezeption hat auch
Auswirkungen auf das Weltverständnis der Leser. Der ideengeschichtliche Aspekt des
Erwartungshorizonts steht in Relation zum Weltverständnis des Lesers und dadurch kann die
ästhetische Distanz eines literarischen Textes auf diesem Gebiet neue Fragestellungen provozieren,
die auch eine Veränderung dieses Weltverständnisses hervorrufen. Die gesellschaftliche Funktion
der Literatur beschränkt sich also nicht auf die Verarbeitung der allgemeinen Geschichte, wie das
z.B. in orthodoxen marxistischen Literaturtheorien vertreten wird, sondern wirkt als besondere
Geschichte ihrerseits auf die allgemeine Geschichte ein, indem sie zu ihrer Weiterentwicklung
beiträgt.
Bevor ich eine kritische Stimme zu dieser Methode zitiere, möchte ich noch mit Hilfe eines
Beispieles die konkrete Vorgangsweise von Jauß illustrieren: an Hand einiger Produkte
französischer Salonlyrik aus dem Jahre 1857 wird die soziale Funktion dieser Art von Literatur vor
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
dem Hintergrund der zeitgenössischen Höhenkammliteratur gezeigt. Jauß beginnt mit einem
Panorama von Werken aus diesem Jahr, die um das an sich triviale Thema der douceur du foyer, des
Glückes am häuslichen Herd, kreisen, und stellt dabei fest, dass dieses gesellschaftliche Idealbild
mit auffallender Häufigkeit wiederkehrt. Er erstellt daraufhin ein situatives Grundmuster des
Themas, in dem die Rollen der Handlungsträger, der Ort und die Zeit der Darstellung aufscheinen.
Zusammengefasst ergibt das die folgende Formel vom Erwartungshorizont der Leser: Der
Glücksraum des foyer ist das sanfte Reich der Frau, die Kleinfamilie im trauten Heim am Abend.
Der Lichtkreis eines Feuers oder einer Lampe begrenzt die glückliche Domäne des häuslichen
Herdes, fern der rauen Arbeitswelt. Das normative Grundmuster mit seinen Maximen, Werten und
Sanktionen schließt folglich Arbeitsvorgänge aus, mit Ausnahme solcher, die auf eine archaische
häusliche Produktion durch die Frau hinweisen, wie z.B. das Spinnrad oder die Häkel- und
Stickarbeit. Die douceur du foyer bedarf einer Reihe von Schlüsselbegriffen, um ihre Idee zu
beschreiben: gaîté, compagnie, rêverie, douceurs, plaisirs, bonheur. Die hier vermittelte Sinnwelt
zeichnet sich, wie schon oben angedeutet, durch ihre geschlossenen Grenzen und das Risiko der
Grenzüberschreitung aus. Die Legitimation der Idealvorstellung vom häuslichen Herd wird aus dem
Bereich der Natur bemüht, die dem Individuum einen Hort einfachen und friedlichen Lebens als
Schutz vor der drohenden Außenwelt zuweist. Diese Idee wird häufig durch das Gleichnis vom Nest
in Gottes Hand übersetzt, das den Gefahren der zerstörerischen Zivilisation ausgesetzt ist:
Ah! pauvres maisons éventrées
par le marteau du niveleur!
Pauvres masures délabrées,
Pauvres nids qu’a pris l’oiseleur!
(Louis Bouilhet: Démolitions, 1857; zit. nach Jauß: La douceur du foyer. Lyrik des Jahres 1857 als
Muster der Vermittlung sozialer Normen. In: Warning: Rezeptionsästhetik, S. 401-434)
Jauß versucht in der Folge, diese ideologischen Grundmuster auf Ereignisse der allgemeinen
Geschichte zurückzuführen, indem er auf den Text des zu Beginn des Jahrhunderts ausgearbeiteten
Code civil hinweist. Darin erweist sich die Familie als soziale Institution auf der Basis der
väterlichen Autorität, was zu der häufigen Thematisierung des Vater-Sohn-Konfliktes in der Prosa
dieser Zeit führt. In der Lyrik hingegen geht dieser Aspekt der Vaterrolle unter, weil das situative
Grundmuster sich auf Vater-Mutter-Kleinkind beschränkt. Diese Beschränkung der Personen
reflektiert eine Änderung in der gesellschaftlichen Struktur Frankreich zu dieser Zeit, die zur
bürgerlichen Kleinfamilie tendiert. Dort wo ein ungestümer Wirrkopf das väterliche Heim in
jugendlichem Übermut verlassen hat, wird er das auch ausdrücklich bereuen:
Au foyer paternel, abri de la sagesse
D’où le vent du caprice exila ma jeunesse,
Ainsi le souvenir me ramène, mes sœurs.
