Vorlesung: Kants Erkenntnistheorie (Folien) Bausteine der Kantischen Erkenntnistheorie I. Erkenntnistheoretische Grundlagen - Empirismus, Rationalismus und Metaphysik-Kritik - reine (apriorische) und empirische Erkenntnis - analytische und synthetische Urteile II. Die Quellen der Erkenntnis: Sinnlichkeit und Verstand - Die Theorie der Sinnlichkeit: Raum und Zeit (Transzendentale Ästhetik; Geometrie und Mathematik) - Die Theorie des Verstandes: a) formale und transzendentale Logik b) Theorie der Begriffe und der Urteile c) Deduktion der reinen Verstandesbegriffe d) Schematismus der reinen Verstandesbegriffe e) System der Grundsätze des reinen Verstandes f) Idealismus und Realismus III. Probleme der Kantischen Erkenntnistheorie - Zur Rezeption der Kantischen Erkenntnistheorie - Kant und die gegenwärtige Erkenntnistheorie - Ausgewählte Probleme und aktuelle Forschung Biographische Daten zu Kant 1724 Geburt Immanuel Kants am 22. April als viertes Kind des Riemermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Regina, geb. Reuter, in Königsberg. 1737 Tod der Mutter. 1740-1746, ab 24. Sept. Aufnahme des Studiums an der Universität Königsberg in den Fächern Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften. 1746 Tod des Vater. 1747-1754 Hauslehrer an diversen Stellen außerhalb Königsbergs. „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ (erschienen 1749). 1754 Tod Christian Wolffs (geb. 1679). 1755-März: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ 17. April, Einreichung der Magisterarbeit: „De igne“ 13. Mai, Magisterexamen 12. Juni Promotion 27. September, Habilitation mit der Schrift: „Principiorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“. 1756 10. April: Disputation Über „Monadologia Physica“. 1762 „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen“. 1763 „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“. 1764 Kant lehnt Professur der Dichtkunst in Königsberg ab. „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“; „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“. 2 1766 Kant wird Hilfsbibliothekar im königlichen Schloß. „Träume eines Geistersehers“. 1768 „Von dem ersten Grunde des Unterschied der Gegenden im Raume“. 1769 Ablehnung des Rufs an die Universität Erlangen. 1770 Ablehnung des Rufs an die Universität Jena. Kant wird ab 31. März ordentl. Professor für Metaphysik und Logik an der Universität Königsberg mit der öffentlich verteidigten Inauguraldissertation: „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“. 1771 Aufnahme der Arbeit zur „Kritik der reinen Vernunft“. 1771-1781 „Stilles Jahrzehnt“, es erscheinen lediglich drei unbedeutende Arbeiten. 1778 Ablehnung des Rufs an die Universität Halle. 1781 „Kritik der reinen Vernunft“ (erste Auflage = A). 1783 „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“. Kant erwirbt ein eigenes Haus. 1784 „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ 1785 „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. 1786 Kant wird zum Rektor der Universität Königsberg gewählt; Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“; „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“. Tod Friedrichs des Großen. 1787 „Kritik der reinen Vernunft“, zweite, stark überarbeitete Auflage 1788 „Kritik der praktischen Vernunft“. 1790 „Kritik der Urteilskraft“. 1791 Fichte besucht Kant. 1793 „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. 3 1794 Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Maßregelung Kants durch eine Königliche Kabinettsorder. „Das Ende aller Dinge“. 1795 „Zum ewigen Frieden“. 1796 Beendigung der Vorlesungstätigkeit. 1797 „Die Metaphysik der Sitten“. 1804 Kant verstirbt am 12. Februar in Königsberg. 4 Werkausgaben und Literatur zu Kant Ausgaben: - Immanuel Kant, Gesammelte Werke, hrsg. von der königlichen preußischen (später deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff (abgek.: AA). - Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Jens Timmermann, Neufassung der Ausgabe von R. Schmid), Hamburg 1998 (und weitere Studienausgaben, auch der übrigen Schriften Kants). Einführende Literatur: - Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre, ND: Darmstadt 1994 (kombinierte Darstellung von Kants Philosophie und Leben). - Otfried Höffe: Immanuel Kant, München 1988. - Georges Dicker: Kant’s Theory of Knowledge, Oxford 2004. Weiterführende Literatur zu Kants Erkenntnistheorie: - H. E. Allison: Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven/London 1983 (zweite Auflage 2004). - G. Mohr/M. Willaschek (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998. - N.K. Smith: A Commentary to Kant’s “Critique of Pure Reason”, London 21930. - H.J. Paton: Kant’s Metaphysic of Experience. A Commentary on the first half of the Kritik der reinen Vernunft, 2 Bd.e, London 41965. - P. Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987. - J. Bennett: Kant’s Analytic, Cambridge 1966. - P. F. Strawson: The Bounds of Sense, London 1966. - T. Grundmann: Analytische Transzendentalphilosophie, - R. Hanna: Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, Oxford 2001. - J. Van Cleve: Problems from Kant, New York/Oxford 1999. Zeitschriften zum Werk und zur Philosophie Kants: - Kant-Studien - Kantian Review 5 Ist Wissen gerechtfertigte, wahre Meinung? Gettier bringt zunächst die Konzeption von Wissen als gerechtfertigter, wahrer Meinung in folgende Form: S weiß, daß p gdw. (i) p wahr ist, (ii) S glaubt, daß p, (iii) S darin gerechtfertigt ist zu glauben, daß p. Diese Erklärung von Wissen ist problematisch. Denn nehmen wir an: Smith und Jones haben sich auf dieselbe Stelle beworben und Smith hat gute Gründe zu folgender Meinung: (a) Jones ist derjenige, der die Stelle erhalten wird und Jones hat zehn Münzen in seiner Tasche. Denn der Chef der Firma hat Smith versichert, nicht er, sondern Jones werde wohl die Stelle erhalten; ferner hat Smith kurz zuvor die zehn Münzen in Jones’ Tasche gezählt, so daß aus (a) folgt: (b) Derjenige, der die Stelle erhalten wird, hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Smith akzeptiert den Zusammenhang von (a) und (b) und ist demnach darin gerechtfertigt zu glauben, daß (b) wahr ist. Der Zufall will es aber, daß Smith nun doch die Stelle erhalten wird, was ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht bekannt ist; ebenso wenig ist ihm zu diesem Zeitpunkt bekannt, daß er selbst zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. In diesem Fall ist (b) wahr, obwohl (a) falsch ist. Dies bedeutet, daß das Folgende wahr ist: (i) (b) ist wahr, (ii) Smith glaubt, daß (b) wahr ist, und (iii) Smith ist darin gerechtfertigt zu glauben, daß (b) wahr ist. Damit zeigt sich, daß die Bestimmung von Wissen als gerechtfertigter, wahrer Meinung problematisch ist. 6 I. Erkenntnistheoretische Grundlagen 1.1. Empirismus, Rationalismus und Metaphysik-Kritik Die systematische Grundlage einer Erkenntnistheorie: a) Begriffsdefinition von Wissen und der Kriterien von Erkenntnis (Probleme der Gettier-Fälle: Wissen als wahre, gerechtfertigte Meinung) oder b) Analyse der Quellen der Erkenntnis (Kant: reine und empirische Erkenntnis) Der „sichere Gang“ einer Wissenschaft und die Kritik der Metaphysik (Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft): „Sicherer Gang“ einer Wissenschaft: - Logik (Aristoteles) - Mathematik (z. B. Thales) - Physik (z. B. Bacon, Galilei) Kein „sicherer Gang“ einer Wissenschaft: - Metaphysik als - metaphysica generalis: Lehre vom Seienden als solchen (Ontologie) - metaphysica specialis: Lehre von Seele, Welt, Gott als den Objekten reiner Vernunfterkenntnis. 7 Metaphysikkritik und Kopernikanische Wende - Ausgangsfrage: Geht die Metaphysik wie Mathematik und Physik den „sicheren Gang“ eine Wissenschaft“? - Forderung: Wie in Mathematik und Physik soll sich auch in der Metaphysik eine „Revolution“ oder „Umänderung der Denkart“ vollziehen. - Der Erkenntnisanspruch der Metaphysik: Erkenntnis a priori aus reiner Vernunft. - Zwei Grundmodelle der Erkenntnis: a) das Modell der Objektabhängigkeit der Erkenntnis: Erkenntnis richtet sich nach den Gegenständen; b) das Modell der Erkenntnisabhängigkeit der Gegenstände: die Gegenstände richten sich nach der Erkenntnis; - Welchem Modell muß die Metaphysik folgen, um ihrem Anspruch auf Erkenntnis a priori gerecht werden zu können? Kant Antwort: Erkenntnis a priori kann nur im Modell der Erkenntnisabhängigkeit der Gegenstände gerechtfertigt werden. - Die „Revolution“ der Denkart als Kopernikanische Wende in der Metaphysik (keine „Ptolemäische Gegenrevolution“, wie Russell meint): a) Im Ptolemäischen geozentrischen Weltbild: der Betrachter ruht, die Sterne bewegen sich Objektabhängigkeit der Erkenntnis. b) Im Kopernikanischen heliozentrischen Weltbild: die Sterne ruhen, der Betrachter dreht sich Erkenntnisabhängigkeit der Gegenstände. [Literatur: Artikel „Kopernikanische Wende“ und „Kopernikus“ in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, S. 469ff.] 8 - Problem: Die Metapher des Kopernikanischen geozentrischen Weltbildes läßt sich nicht ohne weiteres auf das Modell der Erkenntnisabhängigkeit der Gegenstände übertragen. Kant geht es wohl lediglich um die Idee der „Revolution der Denkart“, wie sie in der Astronomie durch Kopernikus vollzogen wurde und nicht um eine Analogie im strengen Sinne. - Experiment der Vernunft mit sich selbst analog zur Naturwissenschaft: Widersprüche der Metaphysik treten im Modell der Objektabhängigkeit der Erkenntnis auf, im Modell Erkenntnisabhängigkeit der Gegenstände belieben sie aus. Also: Das Modell der Objektabhängigkeit der Erkenntnis ist nicht dazu geeignet, Erkenntnis a priori in der Metaphysik zu erklären. Die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis als angeborenes Wissen berücksichtigt Kant in diesem Zusammenhang nicht. 