Kant leicht gemacht - ReadingSample - Beck-Shop

Werbung
Leicht gemacht 2707
Kant leicht gemacht
Eine Einführung in seine Philosophie
Bearbeitet von
Georg Römpp
2. verb. Aufl. 2007. Taschenbuch. 301 S. Paperback
ISBN 978 3 8252 2707 4
Format (B x L): 15 x 21,5 cm
Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte
Zu Inhaltsverzeichnis
schnell und portofrei erhältlich bei
Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.
Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm
durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr
als 8 Millionen Produkte.
UTB 2707
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
Beltz Verlag Weinheim · Basel
Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien
Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills
Wilhelm Fink Verlag München
A. Francke Verlag Tübingen und Basel
Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien
Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung Bad Heilbrunn
Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart
Mohr Siebeck Tübingen
C. F. Müller Verlag Heidelberg
Orell Füssli Verlag Zürich
Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main
Ernst Reinhardt Verlag München und Basel
Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich
Eugen Ulmer Verlag Stuttgart
UVK Verlagsgesellschaft Konstanz
Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
WUV Facultas Wien
Georg Römpp
Kant leicht gemacht
Eine Einführung in seine Philosophie
2., verbesserte Auflage
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2007
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8252-2707-4 (UTB)
ISBN 978-3-412-22106-5 (Böhlau)
Umschlagabbildung:
Immanuel Kant. Altersportrait. Holzstich von J.L.Raab
nach einem Gemälde von G. Doebler. Foto: akg-images.
© 2005 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln
Ursulaplatz 1, D-50668 Köln
Tel. (0221) 9 13 90-0, Fax (0221) 9 13 90-11
[email protected]
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Druck und Bindung: AALEXX Druck GmbH, Großburgwedel
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-8252-2707-4
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
7
Das Wahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Kants fundamentale Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2. Transzendentale Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.1 Das Prinzip der transzendentalen Ästhetik. . . . . . . . . . . . . . . 20
2.2 Der Raum als Form der Sinnlichkeit a priori . . . . . . . . . . . . . 34
2.3 Die Zeit als Form der Sinnlichkeit a priori . . . . . . . . . . . . . . . 45
3. Transzendentale Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.1 Kants Konzeption einer transzendentalen Logik . . . . . . . . . . 61
3.2 Die Urteilsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.3 Von den Urteilsformen zu den reinen Verstandesbegriffen . 82
3.4 Die Tafel der Kategorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
3.5 Das Ich der transzendentalen Apperzeption . . . . . . . . . . . . . 101
4. Die Grenzen der Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
II. Das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Kants fundamentale Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Das Gute im Wollen: Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Das Gesetz und die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Die Antinomie der Selbstverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Die Freiheit und das Factum der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Das Selbst der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Das Gute im Handeln: Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Freiheit und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Die Darstellung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Das allgemeine Gesetz der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Der rechtliche Mensch und sein Eigentum . . . . . . . . . . . . . .
4. Das Gute und der Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Das private Recht und der Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Das positive Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Der Rechtszustand und der Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die Grenzen der praktischen Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
129
144
144
154
160
165
173
173
183
190
200
216
216
225
233
241
6
Inhaltsverzeichnis
III. Das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Kants fundamentale Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Urteilskraft und das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Das Schöne und die Erkenntnisvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die Grenzen des ästhetischen Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
249
255
261
269
Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Vorwort
Daß die Sonne sich um die Erde dreht und deshalb im Osten aufsteigt und im
Westen untergeht, war viele Jahrhunderte lang eine selbstverständliche Gewißheit für jeden Menschen. Die meisten von uns glauben auch heute noch, daß sie
im Osten aufgeht und im Westen untergeht, aber nur wenige Menschen nehmen an, dies gehe darauf zurück, daß sie sich um die Erde drehe. Am Anfang
dieser Einsicht standen ein Problem und eine einfache Überlegung von Kopernikus. Sein Problem war, daß „es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht
gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer“.
Seine Überlegung war, „ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer
sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“1
Kants Philosophie – der viele Autoren den Status eines Äquivalents zu der
Überlegung des Kopernikus in der Philosophie zuschreiben – begann mit dem
Problem, daß rein aus der Erfahrung kein sicheres Wissen zu gewinnen ist. Auf
das Erfahrungswissen – sei es im Alltag oder in der Naturwissenschaft gewonnen – verlassen wir uns zwar täglich, wenn wir morgens die Kaffeemaschine
einschalten oder abends den Champagner aus dem Kühlschrank holen. Philosophen sind aber nicht restlos zufrieden, wenn der Kaffee heiß und der Champagner kalt ist. Sie möchten gerne noch darüber hinaus wissen, ob wir dies denn
auch ganz sicher wissen können. Normale Menschen antworten darauf mit
dem Hinweis, es sei doch schon immer so gewesen, worauf Philosophen nur ein
Wort sagen: Induktionsproblem. Damit ist die folgende Frage aufgeworfen. Aus
der Tatsache, daß bestimmte Zusammenhänge immer schon so waren, können
wir nicht schließen, sie werden auch in Zukunft so sein, außer wir nehmen ein
Prinzip an, das uns dies zu sagen erlaubt, aber wie begründen wir dieses Prinzip?