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
Oh! qui me donnera d’en retrouver la route!
Douceurs de la famille, ineffables douceurs,
Heureux qui les comprend, plus heureux qui les goûte! (Louis Damey: Le Grillon, 1857)
Dass die Höhenkammliteratur des Jahres 1857 das Thema der douceur du foyer voraussetzt und
bewusst immer wieder abwandelt oder geradezu negiert, ist für Jauß nur eine Bestätigung seiner
These von der gesellschaftlichen Funktion der Salonlyrik:
Voici le soir charmant, ami du criminel;
Il vient comme un complice, à pas de loup; le ciel
Se ferme lentement comme une grande alcôve,
Et l’homme impatient se change en bête fauve.
O soir, aimable soir, désiré par celui
Dont les bras, sans mentir, peuvent dire: Aujourd’hui
Nous avons travaillé! [...]
- Plus d’un
Ne viendra plus chercher la soupe parfumée,
Au coin du feu, le soir, auprès d’une âme aimée.
Encore la plupart n’ont-ils jamais connu
La douceur du foyer et n’ont jamais vécu!
(Charles Baudelaire: Le Crépuscule du soir. In: Œuvres complètes I. Ed. Cl. Pichois. Paris 1975, S.
94f.)
Insgesamt betrachtet Jauß diesen Schnittpunkt von Diachronie und Synchronie eines lyrischen
Themas als Beispiel für seine Methode, Literaturgeschichte nicht hauptsächlich an Personen und
Werken sondern an Problemen zu orientieren und Begriffe wie Epoche, Gattung usw. an Hand
solcher Schnitte zu entwickeln. Was aber trotz allem nicht das grundsätzliche Problem des Sprunges
von beobachtbaren Fakten zur ästhetischen Empfindung löst, wie René Wellek kritisiert:
Rezeptionsgeschichte ist vor allem darin wertvoll, daß die verschiedenen historischen Positionen
der Rezipierenden geklärt werden; doch bleibt auch in einer durch Rezeption vermittelten
Literaturgeschichte vieles an den Werken verdeckt oder unerkannt. Mein Haupteinwand aber ist
nach wie vor: auch eine rezeptionsgeschichtlich fundierte Literarhistorie führt nicht aus der Aporie
heraus, daß eine Geschichte ästhetischer Produkte sich weder mit Kategorien der Kausalität noch
mit solchen der Evolution erfassen läßt. (Zur methodischen Aporie einer Rezeptionsgeschichte, S.
517)
Aber die Vorgänge der Theoriebildung, d.h. auch der Entwicklung von Ideen innerhalb des
hermeneutischen Prozesses, sind ja zum überwiegenden Teil ein Untersuchungsgegenstand der
Psychologie, worauf auch der Neopositivismus ausdrücklich hingewiesen hat. Der von Jauß
initiierte Gedanke einer Interaktion zwischen Produzenten und Rezipienten findet jedenfalls eine
Weiterentwicklung in Harald Weinrichs Für eine Literaturgeschichte des Lesers (1967) und
Wolfgang Isers Die Appellstruktur der Texte – Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer
Prosa (1970). Weinrich definiert als wichtige Aufgabe der Literaturgeschichte vor allem historische
79
Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
Lesertypologie mit Methoden der empirischen Soziologie; Iser hingegen betont die durch
Textsignale gesteuerte Lesearbeit des Rezipienten.
