Pressezentrum Dokument 0920 MA Sperrfrist: Donnerstag, 29. Mai 2003; 15:00 Uhr Veranstaltung: Religion in der Werkstatt "postsäkularen" Gesellschaft Titel: Religion und Recht Referent/in: Prof. Dr. Sabine Demel, Regensburg Ort: Französische Friedrichstadtkirche (Mitte) Programm Seite: 99 Das Gesetzesverständnis im Christentum / in der katholischen Kirche 1 Auch ChristInnen brauchen Gesetze als Schutz ihrer geschenkten Freiheit Wie jede Religion kennt auch das Christentum Recht und Gesetz.1 Sinn und Zweck von beiden ist es, die von Gott „geschenkte Freiheit zu bewahren und das Gottesverhältnis zu schützen.“2 Durch Recht und Gesetz wird die Freiheit des und der Einzelnen gesichert, aber zugleich auch begrenzt, und zwar an dem gleichen Freiheitsrecht des anderen und am Anspruch der Gemeinschaft.3 Dennoch werden von vielen ChristInnen immer wieder die provokanten Fragen gestellt: Was hat Gottesglaube mit Recht zu tun? Und was Liebe und Barmherzigkeit mit Gesetz? Beruht Kirche als geistliche Gemeinschaft nicht in erster Linie auf der Überzeugungstreue ihrer Glieder als auf äußerem Gesetzeszwang? Muss sie nicht immer wieder die freie innere Zustimmung fordern, statt auf bravem Rechtsverhalten zu bestehen? Auch wenn beide Fragen mit einem klaren Ja zu beantworten sind, kann und darf damit der Notwendigkeit von Recht und Gesetz auch und gerade in der geistlichen Gemeinschaft „Kirche“ keineswegs eine Absage erteilt werden. Denn das Abschaffen von Recht in der Kirche führt nicht von der sogemammtem Rechtskirche zur Liebes-, sondern zur Unrechtskirche, und das Abschaffen von kirchlichen Gesetzen führt keineswegs schnurstracks zur Freiheit, sondern zur Willkür. Dass Glaube und Gesetz, Recht und Barmherzigkeit keine Gegensätze sind, sondern vielmehr zusammengehören, hat schon Thomas von Aquin in der treffenden Sentenz zum Ausdruck gebracht: „Recht und Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit! Aber Barmherzigkeit ohne Recht ist Anarchie und Willkür.“4 D.h. also: Recht und Barmherzigkeit bzw. Glaube und Gesetz gehören zusammen, weder das eine noch das andere für sich allein genommen kann dem Menschen gerecht werden. 2 Christliche Gesetze stehen im Dienst des Heilsauftrags Jesu Christi 1 Vgl. dazu die Feststellung von Figl, J., Gesetz. I. Religionsgeschichtlich, in: LThK 4, Freiburg 1995, 579f, 580: „Eine in jeder Hinsicht gesetzesfreie Religion kennen wir nicht.“ 2 Hossfeld, F.-L., Gesetz. II. Altes Testament, in: LThK 4, Freiburg 1995, 580 – 583, 581. 3 Vgl. Scheuermann, A., Die Rechtsgestalt der Kirche, in: Die Kirche. Fünfzehn Betrachtungen, Würzburg 1978, 69 – 82, 71. 4 Thomas von Aquin in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium 5,2. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 Ursprung und Wesen des Christentums ist die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die verbindliche Lebensordnung jeder christlichen Gemeinschaft muss daher an der Offenbarung Maß nehmen und ihr entsprechend ausgestaltet werden.5 Daher muss das kirchliche Recht einer christlichen Gemeinschaft eine Friedens- und Freiheitsordnung geben, die so gestaltet ist, dass sie dem Heilsereignis in, seit und durch Jesus Christus gerecht wird. Anders ausgedrückt: Kirchliches Recht verdankt sich dem geschichtlichen Heilsereignis Jesu Christi und steht daher in dessen Dienst der Heilsvermittlung. Sicherlich kann Kirchenrecht „das Heil nicht selbst vermitteln -- dieses ist ungeschuldetes Gnadengeschenk Gottes --, doch kann und muß es dazu beitragen, daß die Kirche ihre Identität wahrt, ihrem Ursprung in Jesus Christus treu bleibt und sich dem Wirken des Heiligen Geistes nicht verschließt.“6 [[Daher hat das Kirchenrecht wie jedes Recht das Nahziel, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Zusammenleben der Kirchenglieder zu gewährleisten. Allerdings ist dieses Nahziel kein Selbstzweck, sondern stets Mittel zum Zweck bzw. immer auf das letzte Ziel hingeordnet, nämlich dem Heil der Seelen zu dienen7, d.h. das in Christus geschehene Heil gegenwärtig zu setzen. ]] In diesem Sinn kann Recht und Gesetz in der Kirche durchaus als „Instrument des Geistes Christi“8 bezeichnet werden; denn es soll „ein Hinweis auf den Geist der Kirche sein, aber ihn nicht selbst aussagen; es soll die christliche Sittlichkeit und das Gewissen des einzelnen fördern, aber nicht bis in das letzte Detail regeln.