Aus Erfahrung? Dann brauchen wir ein Prinzip dafür, daß uns dies die Erfahrung lehren kann, denn gerade der Zweifel an der Erfahrung war es ja, der uns
nach einem solchen Prinzip zu suchen veranlaßte.
Bei Kant erscheint die Frage nach einem sicheren Wissen unter dem Titel
der Frage nach einem Wissen a priori, d. h. nach einem Wissen unabhängig von
der Erfahrung, aber doch so, daß es ein sicheres Erfahrungswissen möglich
macht. Deshalb kann Kant das Problem mit einem sicheren Wissen so formu1 So beschreibt dies Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (B XVI).
8
Vorwort
lieren: „Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten
müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne“. Das gleiche
gilt auch für die Begriffe, mit denen wir unsere Anschauungen zum Ausdruck
bringen: richten sie sich nach den Gegenständen, so können wir nichts sicher
wissen, denn die Erfahrung kann uns grundsätzlich immer täuschen. Kant hatte
aber auch eine Lösung dafür parat: „richtet sich aber der Gegenstand (...) nach der
Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz
wohl vorstellen“ – nämlich die Möglichkeit eines sicheren Wissens. Das gleiche
gilt für die Begriffe: richten sich die Begriffe nach den Gegenständen, so kann
ich nichts Sicheres von ihnen wissen; aber wir können ja auch annehmen, „die
Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene
Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen“.2
Damit ist das Prinzip einer Kritik der reinen Vernunft im Grunde schon vollständig angegeben, und der Leser/die Leserin wird in der Lage sein, alle Details
aus seiner/ihrer reinen Vernunft zu entwickeln. Falls nicht, so findet er/sie auf
den folgenden Seiten eine einfache Erörterung und Erklärung dieses einfachen
Prinzips, ob dessen Einfachheit er/sie nach der Lektüre nur noch fragen wird,
warum er/sie nicht selbst darauf gekommen sei. Und wenn man schon bei der
Kritik der Vernunft ist, dann kann man ja auch gleich fragen, ob wir denn auch
wissen können, was wir tun sollen. Auch dazu bietet uns Kant eine erschöpfende
Auskunft an, die prinzipiell genauso leicht zu verstehen ist wie die entsprechende Aufklärung über das Wissen auf dem Gebiet der Theorie. Falls der Leser/
die Leserin auch diese Erklärungen nicht aus der eigenen Vernunft entwickeln
kann oder will, so stehen ersatzweise ausführliche und einfache Erklärungen auf
den folgenden Seiten bereit.
Aber Kant hat sich nicht nur mit der theoretischen und der praktischen Vernunft beschäftigt – also nicht nur mit den Fragen ‚was können wir wissen?‘ und
‚was sollen wir tun?‘. In der ‚Kritik der Urteilskraft‘ erklärt er darüber hinaus, wie
es sich mit dem Schönen und mit der Beurteilung des Schönen im ‚ästhetischen
Urteil‘ verhält. Der Leser/die Leserin sollte schon jetzt beachten, daß diese Erörterungen in einem systematischen Zusammenhang mit den Problemen der
theoretischen Vernunft stehen, die in den ersten Kapiteln ‚leicht gemacht‘ werden. Deshalb ist es sinnvoll, zuerst diese Ausführungen zu lesen und es sich
nicht zu ‚leicht zu machen‘ und gleich zum Schönen zu eilen. Schließlich bietet
Kants Philosophie zum Wahren und Guten so viele spannende Gedanken an,
daß die Zeit wie im Fluge verstreichen wird, bis der Leser/die Leserin es sich
endlich ‚schön‘ machen kann.
2 B XVII
9
Vorwort
Auf den folgenden Seiten wird Kants Philosophie so ‚leicht gemacht‘, daß an
manchen Stellen ein Einhalten geboten erscheint, damit auch den schweren
Einsichten ihr Recht zukommt. Diese Aufgabe hat ein besonders geniales Tier
übernommen. Es handelt sich um die Katze Lucy, die mit tiefen Einsichten und
schwerwiegenden Bedenken die leichten Erörterungen bisweilen unterbricht.
Am besten geben wir ihr gleich das Wort. Anzumerken ist noch, daß sie nicht
nur Kants Werke (und die des Autors dieser Zeilen) gelesen hat, sondern auch
in der schönen Literatur bewandert ist, was sie nur zu gern zum besten gibt –
und dies am liebsten in ihrer Muttersprache.