Ungefähr gleichzeitig mit der Entwicklung der Rezeptionsästhetik durch Jauß geht in Frankreich
eine Veränderung in der Literaturbetrachtung vor sich, die in erster Linie darauf abzielt, die
französische Literaturwissenschaft aus der beherrschenden Lanson-Schule herauszuführen. Der
Initiator dieser Bewegung, die anfänglich unausgesprochen im Bereich der Hermeneutik liegt, sich
aber im Laufe der Diskussion zu Strukturalismus und Texttheorie ausweitet, ist sicher Roland
Barthes. In Le Degré zéro de l’écriture 1953 untersucht er mit einer eigenwilligen Verbindung
marxistischer, existenzialistischer und strukturalistischer Tendenzen zunächst die Bedingungen,
unter welchen literarische Texte entstehen. Die gesellschaftliche Bindung des Autors ist bei Barthes
vor allem eine sprachliche, weil er in die verschiedenen Niveaus der kollektiven Ausdrucksweise
(bei Karl Voßler: des Sprachstils) verwickelt ist:
Aussi l’écriture est-elle une réalité ambiguë: d’une part, elle naît inconstestablement d’une
confrontation de l’écrivain et de sa société; d’autre part, de cette finalité sociale, elle renvoie
l’écrivain, par une sorte de transfert tragique, aux sources instrumentales de sa création. (26f.)
Die stilistischen Entscheidungen des Autors sind in ihrer Freiheit beschränkt durch den Druck der
allgemeinen Geschichte und der literarischen Tradition. Barthes zeigt diese Korrelation ausführlich
durch eine Analyse der parallelen Entwicklung von Stilgeschichte und politischer Geschichte in
Frankreich von 1830 bis 1870. Eine Schreibweise, die sich aus diesen Zwängen befreit, müsste in
einer illusorischen Absenz von Stil bestehen, eine Art Nullniveau der Ausdrucksweise vorgeben,
wie es Albert Camus in L’Etranger 1942 verwirklicht hat. Gegen die Unfreiheit der historischen
Belastung der Sprache fordert Barthes daher eine Befreiung des Stiles auf dem Degré zéro de
l’écriture, wenn er abschließend ausruft: „La Littérature devient l’Utopie du langage.“ (S. 126) Der
Druck auf die literarische Produktion hingegen, der vom historischen Moment abhängt, liegt nicht
außerhalb des Werkes, sondern, und das ist ein ganz neuer Gesichtspunkt, innerhalb des Werkes,
weil die Sprache von diesen Faktoren mitgeprägt wird:
Les mots ont une mémoire seconde qui se prolonge mystérieusement au milieu des significations
nouvelles. (S. 27f.)
Der heftigste Kritiker von Barthes, Raymond Picard, hat 1965 in Nouvelle critique ou Nouvelle
imposture auf die unbeweisbaren Prämissen dieser Haltung hingewiesen, indem er die Konzeption
des literarischen Werkes bei den Anhängern der Nouvelle Critique folgendermaßen beschreibt:
Ils la [l’œuvre littéraire] considèrent en effet comme une collection de signes dont la signification
est ailleurs, dans un ailleurs psychanalytique (fixé par exemple dans l’enfance de l’écrivain), ou
dans l’ailleurs pseudo-marxiste d’une structure économico-politique, ou dans l’ailleurs de tel ou tel
univers métaphysique qui serait celui de l’auteur, etc. Et bien entendu, cet ailleurs se trouve au
centre même de l’œuvre puisqu’il est sa raison d’être. Ainsi, pénétrée, peuplée, hantée par des
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
mondes qu’elle semble ignorer, et d’autre part prolongée, expliquée, justifiée au-delà d’elle-même,
l’œuvre n’est plus dans l’œuvre. (S. 113f.)
