Essay: Hermeneutik - UK

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Hermeneutik, Dekonstruktion und Perspektiven der anglistischen Literaturwisschenschaft
Steht auch die explizite Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion nicht
unbedingt im Vordergrund der anglistischen Literaturwissenschaft, so spielen diese doch eine
kontroverse Rolle bei der im Gang befindlichen Neuorientierung des Faches, wobei sich die
Dominanz des dekonstruktivistischen Poles anzuzeigen scheint. Hat erstere - die Hermeneutik
- für mehr als ein Jahrhundert eine Theorie (oder Philosophie) und ein Programm zur
Verfügung gestellt, das trotz aller auseinanderstrebender Interessen im einzelnen die fraglose
Basis der Geisteswisssenschaften und insbesondere der Philologien war, so wurde ebendiese
von letzterer - der Dekonstruktion - radikal in Frage gestellt.
Die Dekonstruktion (oder der Dekonstruktivismus) hat zweifellos einen großen Einfluß
auf die anglistische Literaturwissenschaft - oder auf English Studies - gewonnen, nicht nur auf
die Literaturtheorie und den Textbegriff und auf die Textarbeit. Sie hat auch ihren Anteil an
der Akzentverlagerung des Faches in Richtung auf eine Kulturwissenschaft, und sie hat
grundlegende Konzepte etwa in den gender studies oder im New Historicism mit angeregt.
Der Dekonstruktivismus prägt zweifellos die Literaturwissenschaft, insbesondere die
anglistische, so daß angesichts seiner grundsätzlichen Hermeneutikkritik von einer „antihermeneutischen Wende“ - als Antipode zu der „hermeneutischen Wende“ des 19. und frühen
20. Jahrhunderts - die Rede ist.1
Dennoch ist die Hermeneutik aus der Praxis des Faches, dem Bereich des practical
criticism, nicht verschwunden.2 Es wird auch vermehrt die Forderung erhoben, die Relevanz
des hermeneutischen Paradigmas müsse neu erkannt werden, was bisweilen mit der
Forderung nach einer „neuen Hermeneutik“ verbunden wird, welche den Dekonstruktivismus
integriert.3
Wie eine solche neue Hermeneutik aussehen könnte, kann und soll nicht Gegenstand
dieses Beitrags sein. Wohl geht es mir in diesem Beitrag, der auf einen Vortrag in der Kölner
Ringvorlesung Perspectives of English Studies im Wintersemester 2002/03 zurückgeht,
darum, eine Lanze dafür zu brechen, daß auch bei der Neuausrichtung der Anglistik - genauer
der anglistischen Literaturwissenschaft - eine hermeneutische Fundierung oder Orientierung
unverzichtbar ist. Ich will zu diesem Zweck versuchen, das Selbstverständnis und die
Prinzipien von Hermeneutik und Dekonstruktion zu skizzieren und kritisch zu vergleichen,
um auf dieser Basis meine Argumentation zu entwickeln. Obschon ich keine historische
Darstellung von Hermeneutik und Dekonstruktion geben will, möchte ich – zwecks
Vgl. Richard Shusterman, „Interpretation, Intention, Truth“, The Journal of Aesthetics and Art Crtiticism 46
(1988): 300 - 410; hier 399. Shusterman spricht allerdings auch von einem neueren „intentionalist backlash“. Manfred Frank beschreibt die „hermeneutische Wende“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert: „Diese Wende
bestand in der grundsätzlichen Reflexion auf Deutungsabhängigkeit jeder, auch der automatisierten
Sinnzuweisung und der Maxime, nichts für selbstverständlich zu halten. („Vieldeutigkeit und Ungleichzeitigkeit:
Hermeneutische Fragen an eine Theorie des literarischen Textes“, Sprache und Literatur in Wissenschaft und
Unterricht 57 (1986): 20 - 30; Zitat 20.
2
Vgl. I. A. Richards, Practical Criticism (New York 1952).
3
Manfred Frank widmete sich einer solchen Aufgabe und äußerte die Hoffnung, daß eine „reformulierte
Hermeneutik der zeitgenössischen, zwischen zwei divergierenden methodologischen Optionen zerspaltenen
Literaturwissenschaft zur Rückgewinnung ihrer theoretischen Praxis verhelfen könnte.“ (Das individuelle
Allgemeine: Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher (Frankfurt/M. 1985) 11). - Mit
ähnlicher Intention spricht Werner Jung von einer „neuen Hermeneutik“ ( „Neuere Hermeneutikkonzepte“, in:
Literaturtheorie: Eine Einführung, ed. Klaus-Michael Bogdal (Opladen 1990)154 - 175; 156). - Bogdal glaubt
nicht, daß sich solche Hoffnungen erfüllen („Problematisierungen der Hermeneutik im Zeichen des
Poststrukturalismus“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, ed. Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering
(München 1996) 139). - Gleichermaßen skeptisch äußert sich Gerd Gemünden in seiner Auseinandersetzung mit
M. Frank („Der Unterschied liegt in der Differenz: On Hermeneutics, Deconstruction, and Their Compatability“,
New German Critique 48 (1989): 176 - 192; hier 190 - 192.)
1
1
Konkretion und historischer Verortung – aus dem Werk einiger ihrer markantesten Vertreter
einige Aspekte hervorheben, die in ein solches allgemeines Bild der beiden Denkrichtungen
und Ansätze eingehen, wie es sich mir heute darstellt.
Die Hermeneutik als eine dem Experten als Vermittler, „Interpreten“, vorbehaltene
kunstgerechte Auslegung kanonischer Schriften ist seit der Zeit Platons bekannt, in der sie
wegen des zeitlichen und kulturellen Abstands vor allem auf Homer angewandt wurde. Im
Mittelpunkt der Exegese stand lange Zeit natürlich die Bibel. Besondere Anschübe erhielt die
Hermeneutik der Neuzeit dann durch Luther und die protestantische Theologie, welche die
allegorische Exegese ablehnte zugunsten einer vorwiegend kontextuell verstandenen
Selbstauslegung der Hl. Schrift, und durch das starke Anwachsen und die Diversifizierung
von säkularer Literatur und Leserschaft im 18. Jh., die eine fachkundige Vermittlung
angeraten erschienen ließen. Es ist dann die Romantik, die mit ihrer Subjektphilosphie und
ihrem symbolischen und expressiven Verständnis von Kunst – anstelle eines mimetischdidaktischen – die Ausbildung einer Hermeneutik als universale, auf alle Manifestationen des
menschlichen Geistes, alle „Lebensäußerungen“ in der Terminologie Diltheys, gerichtete
Philosophie des Verstehens hervortrieb.4
Als eigentlicher Begründer dieser „neuen Hermeneutik“ wird seit Dilthey F.
Schleiermacher genannt.5 Im Mittelpunkt steht dabei seine Universalisierung des
Mißverstehens, seine Unterscheidung zwischen einer „laxeren Praxis“ der Hermeneutik, nach
der die Verständlichkeit eines Textes als Regel und das Mißverständnis als
aufklärungsbedürftiger Einzelfall angesehen wird, und einer „strengeren Praxis“, die davon
ausgeht, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und das Verstehen auf jedem Punkt
muß gewollt und gesucht werden“.6 Für eine heutige Hermeneutik erscheint mir neben diesem
allgemeinen Ausgangspunkt sein wichtigster Beitrag in dem zu liegen, was Manfred Frank im
Begriff des „individuellen Allgemeinen“ zusammenfaßt.7 Der Text ist insofern ein
Allgemeines, als der Sprecher oder Autor von der grammatischen und konzeptuellen Struktur
seiner Sprache abhängt, konditioniert ist; aber er ist nicht völlig von ihr determiniert; vielmehr
gestaltet er sie auch in einem individuellen, intentionalen und sinngebenden Akt (der
Erzeugung eines Textes). Im Hinblick auf Sprecher und Sprache sagt Schleiermacher: „Er ist
ihr Organ, und sie ist seins.“8 Diesen reziproken „Akt“ zu rekonstruieren, bedeutet den Sinn
zu erschließen. Dazu sind die grammatische Auslegung (die Analyse des sprachlichen
Systems und Kontexts) und die psychologische Auslegung (die Analyse des
Entstehenskontexts, Studien zum Autor etc.) notwendig. - Ein zweiter Grundgedanke besteht
in dem, was wir heute Codeüberschneidung nennen würden, d.h. die Übereinstimmung „in
der Sprache und im Denken des Sprechenden und des Hörenden“. Verstehen ereignet sich nur
- und auch da ist Schleiermacher sehr modern - bei einer partiellen Übereinstimmung. Bei
voller Übereinstimmung wäre Verstehen nicht nötig, bei vollem Auseinanderklaffen nicht
möglich. Hinsichtlich des Denkens hält Schleiermacher allerdings beide Extreme für
theoretisch, so daß Verstehen zur grundlegenden zwischenmenschlichen Tätigkeit wird.9
Schleiermacher begründet damit einige allgemeine Prinzipien der Hermeneutik: 1. Texte
werden als Materialisierungen kommunikativer Akte betrachtet, die verstanden werden
4
Vgl. Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik (Darmstadt 2001) 99f.
Vgl. Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik (Frankfurt/M. 1975) 135f. Szondi selbst
relativiert die Bedeutung Schleiermachers.
6
Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik, ed. Heiner Kimmerle (Heidelberg 1958) 86f.
7
Frank 1985. Vgl. Schleiermacher 1958, 37: “Man kann ein Gesprochenes nicht verstehen ohne das
Allgemeinste, aber auch nicht ohne das persönlichste und besonderste“.
8
Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, ed. Manfred Frank (Frankfurt/M. 1977) 86f.
9
Schleiermacher 1977, 178. Vgl. Peter Rusterholz, „Zum Verhältnis von Hermeneutik und neueren antihermeneutischen Strömungen”, in: Grundzüge 157-179; 157f. In fast gleicher Formulierung findet sich diese
Idee in aphoristischer Weise in Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. VII: Der Aufbau der geschichtlichen
Welt in den Geisteswissenschaften (Stuttgart/Göttingen 1958) 225.
5
2
wollen. 2. Sie sind Teile eines sprachlichen und kulturellen Systems, aber auch individuelle
Phänomene, die einem individuellen Gestaltungs- und Ausdruckswillen entspringen. 3. Der
auf sie gerichtete Verstehensprozeß hat notwendigerweise einen dialogischen Charakter: Der
Text stellt Fragen an uns, und wir richten Fragen an ihn, ein Prozeß, den Schleiermacher mit
dem verständnissuchenden Gespräch vergleicht, das wir miteinander und mit uns selbst
führen.10
Für Wilhelm Diltheys Bedeutung in der Geschichte der Hermeneutik wird vor allem sein
Versuch der methodischen Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und
der theoretischen Grundlegung der ersteren als eigenständiger Wissenschaft verantwortlich
gemacht, wobei die Opposition zwischen Verstehen und Erklären die zentrale Rolle spielt.