“9 [[Gesetze in christlichen Gemeinschaften nehmen also primär die sozialen Beziehungen der Gläubigen in Blick, gelegentlich aber auch deren Verhältnis zu Gott, da beide Dimensionen in einer christlichen Gemeinschaft nicht getrennt werden können; sie regeln das (äußere) Verhalten, aber unter Berücksichtigung der sich dahinter verbergenden (inneren) Einstellung, weil der christliche Heilsauftrag den ganzen Menschen umfasst.10 Christlich-kirchliche Gesetze sind daher nicht nur Anordnungen der Vernunft, wie Thomas von Aquin Gesetze definiert hat,11 5 Die folgenden Ausführungen nehmen insbesondere Bezug auf die kirchliche Rechtsordnung der katholischen Kirche, wie sie in deren Gesetzbuch aus dem Jahr 1983, dem Codex Iuris Canonici (= CIC), niedergelegt ist. Die einzelne Rechtsnorm im CIC wird als „Canon“ bezeichnet und mit „c.“ abgekürzt. 6 Krämer, P., Kirchenrecht, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. v. Görres-Gesellschaft, Bd.3, Freiburg i.Br. 1987 (7.Auflage), 435 - 440, 440. 7 Vgl. Müller, L., Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht. Zur Abgrenzung von Recht und Moral in der deutschsprachigen Kirchenrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, St. Ottilien 1999, 328. 8 Gradauer, , P., Das Kirchenrecht im Dienst der Seelsorge, in: ThPQ 125 (1977), 55 – 65, 57. 9 Gradauer, Das Kirchenrecht, 57. 10 Vgl. Socha, H., in MK Einführung vor 7/8, Rdn.12 (13. Erg.-Lfg, November 1990), der als Beispiele für Gesetze in der katholischen Kirche mit Blick auf das Gottesverhältnis der Gläubigen auf die cc. 916, 987 1065 §2 CIC/1983 verweist, für die Berücksichtigung der inneren Gesinnung auf die cc. 915, 1101, 1321 §1 CIC/1983. So nimmt z.B. c.987 CIC auf das Gottesverhältnis der Gläubigen wie folgt Bezug: „Damit ein Gläubiger die heilbringende Hilfe des Bußsakraments empfängt, muß er so disponiert sein, daß er sich unter Reue über seine begangenen Sünden und mit dem Vorsatz zur Besserung Gott zuwendet.“ Die innere Gesinnung wird z.B. in c.1101 folgendermaßen thematisiert: „§1. Es wird vermutet, daß der innere Ehekonsens mit den bei der Eheschließung gebrauchten Worten und Zeichen übereinstimmt. §2. Wenn aber ein oder beide Partner durch positiven Willensakt die Ehe selbst oder ein Wesenselement der Ehe oder eine Wesenseigenschaft der Ehe ausschließen, ist ihre Eheschließung ungültig.“ Natürlich zielen auch christlich-kirchliche Gesetze wie alle Gesetze darauf, nicht aus Angst vor Strafe, sondern aus Einsicht in das Geforderte und daher aus Überzeugung befolgt zu werden. 11 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II qu.90 art.4, wonach ein Gesetz eine Anordnung der Vernunft ist, die zum Gemeinwohl von demjenigen promulgiert ist, der die Sorge für eine Gemeinschaft trägt. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 sondern Anordnungen der am Glauben an die Offenbarung ausgerichteten Vernunft,12 für die das Heil der Seelen das oberste Gesetz sein muss, wie es das Gesetzbuch der katholischen Kirche im Sinne eines Schlussakkordes in seiner letzten Rechtsbestimmung c.1752 formuliert hat.]] 3 Göttliches Recht und menschliches Recht gehören zusammen Ein besonderes Kennzeichen der beiden großen christlichen Gemeinschaften der katholischen und evangelischen Kirchen ist die Unterscheidung zwischen Gesetzen kraft göttlichen Rechts und Gesetzen kraft kirchlichen bzw. menschlichen Rechts. „Die Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Kirchenrecht bezieht sich auf den Ursprung der einzelnen Rechtsnormen. Ersteres wird direkt auf göttlichen Willen zurückgeführt, während Letzteres jenes Recht umfasst, das aus dem Willen des kirchlichen Gesetzgebers oder aus rechtsbegründender Gewohnheit hervorgeht.“13 Als göttliches Recht gilt sowohl das Naturrecht wie auch das von Gott durch die Offenbarung gesetzte Recht. Rechtsquelle des Naturrechts ist die Schöpfungsordnung, Rechtsquelle des Offenbarungsrechts die Bibel. Allerdings sind nicht alle biblischen Aussagen göttliche Rechtssätze, sondern zeitbedingte Aussagen sind von bindenden Weisungen zu unterscheiden. „Welche biblischen Aussagen als Weisungen göttlichen Rechts zu verstehen sind, entscheidet in erster Linie die kirchliche Tradition selbst.