„The increasing seriousness of
things, then – that’s the great
opportunity of jokes.“
[Leider ist Lucy nicht immer ganz originell, diese Weisheit z. B. hat sie von Henry James.]
Es ist für jeden Autor erfreulich, wenn ein Buch nach kurzer Zeit schon in der
2. Auflage erscheinen kann. Der Text wurde durchgesehen und an zahlreichen
Stellen verbessert. Es ist zu hoffen, daß die Lesbarkeit und die ‚usability‘ dadurch gewonnen haben. Die folgenden Ausführungen enthalten hoffentlich keine größeren Fehler oder Unrichtigkeiten. Wenn doch, so übernimmt Lucy die
gesamte Verantwortung.
Georg Römpp
10
Vorwort
I. Das Wahre
1. Kants fundamentale Einsicht
Wenn wir für unser Wissen beanspruchen, daß es ‚vernünftig‘ begründet sei,
d. h. daß wir es ‚aus der Vernunft‘ rechtfertigen können, „so muß darin etwas a
priori erkannt werden“ (B IX). Sprechen wir von der theoretischen Vernunft – um
die es in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ geht – so muß dieses apriorische Erkennen dazu benutzt werden, um „den Gegenstand“ der Erkenntnis bzw. dessen Begriff zu bestimmen. Damit unterscheidet sich die theoretische Vernunft von der
praktischen Vernunft, in der es darum geht, den Gegenstand zu machen und nicht
zu bestimmen – m. a. W.: in der wir ein Wissen suchen, das uns angibt, wie wir
handeln sollen. Einen solchen Begriff von Vernunft müssen wir nicht haben. Unsere Begriffe sind nicht durch sich selbst bestimmt, sondern wir bestimmen sie,
indem wir anderen ihre Bedeutung erklären. Dies kann auf verschiedene Weise
gelingen, solange wir von den Menschen verstanden werden, denen wir etwas
sagen wollen. Wenn wir aber Kants theoretische Philosophie verstehen wollen,
so müssen wir diesen Begriff von Vernunft akzeptieren und dürfen ihm nicht entgegenhalten, die Vernunft sei doch etwas ganz anderes. Daraus läßt sich zunächst ein ganz allgemeiner Hinweis entnehmen. Die Beschäftigung mit einer
bestimmten Philosophie ist stets auch das Erlernen einer Sprache, und je
schneller wir den Umgang mit dieser Sprache lernen, desto leichter wird es, die
damit verbundenen Gedanken zu verstehen. Darin liegt allerdings auch eine gewisse Gefahr. Bewegen wir uns nur noch in dieser Sprache, so fällt es schwer,
uns von den philosophischen Gedanken, die wir so erlernen, so weit zu distanzieren, daß wir sie in die größeren Zusammenhänge der Philosophiegeschichte
stellen und sie dann sogar noch kritisch betrachten können. Dennoch müssen
wir Kants Sprachgebrauch zunächst akzeptieren, wonach unter ‚Vernunft‘ eine
Tätigkeit des erkennenden Bewußtseins zu verstehen ist, durch die ein Wissen
a priori gefunden werden kann.
12
Kants fundamentale Einsicht
Metaphysik? Der Ball ist rund, und das
Spiel ist mit dem Schlußpfiff zu
Ende, soviel steht doch schon mal fest.
Alles andere ist doch bloß Theorie!
[Lucy, Katzen können nicht Fußball spielen ...!]
Eine solche Erkenntnis aus Vernunft, die a priori erkennt, nennt Kant ganz allgemein ‚Metaphysik‘. Er verwendet damit einen sehr alten Begriff, aber wir können es uns hier sparen, die Geschichte dieses Begriffs nachzuzeichnen.
Wichtiger ist, daß es Kant bei diesem Ausdruck nicht darum geht, die Gegenstände einer solchen Erkenntnis zu bezeichnen, sondern die Art und Weise, wie
sie gefunden werden – vor allem aber, wodurch sie begründet werden können.
Wenn mit ‚Metaphysik‘ also eine Erkenntnis bezeichnet wird, die aus der Vernunft und damit a priori begründet wird, so kann sie nicht empirisch sein. Eine
solche Erkenntnis kann also nicht aus der Erfahrung genommen und aus Erfahrung begründet werden; d. h. sie muß „jenseits der Erfahrung liegende Erkenntnis“
sein (P 265).3 Begründet werden kann sie weder aus der äußeren noch aus der
inneren Erfahrung. Diese besondere Art der Begründung, die hier bisher nur negativ angegeben ist, bezeichnet Kant als ‚a priori‘ – ‚vor‘ der Erfahrung im Sinne
von: nicht durch Erfahrung begründet. Damit wäre eine solche Erkenntnis aber
noch nicht von der Mathematik unterschieden, deren Sätze doch auch unabhängig von der Erfahrung begründet werden können. Es muß also noch ein zusätzliches Kriterium hinzugenommen werden, um die Erkenntnis aus Vernunft,
von der Kant unter dem Titel ‚Metaphysik‘ spricht, zu bestimmen.