Dies erscheint in Diltheys kategorialer Form heute als fragwürdig. Für die heutige Rolle der
Hermeneutik möchte ich aber die folgenden Gedanken Diltheys hervorheben: Verstehen hat
für ihn als Geschichtsphilosophen vor allem eine historische Dimension. An Schleiermacher
anknüpfend, aber dies stärker betonend, erweitert er den hermeneutischen Zirkel in die
Geschichte. Dessen traditionelles, vor allem durch die protestantische Tradition der
Bibelauslegung begünstigtes, Verständnis betraf ja das dialektische Verhältnis zwischen dem
Ganzen und seinen Teilen. Das Einzelne des Textes wird aus dem sich allmählich
erschließenden Ganzen verstanden, dessen Verständnis wiederum durch das begreifende
Erfassen einer wachsenden Zahl von Details ansteigt. – Dazu kommt jetzt das Bewußtsein,
daß der Text insgesamt nur aus dem Horizont seiner Epoche verstanden werden kann, deren
Verstehen wiederum aus den studierten Texten resultiert. Individuum, historisch-kulturelle
Epoche und Texte als kulturelle Zeugnisse sind „in sich zentriert“, aber auch Teil des
„Wirkungszusammenhangs der Geschichte“. Beides ist für ihr Verstehen relevant, ihre
eigentliche Bedeutung allerdings liegt in ihrem Sinn in der Geschichte.11
Eine andere, dritte Dimension des hermeneutischen Zirkels (wenn auch von Dilthey nicht
explizit formuliert) betrifft die Rolle des Erkenntnissubjekts. Dilthey spricht dem Subjekt im
Prozeß des Verstehens eine aktive Rolle zu. Sie kann als „Empathie“ im Sinne des Einfühlens
in fremde Individuen und fiktionale Charaktere verstanden werden. Dies erfuhr viel Kritik als
reine Projektion und als kurzschlüssige Einverleibung des Textes.12 Dilthey spricht jedoch
bewußt von einem Sich-Hineinversetzen in die Welt des Textes, in der zwar auch Individuen
nacherlebbar, aber erst in ihrer Interaktion mit den kulturellen Ordnungen verstehbar werden.
„Der objektive Geist [die geschichtlich gebildeten kulturellen Ordnungen] und die Kraft des
Individuums bestimmen zusammen die geistige Welt. Auf dem Verständnis dieser beiden
beruht die Geschichte.“13 Dilthey spricht vom „Nacherleben“ oder „Nachbilden“ der
Textwelten. Dies ist ein konstruktiver Akt, der das Subjekt mit ihm sonst unzugänglichen
Erfahrungshorizonten konfrontiert und damit der „Determination“ entgegenwirkt, die der
„Lebenslauf [...] an jedem Menschen [vollzieht]“. Das Verstehen „des Geschichtlichen“ und
der Kunst versetzen den Menschen „in Freiheit“.14 Auch wenn Dilthey hier natürlich nicht
von der Idee des interkulturellen Lernens im heutigen Sinne spricht, erscheint mir sein
10
Vgl. Grondin 2001, 110-112.
Dilthey geht vom „Wirkungszusammenhang“ der Geschichte in den einzelnen Epochen aus. Letztere
übernehmen Elemente aus der Geschichte und integrieren sie – „in sich selbst in einem neuen Sinn zentriert“ –
auf neue Weise. Ebenso realisiert das einzelne Individuum diesen Wirkungszusammenhang in seinem
„Lebenslauf“, in dem dieser sich, wie in der Kultur einer Epoche insgesamt, in der „Setzung von Zwecken,
Gütern und Normen“ ausdrückt. Das „Werk“ der Kunst schließlich trägt in analoger Weise „sein eigenes Leben
und Gesetz in sich“ (die „Gesetze der dichterischen Komposition“) und muß aus ihnen verstanden werden, aber
auch aus eben dem „Wirkungszusammenhang“ der Geschichte, der sich auch in ihm erfüllt (Dilthey 1958, 153157). Vgl. auch Bogdal 1996, 143.
12
Vgl. Peter Rusterholz, “Hermeneutische Modelle”, in: Grundzüge 101-136; hier 117-119.
13
Dilthey 1958, 213.
14
Dilthey 1958, 208-213; Zitat 215 und 216; vgl. auch 214: “Die Seele geht die gewohnten Bahnen [...]
Unzählige Wege sind offen in Vergangenheit und in Träume der Zukunft; von den gelesenen Worten gehen
unzählige Wege der Gedanken aus.”
11
3
universalgeschichtliches Verständnismodell potentiell transkulturelll angelegt und kann als
Vorbereitung eines fundamentalen Prinzips des interkulturellen Lernens verstanden werden.
Gemeint ist das des Perspektivenwechsels, der in der Fachdidaktik zweifellos zu einem
Neuaufstieg des hermeneutischen Ansatzes geführt hat.15
Eine weitere zentrale, auch oft kritisierte Vorstellung Diltheys stellt die von der Kunst als
Lebensdeutung dar. Auch hier ist jedoch der Zusammenhang zu beachten, in dem Dilthey
diese Maxime ausdrückt und der auch heute noch, gerade im Blick auf die Dekonstruktion,
bedenkenswert ist: Gemeint ist Diltheys Beschreibung seines positivistischen Zeitalters, das er
mit einem Fabrikbetrieb mit Fließbandarbeit vergleicht. In dieser Gesellschaft sei „der mit der
isolierten Technik seines Einzelberufs Ausgerüstete in der Lage eines Arbeiters, der ein Leben
hindurch an einem einzelnen Punkte dieses Betriebs beschäftigt ist, ohne die Kräfte zu
kennen, welche ihn in Bewegung setzen, ja ohne von den anderen Teilen des Betriebs und
ihrem Zusammenwirken zu dem Zwecke des Ganzen eine Vorstellung zu haben“. Dies führe
zu einem „Chaos im Innenleben der Menschen. Sie werden in eine dunkle, unerklärliche und
als empirisches Datum hinzunehmende Welt von Antrieben und Gefühlen versenkt ohne ein
Element des Gemeinen und Vernünftigen in sich.“ Ähnlich wie Matthew Arnold weist
Dilthey der Kunst, der Literatur, insbesondere aber den Geisteswissenschaften, die Funktion
zu, sich um die Herstellung dieses Zusammenhangs zu bemühen.16
Mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer vollzieht sich im 20. Jahrhundert die
eigentliche, von Dilthey bereits vorbereitete „ontologische Wende“ der Hermeneutik.17 Beide,
aufeinander aufbauend, übten einen entscheidenden Einfluß auf die Literaturtheorie aus,
obschon z.B. Uwe Japp den praktischen Einfluß der ontologischen Hermeneutik auf die
Literaturwissenschaft für gering hält.18
Aus Heideggers Werk möchte ich nur einen für meine Argumentation zentralen Gedanken
herausstellen, auf den ich in meinem Schlußteil zurückkomme. Heidegger rückt, worin ihm
Gadamer folgt, die existentielle Bedeutung des Verstehens in den Mittelpunkt der
Hermeneutik. Verstehen bezieht sich auf alle Lebensbereiche, realisiert sich aber
exemplarisch in Kunst und Literatur (worauf auch Heideggers eigene Interpretationen
hinweisen). Für Heidegger vermittelt das Verstehen zwischen Dasein und Sein (zwischen uns
Menschen als Seienden und unserem uns nur in Verstehensakten zugänglichen Sein). „Das
Dasein entwirft im Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten hin.“ „Auslegung ist Ausarbeitung
solchen bewußt gewordenen Verstehens“; und durch „Rückschlag [des Verstehens] in das
Dasein wird dieses ein Sein-Können.“ Solches Verstehen wird immer von „Fremdem“, z.B.
der Kunst, „angestoßen“ (oder: „erhält einen Stoß“). Dies eröffnet dem Menschen eben die
Möglichkeiten des Seins, auf die hin er sich entwerfen kann, gibt also dem Menschen die
Möglichkeit zu „sein“ und damit, nach Heidegger, auch zu handeln. Es ist für Heidegger
daher ein Existential.19
Gadamer unterstreicht diese Auffassung des Verstehens.20 Auch für ihn vollzieht sich
Verstehen im Lebenszusammenhang von Subjekt und Objekt. Er bezieht dies aber wieder
stärker auf die historische Dimension.21 Eben weil wir von der Geschichte geprägt sind, ist die
grundsätzliche Voraussetzung für Verstehen gegeben, finden wir im zeitlich entfernten Text
trotz seiner Fremdheit das Eigene wieder, kann es also zur „Horizontverschmelzung“
15
Vgl. Lothar Bredella und Herbert Christ (ed.), Didaktik des Fremdverstehens (Tübingen 1998).
Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. I: Einleitung in die Geisteswissenschaften (Stuttgart/Göttingen
1958) 3. Nach Rusterholz 1996, 117f. Eine ähnliche Forderung erhebt Habermas; vgl. diese Arbeit S. 15.
17
Vgl. Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I: Wahrheit und Methode (Tübingen 1992) 270f.
18
Uwe Japp, “Hermeneutik”, in: Literaturwissenschaft: Ein Grundkurs, ed. Helmut Brackert und Jörn Stückrath
(Reinbek, 4. Aufl. 1996) 581-593; hier 590f.
19
Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen 2001) 32; 148-153.
20
Vgl. Hans-Georg Gadamer, “Text und Interpretation”, in: Text und Interpretation, ed. Philippe Forget
(München 1984) 24-55; hier 25f.; Wahrheit und Methode (1990) 263f.
21
Vgl. Gadamer 1990, 268f.
16
4
kommen, und im Zuge dieses Prozesses werden wir uns unseres Platzes in der Geschichte, in
der Tradition, bewußt.22 Dies birgt für Kritiker wie Jürgen Habermas die Gefahr eines
unkritischen, „ideologischen“ Verstehens der kulturellen Tradition. Ein Beispiel: In der
Rezeption der bürgerlichen Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts z.B. lerne ich die Geschichte
des bürgerlichen Idealismus verstehen. Und gleichzeitig verstehe ich mich selbst mehr und
mehr in Termini dieser Ideologie. So kommt es über sich wiederholende Akte der Fusion zu
einer immer ausgedehnteren Horizontverschmelzung zwischen mir und meiner kulturellen
Tradition. Dies würde auf ein rein affirmierendes Verstehen hinauslaufen. Hinzutreten muß
daher nach Habermas ein Hinterfragen der Prämissen des Verstandenen selbst mit Hilfe der
übergeordneten „kritischen Vernunft“ im Prozeß der „Tiefenhermeneutik“.23
Hinsichtlich des hermeneutischen Zirkels postuliert Gadamer öfters einen „Vorgriff von
Vollkommenheit des Sinns“, also die Antizipation einer vollkommenen Einheit von Sinn, der
wir uns im stetigen Durchlaufen des Zirkels immer mehr annähern.24 Andererseits verneint
Gadamer die Möglichkeit eines letztendlichen Ankommen bei dieser Sinntotalität des Textes
entschieden, so wie es auch schon Schleiermacher tat.25 Noch stärker relativiert er diese
Vorstellung in seinem berühmten Treffen mit Jacques Derrida 1986; hier betont er die
Polysemie der Zeichen und die strukturelle Komplexität der Texte – vor allem literarischer
Texte, die Gadamer durchaus im Sinne von Roman Jakobson als „selbstpräsent“ bezeichnet,
die also als ästhetische Gebilde hervortreten und nicht hinter ihrer Mitteilungsfunktion
verschwinden26 - ebenso wie die Interessenvielfalt der Interpreten so stark, daß er die
„Sprachlichkeit des Verständigungsgeschehens“ als „eine unübersteigbare Schranke“
bezeichnet. Er hält aber letztendlich an der Möglichkeit oder an der Annahme eines
einheitlichen Sinns als Voraussetzung des Verstehens und an der existentiellen Notwendigkeit
des Verstehens fest.27
Unaufhebbare Fremdheit und mögliche verstehende Verständigung halten sich hier die
Waage. Im Bild von „Brücke und Schranke“ für „Sprachlichkeit“ bringt Gadamer das zentrale
Moment der „ontologischen Hermeneutik“ zum Ausdruck: Für den Aufbau von „Selbstigkeit“
ist „Kommunikation“ mit der „Andersheit“ existentiell notwendig; dieses wiederum ist nicht
möglich ohne Verstehen als letztes Telos.28 Sinn wird in der Kommunikation gefunden, ist
aber nichts metaphysisch Präsentes, vielmehr im Heideggerschen Sinne „ein beständig sich
wandelnder Versuch oder „eine [...] Versuchung, sich auf etwas einzulassen und sich mit
jemandem einzulassen“.29 Sinn also muß von jedem Interpreten für sich gewonnen und
verhandelt werden.