9 Drei Bedeutungen von „Kritik der reinen Vernunft“: i. methodische Bedeutung von „Kritik“: Kritik, deren Gegenstand die reine Vernunft ist; ii. „Kritik“ als System rationaler Erkenntnis: Kritik, die durch die reine Vernunft ausgeführt wird; iii. selbstreflexive Bedeutung von „Kritik“: reine Vernunft selbst als Subjekt und Objekt der Kritik; „Selbstkritik“ der reinen Vernunft. [vgl. Hans Vaihinger: „Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft“, 117ff.; Smith: Commentary to Kant’s Critique of Pure Reason, S. 1-3.] 10 Idealtypische Grundthesen des Empirismus: - es gibt zwei Arten von Wahrheiten: apriorische Vernunftwahrheiten und empirische Tatsachenwahrheiten (vor allem Hume); - Vernunftwahrheiten sind analytisch (Beziehungen von Vorstellungen, Hume) und notwendig, handeln aber nicht von der Welt, da sich in der Welt keine notwendigen Tatsachen entdecken lassen; - Wissen von der Welt ist immer durch Ideen oder Vorstellungen vermittelt, die der Welt entsprechen; - alle Ideen oder Vorstellungen werden durch sinnliche Erfahrung erworben, so daß es keine angeborenen bzw. apriorischen Ideen oder Vorstellungen geben kann; - alle wahren Urteile über die Welt gehen einzig auf die Erfahrung zurück. Idealtypische Grundthesen des Rationalismus: - es gibt zwei Arten von Wahrheiten: apriorische Vernunftwahrheiten und empirische Tatsachenwahrheiten (vor allem Leibniz); - Vernunftwahrheiten beschreiben die Welt objektiv; in der Welt lassen sich notwendige Tatsachen entdecken; - Wissen von der Welt ist immer durch Ideen oder Vorstellungen vermittelt, die der Welt entsprechen; - nicht alle Ideen oder Vorstellungen werden durch sinnliche Erfahrung erworben; es gibt angeborene, apriorische Ideen oder Vorstellungen, die ein notwendiges Wissen über die Welt repräsentieren; - Quelle unserer wahren Urteile ist die reine Vernunft, durch die wir angeborene Ideen als Repräsentationen notwendiger wesenhafter Sachverhalte erkennen. 11 [Literaturhinweis: R. Hanna: Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, S. 25ff.] 12 1.2. Reine und empirische Erkenntnis Drei Unterscheidungen: - rein – empirisch = epistemische Unterscheidung aufgrund der Quellen der Erkenntnis - notwendig – zufällig = modale oder metaphysische Unterscheidung aufgrund zweier unterschiedlicher Arten von Wahrheit - analytisch – synthetisch = semantische Unterscheidung aufgrund der Bedeutung der verwendeten Begriffe Erkenntnisanfang und Erkenntnisursprung: - zeitlicher Anfang der Erkenntnis mit der Erfahrung - logischer Ursprung der Erkenntnis vor der Efahrung Reine und empirische Erkenntnis Rechtfertigung Rechtfertigung unabhängig v. abhängig von Reine notwendig streng Erfahrung Erfahrung allgemein Ja Nein Ja Ja Nein Ja Nein Nein Erkenntnis Empirische Erkenntnis 13 Analytische und synthetische Urteile Kants Definition analytischer Urteile: Ein Urteil, in dem das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird, ist analytisch = „das Prädicat B gehört zum Subject A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckter Weise) enthalten ist“. (KrV, B 10). Grundsätzliches zum analytischen Urteil – drei Typen: 1.) analytisch wahr aufgrund der Bedeutung der verwendeten Begriffe; 2.) analytische Urteile als begriffliche Wahrheiten; 3.) analytische wahr aufgrund der logischen Form von Urteilen. Kennzeichen analytischer Urteile nach Kant: - Satz vom Widerspruch als allgemein hinreichendes Kriterium der Wahrheit; - Unabhängigkeit seiner Wahrheit von Erfahrung; - Erkenntnis a priori; - Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit; - bejahende analytische Urteile beruhen auf Identität von Prädikat und Subjekt; 14 Kants Beispiele für analytische Urteile: „Alle Körper sind ausgedehnt.