Um das besondere Wissen, das ‚Metaphysik‘ ausmacht, nach seiner Begründungsart näher zu bestimmen, hat Kant die Urteile, aus denen unser Wissen besteht, mit Hilfe von zwei Kriterien in vier verschiedene Gruppen eingeteilt. (1)
Eines dieser Kriterien ist schon eingeführt worden: wenn es Urteile ‚a priori‘
gibt, so gibt es natürlich auch Urteile ‚a posteriori‘ – Urteile, die empirisch begründet werden, d. h. auf der Erfahrung beruhen. (2) Das zweite dieser Kriterien
3 Zitate im Text werden wie folgt angegeben: A mit Seitenzahl = Kritik der reinen
Vernunft 1787; B mit Seitenzahl = Kritik der reinen Vernunft 1781; P mit Seitenzahl
= Prolegomena, zitiert nach der Ausgabe im Felix Meiner Verlag (Philosophische
Bibliothek), aber mit Angabe der Seitenzahl der Ausgabe in Kants Gesammelten
Schriften (= Akademie-Ausgabe) Bd. IV, S. 253–383.
Kants fundamentale Einsicht
13
bezieht sich dagegen nicht auf die Begründungsart eines Urteils, sondern auf die
Beziehung, die in einem Urteil zwischen dem, wovon etwas ausgesagt wird, und
dem, was ausgesagt wird, bestehen kann. Ein Urteil kann nur erläuternd sein, d. h.
es gibt uns eigentlich keine Erkenntnis dem Inhalt nach, denn der Inhalt der Erkenntnis ist eigentlich schon im Begriff des Gegenstands, von dem etwas ausgesagt wird, enthalten. Ein ganz einfaches Beispiel: ‚Alle Schimmel sind weiß.‘ Das
Prädikat ist hier in der Bedeutung des Satzsubjekts schon enthalten, und wir lernen eigentlich nur etwas über diese Bedeutung. Kants Beispiel ist übrigens: ‚Jeder
Körper ist ausgedehnt‘; durch dieses Urteil „habe ich meinen Begriff vom Körper
nicht im mindesten erweitert, sondern ihn nur aufgelöst“ (P 266). Solche Urteile
nennt Kant analytisch und bezeichnet sie auch als „Erläuterungs-Urteile“ (B 11).
Ein Urteil kann aber auch erweiternd sein, d. h. es erweitert unsere Erkenntnis
nicht dadurch, daß es den Begriffsinhalt des Satzsubjekts erläutert, sondern indem es diesen Begriffsinhalt mit einem Prädikat verbindet, das in der Bedeutung
des Satzsubjekts noch nicht enthalten war. Ein ganz einfaches Beispiel: ‚Einige
Katzen sind genial‘; hier ist das Prädikat durchaus nicht in der Bedeutung des
Satzsubjekts enthalten, d. h. es ist nicht schon durch unsere Sprache gegeben,
daß Katzen eine solche Eigenschaft zuzuschreiben ist. Wenn wir eine solche Behauptung aufstellen, dann sind wir also über die bisherige Bedeutung des Begriffs
hinausgegangen und haben diesen Begriff mit einem Prädikat verbunden, das wir
nicht analytisch – also durch ‚Auflösung‘ (Analyse) des Begriffs – hätten finden
können. Kants Beispiel ist hier übrigens: ‚Einige Körper sind schwer‘ – dieser Satz
enthält „etwas im Prädikate, was in dem allgemeinen Begriffe vom Körper nicht wirklich gedacht wird; er vergrößert also meine Erkenntnis“ (P 266). Solche Urteile nennt
Kant synthetisch, und er bezeichnet sie auch als „Erweiterungs-Urteile“ (B 11).
Wir haben also nun zwei Kriterienpaare, mit deren Hilfe wir die Urteile einteilen können, in denen wir unser Wissen zum Ausdruck bringen:
a priori
– a posteriori
analytisch – synthetisch.
Verbinden wir diese Begriffe nun untereinander, so gelangen wir zu vier verschiedenen Urteilen:
– analytische Urteile a priori
– analytische Urteile a posteriori
– synthetische Urteile a priori
– synthetische Urteile a posteriori.