Die einzige Methode, die dieses versteckte und meist auch geleugnete Gedächtnis der Wörter
aufdecken kann, ist laut Barthes die Psychoanalyse. Die Behauptung von Gadamer, dass wir der
Geschichte gehören, wird dadurch präzisiert auf den Bereich des kollektiven Unbewussten, dem wir
über den Gebrauch der an Verdrängungen reichen Wörter unterworfen sind. Wir bedeutet sowohl
Produzenten als auch Konsumenten von Texten, so dass sich die Hermeneutik zur wahren
Entschlüsselung der Bedeutung von sprachlichen Kombinationen der Methoden der Psychoanalyse
bedienen sollte. Barthes hat das beispielhaft 1963 an einer Interpretation der Tragödien Racines
vorgeführt, wo er dessen sattsam bekannte Zweideutigkeit (in Flauberts Dictionnaire des idées
reçues des französischen Bürgertums seiner Zeit steht zu diesem Autor nur schlicht: Polisson!) mit
psychoanalytischen Fragestellungen untersucht. Picard hat in seiner Kritik daran vor allem betont,
dass literarische Werke nicht wie Patienten analysiert werden können, weil sie ja nicht zum
Analytiker sprechen und ihre Analysearbeit selbst leisten. Meines Erachtens wird der
Interpretationsvorgang vielmehr, wenn man sich die Erkenntnis vor Augen hält, dass das Auslegen
des Textes eine Leistung des Rezipierenden ist, zu einer Analyse des Auslegenden und nicht des
Autors. Die Anwendung psychoanalytischer Methoden zur Interpretation von literarischen Werken
ist ein dogmatischer Bumerang, dessen Gefährlichkeit in seiner scheinbaren Objektivität liegt.
Picard nimmt diese Leistung von Barthes eher staunend zur Kenntnis:
La démarche critique de M. Barthes participe donc de deux attitudes bien connues, mais qui
semblent incompatibles, l’attitude impressionniste et l’attitude dogmatique. Traditionnellement, la
critique impressionniste trouvait sa vérité dans les notations personnelles d’un individu – qui se
donnait bien entendu pour exemplaire. Au contraire, la critique dogmatique procédait par
affirmations objectives et universelles. M. Barthes a inventé un impressionnisme idéologique qui est
d’essence dogmatique: c’est la Pythie philosophe. (S. 75f.)
In Crique et vérité, seiner Antwort auf diese Vorwürfe, setzt sich Barthes 1966 mit den
verschiedenen Begriffen der traditionellen französischen Literaturwissenschaft auseinander. Er
weist zunächst darauf hin, dass die geforderte objectivité immer schon eine Entscheidung für ein
bestimmtes Modell darstellt und dass die so genannten évidences der endgültigen Interpretation
vorgreifen, weil sie ein psychologisches oder strukturelles Modell voraussetzen. Dieses Modell
seiner Widersacher besteht laut Barthes in Konzepten eines kollektiven Unbewussten, das von
traditionellen Wertvorstellungen gesteuert wird:
Comment désigner cet ensemble d’interdits qui relève indifféremment de la morale et de
l’esthétique et dans lequel la critique classique investit toutes les valeurs qu’elle ne peut rapporter à
la science? Appelons ce système de prohibitions le ‚goût‘. (S. 23)
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
Die Objektivität hängt daher nicht von der Entscheidung für diesen anerkannten literaturkritischen
Code ab, wie es Barthes bezeichnet, sondern, und in diesem Sinn hat Lanson ja schon ausführlich
Stellung bezogen, von der strengen Anwendung einer Methode. Was Barthes aber darüber
hinausführt in Richtung einer Hermeneutik ist sein Begriff von Wahrheit in der
Literaturwissenschaft, der auf Vorstellungen der strukturalen Sprachwissenschaft aufbaut. Die
Mehrdeutigkeit des sprachlichen Zeichens und besonders die ästhetische Funktion des Symbols
bedingen seines Erachtens eine Offenheit des literarischen Textes, die eine endgültige Auslegung zu
einer Illusion machen muss:
Chaque époque peut croire, en effet, qu’elle détient le sens canonique de l’œuvre, mais il suffit