Für diesen Prozeß ist nach Heidegger die „Vorhabe“ eine entscheidende Voraussetzung.
Wir können hierunter die ernsthafte Interpretationsfrage verstehen, die ein sinnvolles
Gespräch mit dem Text allererst ermöglicht. Robert Magliola, von Heidegger ausgehend, legt
am Beispiel einer Interpretation der Kurzgeschichte „The River“ von Flannery O’Connor dar,
daß dies eine Frage ist, die für den Fragenden relevant und dem Text angemessen ist.30 Nur
sie setzt das dialogische Verfahren des Zirkels in Gang und erfüllt damit Heideggers Diktum:
22
Vgl. Gadamer 1990, 270-312.
Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften (Tübingen 1967); vgl. bes. 169f.
24
Gadamer 1996, 296. Das Bild einer “hermeneutischen Spirale” wird hier nahegelgt.
25
Vgl. Grondin 2001, 107.
26
Vgl. Gadamer 1984, 49f.
27
Gadamer 1984, 39.
28
Gadamer 1984, 31.
29
Gadamer 1984, 29.
30
Robert Magliola, „Ground and Common(s), and a Heideggerian Recension", Papers on Language and
Literature 17 (1981): 80-87; (einer von vier Beiträgen zu: „A Symposium: Hermeneutics, Post-Structuralism,
and ‚Objective‘ Interpretation“, 48-87).
23
5
„Ihn [den Zirkel – wegen der Gefahr der Zirkularität] vermeiden zu wollen, hieße das
Verstehen mißzuverstehen. Es geht darum, auf rechte Weise in ihn hineinzukommen.“31
Sinnfindung, Erschließen der Bedeutungsdimensionen des Textes, Dialog mit dem Text,
in dem letzterer ein gleichberechtigter Partner ist – ein solches Konzept des Verstehens oder
der Möglichkeit eines solchen Verstehens wird nun von der Dekonstruktion radikal in Frage
gestellt. Das gilt dann auch für den Begriff des Textes selbst als einem festen „Gebilde“, als
etwas „Bleibendem“, an dessen „Verständlichkeit“ immer neue Interpreten arbeiten, indem
sie „ihre Gründe beibringen“ und dann wieder hinter dem Text verschwinden, wie es
Gadamer in seinem Pariser Vortrag darstellt.32 In der Dekonstruktion wird dem Text Einheit
und Fixierung abgesprochen, der Begriff des Textes verliert seine Bedeutung ebenso wie der
der Interpretation, da der Interpret, der jetzt kein „Interpret“ mehr ist, aus seiner Dienst- und
Vermittlungsfunktion herausgeholt und in die volle Freiheit eines souveränen Spielers in der
Welt der „Texte“ versetzt wird, in die auch sein eigener Text gleichberechtigt eintritt. In der
Auseinandersetzung mit dieser Position konzentriere ich mich auf Derrida und die Yale
Critics – genauer gesagt auf Paul de Man und John Hillis Miller -, um auch hier, soweit es der
Raum zuläßt, möglichst konkret und pointiert, vielleicht überspitzt, die Aspekte
herauszustellen, die meine Thesen einleuchtend machen, daß die Notwendigkeit eines
hermeneutischen Grundansatzes gerade in der Konfrontation mit der Dekonstruktion evident
wird.
Ich beginne mit Jacques Derrida, der ebenso wie Gadamer auf Heidegger aufbaut, ihn aber
in Richtung Nietzsche radikalisiert. - Derridas Dekonstruktion möchte ich unter drei Aspekten
zusammenfassen:33
1. Derrida revidiert die in der abendländischen Philosophietradition herrschende
Unterordnung der Schrift unter das Wort bzw. die gesprochene Sprache, den abendländischen
„Logo- oder Phonozentrismus“, den er von Platon bis zu de Saussure zu beobachten glaubt. In
Platons Dialog Phaidros stuft Sokrates die Schrift unter die „lebendige Sprache“ – den Dialog
– herab, da sie eine Mimesis auf dritter Ebene darstellt, vor allem aber da sie von Sprecher
und Hörer, also vom Kommunikationsakt abgetrennt ist: „Sie weiß nicht, von wem sie spricht
und zu wem sie reden will. Befragt, weiß nicht zu antworten.“ Die Lösung aus dem
Kommunikationsakt macht die Schrift, das Geschriebene, uneindeutig, unzuverlässig. Wer sie
verstehen will, muß sie auf das zu rekonstruierende „Gespräch“ zurückbeziehen.34
Derrida knüpft explizit an diesen Dialog Platons an, kehrt aber die hierarchische
Beziehung um. Die Schrift geht der Sprache voraus, Sprache existiert primär als Schrift. 35 Die
Bedeutung einer solchen Umkehrung läßt sich vor Augen führen, wenn wir sie auf den
Beginn des Johannes-Evangeliums bezögen, das wir dann umschreiben müßten: „Am Anfang
war das Wort“ wird zu „Am Anfang war die Schrift“. Von diesem Anfang aus entstände eine
andere Art von „Evangelium“. Am Anfang steht nicht mehr ein transzendentes wollendes
Wesen und sein intentionaler, seinen Sinn verwirklichender Akt, sondern die Schrift, ein
(anonymes) System. Derrida negiert also, daß Schrift – als Text – Niederschlag eines
31
Heidegger 2001, 153.
Gadamer 1984, 45-55. Gadamer sucht dies selbst in seiner Interpretation der letzten Zeile von Mörikes “Auf
eine Lampe” zu demonstrieren. Das letzte Zitat – aus dem Schlußsatz des Vortrags – ist von mir syntaktisch
verändert.
33
Eine solche Zusammenfassung verbietet sich allerdings vom dekonstruktivistischen Standpunkt her, und sie ist
im Falle von Derrida auch risikoreich; vgl. Gary B. Madison, “Beyond Seriousness and Frivolity: A Gadamerian
Response to Deconstruction”, in : Gadamer and Hermeneutics, ed. Hugh J. Silverman (New York/London 1991)
119-135; 120: “I do not pretend to know what Derrida means, wants to say, and am not surprised when he
intimates that there is nothing he wants to say, that the whole vouloir-dire is a hopelessly metaphysical notion.”
34
Platon, Phaidros, 275 E/276 A. Sokrates bzw. Platon nehmen hier die modernen Begriffe der
“Entkontextualisierung” bzw. der “Situationsabstraktheit” als diskutierte Kriterien für den literarischen
(fiktionalen) Text vorweg.
35
Jacques Derrida, “La pharmacie de Platon”, in: La dissémination (Paris 1972).
32
6
intentionalen sinnvermittelnden Aktes (eines Logos) oder – als Geschriebenes insgesamt –
vieler solcher intentionaler Akte ist. Vielmehr ist dieser Akt bereits ein Moment der Schrift,
eine „Stelle“ in ihrem „System“.36
Der Kommunizierende beherrscht die Schrift nicht als gehorsamen Code, er ist ihr
ausgeliefert. In den Vordergrund tritt ihre Materialität und ihre Strukturalität. Sie wird als
strukturales System, nicht als Realisierung oder Niederschlag performativer Akte betrachtet.
Schrift ist ein semiotisches System. Die „Welt“ begegnet dem Menschen ausschließlich in
Form solcher semiotischer Systeme; denn alles, was ihm begegnet, ist ihm durch Sprache
bzw. Schrift vermittelt; d.h. er ist umgeben von Systemen von Interpretationen, die auf andere
Interpretationen verweisen.
2. Derrida verkennt trotz der Betonung der Materialität der Zeichen nicht deren
Verweisungscharakter. Die Zeichentheorie de Saussures, die er immer noch in der
abendländischen logozentrischen Tradition befangen sieht (Überordnung der Sprache,
zweiseitiges Zeichenmodell: der Zeichenkörper dient dem Verweis auf die Sache und
verschwindet hinter ihr), dekonstruiert Derrida von innen mit Hilfe der Begriffe der
Arbitrarität und der Differenz, die bei de Saussure selbst wesentlich sind. Die Zeichen sind
keine festen Substanzen an einem fixen Platz der Struktur (so daß sie immer auf dasselbe
verweisen könnten), sie gewinnen ihre jeweilige Identität (und damit auch ihre jeweilige
Signifikanz oder Funktion) aus der Differenz zu den anderen Zeichen. Da die Differenz aber
keine „Präsenz“ ist, befinden sich die Zeichen – etwa die Wörter der Sprache – in einem
freien Spiel, in dem sie ihre Signifikation chamäleonartig verändern. Auf der Ebene der
Signifikate nimmt Derrida dieselbe auf Differenz beruhende Struktur an, so daß sich auch dort
keine feste Identität ergibt. Zeichen sind daher bei ihrer Wiederholung im aktuellen
Benutzungsakt nicht stabil, vielmehr sind sie einem unendlichen fröhlichen Spiel der
ständigen Fluktuation unterworfen. Bedeutung, Sinn, wird jeweils durch momentanes
Verharren in einem bestimmten Kontext suggeriert, aber nie garantiert, vielmehr immer
alsbald aufgehoben.37
Derrida benutzt für seinen Kernbegriff der Differenz im Französischen den Terminus
différance, ein Kunstwort, das seine grundlegenden Ideen anzeigt: 1. Es verweist auf den
Primat der Schrift; 2. es denotiert als Partizip von differér sowohl unterscheiden als auch
aufschieben; 3. es signalisiert – als Partizip – den Prozeßcharakter.38
3. Dieses freie Spiel und das mit ihm verbundene endlose Aufschieben von Sinn ließe sich
nur anhalten, wenn in einem Akt von Willkür und Macht ein Element bestimmt würde, das
eine eigene, intrinsische, von der Struktur unabhängige Identität besäße und nicht mehr am
Spiel der Zeichen teilnähme, da es nur auf sich selbst verwiese. Ein solches transzendentes
Zentrum würde mit seinem festen Platz das Spiel blockieren, die Struktur einfrieren und so in
einer festen Begrenzung und einer fixen Ordnung erstarren lassen. Nur dies aber würde den
(jetzt fixierten) Zeichen und ihren Relationen einen festen, wiederholbaren, ebenfalls
transzendenten Sinn verleihen. Die Setzung eines solchen Zentrums, Ursprungs oder Grunds
entspringt nach Derrida der Angst vor dem unbeherrschbaren Spiel. Er bezeichnet die
Geschichte der abendländischen Metaphysik als die aus der Angst geborene Suche nach
Konzepten, mit denen sich dieses transzendente Zentrum besetzen ließ, „ – eidos, arche, telos,
energeia, ousia (essence, existence, substance, subject), aletheia, transcendentality,
consiuosness, God, man, and so forth.“39
36
Jacques Derrida, Grammatologie (Frankfurt/M. 1983) insbes. 19-26, 65, 83. Vgl. Rusterholz 1996,162-167.