“ (KrV, B 11); Der Begriff des Körpers besitzt die „Merkmale der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt“ (KrV, B 12); „a=a, das Ganze ist sich selber gleich“ (KrV, B 17); „(a+b)>a, d.i. das Ganze ist größer als sein Theil“ (KrV, B 17); „Keinem Dinge kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht“ (Satz des Widerspruchs, KrV, B 190); „Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt“ (KrV, B 192); „Der Satz der Identität meiner selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein eben so wohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz“ (KrV, B 408); „Gold ist ein gelbes Metall“ (Prolegomena, §2, b); „Ein jeder Körper ist theilbar“ (Über eine Entdeckung, AA VIII, 229) „der Mensch ist Mensch“ (analytischer als tautologischer Satz; Jäsche Logik, AA IX, 111). [Literaturhinweise: Konrad Cramer: Die Einleitung, in: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, S. 57-79; Dicker: Kant’s Theory of Knowledge, S. 10ff.; Hanna: Kant and the Foundations, S. 120ff; Saul Kripke: Naming and Necessity, Oxford 1972, 54ff, 128ff; Quine, W.V.O.: Two dogmas of Empiricism, in: Ders., From a Logical Point of View, Cambridge/London 1980, S. 20-46]. 15 Analytische und synthetische Urteile Welche Urteilsarten gibt es? a priori a posteriori ? ? Urteile ? ? Empirismus a priori a posteriori ja nein Urteile nein ja Rationalismus a priori a posteriori ja nein ja ja Möglichkeiten analytische Urteile synthetische analytische Urteile synthetische analytische Urteile synthetische Urteile 16 Das synthetische Urteil a priori Urteilsarten bei Kant: Kant a priori a posteriori ja nein ja ja analytische Urteile synthetische Urteile Die Rechtfertigung von synthetischen Urteilen a priori: Kant analytische wahr aufgrund empirische von Bedeutung Anschauung reine (SvW) (Erfahrung) Anschauung X Urteile synthetische Urteile X a posteriori synthetische Urteile X a priori 17 Sinnlichkeit und Verstand: Der systematische Aufbau der Kantischen Erkenntnistheorie Sinnlichkeit Verstand Theorie der reinen Anschauung: Theorie des reinen Verstandes Transzendentale Ästhetik (Begriffe a priori/Kategorien): Raum Transzendentale Logik Zeit Transzendentale Analytik Urteilstafel (formale Logik) Kategorientafel (transzendentale Logik) Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien) Möglichkeit objektiver Erkenntnis in der Transz. Analytik gezeigt durch: - Schematismus der reinen Verstandesbegriffe (Anwendungsbedingungen von Kategorien auf sinnliche Anschauungen). - Grundsätze des reinen Verstandes (als allein mögliche synthetische Urteile a priori und allgemeinste Sätze über die Erkenntnis der Natur) 18 Thesen der Raum- und Zeitargumente der Transzendentalen Ästhetik (Kritik der reinen Vernunft, B 37ff., B 46ff.) Raumargumente: 1) Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. 2) Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. 3) Der Raum ist kein diskursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. 4) Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt. Zeitargumente: 1) Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. 2) Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. 3) Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich auch die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit oder Axiomen von der Zeit überhaupt. 4) Die Zeit ist kein diskursiver oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung. 5) Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei. 19 Anschauung und Begriff Sinnlichkeit Verstand = Vermögen der sinnlichen = Vermögen, Vorstellungen selbst Gegebenheitsweise von hervorzubringen, zu denken Vorstellungen Sinnliche Affektion Funktion Rezeptivität Spontaneität Anschauung als Begriff als repraesentatio singularis repraesentatio universalis Anschauung: Begriff: - unmittelbarer Gegenstandsbezug - mittelbarer Gegenstandsbezug - Gegebenheitsweise von rezeptiven - gedachte Vorstellung Vorstellungen - angewiesen auf Funktion - angewiesen auf sinnliche Affektion - abstrakte, diskursive Vorstellung Reine und empirische Anschauung: - empirische Anschauung: Empfindung ist die Wirkung durch sinnliche Affektion; ist „Empfindung“ der Grund der Beziehung einer Anschauung auf einen Gegenstand, so ist sie empirisch; - Erscheinung = unbestimmter Gegenstand einer empirischen Anschauung; - Materie und Form der Erscheinung: Erscheinung Materie (emp. Empfindungsgehalt) Form (apriorische Anordnungsgrundlage des empirischen Mannigfaltigen = reine Anschauung) 20 Das Problem inkongruenter Gegenstücke (Kant: Vom ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raum, 1768) Problem: Ist der Raum relational oder absolut? Leibniz: Der Raum ist relational, weil er aus den Verhältnissen von unräumlichen Substanzen konstituiert wird. Newton: Der Raum ist absolut, weil er unabhängig von der Materie existiert. Kants These: „daß und der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie ist selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe.“ Dies zeigt das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke: Definition: „Gegenstück“ Das Gegenstück eines Körpers ist sein Spiegelbild, so daß die perpendikulare Projektion jedes Punktes entlang einer Linie auf jeder Seite dieselbe Entfernung misst. – Beispiel: Spiegelung einer Hand 21 Definition: „inkongruente Gegenstücke“ Der Körper x ist das inkongruente Gegenstück des Körpers y, wenn x und y einander „völlig gleich und ähnlich“ sind, x aber nicht in denselben räumlichen Grenzen umschlossen werden kann wie y (gilt auch für Flächen). – Beispiel: „rechte-linke Hand“ Interne Relationen inkongruenter Gegenstücke: Kants Argument: Nach Leibniz’ Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren müssten die rechte und die linke Hand identisch sein, da alle ihre internen Relationen identisch sind. In der Realität sind die rechte und die linke Hand aber numerisch verschieden, also ist die Leibnizsche Raumauffassung unhaltbar (weiter Beispiele: Schraubengänge, (sphärische) Dreiecke etc.). Literatur: Holger Lyre: Metaphysik im „Handumdrehen“: Kant und Earman, Parität und moderne Raumauffassung, in: Philosophia naturalis 42, 1 (2005) 22 James Van Cleve/R.E. Frederick (Hrsg.): The Philosophy of Left and Right, Dordrecht 1991. 23 Die „Metaphysische Erörterung“ von Raum und Zeit (KrV, B 37ff.; 46ff.) Erstes Raumargument: „1) Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d.i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darin ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. [...].“ Erstes Zeitargument: „Die Zeit ist 1) kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge. Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen: daß einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nach einander) sei.“ 24 Zweites Raumargument: „2) Der Raum ist eine nothwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen und ist eine Vorstellung a priori, die nothwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“ Zweites Zeitargument: „2) Die Zeit ist eine nothwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich. Diese können insgesammt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit) kann nicht aufgehoben werden.“ 25 Drittes Raumargument: „3) Der Raum ist kein discursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. Denn erstlich kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Theile eines und desselben alleinigen Raumes. Diese Theile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandtheile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt beruht lediglich auf Einschränkungen. Hieraus folgt, daß in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt. [...]“ Viertes Zeitargument: „4) Die Zeit ist kein discursiver oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung. Verschiedene Zeiten sind nur Theile eben derselben Zeit. Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung. Auch würde sich der Satz, daß verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können, aus einem allgemeinen Begriff nicht herleiten lassen. Der Satz ist synthetisch und kann aus Begriffen allein nicht entspringen. Er ist also in der Anschauung und Vorstellung der Zeit unmittelbar enthalten.“ 26 Viertes Raumargument: „4) Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt. Nun muß man zwar einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält; aber kein Begriff als ein solcher kann so gedacht werden, als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte. Gleichwohl wird der Raum so gedacht (denn alle Theile des Raumes ins unendliche sind zugleich). Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori und nicht Begriff.“ Fünftes Zeitargument: „5) Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei. Daher muß die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein. Wovon aber die Theile selbst und jede Größe eines Gegenstandes nur durch Einschränkung bestimmt vorgestellt werden können, da muß die ganze Vorstellung nicht durch Begriffe gegeben sein (denn die enthalten nur Theilvorstellungen), sondern es muß ihnen unmittelbare Anschauung zum Grunde liegen.“ 27 Drittes Zeitargument: „3) Auf diese Nothwendigkeit a priori gründet sich auch die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit oder Axiomen von der Zeit überhaupt. Sie hat nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nach einander (so wie verschiedene Räume nicht nach einander, sondern zugleich sind). Diese Grundsätze können aus der Erfahrung nicht gezogen werden, denn diese würde weder strenge Allgemeinheit, noch apodiktische Gewißheit geben. Wir würden nur sagen können: so lehrt es die gemeine Wahrnehmung; nicht aber: so muß es sich verhalten. Diese Grundsätze gelten als Regeln, unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind, und belehren uns vor derselben und nicht durch dieselbe.