d’élargir un peu l’histoire pour transformer ce sens singulier en sens pluriel et l’œuvre fermée en
œuvre ouverte. (S. 50)
Die künftige science de la littérature, wie Barthes sie fordert, wird nach der Art von Zeichen, mit
denen sie sich beschäftigt, in 2 große Bereiche unterteilt:
a) die Zeichen innerhalb der Satzgrenze, d.h. sämtliche Merkmale der literarischen Sprache, die
Stilfiguren usw.; b) die über die Satzgrenze hinausgehenden Textabschnitte, d.h. der Aufbau, der
literarische Gehalt usw.:
Grandes et petites unités sont évidemment dans un rapport d’intégration (comme les phonèmes par
rapport aux mots et les mots par rapport à la phrase), mais elles se constituent en niveaux
indépendants de description. (S. 62)
Wobei als poetische Funktion der Teile und des Ganzen, auf ihrer eigenen Ebene und in der
Beziehung zueinander, immer bestimmte Ordnungsprinzipien, ein durchschaubarer formaler Aufbau
als ästhetisches Phänomen erkannt werden soll. Dieses Kriterium des formalen Aufbaus weist
bereits auf Prinzipien des Strukturalismus hin. Warum Barthes aber trotzdem unter dem Abschnitt
Hermeneutik besprochen wurde, geht auf drei Überlegungen zurück: a) er widerspricht dem
Strukturalismus, wenn er, wie oben zitiert, eine historische Relativität der Auslegung und der
Wahrheit betont; b) er sieht Voraussetzungen zum Verständnis des Textes, die außerhalb von
dessen Aufbau liegen, wie z.B. das Gedächtnis der Wörter und das Gedächtnis des Lesers; c) das
literarische Werk bleibt für ihn immer abhängig vom Akt des Lesens, der kein objektiver sondern
ein subjektiv-lustbetonter ist:
Seule la lecture aime l’œuvre, entretient avec elle un rapport de désir. Lire, c’est désirer l’œuvre,
c’est vouloir être l’œuvre [...] (S. 78f.)
Der Text der Philologen ist nur ein Phänotext, eine sprachliche Oberfläche, unter der sich erst eine
erotische Ebene erschließt, die die wahre Faszination der Literatur erklärt: „Le plaisir du texte, c’est
ce moment où mon corps va suivre ses propres idées – car mon corps n’a pas les mêmes idées que
moi.“ (S. 30) schreibt Barthes in Le plaisir du texte 1973.
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
In seinem Konzept vom offenen Kunstwerk beruft sich Barthes explizit auf Umberto Ecos Opera
aperta von 1962, der ähnliche Auffassungen fomulierte. Sein Ausgangspunkt ist ebenfalls die
Mehrdeutigkeit des sprachlichen Kunstwerks:
L’opera d’arte è un messaggio fondamentalmente ambiguo, una pluralità di significati che
convivono in un solo significante. (S. 6)
In seiner Analyse des ästhetischen Stimulus kommt Eco zu dem Ergebnis, dass das Problem in der
Zweiteilung der poetischen Sprache in eine referentielle und eine emotive Funktion sowohl auf der
Ausdrucks- als auch auf der Verständnisebene liegt:
Nello stimolo estetico il ricettore non può isolare un significante per rapportarlo univocamente al
suo significato denotativo: deve cogliere il denotatum globale. Ogni segno apparendo collegato a un
altro e dagli altri ricevendo la sua fisionomia completa, esso significa in modo vago. Ogni
significato, non potendo venire appreso che legato ad altri significati, deve essere percepito come
ambiguo.
Nel campo di stimoli estetici, i segni appaiono legati da una necessità che si appella ad abitudini
radicate nella sensibilità del ricettore (ed è poi quel che si chiama gusto – una sorta di codice
storicamente sistematizzantesi); legati dalla rima, dal metro, da convenzioni proporzionali, da
rapporti istitutivi attraverso il riferimento al reale, al verisimile, al ‘secondo opinione’ o al ‘secondo
consuetudine stilistica’, gli stimoli si presentano in un tutto che il fruitore avverte di non poter
spezzare. (S. 77)
Die Offenheit des Kunstwerks ist also die Grundbedingung seiner Wesenheit, wonach für das
Verständnis ästhetischer Phänomene immer eine Mitarbeit des Aufnehmenden erforderlich wird.