Derrida 1987, 19-65; vgl. Caroline Pross und Gerald Wildgruber, “Dekonstruktion”, in: Grundzüge 409-429;
hier 411-416.
38
Jacques Derrida, “Différence” in: Margins of Philosophy (Chicago 1972) 1-27.
39
Jacques Derrida, “Structure, Sign, and Play in the Discourse of the Human Sciences”, in: Modern Criticism
and Theory: A Reader, ed. David Lodge (Harlow 1988) 88-103; Zitat 91.
37
7
Es wird deutlich, daß die Philosophie Derridas auf dem Weg einer Sprachphilosophie
letztendlich auf ein Zu-Ende-Führen von Heideggers Dekonstruktion der Metaphysik abzielt.
Dekonstruiert werden sollen vor allem die Prinzipien der binären Opposition und der
Hierarchie.
Die
Dekonstruktion
der
Opposition
und
des
hierarchischen
Überordnungsverhältnisses zwischen Sprache und Schrift, Bezeichnetem und
Bezeichnendem, Zentrum und Rand legt hierfür die Grundlage. Von einem Verstehen im
Sinne eines Erschließens eines von der Struktur ablösbaren Sinns oder im Sinne einer
Rekonstruktion eines intentionalen komplexen Sprechakts kann keine Rede mehr sein. Der
Idee Gadamers von einem sich in konzentrischen Kreisen ausweitenden Verstehen setzte
Derrida - bei der gemeinsamen Tagung in Paris 1986 - seine Idee eines sich in Brüchen oder
Sprüngen vollziehenden jeweiligen, vorübergehenden, Verstehens entgegen.40
Die Yale-Critics dürfen als die exponiertesten und einflußreichsten Dekonstruktivisten in
den USA angesehen werden. Sich auf sie zu konzentrieren, ist in unserem Zusammenhang
sinnvoll, da sie unmittelbar von Derrida inspiriert wurden und seine Philosophie auf die
Interpretation literarischer Texte bezogen. Interpretation dient jetzt der Dekonstruktrion der
traditionellen Vorstellung von einer – organischen oder funktionalen – strukturellen – Einheit
des Textes und eines notwendigerweise auf eine solche angewiesenen Sinns.
Paul de Man und J. Hillis Miller betreiben ihre Dekonstruktion in einer akribischen, einer
– in den Worten von Roland Barthes – zeitlupenhaft verlangsamten Lektüre der Texte.41
Dabei stößt de Man auf eine „konstative“ Seite des Textes, d.h. die von den Worten des
Textes in ihrem syntaktischen Zusammenhang vermittelte referentielle Bedeutung, die ihm als
sprachlicher Äußerung durchaus eigen ist. Jeder Text, besonders aber der literarische,
offenbart dem Leser jedoch auch eine figurative oder „rhetorische“ Seite, die ihre eigene
Bedeutung hat bzw. die einen zweiten, „performativen“ Akt konstituiert. Und deren „Sinne“,
„what the text says and what the text does“, sind so widersprüchlich, daß der Text seinen
ständig erzeugten Sinn auch ständig wieder aufhebt. Dies demonstriert de Man vor allem mit
Hilfe einer eindringlichen, aber auch eigenwilligen Analyse der Metaphern des Textes.42 So
wird in seiner bekannten Interpretation von Shelleys „The Triumph of Life“ die Lektüre des
Textes als Ausdruck der Unmöglichkeit eindeutiger Signifikation auf eine sich immer weiter
verästelnde, gleichzeitig aber höchst spekulative und von einer Reihe autoritativer Setzungen
vorangetriebene Analyse und Deutung der Bildersprache der Passage 343-418 aufgebaut, in
der Rousseau von seiner Begegnung mit „a shape all light“ berichtet und die de Man zur
Kernstelle des Werks ausruft. Vom Kontext her naheliegende „einfachere“ Bedeutungen
werden nicht bedacht, ein Anschluß an traditionellere Interpretationen (Abrams, Reimann)
findet kaum statt; und die Interpretation ist allein auf das Ziel ausgerichtet, die
Undurchdringlichkeit der Textur des Werks auszuweisen und es damit als exemplarischen
40
Gadamer in Forget 1984, 24-55, bes. 45f.; Derrida ibid., 57, 62-67 und 73-77.
De Mans Anliegen ist die Analyse der Lektüre, nicht eine Literaturtheorie oder eine Auseinandersetzung mit
Theorien, z.B. der Hermeneutik. Mit Bezug auf seine akribische Lektüre spricht er von “Return to Philology”
(“The Resistance to Theory”, in Lodge 1988, 331-34). – Assmann sieht im Dekonstruktivismus eine Wende vom
“Interpretieren zum Lesen” durch die Konzentration auf die Zeichenkörper: “Das neue Schlagwort von der
Materialität der Zeichen lenkt den Blick vom Text als transparentem und instrumentellem
Kommunikationsmedium auf den Text als unhintergehbare Konfiguration von Zeichen. Diese Schicht des Textes
hatte die Hermeneutik der zweiten Phase geflissentlich übersehen und verdrängt.“ Assmann spricht auch von der
„mühsamen Entzifferung von Spuren“ in der akribischen Lektüre, was auf Lesarten des Feminismus und des
New Historicism verweist. Aleida Assmann, „Einleitung“, in: Texte und Lektüren: Perspektiven der
Literatutwissenschaften, ed. A. Assmann (Frankfurt/M. 1996) 7-28; Zitat 17. Demgegenüber bescheinigt
Rusterholz de Man eine „programmatische Textimmanenz“ (Grundzüge 429) und spricht von einer Form des
close reading. (ibid. 167f.)
42
Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven/London 1979) bes. Kap. 1-3, 7. De Man entwickelt seine
Konzeption, die keine „Theorie“ sein soll, bezeichnenderweise an „Lektüren“, z.B. von Rilke, Proust, Nietzsche.
Vgl. Assmann 1996, 15.
41
8
Text schlechthin aufzuweisen.43 Es ist gewiß kein Zufall, daß „The Triumph of Life“ in der
Zeit des Poststrukturalismus eine Renaissance erfahren hat. Für eine Lektüre im Sinne de
Mans böte sich vielleicht auch Shelleys „Mont Blanc“ an, dessen Beginn z.B. eine Vielzahl
lose miteinander verbundener konnotationsreicher Naturbilder enthält, die mit den teils
elliptischen reflexiven Passagen in einem oft unklaren syntaktischen Zusammenhang stehen.
Voraussetzung wäre aber, daß man die geduldige Suche nach Kohärenz durch eine ebenso
geduldige Suche nach Divergenz und Diskrepanz ersetzt. Als wenig einladend für
dekonstruktivistische Lesarten erwiesen sich aber bisher Shelleys „exoterische“ (sein eigener
Terminus), d.h. politisch-gesellschaftskritische Gedichte wie „Queen Mab“, „The Mask of
Anarchy“ oder „The Revolt of Islam“. Den performativen Widerspruch de Mans könnte ich
wohl auch kaum in Blakes „London“ entdecken; denn es scheint doch recht offensichtlich,
daß die durchaus prominenten rhetorischen Figuren, etwa die zahlreichen Wiederholungen
und Parallelismen und die gewiß komplexen und auffälligen Bilder (Metaphern und
Metonymien) nicht anders zu lesen sind, als daß sie die soziale Anklage des Textes
intensivieren und ihr sogar zusätzliche gedankliche oder semantische Dimensionen verleihen.
Ich meine mit letzterem, daß sie die Darstellung der Not nicht nur sinnenfälliger und
emotional eindringlicher machen, sondern auch Ansätze zu einer Interpretation des Elends
geben, das der Sprecher zunächst sieht und hört und uns authentisch darstellend vermittelt –
z.B. die Anklage des Staates, der seine Verantwortung gegenüber dem „hapless soldier“ nicht
wahrnimmt oder den Kausalnexus zwischen dem Schicksal der Prostituierten und der
bürgerlichen Ehe. Diese Unterschiede mögen zeigen, welch einebnende Wirkung die
Anwendung einer dekonstruktivistischen Lektüre auf Dichtung schlechthin hätte.
Bei J. Hillis Miller geschieht die Dekonstruktion über die Semantik der Wörter. Er nimmt
dabei die Vorstellung von Derrida auf, daß jedes Zeichen Spuren seiner unendlich oft
wiederholten Verwendung in unendlich vielen Kontexten in sich trägt. Er „ontologisiert“
dieses Konzept der trace. Bei Derrida geht es in erster Linie darum aufzuzeigen, wie in der
jeweiligen Verwendung bestimmte Spuren aufleuchten, dabei für einen Moment Sinn
suggerieren, bei weiterem „Hinsehen“ aber wieder verlöschen. Das Zeichen gewinnt eine
momentane Stabilität, die aber immer wieder zerfällt, der Fluktuation preisgegeben wird. Der
Leser, der davor nicht die Augen verschließt, sich nicht von der vermeintlichen (momentanen)
Dauer petrifizieren läßt, verfolgt dieses Spiel vom Aufleuchten und Verlöschen von Sinn mit
Verwirrung: Seine Suche nach Sinn, sein „Hunger nach Bedeutung“ bleibt unbefriedigt, wird
frustriert. Aber von ihm (im Sinne Heideggers) „angestoßen“, folgt der Geist dieser
oszillierenden Bewegung, dieser Flucht der Signifikation, in einem Zustand euphorischer
Freude.44
Hillis Miller legt es darauf an, Texte und ihre Lesarten von innen heraus zu destabilisieren,
indem er in einer akribischen philologischen Arbeit die in den Schlüsselbegriffen des Textes
enthaltenen „Spuren“ freilegt, d.h. die semantischen De- und Konnotationen, die ein Wort aus
seiner Etymologie und aus seinen vielfältigen Verwendungen in verschiedenen Sprachen in
Paul de Man, „Shelley Disfigured“, in: The Rhetoric of Romanticism (New York 1984) 93-123. Mit meiner
letzten Bemerkung im Text bezog ich mich auf 120f., vgl. dazu Allegories, 17. – Die „Gegenrichtung“ einer
poststrukturalistischen Interpretation wird exemplifiziert durch Herman Rapaport, „Staging Mont Blanc“, in:
Displacement: Derrida and After, ed. Mark Krupnick (Bloomington/Indiana 1983) 59-73, in der aus einer
weitausgreifenden Zusammenschau von Artikulationen des psychoanalytischen Konzepts der „rahmenden“
(verhüllend-enthüllenden) Funktion von Traumbildern (mit kurzer, kaum nachvollziehbarer Summierung des
Themas von Prometheus Unbound) eine Perspektive für eine Lacan folgende Interpretation des Gedichts
entwickelt wird (Berg als „Bühne“ für die Inszenierung des verborgenen und ambivalenten - pleasure und terror,
eros und thanatos involvierenden - Begehrens nach der Brust der Mutter), deren tatsächliche Substantiierung aus
dem Gedichttext zwei Seiten umfaßt und sich auf eine einzige Passage – den Beginn von Teil III, Z. 49-61 –
stützt, ohne Berücksichtigung des weiteren Kontexts - vor allem der hinführenden Teile I und II mit ihren
Reflexionen zu Schlucht/Fluß und Geist (mind).