Von diesen vier Urteilsstrukturen machen drei keine Probleme, die wir im Zusammenhang mit der Erläuterung von Kants theoretischer Philosophie behandeln müßten:
– analytische Urteile a posteriori gibt es nicht (wenn das Prädikat schon in der
Bedeutung des Satzsubjekts enthalten ist, dann können wir nicht die Erfah-
14
Kants fundamentale Einsicht
rung zu Hilfe nehmen, um dieses Urteil zu begründen, sondern wir begründen es nach dem Widerspruchsprinzip, d. h. nach dem Prinzip vom zu
vermeidenden Widerspruch);
– synthetische Urteile a posteriori sind alle Erfahrungsurteile, die wir nicht aus
der Vernunft nehmen; hier verbinden wir das Satzsubjekt mit dem Prädikat,
indem wir uns auf „die vollständige Erfahrung von dem Gegenstande“ stützen;
– analytische Urteile a priori sind alle analytischen Urteile, denn um das Prädikat zu finden, das zu einem Satzsubjekt gehört, müssen wir in diesem Falle
nicht die Erfahrung zu Hilfe nehmen, sondern nur die Bedeutung des Satzsubjekts.
Es bleiben also noch die synthetischen Urteile a priori, und es sind genau diese
Urteile, mit Hilfe derer Kant die Erkenntnis aus Vernunft und die Metaphysik
charakterisiert. Wenn wir oben gesagt haben, daß in unserem Wissen dann Vernunft ist, wenn wir etwas a priori wissen, dann müssen wir jetzt ergänzen: eine
vernünftige Begründung kann dem Wissen dann zugeschrieben werden, wenn
es ein Wissen ist, das aus synthetischen Urteilen apriori besteht – kurz: aus
apriorisch-synthetischen Urteilen. Kant findet solche Urteile zunächst in der
Mathematik. Es muß uns hier nicht interessieren, wie er dies näher begründet.
Wichtiger ist die Behauptung, daß auch nicht-mathematische Urteile möglich
sind, die apriorisch-synthetisch begründet sind, und daß alle eigentlich metaphysischen Urteile apriorisch-synthetische Urteile sind:
„Allein die Erzeugung der Erkenntnis a priori, sowohl der Anschauung als Begriffen nach,
endlich auch synthetischer Sätze a priori und zwar in der philosophischen Erkenntnis,
macht den wesentlichen Inhalt der Metaphysik aus.“ (P 269)
Wir haben also nun drei Begriffe, die im Kantischen Sprachgebrauch im wesentlichen äquivalent gebraucht werden können: Metaphysik, Erkenntnis aus
Vernunft, Erkenntnis durch apriorisch-synthetische Urteile.
I was thrown out of college for
cheating on the metaphysics exam;
I looked into the soul of the boy
sitting next to me.
[Lucy, Woody Allen weiß nicht, was Metaphysik ist!]
Kants fundamentale Einsicht
15
In den ‚Prolegomena‘ bezieht sich Kant auf Hume, um darzustellen, wie fragwürdig eine solche Erkenntnisform doch eigentlich sei. Er verwendet dazu einen bestimmten Begriff aus der Metaphysik, nämlich genau den, den Hume
benutzt hatte, um die Unmöglichkeit einer Metaphysik darzulegen. Wir werden in einem späteren Abschnitt Kants Auffassung zu diesem Begriff näher erläutern, und wir werden sehen, daß gerade dieser Begriff besonders gut
geeignet ist, um Kants Lösung des Problems zu bestimmen, das Hume aufgeworfen hatte. Dieser Begriff ist der von der Verknüpfung von Ursache und
Wirkung, also der Begriff der Kausalität. Es mag zunächst seltsam erscheinen,
daß Kant diesen Begriff der Metaphysik zuordnet, aber dies ist dann verständlich, wenn wir Kants Begriff der Metaphysik berücksichtigen; auch der Begriff
der Kausalität kann nicht aus der Erfahrung entnommen werden, sondern wir
machen uns mit seiner Hilfe die Erfahrung verständlich, und ist dieser Begriff
nicht vernünftig begründet, so kann auch die Erfahrung nicht vernünftig verständlich werden. Kant führt Humes zentrale Behauptung so aus:
„Er bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und
aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Notwendigkeit; es ist
aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas Anderes notwendigerweise
auch sein müsse, und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung a priori
einführen lasse.“ (P 257)
Wir hatten oben bei den synthetischen Urteilen a posteriori – also den Erfahrungsurteilen – gesagt, der Verstand stützt sich hier auf ‚die vollständige Erfahrung‘ von dem Gegenstand. Warum kann dies im Falle der Kausalität nicht
gelingen? Nehmen wir das kausale Urteil ‚weil Lucy in der Sonne liegt, deshalb
wird ihr Fell warm‘. Ist dies nur ein Erfahrungsurteil? In gewissem Sinne ja, denn
ohne Erfahrung hätten wir keine Kenntnis davon, daß Lucy in der Sonne liegt
und daß ihr Fell warm ist. Aber können wir nur aufgrund von Erfahrung behaupten, Lucys Fell ist warm, weil sie in der Sonne liegt? Hume hatte genau dies
bestritten, indem er darauf hinwies, daß wir in einem solchen Fall nur zwei
Wahrnehmungen besitzen, nämlich ‚Lucy in der Sonne‘ und ‚Lucys warmes
Fell‘. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, daß wir beide Wahrnehmungen
durch ein ‚weil‘ verbinden, daß wir also den Begriff der Kausalität verwenden.