Die Einbeziehung dieser Offenheit kann selbst zu einem poetischen Prozess führen, so dass in der
modernen Literatur schon die Botschaft und nicht nur ihre Entschlüsselung mehrdeutig erscheint:
[...] nel caso di Dante si fruisce in modo sempre nuovo la comunicazione di un messaggio univoco;
nel caso di Joyce l’autore vuole che si fruisca in modo sempre vario un messaggio che di per sé (e
grazie alla forma che ha realizzato) è plurivoco. (S. 84)
Der Erfolg der poetischen Form als kommunikative Handlung hängt von dieser Offenheit ab, weil
gerade dadurch eine Bereicherung an Information geboten wird. In welcher Weise die besondere
Form der literarischen Ausdrucksweise zu einer zusätzlichen Menge an Information wird, illustriert
Eco an dem folgenden Beispiel:
Certe volte, quando io cerco di ricordare alcuni eventi che mi accaddero molto tempo fa mi pare
quasi di rivedere un corso d’acqua; l’acqua che scorreva in tale corso era fredda, e limpida. Il
ricordo di questo corso d’acqua mi impressiona in modo particolare perché vicino a esso andava a
sedersi la donna di cui allora ero innamorato e di cui sono innamorato tuttora. Io sono così
innamorato di questa donna che, per una deformazione tipica degli innamorati, sono indotto a
prendere in considerazione lei sola tra tutti gli esseri umani di sesso femminile esistenti al mondo.
Debbo aggiungere, se mi è permessa l’espressione, che quel corso d’acqua, per il fatto che rimane
associato nella mia memoria al ricordo della donna che io amo (e debbo dire che questa donna è
molto bella) mi ingenera nell’animo una certa dolcezza; ora io, per un altro procedimento comune
agli innamorati, trasferisco questa dolcezza che provo al corso d’acqua per causa del quale la provo:
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
io dunque attribuisco la dolcezza al corso d’acqua come se essa fosse una sua qualità. Questo è
quello che volevo dire; io spero di essermi spiegato.
Francesco Petrarca: Canzoniere CXXVI
Chiare, fresche, e dolci acque
ove le belle membra
pose colei che sola a me par donna;
Zwischen den beiden zitierten Passagen gäbe es keinen Unterschied auf der Ebene der
sachbezogenen Information, daher ist es im zweiten Fall die Originalität der Zusammensetzung, die
diese Botschaft bereichert. Macht in der ersten Passage gerade die Vorhersehbarkeit der äußerst
redundanten und stilistisch neutralen Formulierung die Banalität der Botschaft aus, so besticht im
zweiten Abschnitt umso mehr die originelle Umorganisation der sprachlichen Glieder, ihre
Unvorhersehbarkeit. Eco orientiert sich an Erkenntnissen der Informationstheorie, die sich
mathematisch mit der Berechnung der größtmöglichen Information in der beschränktesten Botschaft
beschäftigt. Dieser Grenzwert, dem man sich durch besondere Kodierung nähern kann, ist nach dem
wichtigsten Theoretiker auf diesem Gebiet als Shannon-Limit bekannt:
How does one approach the Shannon limit? The first step is to eliminate redundancy. Just as a
laconic suitor might write I lv u in his billet-doux, so will a good code compress information to its
most compact form. (John Horgan: Claude E. Shannon. In: Scientific American. January 1990, S.
16f.)
Die größtmögliche Offenheit eines literarischen Textes, seine ideale Kodierung und damit seine
poetische Qualität wird bei Eco offenbar mit diesem Grenzwert gleichgesetzt. Um vom Empfänger
entsprechend entschlüsselt werden zu können, muss sich die Botschaft durch einen besonderen
Aufbau auszeichnen, durch ihre gelungene Form oder, wie Eco auch an manchen Stellen sagt, ihre
Struktur. Es handelt sich dabei um Systeme von Relationen zwischen den unterschiedlichen
Niveaus der Kodierung, die bei Übereinstimmung mit anderen Werken ein übergreifendes Modell
ergeben können. Eco distanziert sich aber auf Grund seiner Definition vom offenen Kunstwerk, das
selbst bei eindeutiger Botschaft die historische Mehrdeutigkeit der Auslegung als Beitrag des Lesers
fordert, explizit vom Strukturalismus:
Se lo strutturalismo avanza la pretesa di poter analizzare e descrivere l’opera d’arte come un
‚cristallo‘, pura struttura significante, al di qua della storia delle sue interpretazioni [...] la nostra
ricerca non ha nulla a che vedere con lo strutturalismo. (S. 13)
Durch seine Auffassung von über der Satzgrenze liegenden Zeichensystemen entwickelt sich Eco
vielmehr in Richtung einer semiotischen Theorie vom literarischen Text.