44
Derrida 1982, 23-27; vgl. Derrida 1988, 99-103.
43
9
sich trägt, d.h. die es jemals gehabt hat bzw. die der Philologe entdecken kann. Alle diese
Bedeutungen sind jetzt gleichberechtigt präsent. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür findet
sich in Millers berühmtem Aufsatz „The Critic as Host“.45 Miller geht hier von der
Behauptung von M. H. Abrams aus, eine dekonstruktivische Lektüre eines gegebenen Textes
sei „’plainly and simply parasitical’ on the obvious or univocal reading“. Dabei zitiert Abrams
im ersten Teil seines Zitats Wayne Booth. Dieses Zitat im Zitat betrachtet Miller als Beispiel
für eine prinzipiell endlose Kette, die er hier auf ihr Wesen hin befragen will. Dazu untersucht
er in der besagten Weise die beiden Termini der behaupteten Opposition, host und parasite.
Er zeigt in der Etymologie des Wortes host, etwa im Vergleich mit verwandten
indoeuropäischen Wörtern, z.B. deutsch Gast, auf, daß dieses Wort die Merkmale Gastgeber
und Gast gleichermaßen in sich trägt. Noch intensiver arbeitet er heraus, daß im Wort
parasite das griechische Präfix para (neben) schon in sich, erst recht dann aber in seinen
vielen Verbindungen, im Englischen etwa parachute, paraclete, parallel, paramedical etc.
(Miller zählt 26 Beispiele auf), eine Grenzverwischung zwischen Jenseits und Diesseits,
Außen und Innen, Ferne und Nähe, Ähnlichkeit und Differenz signalisiert. Schließlich nimmt
Miller noch die Bedeutung von host als Eucharistie (sich jemandem zur Speise geben) hinzu
sowie die Bedeutung von griechisch sitos als Korn, Getreide: Beide, Wirt und Parasit, sitzen
neben dem Mahl, beide essen, beide könnten aber auch die Speise sein. Jetzt erkennen wir
also endgültig: Beide Terme verlieren ihre Identität, beide enthalten die Merkmale des
anderen in einer „osmotischen Mischung“, sind in sich voll von „uncanny antithetical relation
... a host is a guest and a guest is a host. A host is host.“ So sind denn auch die „eindeutige“
und die „dekonstruktivistische“ Lesart in ihrer Identität ununterscheidbar, „fellow guests
‘beside the grain’, host and guest, host and host, host and parasite, parasite and parasite.“46
Man beachte, wie Miller selbst hier mit der rhetorischen Potenz der Sprache arbeitet, wie er in
dieser Reihung allein durch die Verschiebung der Terme die Bedeutung - und vielleicht auch
die Orientierung des Lesers - ins Schwimmen bringt.
Auch Miller betont wie Derrida den befreienden und euphorischen Charakter dieser
Erfahrung der „unheimlichen“ Natur der Sprache: „ [...] the hyperbolic exuberance, the letting
language go as far as it will take you. [...] the way the prison-house of language may be a
place of joy, even of expansion in spite of remaining an enclosure and a place of suffering and
deprivation.“47
Die dekonstruktivistische Lektüre Millers ist für jemanden, der damit nicht vertraut ist,
verblüffend, provokativ, vielleicht in sich selbst „uncanny“; sie ist extrem erfindungs- und
ressourcenreich, und sie setzt eine Kernidee des Dekonstruktivismus in eine genialische
Lektüre um, für die Miller bekannt ist.48 Um Miller aber nicht nur um des Spiels willen zu
folgen, muß man doch fragen, ob man sich seiner (und der dekonstruktivistischen)
Auffassung von Semantik anschließen kann. Von einem die Polysemie begrenzenden Prozeß
einer kontextuellen Monosemierung ist hier nicht mehr die Rede. Und es stellt sich die Frage:
Sind die Referenzen und Konnotationen, die ein Wort in „der ganzen Familie der
indoeuropäischen Sprachen und der gesamten Literatur und dem konzeptionellen Denken in
diesen Sprachen“ hat und hatte, in dieser konkreten Verwendung in diesem
englischsprachigen Ausdruck des 20. Jahrhunderts enthalten bzw. für seine Bedeutung
J. Hillis Miller, „The Critic as Host“, in: Lodge 1988, 254-262; ursprünglich in Critical Inquiry 3 (1977).
Miller 1988, 259.
47
Miller 1988, 259. Henriette Herwig bezeichnet diese euphorische Freude als typisch für den
Dekonstruktivismus (Henriette Herwig, „Postmoderne Literatur oder postmoderne Hermeneutik“,
Kodikas/Code: Ars Semiotica 13 (1990): 225-244; hier 227-229); Magliola dagegen bezeichnet genau diese
Haltung als „absurd-tragischen Nihilismus“ (Magliola 1981; hier 85).
48
Vgl. M.H. Abrams, „The Deconstructive Angel“, in: Lodge 1988, 242-253; 250: Abrams spricht von „delight
in his resourceful play of mind and language and the many and striking insights yielded by his wide reading and
by his sharp eye for unsuspected congruities and differences in our heritage of literary and philosophical writing“
(250).
45
46
10
relevant? Dann allerdings sähe sich der philologische Ausgräber wahrhaftig einer
unabschließbaren Aufgabe gegenüber.
Mit dem Ausdruck prison-house of language nimmt Miller den Titel von Fredric
Jamesons bekannter Kritik des Strukturalismus und Formalismus auf.49 In einem späteren
Artikel stellt Jameson fest, daß sowohl der formalistische Strukturalismus als auch der
„Neostrukturalismus“ die Wände des Gefängnisses der Sprache, aus denen nach Miller die
dekonstruktivistische Lektüre den Leser entfliegen läßt, noch enger schließen, ja geradezu erst
aufbauen.50 Für ihn ist die Euphorie des die Sprache manipulierenden Dekonstruktivisten eine
autistische, selbstverliebte, unfruchtbare Freude, die an den Ästhetizismus anknüpft.
Tatsächlich formulierte Walter Pater schon 1876:
Experience, already reduced to a swarm of impressions, is ringed round for each
one of us by that thick wall of personality through which no real voice has ever
pierced on its way to us, or from us to that, which we can only conjecture to be
without. Everyone of these impressions is the impression of an individual in his
isolation, each mind keeping as a solitary prisoner its own dream of a world.51
Ein Überwinden dieser Mauern und eine wahre „Erweiterung“ des (lesenden) Individuums im
Sinne einer Selbsttranszendierung ist für Jameson nur durch die Anerkennung der
mimetischen, repräsentationalen oder referentiellen Funktion der Sprache möglich, trotz einer
gesteigerten Komplexität der Repräsentationsmodelle.
Am Ende von „The Critic as Host“ verweist Miller auf Shelleys „The Triumph of Life“,
dessen Bedeutung für die dekonstruktivistische Lektüre wir schon sahen. Nach Miller
„beherbergt“ es eine tief in die Geschichte reichende Reihe von sich überlagernden
intertextuellen Verweisen, durch die es ebenso „destabilisiert“ wird wie durch seine
unauflöslichen
Widersprüche
zwischen
seiner
„logozentrischen
Metaphysik“
52
(Neoplatonismus) und seinem Nihilismus. Nun ist die Schwierigkeit einer kohärenten
Deutung dieses fragmentarischen Textes schon früher betont worden. Die letztgenannten
Widersprüche, die sich bei Shelley immer wieder finden und zu kontroversen Interpretationen
geführt haben, treten in „The Triumpf of Life“ tatsächlich besonders hervor; das Gedicht
bleibt sprunghaft und – etwa hinsichtlich der Bedeutung der Figur Rousseaus – dunkel. Es
hebt sich als Text aber eben dadurch deutlich von anderen ab, etwa von Prometheus
Unbound, das gerade durch seinen hohen Grad an Integration heterogener poetischer und
thematischer Elemente auffällt. Solche Unterschiede in der Qualität von Texten können aber,
wie schon angesprochen, in der dekonstruktivistischen Lektüre nicht erkennbar werden; sie
spielen keine Rolle, da es ja in jeder Textlektüre um die Aufhebung der Lesbarkeit geht.53
Wenden wir uns einer späteren, ausführlicheren Interpretation von „The Triumph of Life“
zu, der ich dann Millers Interpretation eines Gedichts von Thomas Hardy gegenüberstellen
möchte, so wird noch deutlicher, wie durch die auf den Moment der Unlesbarkeit
ausgerichtete immanente Lektüre so unterschiedliche Texte eingeebnet und
entkontextualisiert werden und wie nahe diese letztendlich doch an einer hermeneutischen
Interpretation bleiben.
In seinen summarischen Bemerkungen zu „The Triumph of Life“ am Ende von „The Critic as
Host“ verweist Miller auf das im Entstehen begriffene Shelley-Kapitel in seinem Buch The
49
Fredric Jameson, The Prison-House of Language: A Critical Account of Structuralism and Russian Formalism
(Princeton 1972).
50
Fredric Jameson, „Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism“, New Left Review 146 (1984):
53-92.
51
Walter Pater, The Renaissance: Studies in Art and Poetry (Berkeley/Los Angeles/London 1980) 187f.
(„Conclusion“)
52
Miller 1988, 261f.
53
So auch Rusterholz 1996, 168f.; Abrams 1988, 249.