Hume hatte nicht vorgeschlagen, auf den Begriff der Kausalität deshalb zu verzichten. Kant hat das Problem, das Hume aufwarf, so bezeichnet:
„Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung
der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn dieses hatte Hume niemals in Zweifel
gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und auf solche Weise eine
von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit ... habe.“ (P 258/259)
16
Kants fundamentale Einsicht
Hume hatte also bestritten, daß dies ein Begriff sei, der sich aus Vernunft rechtfertigen lasse. Es handelt sich dieser Auffassung zufolge vielmehr um einen Begriff, den wir auf der Grundlage von Gewohnheiten verwenden. Wir verbinden
also zwei Wahrnehmungen, die wir oft zusammen vorgefunden haben, und von
denen wir deshalb annehmen, daß wir sie auch in Zukunft noch oft zusammen
antreffen werden, und sprechen in diesem Fall von Kausalität.
Dagegen wendet Kant nun ein, wir könnten diesen Begriff nicht auf der
Grundlage von Erfahrung verwenden:
„Erfahrung kann es nicht sein, weil der angeführte Grundsatz nicht allein mit größerer
Allgemeinheit, sondern auch mit dem Ausdruck der Notwendigkeit, mithin gänzlich a priori und aus bloßen Begriffen diese zweite Vorstellungen zu der ersteren hinzugefügt.“ (B 13)
Wir können dieser Stelle die beiden Begriffe der Allgemeinheit bzw. der Allgemeingültigkeit und der Notwendigkeit entnehmen, um sie zur Beschreibung des
Problems zu verwenden, vor das sich Kant in bezug auf die Erkenntnis aus Vernunft, also auf der Grundlage apriorisch-synthetischer Urteile, und damit in bezug auf die ‚Metaphysik‘ gestellt sah. Kant hatte die Tragweite der Hume’schen
Kritik durchaus in ihrer ganzen Bedeutung erkannt. Er erkannte zunächst, daß
der Einwand gegen die vernünftige Begründung des Begriffes der Kausalität
sich nicht auf die Urteilsform erstreckt, die diesen Begriff verwendet. Humes
Einwand gegen die Kausalität als Vernunftbegriff ließ sich leicht erweitern gegen alle Begriffe, mit deren Hilfe wir Allgemeinheit und Notwendigkeit von Erkenntnissen behaupten; Kant fand bald:
„daß der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige
sei, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß
Metaphysik ganz und gar daraus bestehe.“ (P 260)
Das Problem ist im Grunde identisch mit der Frage nach der sinnvollen Verwendung synthetisch-apriorischer Urteile, in denen eine Verbindung zwischen
Satzsubjekt und Prädikat behauptet wird, ohne daß man sich dazu auf die Erfahrung berufen kann. Wir können dies mit Hilfe der jetzt gefundenen Begriffe
der Allgemeinheit und Notwendigkeit verdeutlichen.
Was auf dem Spiele steht, wenn die vernunftgegründete – also nicht nur gewohnheitsmäßige oder pragmatische – Verwendung synthetisch-apriorischer
Urteile (wie etwa im Falle der Kausalität) bezweifelt wird, ist letztlich die objektive
und Notwendigkeit beanspruchende Geltung unserer Urteile über die Welt. Wir
könnten auch sagen: auf dem Spiele steht die Möglichkeit, eine sichere Erkenntnis von der Welt der Erfahrung gewinnen zu können. Kant formuliert dies so:
„Alle unsere Urteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile; sie gelten bloß für uns, d. i.
für unser Subjekt, und nur hintennach geben wir ihnen eine neue Beziehung, nämlich auf
Kants fundamentale Einsicht
17
ein Objekt und wollen, daß es auch für uns jederzeit und ebenso für jedermann gültig sein
solle; denn wenn ein Urteil mit einem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urteile
über denselben Gegenstand auch untereinander übereinstimmen, so bedeutet die objektive
Gültigkeit des Erfahrungsurteils nichts anderes als die notwendige Allgemeingültigkeit desselben.“ (P 298)
Es geht also um die Frage, ob wir über die Welt nur so urteilen können, daß wir
behaupten, für unsere Wahrnehmung ist es jetzt so, daß Lucy in der Sonne liegt
und ihr Fell warm ist, und wir haben das auch schon oft beobachtet, weshalb
wir gerne auch weiter davon ausgehen wollen, es werde sich auch in Zukunft
so verhalten, daß Lucys Fell warm wird, wenn sie in der Sonne liegt. So recht
genau wissen wir das allerdings nicht, und wenn andere das anders sehen, dann
soll es uns nicht stören.