“ Literaturhinweise zur Transzendentalen Ästhetik: Baum, M.: Kants Raumargumente und die Begründung des transzendentalen Idealismus, in: Kant. Analysen - Probleme - Kritik, Bd.II, hg.v. H. Oberer, Würzburg 1996, S.41-63. Dicker, G.: Kant’s Theory of Knowledge, Oxford 2004, Kap. II. Düsing, Klaus: Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption, in: Kant-Studien 71 (1980), S.1-34. Falkenstein, L.: Kant’s Intuitionism. A Commentary on the Transcendental Aesthetic, Toronto 1995. Krüger, G.: Über Kants Lehre von der Zeit, in: Anteile: Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1950, S.178-211. Mittelstaedt, P.: Philosophische Probleme der modernen Physik, Mannheim u. .a. 71989, Kap. I und II. Moreau, J.: Le temps, la succession et le sens interne, in: Akten des Vierten Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1974, I, hg.v. G. Funke, Berlin, New York 1974, S.184-200 Paton, H.J.: Kant’s Metaphysic of Experience. A Commentary on the first half of the Kritik der reinen Vernunft, Bd. I, London 41965, Kapitel IV-VIII. Rameil, U.: Raum und Außenwelt. Untersuchungen zu Kants kritischem Idealismus, Diss., Köln 1977. Smith, N.K.: A Commentary to Kant’s “Critique of Pure Reason”, London 21930, S. 79166. Strawson, P.F.: The Bounds of Sense, London 1966, Kap. II/1. Vaihinger, H.: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde., Stuttgart 21922. 28 „Stufenleiter“ der „Vorstellungsarten“ (A320/B376f.) repraesentatio (Vorstellung überhaupt) perceptio (Vorstellung mit Bewußtsein) sensatio (subjektive Perzeption, cognitio (objektive Perzeption, Empfindung) intuitus (Anschauung) Erkenntnis) conceptus (Begriff) empirischer Begriff reiner Begriff Verstandesbegriff Vernunftbegriff 29 Transzendentaler Idealismus und empirischer Realismus Kants Definition des transzendentalen Idealismus: „Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealism aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen und nicht als Dinge an sich selbst ansehen, und dem gemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für sich gegebene Bestimmungen oder Bedingungen der Objekte als Dinge an sich selbst sind.“ (KrV A 369; vgl. B 518f.). „Zwei-Aspekte“-These = epistemologische These (Henry E. Allison: Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, zweite Auflage, New Haven/London 2004, S. 16): „[...] the transcendental distinction between appearances and things in themselves [to be] understood as holding between two ways of considering things (as they appear and as they are in themselves) rather than as […] two ontological sets of entities (appearances and things in themselves). In this regard it may be characterized as a “two-aspect” reading.” “Zwei-Objekte”-These = ontologische These (Paul Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, S. 335): Der transzendentale Idealismus “includes two classes of objects, namely things like tables and chairs and our representations of them. […] Kant is led, not to sceptical doubt, but to the dogmatic assertion that things in themselves are not spatial and temporal […] – space and time cannot really be properties of the things to which we ultimately intend to refer.” (vgl. auch Rae Langtons realistische Deutung des Dinges an sich in: Kantian Humility: Our Ignorance of Things in Themselves, Oxford 1998). 30 Tafel der logischen Funktionen der Verstandes in Urteilen (KrV B 95) 1. Quantität der Urteile Allgemeine: Alle S sind P. Besondere: Einige S sind P. Einzelne: Ein S ist P. 2. Qualität 3. Relation Bejahende: S ist P. Kategorische: S ist P. Verneinende: S ist nicht P. Hypothet.: Wenn ‚S ist P’, dann Q Unendliche: S ist Nicht-P. Disjunkt.: S ist entweder P oder Q 4. Modalität Problematische: Es ist möglich, dass ‚S ist P’ Assertorische: Es ist der Fall, dass ‚S ist P’ Apodiktische: Es ist notwendig, dass ‚S ist P’ Literatur zur Urteilstafel: - K. Reich: Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, Hamburg 3 1986, - M. Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, Frankfurt a. M. 1995 - R. Brandt: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A67-76, B92-101, Hamburg 1991 - L. Krüger: ‚Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen?‘, in: Kant-Studien 59 (1968), S. 333-356 - Beiträge in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 406459 31 Tafel der Kategorien (KrV B 106) Literatur zur Kategorientafel: - Béatrice Longuenesse: Kant and the capacity to judge, Princeton 1998 - Heinz Heimsoeth: Zur Herkunft und Entwicklung von Kants Kategorientafel, in: Ders., Studien zur Philosophie Immanuel Kants II, Bonn 1970, S. 109-132 - Gisela H. Lorenz: Das Problem der Erklärung der Kategorien. Eine Untersuchung der formalen Strukturelemente der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (Kantstudien Ergänzungsheft 118), Berlin/New York 1986 - M. Frede/L. Krüger: Über die Zuordnung der Quantitäten des Urteils und der Kategorien der Größe bei Kant, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hrsg. von G. Prauss, Köln 1973, S. 130-150. 1.Der Quantität: Einheit Vielheit Allheit 2. Qualität 3. Relation Realität Substanz Negation Kausalität Limitation Gemeinschaft 4. Der Modalität: Möglichkeit — Unmöglichkeit 32 Dasein — Nichtsein Nothwendigkeit — Zufälligkeit 33 Der Argumentationsgang gemäß den Prolegomena Das Ausgangsproblem: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Der Metaphysik geht es um reine Erkenntnisse, die sie in Urteilen a priori formuliert. Dabei sind analytische Urteile von synthetischen Urteilen a posteriori und a priori zu unterscheiden. Die Metaphysik enthält synthetische Urteile a priori. Gibt es aber überhaupt synthetische Urteile a priori? Es gibt synthetische Urteile a priori in der Mathematik. Das rechtfertigende Dritte in mathematischen Urteilen ist die reine Anschauung. Wie aber ist reine Anschauung möglich? Reine Anschauung ist möglich, weil Raum und Zeit reine Formen der Sinnlichkeit sind. Das heißt die Gegenstände unserer Erfahrung sind Erscheinungen und nicht Dinge an sich, denn sonst hätten wir keine Anschauung a priori. Dies zeigt auch das Problem inkongruenter Gegenstücke. Raum und Zeit sind die Formen a priori unserer äußeren und inneren Anschauung, unserer Sinnlichkeit. Also: Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung können nur Gegenstände in Raum und Zeit sein. Gibt es auch reine Formen des Denkens? 34 Urteilsformen – Kategorien – Grundsätze des reinen Verstandes Wenn wir denken, verwenden wir Begriffe, indem wir sie in Urteilen miteinander verbinden Die Verbindung von Begriffen in Urteilen wird durch logische Formen a priori, den Urteilsfunktionen, geregelt. Auf sie stoßen wir durch die logische Analyse („Zergliederung“) unserer Urteile. Urteilen besteht aber nicht nur in der formalen Verknüpfung von Begriffen, sondern darüber hinaus in der Synthesis von sinnlichen Anschauungen. Auch die Verknüpfung von sinnlichen Anschauungen wird durch Formen a priori, den Kategorien, geregelt. Verstandeskategorien sind nichts anderes als Urteilsformen, die auf Anschauungen angewendet werden. Kategorien sind folglich Formen a priori, denen gemäß wir Gegenstände einer uns möglichen Anschauung denken. Ihre Tafel korrespondiert mit der Tafel der Urteilsfunktionen. Aus der Tafel der Kategorien wird die Tafel der Grundsätze a priori entwickelt, in denen Wahrnehmungen unter reine Verstandeskategorien subsumiert werden. Die Tafel der Grundsätze enthält die allgemeinsten Naturgesetze. Da es sich hierbei um synthetische Urteile a priori handelt, sind sie die notwendigen Bedingungen einer uns möglichen Erfahrung. 35 Anschauungsarten und Beweisschritte in der transzendentalen Deduktion Anschauung sinnliche Anschauung sinnliche Anschauung überhaupt nichtsinnliche, intellektuelle Anschauung unsere sinnliche Anschauung in Raum und Zeit Die zwei Beweisschritte der transzendentalen Deduktion (KrV, B) 1. Beweisschritt (§§15-21): Kategorien sind die notwendigen synthetischen Einheitsbegriffe für Gegenstände der sinnlichen Anschauung überhaupt. 2. Beweisschritt (§§22-27): Kategorien sind die notwendigen synthetischen Einheitsbegriffe für Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung in Raum und Zeit. Das heißt, sie gelten nur von Erscheinungen und haben keine objektive Gültigkeit für: a) Objekte einer intellektuellen Anschauung, die ohnehin nicht auf Anschauungssynthesis angewiesen ist; b) Gegenstände einer sinnlichen Anschauung, deren Formen nicht Raum und Zeit sind. 36 Literatur zur transzendentalen Deduktion der Kategorien: Ameriks, K., 1978, Kant‘s Transcendental Deduction as a Regressive Argument, in: Kant-Studien 69, S. 273-285. Ameriks, K., 2000 b, Kant and the Fate of Autonomy: Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy, Cambridge: Cambridge UP Ameriks, K., 22000 a, Kant’s Theory of Mind, Oxford: Oxford UP. Baum, M.: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft, Königstein/Ts. 1986. Baumanns, Peter, Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (B). Ein kritischer Forschungsbericht, Teil 1 und 2, in: Kant-Studien 82 (1991), 329-348 und 436-455, Teil 3 und 4, in: KantStudien 83 (1992), 60-83 und 185-207. Bennett, J.: Kant’s Analytic, London 1966. Bieri, P. u.a. (Hg.): Transcendental Arguments and Science, Dordrecht 