11
Linguistic Moment.54 Hier arbeitet Miller die Ambivalenzen des Werkes - die z.B. durch die
Fülle von sich ablösenden Bildern, durch die sich gegenseitig aufhebenden Oppositionspaare
und durch strukturelle Ambiguitäten verursacht werden – detailliert heraus. Interessant ist
aber, daß es letztlich gar nicht um eine wirkliche „Unlesbarkeit“ des Textes geht, sondern daß
Miller in seiner durchaus kohärenten, und die einzelnen Elemente auf Kontexte beziehenden
Deutung den Erweis erbringt, daß „The Triumph of Life“ ein proto-dekonstuktivistisches
Gedicht ist. Die fast Heideggersche Interpretationsfrage lautet:
Of what are all these repeated projections figures? What, for Shelley, is the base,
the origin, or the goal that controls this internal and external play of substitutions?
This question arises inevitably in the reader’s mind as he works his way into the
poem and through it.55
Die paradoxe Antwort ist, daß dieser „Grund“ die Erfahrung der Grundlosigkeit der Sprache
ist, die sich im fortwährenden Prozeß der Katachrese, der unendlichen substititiven
metaphorischen Signifikation erweist, der sich der Kontrolle sowohl des Autors wie auch des
Lesers (und des Interpreten) entzieht, da beide in der Sprache gefangen sind.56
In seiner Interpretation von Thomas Hardys Gedicht „In Front of the Landscape“ widmet
sich Miller einem Text, dessen Zuordnung zum Realismus ebenso auf der Hand zu liegen
scheint wie die für Hardy typische Thematik:57 die Vergänglichkeit menschlicher
Beziehungen und die Tragik, die darin liegt, daß deren Wert immer erst zu spät erkannt wird.
Der Sprecher begegnet auf der Wanderung zu Gräbern den anklagenden geisterhaften
Gestalten der Toten. Miller beachtet den literaturhistorischen Kontext nicht, geht aber von
dieser Thematik aus. Er arbeitet zwar eine Reihe von Ambivalenzen heraus, die vor allem
durch elliptische Syntax entstehen, kommt aber dennoch immer wieder auf das genannte
Thema zurück, auf das er sowohl die Bilder als auch die Metrik bezieht. Dennoch stellt er
explizit die Einheit des Gedichts in Frage. Durch eine typische Sezierung des Wortes
translation („they [...]/ show, too, with fuller translation than rested upon them./ As living
kind“), das er von „Übersetzung“ zu „Mißverständnis“, „Übertragung“, „Metapher“,
„Prosopopoeia“ verschiebt, lenkt er die Interpretation zur Aussage, daß das Gedicht nicht
mehr ist als ein linguistisches Ereignis, das sich der Kontrolle des Autors und der Sinnsuche
des Lesers entzieht, obschon die von ihm ausgehende Wirkung immer wieder Leser in ihren
Bann schlagen und sie zur „Beschwörung“ (im Sinne von Prosopopoeia) einer „perception“
anregen wird. Folgt man diesem spekulativen Kreisen um das Wort translation nicht – hält
man sich vielmehr an die, wie Miller selbst einräumt,58 kontextuell naheliegende Deutung,
daß sich dem Sprecher der Wert der Beziehungen erst nach dem Tod klarer zeigt – und
akzeptiert dementsprechend auch die im letzten Drittel des Aufsatzes erfolgende
dekonstruktivische Wende nicht –, so bietet Miller hier durchaus eine hermeneutische
Interpretation, in der er naheliegende und mögliche Erklärungen der Perspektivierung einer
menschlichen Grunderfahrung für eine weitere Diskussion anbietet, die er am Schluß des
Aufsatzes auch anzudeuten scheint.
Hillis Miller und de Man wollen zeigen, daß der literarische Text nicht dekonstruiert wird,
sondern sich selbst dekonstruiert. Die Lektüre offenbart nur dessen Unlesbarkeit. Damit wird
der literarische Text zum Paradigma des Textes und der Sprache schlechthin, die diesen ihren
54
J. Hillis Miller, The Linguistic Moment: From Wordsworth to Stevens (Princeton 1985) 114-179.
Miller 1985, 131.
56
Vgl. bes. Miller 1958, 175-179.
57
J. Hillis Miller, „Topography and Tropography in Thomas Hardy’s ‚In Front of the Landscape‘“, in:
Poststructuralist Readings of English Poetry, ed. Richard Machin und Christopher Norris (Cambridge 1987)
332-347.
58
Miller 1987, 343.
55
12
Charakter im Normalgebrauch verschleiern, zum Exempel also, das uns vor dem
verblendenden oder verführenden Charakter der Sprache warnt. Darin sieht de Man auch die
einzige didaktische Funktion von Literatur. Als Literatur werden von ihm eben die Texte
definiert, die wegen ihrer Widerständigkeit diese Funktion erfüllen.59
Diese – in sich konsequente – Verabsolutierung des dekonstruktivistischen Konzepts von
Text, Literatur und Lektüre ruft allerdings doch einige kritische Fragen hervor, die schon
angeklungen sind, auf die ich hier im letzten Teil meines Beitrags etwas systematischer
eingehen möchte.
Eine naheliegende und auch öfters vorgetragene Kritik an der Dekonstruktion besteht
darin, daß sie ihre eigene Theorie durch ihre logisch argumentierenden, interpretatorisch und
analytisch demonstrierenden, um Stringenz bemühten und wohlgeformten Texte selbst
widerlegt. Obschon Derrida sich mehr und mehr bemüht, diesen Stil zu durchbrechen, bleibt
doch festzuhalten, daß die Dekonstruktion mit Nachdruck ein Kultur-, Sprach- und
Textkonzept vertritt, das Gültigkeit beansprucht, ja das nicht mehr hintergehbar ist und
insofern durchaus einen „metaphysischen“ oder „transzendenten“ Charakter hat und das etwa
Derrida und besonders Hillis Miller mit beachtlichem Pathos vertreten. Auch erwies sich, daß
de Man und Miller ihre These von der „Unlesbarkeit“ durch eine Lektüre demonstrieren, die
in sich als hermeneutisch angesehen werden kann.
Eine solche Kritik würde aber einen Dekonstruktivisten kaum treffen. Derrida selbst sagt,
daß dieser auf die Sprache der traditionellen Philosophie zurückgreifen muß, da ihm keine
andere zur Verfügung steht: „We cannot give up this metaphysical complicity without also
giving up the critique we are directing against this complicity.“ 60 Und Gerald L. Bruns
bezeichnet die Dekonstruktion als poetics of doublebind: „By its workings, any theory,
position, discipline, or outlook, whether positive or negative, can be turned against itself in
the very terms by which it is constituted“.61 Es läge eigentlich in der Logik der Sache, daß
sich der Dekonstruktivismus selbst dekonstruieren müßte.
Diese Kritik gleicht also mehr einem Ping-Pong-Spiel. Die sich daraus ergebenden, für uns
essentiellen Fragen sind aber die, ob wir bei der (erforschenden und interpretierenden)
Lektüre der Texte auf Verstehen überhaupt verzichten können und worin dieses bestehen
kann, ob die dekonstruktivistische Lektüre wirklich „befreiend“ ist und was als Sinn oder
Zweck der Lektüre, auch der literaturwissenschaftlichen Interpretation und Forschung,
festgehalten werden kann und sollte.
Man kann natürlich der Hermeneutik ihrerseits entgegenhalten, sie sei von Anfang an so
auf „Bedeutung und Sinnproduktion“ angelegt, daß sie diese nicht verfehlen könne. Aleida
Assmann, von der dieses Zitat stammt, fährt fort:
Mit diesem Instrumentarium ist es keineswegs schwierig, Nicht-Sinn in Sinn zu
übersetzen. Wer hermeneutisch liest, kann eigentlich gar nicht anders als
harmoneutisch zu verfahren. So wie das Auge nach Plato sonnenhaft ist, ist das
Auge des Interpreten eben sinnenhaft.62
59
Vgl. Paul de Man, Blindness and Insight (New York 1971) 136f.
Derrida 1988, 92. Vgl. auch Linda Hutcheon, die auf das Paradox der antifoundationalist theory hinweist,
doch ein fundamental annehmen muß, das sie mit einem Zitat aus einer Vorlesung von Stanley Fish wiedergibt:
„Ye shall know that truth is not what it seems and that truth shall set you free“ (13). Anders formuliert: Die
Dekonstruktion „demaskiert“ die Rhetorizität allen Wissens und beansprucht dennoch den Status eines
„theoretischen Wissens“. Hutcheon weist aber auch darauf hin, daß sich die Dekonstruktivisten dieses Paradoxes
oder dieser „Komplizenschaft“ selbst bewußt sind.
61
Gerald L. Bruns, „Structuralism, Deconstruction, and Hermeneutics“, Diacritics (1984): 12-23 (Rezension von
J. Culler, On Deconstruction).
62
Assmann 1996, 14.
60
13
Man könnte auch Harro Müller heranziehen, der hermeneutisches Verstehen als
„Sinnzentrierungspolitik mit [...] Heteronomiebeseitigungsverfahren“ bezeichnet.63
Aber: Gibt die dekonstruktivistische Lektüre dem Text wirklich seine Fremdheit, seine
Andersheit, zurück? Setzt sie ihn wieder in sein Recht, statt ihn zu apropriieren? Dieser
Vorwurf ist ja dem Verstehen in der Nachaufklärung immer wieder gemacht worden, und die
Sorge gegenüber einem solchen zentrierenden und einverleibenden Verstehen ist der
eigentliche Grund der dekonstruktivistischen Theorie. Bei dem erwähnten Treffen in Paris
bemühte sich Gadamer, die „Macht des guten Willens“ im Verstehensprozess aufzuzeigen. In
seiner Antwort interpretierte Derrida dies als den „guten Willen zur Macht“.64
Meine kritische Befassung mit der Theorie und der Praxis der Dekonstruktion im Hinblick
auf den literarischen Text hat aber, wie ich hoffe, das Urteil von M.H. Abrams untermauert,
daß bei der dekonstruktivistischen Lektüre das Ergebnis trotz aller überraschenden Details
vollständig determiniert ist:
And the uncanny critic, whatever the variousness and distinctiveness of the texts
to which he applies his strategies, is bound to find that they all reduce to one thing
and one thing only. In Miller’s own words: ‘Each deconstructive reading,
performed on any literary, philosophical or critical text [...] reaches, in the
particular way the given text allows it, the same moment of an aporia [...] the
reading comes back again and again, with different texts to the same impasse’.65
Man fühlt sich in diesem Zusammenhang auch an Harold Blooms Konzept des strong
reading erinnert. Ein solches Lesen ist nach Bloom immer ein misreading, das sich von
vorherigen Lesarten absetzt und die Originalität des Lesers beweist (wobei Bloom wohl den
professionellen Interpreten im akademischen Betrieb im Auge hat). „We read to usurp, just as
the poet writes to usurp“, also um der Macht willen, die in der Befreiung von der Herrschaft
früherer Stile (bezüglich des Autors) und früherer Interpretationen (bezüglich des Lesers)
besteht. Bloom impliziert, daß es auch ein weak reading gibt, das sich den Text nicht
aneignet, sondern sich ihm unterwirft, aber: „It is only the strong reader [...] whose readings
will matter to others and to himself.“ Blooms Konzept des strong reading läuft also auf die
Beherrschung des Textes durch den geschulten Interpreten hinaus, der seine Innovationskraft
in der Dekonstruktion beweist.66
Damit wende ich mich der zweiten Frage, der nach der Natur des „Sinns“, der „Wahrheit“
des Textes, zu. Der Dekonstruktivismus weist uns eindringlich darauf hin, daß ein vom Text
ablösbarer Sinn, eine Referenz auf eine textexterne Wahrheit oder Welt, eine in sich feste,
wiederholbare Bedeutung eine Fiktion und eine instabile Konstruktion ist. Dies scheint ihm
ein zentrales Anliegen zu sein, zum einen als ehrliche Antwort auf die postmoderne
Mentalität, zum andern, um der Verfestigung einer Ideologie zum Zweck von Macht
vorzubeugen.