Mit der Frage nach der Möglichkeit von synthetisch-apriorischen Erkenntnissen und damit nach der Möglichkeit von Metaphysik als vernunftgegründeter Erkenntnis steht auf dem Spiel also die Frage, ob wir unsere subjektive Erkenntnis auch auf ein Objekt beziehen können. Für einen solchen Bezug unserer
subjektiven Erkenntnisse auf Objekte gibt Kant zwei eng zusammenhängende
Kriterien an: Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit:
„Es sind daher objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann)
Wechselbegriffe, und ob wir gleich das Objekt an sich nicht kennen, so ist doch, wenn wir
ein Urteil als gemeingültig und mithin notwendig ansehen, eben darunter die objektive Gültigkeit verstanden.“
Noch anders gesagt:
„Wir erkennen durch dieses Urteil das Objekt (...) durch die allgemeingültige und notwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen.“ (P 298)
Wollen wir also behaupten, das Urteil ‚wenn Lucy in der Sonne liegt, so wird
ihr Fell warm‘, gelte nicht nur unter der Einschränkung ‚soweit wir dies bisher
wahrgenommen haben‘, sondern es gelte unbedingt und allgemein, so daß alle
erkennenden Subjekte zustimmen müssen, weil es sich nicht auf subjektive
Wahrnehmungen, sondern auf einen objektiven Zusammenhang stützt, so müssen wir Begriffe heranziehen, die wir nicht der Erfahrung entnehmen können,
sondern die wir nur aufgrund synthetisch-apriorischer Erkenntnis, also aufgrund reiner Vernunft, also aufgrund von Metaphysik als gültig behaupten
können. Es ist genau diese Problematik, die Kant in seiner theoretischen Philosophie untersucht, wenn er die Aufgabe in dem einen Satz zusammenfaßt:
„Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ (B 19)
18
Kants fundamentale Einsicht
„Es ist schon ein großer und nötiger
Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu
wissen, was man vernünftigerweise fragen
solle. Denn, wenn die Frage an sich ungereimt ist, und unnötige Antworten verlangt,
so hat sie, außer der Beschämung dessen,
der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten!“
[Manchmal hört sich Lucy ein wenig altklug an .... ; aber immerhin schreibt Kant das auch (B 82).]
Wir werden die Antwort, die Kant auf diese Frage und damit auf die zuvor erläuterten Probleme gibt, im folgenden genau entwickeln. Hier mag es genügen,
die ‚allgemeine Idee‘, der Kant dabei folgt, vorläufig zu skizzieren. Kant hat die
einfache Idee, die seiner theoretischen Philosophie zugrundeliegt, so ausgedrückt:
„Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten;
aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere
Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es
daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß
wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten“. (B XVI)
Diese ‚einfache Idee‘ bezeichnet das, was unter der Bezeichnung ‚Kopernikanische Wende‘ in der Philosophie bekannt wurde. Im folgenden wird diese Idee
aufgefächert unter den Titeln einer ‚Transzendentalen Ästhetik‘ und einer
‚Transzendentalen Logik‘. In beiden Teilen verfolgt Kant das gleiche Prinzip:
die transzendentale Ästhetik hat es mit der Anschauung zu tun und das Prinzip
lautet hier so:
„Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so
sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens,
so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“
Die transzendentale Logik hingegen hat es mit den Begriffen zu tun und das
Prinzip lautet hier so: wir müssen für ein Verständnis der Möglichkeit synthetisch-apriorischer Urteile annehmen,
„die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen“. (B XVII)
Kants fundamentale Einsicht
19
Wir sollten allerdings dabei nicht vergessen, daß die Frage nach der Möglichkeit apriorisch-synthetischer Urteile steht, nicht nach der Möglichkeit aposteriorisch-synthetischer Urteile. Deshalb kann es bei der Behauptung, die
‚Gegenstände‘ müßten sich nach ‚unserem‘ Erkenntnisvermögen richten, nicht
um die einzelnen Gegenstände in ihrer empirischen Gestalt gehen, wie wir sie
in unserem alltäglichen Leben erfahren. Wir hatten oben gesehen, daß es bei
der Frage nach der Möglichkeit reiner Vernunft und Metaphysik gerade um die
Möglichkeit einer objektiven und allgemeingültigen Erkenntnis geht. Deshalb
sind es auch nicht ‚wir‘ als ‚Menschen‘ im Sinne einer besonderen Spezies von
Lebewesen, nach denen sich die Gegenstände ‚richten‘, sondern sie richten sich
nach den Strukturbedingungen des erkennenden Bewußtseins, das nicht individuell ist und das nicht mit dem Begriff des ‚Menschen‘ als einer besonderen Spezies identifiziert werden darf. Wir werden auf dieses Problem insbesondere im
Zusammenhang mit der Thematik eines ‚Ich der transzendentalen Apperzeption‘ noch ausführlich zu sprechen kommen. Außerdem ‚richten‘ sich die Gegenstände nicht nach ‚uns‘ und auch nicht nach dem erkennenden Bewußtsein,
soweit es ihre ‚Materie‘ angeht, sondern nur im Hinblick auf die Formen, in denen sie angeschaut und begriffen werden können.