In einem noch ausgeprägteren Übergangsbereich zwischen Hermeneutik und Strukturalismus als die
schon besprochenen Methoden ist die strukturale Stilistik von Michael Riffaterre anzusiedeln. Er
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
geht in seinem Aufsatz Kriterien für die Stilanalyse 1973 von einer Kritik an Spitzers
psychologistischer Stilistik aus, um den Bereich der Stilanalyse neu zu definieren: „Der Gegenstand
der Stilanalyse ist also nicht einfach der Text, sondern die Illusion, die der Text im Geist des Lesers
schafft. Diese Illusion ist natürlich weder reine Phantasie noch bare Vorstellung: sie wird durch die
Strukturen des Textes bedingt und durch die Mythologie oder Ideologie der Generation oder der
sozialen Klasse des Lesers.“ (S. 178) Stil ist für ihn die Hervorhebung gewisser sprachlicher
Elemente in einer Art, dass sie aus dem Kontext hervortreten und die Aufmerksamkeit des Lesers
erregen. Jede Reaktion eines Lesers müsste demnach auf einen Stimulus im Text zurückführbar sein,
so dass für jedes subjektive Verhalten ein objektiver Grund auffindbar wäre. Um nun nicht nur
diachron sondern auch synchron mit einer möglichst großen und breit gestreuten Anzahl von
Reaktionen arbeiten zu können, erweitert Riffaterre seinen Einzelleser auf eine Versuchsanordnung,
die er archilecteur nennt:
Le groupe d’informateurs utilisé pour chaque stimulus ou pour une séquence stylistique entière sera
appelé archilecteur. ... L’archilecteur est une somme de lectures, non une moyenne. ... L’emploi de
l’archilecteur n’est que le premier stade, heuristique, de l’analyse. (Essais de stylistique structurale.
Paris 1971, S. 46f.)
Es handelt sich dabei um eine Personengruppe, z.B. 50 Studenten, welchen er einen Text vorlegt
und sie auffordert, alle ihnen auffällig erscheinenden sprachlichen Elemente zu notieren. Dieses
Basismaterial dient dann der weiteren Stilanalyse, die auf Grund von Vergleichen mit anderen
Untersuchungen und vor allem mit der Standardsprache der entsprechenden Epoche die Bedeutung
der einzelnen Merkmale festlegt. Stil wird dabei von Riffaterre hauptsächlich als Abweichung von
einer Norm gesehen, so dass sich Beziehungen der Spannung zwischen sprachlichen Elementen
einstellen:
Il s’agit des relations qui s’établissent à chaque lecture du texte entre les mots (aux niveaux
phonétique, morphologique, syntaxique, sémantique, etc.) à mesure que la phrase se déroule sous
l’œil du lecteur, et dont la combinaison confère à certains mots un rôle exceptionnel. (S. 204, Anm.
2)
Durch die Auswahl der stilistischen Mittel gibt der Autor den Lesern Leitlinien vor, auf die die
Leser nach ihrer hermeneutischen Situation reagieren: sie können darauf adäquat reagieren, wenn
dieses Mittel unverändert wirkt, sie können aber dieses Mittel auch überhaupt nicht mehr
wahrnehmen, weil es inzwischen durch exzessiven Gebrauch zum Klischee geworden ist. Beides
ermittelt Riffaterre über den Archilecteur, und beides stellt eine bemerkenswerte Tatsache für die
Stilanalyse dar. Die Methode ist sicher strukturalistisch, insofern sie Relationen im Mikrokontext
und im Makrokontext auffinden möchte, die die besondere Form des literarischen Textes
ausmachen. Sie berücksichtigt Prinzipien der Hermeneutik, wenn sie die historische Relativität der
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Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden
Aufnahme anerkennt und den Leser als veränderbare Größe einbezieht. Eine Einschränkung, die
allgemein für die Vorgangsweise Riffaterres vorgebracht wird, ist seine vorwiegende Analyse der
wörtlichen Oberfläche des Textes, ohne auf die zweite Bedeutungsebene der Konnotation Rücksicht
zu nehmen.
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