Nun wird aber die damit verbundene Behauptung, die Hermeneutik postuliere einen
solchen Sinn in Form einer transzendenten, zeitlosen, hypostasierten oder reifizierten
Wahrheit out there, die gefunden, vollständig formuliert und fixiert werden könnte, durch
63
Harro Müller, Giftpfeile: Zur Literatur und Theorie der Moderne (Bielefeld 1994) 23.
Forget 1984, 56-58 und 62-77. Hinsichtlich Gadamers ebd. 24-55, bes. 38.
65
Abrams 1988, 249. So wie Abrams Miller selbst anführt, könnte man auch Paul de Man zitieren: „The allegory
of reading narrates the impossibility of reading“ (Blindness and Insight, 77).
66
Harold Bloom, Agon: Towards a Theory of Revisionism (London 1982) 16,17, 24f., 35-43; A Map of
Misreading (London 1975) 4. Dieselbe These von Kampf und Innovation unterliegt für Bloom der Geschichte
der Literatur selbst; vgl. The Anxiety of Influence, 1973. Eine kritische Auseinandersetzung mit Bloom und der
Dekonstruktion, in der der Innovationsdruck der Akademie eine Rolle spielt, findet sich bei Shusterman 1988,
403-405.
64
14
häufige Wiederholung nicht wahrer.67 Schon Schleiermacher spricht davon, daß „das
Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will“; Grondin interpreteiert seine
Universalisierung des Mißverständnisses als „Anleitung zum fortwährenden
Weiterinterpretieren“ und bezeichnet das „Besserverstehen als unerreichbares Telos“.68
Gadamer bezieht sich mehrfach auf Heideggers Rede von der Als-Struktur des Verstehens –
ich verstehe z.B. den Hammer als Werkzeug, als schwer, als untauglich etc. – und betont
demzufolge, daß Verstehen immer auf die Bedeutung für uns gerichtet ist. Allerdings
postuliert er ebenso, daß diese Bedeutung im Text angelegt ist, daß der Text „etwas sagen
will“, was für mich gemeint ist. Letzteres schließt auch ein, daß, da wir durch Geschichte und
menschliche Natur verbunden sind, dieses für mich Gemeinte ein uns Angehendes ist, und so
ergibt sich, daß es nur durch den doppelten Dialog – mit dem Text und „mit anderen
Denkenden“ – zu einem kontinuierlichen expandierenden Anwachsen des Verstehens
kommen kann.69
Diese hermeneutische Grundidee impliziert also die Relevanz dieser Wahrheit für mich,
daher ich sie auch „für mich“, in meinem Interesse, begreifen und ausarbeiten möchte, sie
impliziert zum anderen die Rolle des Textes als Ausgangsort dieser mir zunächst noch
„fremden Wahrheit“ und damit die von Jameson geforderte Selbstexpansion oder
Selbsttranszendierung,70 und sie impliziert schließlich die Ausarbeitung dieser Wahrheit im
Dialog mit den „Mitlesenden“, wie es Gadamer des öfteren mit Blick auf die historischgesellschaftliche Natur des Menschen und die Perspektivenvielfalt der „Lesenden“ (d.h. auch
der vermittelnden Interpreten) fordert. Es wäre eine im Sinne von Jürgen Habermas zu
„verhandelnde“ Wahrheit, und ein solcher hermeneutischer Ansatz könnte vielleicht
tatsächlich einen Beitrag liefern zur Rückkopplung der Expertenkultur an die Lebenswelt und
zum Brückenschlag zwischen Teilbereichen der Gesellschaft, wie sie Habermas für
notwendig erachtet und wie schon von Dilthey gefordert, zur Aufhebung von Trennungen
also, die ich durch Dekonstruktion oder Poststrukturalismus – die Habermas als neuen
Konservativismus beurteilt – noch weiter getrieben sehe.71 Die Hermeneutik geht geradezu
aus dem Wissen oder aus der Überzeugung hervor, daß eine solche relevante „Wahrheit“ im
Sinne von empowering knowledge and understanding heute nicht gelehrt werden kann und
auch nicht mehr Allgemeingut im Weltmodell der Gesellschaft ist. Sie gehört zu dem Bereich,
den Paul Ricoeur disclosive behaviours nennt, die Welt schaffen und enthüllen (im
Unterschied zu den sich auf alltäglich-praktische Situationen beziehenden disclosive
behaviours). Zu ihnen zählt er die literarischen Werke, die „in ihren Strukturen gedeutete oder
auf Deutung angelegte Welt“ vermitteln.72 In literarischen Werken liegt nach Ernst Bloch
immer ein utopisches Moment, ein Vor-Schein menschlicher Möglichkeiten.73 In ihnen
enthüllt sich die Geschichte des menschlichen Seins, „Sein, das sich erschließt“ nach
Heidegger, in geschichtlicher Entfaltung.74 Im Bemühen um sein Verstehen entwerfen wir uns
67
Vgl. Madison 1991, 122f. und 129-132.
Grondin 2001, 107; Schleiermacher 1958, 328. Vgl. Dilthey 1958, 214 und 220.
69
Gadamer in Forget 1984, 26 und 29: „Was beim Sprechen herauskommt, ist nicht eine bloße Fixierung von
intendiertem Sinn, sondern ein beständig sich wandelnder Versuch oder besser, eine ständig sich wiederholende
Versuchung, sich auf etwas einzulassen und sich mit jemandem einzulassen.
70
Vgl. Anm. 50.
71
Jürgen Habermas, „Untiefen der Rationalitätskritik“, in: Die neue Unübersichtlichkeit, Kleine politische
Schriften V (Frankfurt/M. 1985) bes. 135. Ders. „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“, in : Wege aus der
Moderne, ed. Wolfgang Welsch (Weinheim 1988) 177-192. Vgl. diese Arbeit S. 4.
72
Vgl. Michael Murray, „Poetic Sense and Poetic Reference“, Papers on Language and Literature 17 (1981):
53-61.
73
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1954-1959.
74
Vgl. Vernon Gras, „Understanding, Historicity, and Truth“, Papers on Language and Literature 17 (1981):
48-53 (erster Beitrag zum Symposium „Hermeneutics, Post-Structuralism, and ‚Objective‘ Interpretation“); vgl.
49f.: „If truth is existence disclosing itself in time, we become aware that ‚worlds‘ are made, that they undergo
68
15
auf unsere Möglichkeiten hin, im „Rückschlag in unser Dasein wird dieses ein SeinKönnen“.75 Wenn wir Literatur im hermeneutischen Sinn lesen und studieren, erkunden wir
die „Möglichkeiten des Seins“ - und seine Verhinderungen - in ihren geschichtlichen
Manifestationen, die bedingenden Strukturen und die sich für uns eröffnenden Horizonte.
Wir haben uns hier einer Dimension angenähert, die seit den späten 80er Jahren unter dem
Begriff eines ethical turn in Literatur und Kritik diskutiert wird76. Die Frage nach einer
ethischen Dimension von Literatur kann dabei kaum von der nach der hermeneutischen
Dimension der Literaturwissenschaft abgelöst werden. Der Kontext der „Postmoderne“
verstärkt meine Überzeugung, daß diese Dimension nicht verloren gehen, und auch nicht aus
dem Zentrum rücken sollte. Ich habe schon die Frage angeschnitten, ob das „Spiel der
Signifikation“ oder die „hyperbolic exuberance [of] letting language go as far as it will take
you“ nach Derrida oder den Yale Critics unendlich fortgesetzt werden könnten – wie es die
Dekonstruktion selbst impliziert.77 Foucault bringt die „dezentrierende“ und gleichzeitig
höchst individualistische Dimension der „Postmoderne“ in seiner Philosophie des Selbst zum
Ausdruck, die Josef Früchtl mit dem Begriff „Ästhetik der Existenz“ bezeichnet: die im Bild
des Künstlers zentrierte Vorstellung von der Verwirklichung des Selbstentwurfs des
Individuums in einem frei gewählten und potentiell stets wechselnden „Lebensstil“.78 Diesem
Selbst wird Tiefe und Kontinuität ebenso abgesprochen wie ein Telos („Mensch zu sein“), da
dies Mittel der Fremdgestaltung wären.79
Früchtl legt Wert darauf, Foucault aus der Nähe des Hedonismus in die des
Existenzialismus zu rücken, und die Rolle Foucaults im Kampf von Minoritäten und in der
postkolonialen Debatte sind unbezweifelbar. Aber eignet sich dieses postmoderne
Lebenskonzept wirklich als allgemeine Maxime? Woran orientiert der sich rein von innen
(aber nicht aus einer ethisch besetzten „Tiefe“) generierte, freischwebende „Planentwurf“ des
Menschen, oder hat dieser eine Orientierung nicht nötig? Schon die ambivalente Behandlung
Foucaults bei Früchtl im Kontext des Existenzialismus, aber auch von Kierkegaards
Konzeption des Lebenskünstlers und des Dandyismus des 19. Jahrhunderts sowie von
kritischen Untersuchungen der postmodernen Erlebnis- und Vergnügungsgesellschaft durch
Daniel Bell und Robert W. Bellah – sowie mit weniger pessimistischer Perspektive durch
Gerhard Schulze – lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen.80
Solche Zweifel bilden den Ausgangspunkt für Charles Taylors umfangreiche und
gründliche historisch-kritische Untersuchung der Herausbildung und der Quellen des
modernen Selbst und seiner Relation zu Moral und Ethik.81 Er zeigt die Unzulänglichkeit
einer rein „prozessuralen“ Moraltheorie, die sich auf die einzelne Norm und deren
Anwendung im Einzelfall konzentriert, ohne der Ebene der Ethik eine größere Bedeutung
zuzusprechen.82
construction and destruction [...] Truth must always include this feature of self-understanding.“ “Literary
criticism, while changing our relation to past works, also invariably changes us.”
75
Vgl. Anm. 19.
76
Eine überzeugende Diskussion dieses Begriffs unter den Aspekten der Notwendigkeit/Begründung und der
methodischen Implikationen findet sich in Heinz Antor, „The Ethics of Criticism in the Age After Value“, in:
Why Literature Matters: Theories and Functions of Literature, ed. Rüdiger Ahrens und Laurenz Volkmann
(Heidelberg 1996) 65-85.
77
Vgl. Anm. 47
78
Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil (Frankfurt/M. 1996) 130-134 und 149-156.
79
Früchtl 1996, 133.