1979. Blasche, S.: Selbstaffektion und Schematismus. Kants transzendentale Deduktion als Lösung eines apriorischen Universalienproblems, in: Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, hg.v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1988, S.91-113. Carl, Wolfgang, Die Transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt/M.: Klostermann 1992. Carl, Wolfgang, Der schweigende Kant. Die Entwürfe zu einer Deduktion der Kategorien vor 1781, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1989 37 Cramer, K.: Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, in: Theorie der Subjektivität, hg.v. ders. u.a., Frankfurt a.M. 1987, S.167-202. Dryer, D.P.: Kant’s Solution for Verification in Metaphysics, Toronto 1966. Düsing, K.: Constitution and Structure of Self-Identity: Kant’s Theory of Apperception and Hegel’s Criticism, in: Midwest Studies in Philosophy 8 (1983), S.409-431. Grundmann, Th.: Analytische Transzendentalphilosophie, Paderborn 1994. Guyer, P.: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1988. Hanna, R., 2001, Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, Oxford: Clarendon Press. Henrich, Dieter, The Proof-Structure of Kant’s Transcendental Deduction, in: Review of Metaphysics 22 (1969), 640-659. Henrich, D.: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976. Henrich, D.: Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion, in: Kant. Analysen - Probleme - Kritik, hg.v. H. Oberer und G. Seel, Würzburg 1988, S.39-70. Rorty, R., 1970, Strawson’s Objectivity Argument, in: The Review of Metaphysics 24, S. 207-244 Schaper, E., Vossenkuhl, W. (Hg.): Bedingung der Möglichkeit. ‘Transcendental Arguments’ und transzendentales Denken, Stuttgart 1984. Schaper, E., Vossenkuhl, W. (Hg.): Reading Kant. New Perspectives on Transcendental Arguments and Critical Philosophy, Oxford/New York 1989. Stern, R. (Hrsg.), 1999, Transcendental Arguments. Problems and Prospects, Oxford: Clarendon 38 Strawson, P.F.: The Bounds of Sense, London 1966. Stroud, B., 2000, Transcendental Arguments, in: B. Stroud (Hrsg.), Understanding Human Knowledge, Oxford: Oxford UP, S. 9-25 Sturma, D., 1985, Selbstbewußtsein bei Kant, Hildesheim: Olms. Tuschling, Burkhard (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin, New York: de Gruyter 1984 Van Cleve, J., 1999, Problems from Kant, New York/Oxford: Oxford UP. 39 Schematismus der reinen Verstandesbegriffe (KrV B 176ff.) 1.Der Quantität: „Zahl“ als das „reine Schema der Größe“ („Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt“) 2. Qualität 3. Relation Realität: Sein in der Zeit Substanz: Beharrlichkeit des Negation: Nichtsein in der Zeit Realen in der Zeit Limitation: - Kausalität: Sukzession des Mannigfaltigen nach einer Regel Gemeinschaft: Zugleichsein von etwas nach einer Regel. 4. Der Modalität: Möglichkeit: Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgendeiner Zeit Wirklichkeit: Dasein in einer bestimmten Zeit Notwendigkeit: Dasein eines Gegenstandes zu jeder Zeit 40 „System der Grundsätze“ (KrV B 187ff.) 1.Der Quantität: Axiome der Anschauung: „Alle Anschauungen sind extensive Größen.“ 2. Qualität 3. Relation Antizipationen d. Wahrnehmung: Analogien der Erfahrung: „In allen Erscheinungen hat das „Erfahrung ist nur durch die Reale ... intensive Größe, d. i. Vorstellung einer notwendigen einen Grad“ Verknüpfung der Erfahrung möglich“ 41 4. Der Modalität: Postulate des empirischen Denkens überhaupt: „1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existirt) nothwendig.“ 42 Die „Widerlegung des Idealismus“ (KrV B 274ff.) (A) „Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt.” (B) „Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus.” (KrV B 275). (C) Also setzt das Bewußtsein meines in der Zeit bestimmten Daseins etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. (D) „Nun ist das Bewußtsein in der Zeit mit dem Bewußtsein der Möglichkeit dieser Zeitbestimmung notwendig verbunden”. (E) „Also ist es auch mit der Existenz der Dinge außer mir, als Bedingung der Zeitbestimmung, notwendig verbunden” (KrV B 276). Literatur: - Allison, Henry E., Kant’s Transcendental idealism, An Interpretation and Defense, New Haven, London 22004. - Guyer, Paul, Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987. - Heidemann, Dietmar H., Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, (Kantstudien Ergänzungsheft 131), Berlin, New York 1998. - Klotz, Christian: Kants Widerlegung des Problematischen Idealismus, Göttingen 1993. - Müller-Lauter, Wolfgang: Kants Widerlegung des Materialen Idealismus, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), 60-82. 43