Was in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gesucht wird, nennt Kant eine transzendentale Erkenntnis:
„Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern
mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (B 25)
Davon unterscheidet er allerdings den Begriff der ‚Transzendental-Philosophie‘,
den er für ein in der Zukunft zu entwickelndes System apriorischer Begriffe reservieren will. In der Kategorienlehre wird sich zeigen, daß Kant ein solches System zumindest den Grundprinzipien nach durchaus auch schon in der ‚Kritik
der reinen Vernunft‘ ausarbeitet, die insofern auch als Transzendental-Philosophie bezeichnet werden kann. Wichtig ist aber, daß sich der Ausdruck ‚transzendental‘ auf die Erkenntnis von einer Erkenntnis bezieht und nicht selbst die
apriorischen Erkenntnisse betrifft. Man müsse also beachten,
„daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und
wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben [betreffend]) heißen müsse.“ (B 80)
Wenn wir also nun mit der ‚Transzendentalen Ästhetik‘ und hier mit der Erörterung des Raumes als einer reinen Anschauung a priori beginnen, so ist das
‚Transzendentale‘ dieser Erörterung (1) in der Erkenntnis zu sehen, daß die
Vorstellung des Raumes nicht aus der Erfahrung genommen wird, und (2) in
20
Transzendentale Ästhetik
der Einsicht, wie sich diese Vorstellung dennoch auf Erfahrungsgegenstände
beziehen kann bzw. muß.
2. Transzendentale Ästhetik
2.1 Das Prinzip der transzendentalen Ästhetik
Daß die Gedanken, die wir uns von der Welt und den Sachverhalten in ihr ‚machen‘, nicht nur von der Welt und den Sachverhalten bestimmt sind, ist eine aus
dem alltäglichen Leben vertraute Situation. Wir bringen die Erfahrungen unserer eigenen Lebensgeschichte, das, was uns andere Menschen gesagt haben,
was zu sagen üblich ist, und darüber hinaus ganz einfach unsere Vorurteile hinzu, wenn wir urteilen, wie es sich in der Welt verhält und was in ihr der Fall ist.
Kants grundsätzliche Behauptung in seiner transzendentalen Logik ist allerdings nicht, daß hier nur eine geschichtliche Bedingtheit vorliegt, sondern es
geht um einen systematischen Zusammenhang, der uns einen Aufschluß über
die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt gibt, also darüber,
wie wir zu Urteilen gelangen können, die einerseits von uns geformt und bestimmt sind, die aber andererseits doch etwas über die Welt und die Sachverhalte in ihr aussagen können. Nichtsdestoweniger, für den Grundgedanken der
transzendentalen Logik können wir einen Anknüpfungspunkt in unserer Lebenswelt finden. Insofern ist es nicht mit allzu großen Schwierigkeiten verbunden,
von hier aus den gedanklichen Sprung zu Kants transzendentalem Gedanken
über die apriorische Konstitution der objektiv gültigen Urteile über die Welt in
der subjektiven Konstitution des urteilenden Bewußtseins zu unternehmen.
Eine solche Anknüpfung steht für den Grundgedanken von Kants transzendentaler Ästhetik nicht zur Verfügung. Es erscheint weit weniger natürlich zu
sein, von Raum und Zeit als reinen apriorischen Formen der Anschauung zu sprechen und Raum und Zeit deshalb als die ‚subjektiven‘ Formen aufzufassen, in denen uns Anschauungen gegeben sind. Daß ‚wir‘ es sind, die denken, was wir eben
denken, und daß unsere Gedanken deshalb auch einiges von dem mitbekommen,
das zu ‚uns‘ gehört und nicht zu den Gegenständen oder Sachverhalten, auf die
sich unsere Gedanken beziehen, das ist deshalb leichter aufzufassen, weil wir relativ leicht bereit sind, unser Denken als einen aktiven Akt aufzufassen. Zwar soll
sich im Denken die Welt darstellen können, wie sie ist, aber das Denken ist doch
eine Leistung, und es geschieht nicht einfach, ohne daß ‚jemand‘ denkt.
Weit schwieriger erscheint der Gedanke, daß auch das ‚Gegebensein‘ der
Gegenstände unserer Erfahrung einen ‚subjektiven‘ Anteil haben soll. Man
könnte dagegen sofort einwenden, daß damit ein in sich widersprüchlicher Ge-
Herunterladen