80
Früchtl 1996, 137-148. Früchtl bezieht sich auf: D. Bell, Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus
(Frankfurt/New York 1991); R.N. Bellah et al., Gewohnheiten des Herzens: Individuum und Gemeinschaft in der
amerikanischen Gesellschaft (Köln 1987); G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der
Gegenwart (Frankfurt/M./New York 1993).
81
Charles Taylor, Sources of the Self: The Making of the Modern Identity (Cambridge/Mass. 1989).
82
Exponent einer solchen rationalistischen Begründungs- und Abwägungsethik ist R.M. Hare, Freedom and
Reason (Oxford 1963): Indem wir die (möglicherweise konfligierenden) ethischen Normen, die Ansprüche an
16
Demgegenüber vertritt Taylor die letztlich aristotelische Konzeption, daß sowohl die
Selbstverwirklichung des Menschen als auch sein moralisches Entscheiden und Handeln von
seiner Vorstellung vom „guten Leben“ bedingt sind. Die übergeordnete und nach Taylor
universale Norm ist die des Respekts vor dem Menschen als Menschen, was die Anerkennung
der Möglichkeit für jeden einschließt, ein erfülltes („gutes“) Leben zu führen. Was dies
impliziert, hängt vom Bild des Menschen von sich selbst ab. Der spezifischen Ausbildung und
Realisierung der Normen liegt also eine komplexe Vorstellung vom Menschen und seiner
Relation zu Gesellschaft und Universum zugrunde. Die Vorstellung vom „guten Leben“ ist
für Taylor auch maßgeblich für die Herausbildung der Identität des Menschen. Sie bildet
einen "ethischen Raum", dessen Bezugspunkte die Selbstverortung des Individuums
ermöglichen, die wiederum das Maß seiner Orientierung – oder Orientierungslosigkeit darstellt.83
Die in der Konzeption des „guten Lebens“ enthaltenen Werte, Normen und Güter sind
kulturell vermittelt, heute daher natürlich auch Gegenstand interkultureller Verhandlung.84
Was Taylors Studie in unserem Zusammenhang interessant macht, ist, daß er der Kunst und
besonders der Literatur einen wesentlichen, ja einen zentralen Beitrag zu dieser Vermittlung
beimißt. Sie leistet dies auf durchaus explizite (wie in der Kunst der Aufklärung) oder auf
implizite Weise, was für die Literatur (und Malerei) seit der Romantik zutrifft. Taylor meint
hier eine Kunst, die sonst nicht zugängliche „Wahrheit“ aufscheinen läßt, und zwar in den
„transformierten“ Gegenständen (etwa der Natur) oder in dem „Raum“ der montageartig
versammelten Gegenstände. Taylor spricht hier insgesamt von epiphanic art, entweder einer
epiphany of being oder einer epiphany of interspaces (die er auch interspatial oder framing
epiphanies nennt).85 Er nimmt hier Konzeptionen der romantischen und der modernen
Dichtung auf. Bedenkenswert in unserem Zusammenhang ist, daß er einer in der
geschichtlichen Entfaltung der Literatur selbst entwickelten Konzeption von Dichtung eine
eminente Relevanz für die Gegenwart zuspricht, und das gerade unter dem Aspekt der
Gegenwart als „Postmoderne“.86
Wir gehen noch einmal davon aus, daß die Vorstellungen vom „guten Leben“ kulturell
vermittelt sind, daß aber die Zeit der großen, geschlossenen Weltmodelle vorbei ist. Was
bedeutet das für das ethische Handeln und die Selbstbestimmung des Menschen?
Zwar sind die uns überlieferten Werte wie Freiheit, Gleichheit, Mitmenschlichkeit
weitgehend fraglos akzeptiert, die Begründungen jedoch, warum wir sie achten sollten,
werden in den Bereich des Privaten abgedrängt, verfallen einem resignativen Relativismus
oder einer desinteressierten Lethargie. – Dem programmatischen Relativismus der
Dekonstruktion, so emanzipatorisch er angelegt ist, wirft Taylor in diesem Zusammenhang
ein Höchstmaß an Selbstzentrierung (in paradoxem Gegensatz zur „Dezentrierung“ des
Subjekts) vor, und damit auch die von Heidegger konstatierte „Seinsvergessenheit“ unserer
Zeit.87 Taylor stellt dem die These gegenüber: „High standards need strong sources.“88
Angesichts eines fehlenden allgemein akzeptierten Sinn- und Normgefüges kann der Mensch
darüber nicht „belehrt“ werden, auch würde eine solche Belehrung im Menschen keine
unser Handeln stellen, konkret im jeweiligen Fall (wie sie im jeweiligen Fall realisiert würden) so vollständig
wie möglich beschreiben und vergleichen, lassen sich stets – bis auf extrem seltene „tragische“ Ausnahmefälle –
rationale Kriterien für eine moralische Entscheidung gewinnen. Früchtl widmet Hare aus einer kantianischen
Perspektive eine erheblich positivere Würdigung als Taylor (Früchtl 1996, 331-348).
83
Taylor 1989, 3-110; zum letzten Punkt bes. 25-52.
84
U.a. Taylor 1989, 61f.
85
Taylor 1989, 305-494 und passim. Taylor entwirft ein umfassendes und differenziertes Bild von der
Entwicklung der Kunst seit der Aufklärung. Zu unserem Aspekt vgl. bes. 456-487.
86
Diese Sicht ist nicht unumstritten. Vgl...
87
Taylor 1989, 487-493; der Bezug auf Heidegger findet sich dort nicht explizit.
88
Taylor 1989, 516.
17
Vitalität entfalten.89 „[...] Ways of seeing good which are still credible to us, which are
powerful enough to sustain these [moral] standards“90 können nur erworben werden „through
languages which resonate within him or her, the grasping of an order which is inseparably
indexed to a personal vision“.91 Voraussetzung für eine solche „exploration of order through
personal resonance“, die uns Güter wie die Würde des Menschen zu eminenten Werten macht,
ist, daß wir mit solchen „moral schemes“, mit Vorstellungen des „guten Lebens“, in denen
sich diese Werte zu einem konkreten Bild verbinden, in einen lebendigen Kontakt kommen,
der in uns ein Echo auslöst.
Dies bedeutet „a work of retrieval“. Taylor versteht seine Studie als solche, als „an attempt
to uncover buried goods through rearticulation.“92 Und hier bildet die Kunst, die Taylor im
weitesten Sinne epiphanic nennt, einen hervorragenden Ort der Begegnung.
Taylor bezieht sich, was seine Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst angeht, nicht
explizit auf die Hermeneutik; doch läßt eine solche Sicht von Literatur nur eine Lektüre zu,
welche ihr Sinnpotential durch eine für uns relevante, uns angehende oder für uns bedeutsame
„Reartikulation“ aufschließt, uns zu einer Auseinandersetzung mit ihr befähigt und auch dem
Gespräch der Sinnsuchenden zugänglich macht. (Ich wähle diesen Begriff bewußt). Dieser
Dialog der Verstehen-Wollenden ist eine Dimension, um die man Taylors Erklärung der Rolle
der Literatur ergänzen müßte. Hier aber bewegen wir uns auf dem hermeneutischen Weg.
Dem hermeneutischen Prinzip widerspricht es keineswegs, die literarischen Texte in ihrem
kulturellen Kontext zu studieren oder das Studium an bestimmten Fragestellungen
auszurichten, die das Erkenntnisinteresse leiten und zur theoretisch-methodischen Fundierung
unseres „Gesprächs mit dem Text“ werden, solange dieses Gespräch dialogisch ist, d.h. auch
der Text zu seinem Recht kommt und er als künstlerische Einheit im Sinne von unit bestehen
bleibt, als „System“ aufeinander bezogener – wenn auch möglicherweise disparater, hart
montierter – Bestandteile. Die Einheit des Textes im Sinne der Annahme einer stets
möglichen closure ist für die Hermeneutik – im Unterschied zu dem dem Organismuskonzept
verpflichteten New Criticism – kein zentrales oder unverzichtbares Postulat. Auch
postmoderne Texte können „sinnvoll“ hermeneutisch gelesen werden. Eine völlige Auflösung
des Textbegriffs und auch des Konzepts von Literatur (und Literaturwissenschaft) in einer
allgemeinen Kulturwissenschaft wäre allerdings auszuschließen; in ihr könnten sich die hier
angedeuteten Potentiale des Textes in ästhetischer, ethischer und kommunikativer Hinsicht
nicht erfüllen.93
Ich möchte dieses Plädoyer mit einem Blick auf T.S. Eliots Dichtungskonzept
abschließen. Eliot postuliert eine Dichtung, in der im Diskurs ein Bewußtsein konstituiert
wird, dessen Erleben, Erfahren und Deuten seiner Welt sich durch die scharf abgegrenzten,
plastischen Bilder der Lebenswelt als objektiven Korrelaten vermittelt. Er weitet aber diese
begrenzte Perspektive durch intertextuelle Bezüge auf unsere gesamte Kulturtradition, um
dem Leser eine Expansion seiner Perspektive auf seine Gegenwart zu ermöglichen und um
ihm kulturelle Versatzstücke (die ihrerseits historische Antworten auf gesellschaftliche
Zustände und Probleme waren) für eine mögliche Sinnfindung und -lösung zu bieten. „These
fragments I have shored against my ruin“, hofft der Sprecher am Ende von The Waste Land
(430). Der Leser soll an einem Bewußtseinsprozeß teilnehmen, der durch Szenen der
modernen Welt getrieben wird, er soll in die Tiefe der menschlichen Geschichte und
Erfahrung geführt werden und schließlich zurück zu sich selbst. Die anfangs dargestellten
Dimensionen des hermeneutischen Zirkels greifen hier ineinander, aber auf alle müßte sich
89
Taylor 1989, 512.
Taylor 1989, 517.
91
Taylor 1989, 520.
92
Taylor 1989, 520.
93
Vgl. Hans-Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik Bd. I: Versuche im Feld der
ästhetischen Erfahrung (München 1977) 63; dazu Früchtl 1996, 48.
90
18
der Leser einlassen, der der Einladung des Sprechers am Anfang von „The Love Song of
Alfred J. Prufrock“ folgen will: „Let us go then, you and I [...]“. Auf diesem Wege mag der
Text sich als widerständig und verlockend zugleich erweisen und so seine Rolle als
Dialogpartner ausspielen, vielleicht als Gewirr von
Streets that follow like a tedious argument
Of insidious intent
To lead you to an overwhelming question. (8-10)94
Auf jeden Fall wird er ausreichend Gelegenheit haben, durch sprachlich-formale Analyse und
ästhetisches Mitschwingen der „Selbstpräsenz“ des Textes gerecht zu werden, zu literaturund kulturhistorischer Forschung, und er wird sich dazu aufgerufen fühlen, den Text als
denkendes, erfahrendes und geschichtliches Wesen zu „verstehen“, auf eine für ihn relevante
Weise zu interpretieren, als Individuum und als Mitglied einer „Gemeinde“, in unserem Falle
vielleicht der oft beschworenen interpretive community.
94
T.S. Eliot, Collected Poems (London 1963) 13 und 79.
19
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