“ 14 Das göttliche Offenbarungsrecht kann daher auch als „durch die Tradition erkennbar oder sichtbar gemachtes Offenbarungsrecht“15 bezeichnet werden. Es ist nicht in einem Katalog von Rechtssätzen ein für alle Mal festgeschrieben, sondern muss immer wieder neu aus der kirchlichen Tradition heraus in die jeweilige geschichtliche und kulturelle Situation der Kirche hinein übersetzt werden. Das göttliche Offenbarungsrecht ist also nie in abstrakter Reinform erkennbar und zugänglich, sondern wie das Wort Gottes stets nur vermittelt durch Menschen und damit zeitlich und örtlich konkretisiert. Mit anderen Worten: Das göttliche Recht „läßt sich immer nur in seiner historischen Gestalt `vorstellen´.“16 Deshalb kennt z.B. auch das Gesetzbuch der katholischen Kirche keine systematische Zusammenstellung der Rechtsbestimmungen göttlichen Rechts; vielmehr wird lediglich bei den entsprechenden Rechtsnormen auf das göttliche Recht hingewiesen durch Formulierungen wie „aufgrund göttlicher Weisung“, „nach der Weisung des Herrn“ oder „kraft göttlicher Einsetzung“ (ex ipsa ordinatione divina, ex divina institutione, statuente Domino, a Christo Domino instituta). So gibt es z.B. kraft göttlichen Rechts die Sakramente in der Kirche (c.840), die Unterscheidung zwischen Kleriker und Laien (c.207 §1), das Weihesakrament (c.1008), die Bischöfe als Nachfolger der Apostel (c.375 §1) sowie Papst und Bischofskollegium als Nachfolger von Petrus und dem Apostelkollegium (c.330). Als unveränderlich gelten diese Rechtsnormen kraft göttlichen Rechts insofern, als sie bei der notwendigen geschichtlichen Konkretisierung „nicht zu sich selbst in Widerspruch geraten dürfen.“17 12 Socha, H., in MK Einführung vor 7/3, Rdn.4 (13. Erg.-Lfg, November 1990) definiert ein kirchliches Gesetz in der katholischen Kirche als „eine aus der Offenbarung abgeleitete, vernünftig auf die Förderung der Kirche ausgerichtete, allgemeine rechtsverbindliche Weisung, die von der zuständigen Autorität für einen geeigneten Personenkreis ergangen und hinreichend promulgiert ist.“ 13 Aymans, W., Ius divinum – ius humanum. II. Kirchenrechtlich, in: LThK 5, 1996, 698f, 698. 14 Aymans, W., - Mörsdorf, K., Kanonisches Recht I, Paderborn 1991, 35. 15 Ebd., 35. Rahner, K., Über den Begriff des „ius divinum“ im katholischen Verständnis, in: Ders., Schriften zur Theologie V, Einsiedeln 1962, 249 - 277, 252. 16 17 Aymans, Ius divinum – ius humanum, 699. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 Die Angewiesenheit des göttlichen Rechts, durch das menschliche Recht zum Ausdruck gebracht zu werden, muss in einem weiteren Schritt zu der Feststellung führen, dass sich die Kirche und die in ihrem Dienst stehende Theologie bei ihrer Aufgabe, das göttliche Recht in der Kirche zu verwirklichen, niemals „auf das Angebot einiger Modelle aus der Geschichte beschränken [darf]. Sie bleibt zwar auf die Grundlagen in der Offenbarung konstitutiv verwiesen -- jedoch in der Weise der lebendigen Vermittlung der Offenbarung in ihrer Umsetzung und Aneignung im aktuellen Glauben der Kirche. Die Theologie empfängt so einerseits ihre Wahrheit vom Wort Gottes, aber sie holt ebenso in einem geistigschöpferischen Prozess die Gestalt der Wahrheit auf Zukunft hin erst ein.“18 Damit steht das göttliche Offenbarungsrecht in der Spannungseinheit, einerseits in seinem Inhalt unwandelbar zu sein, andererseits in diesem Inhalt stets tiefer erkennbar und dadurch neu konkretisierbar zu sein.19 [[In Abhebung zum göttlichen Recht ist das sogenannte menschliche Kirchenrecht nicht direkt in der Offenbarung enthalten, sondern wird als Konkretisierung des göttlichen Rechts verstanden. Das menschliche Kirchenrecht steht voll und ganz im Dienst des göttlichen Kirchenrechts; seine Aufgabe ist es, auf der Grundlage des göttlichen Rechts die Regeln für das alltägliche Miteinander der Glaubensgemeinschaft festzulegen, sozusagen aus dem göttlichen Recht die notwendigen praktischen Konsequenzen zu ziehen und eine dementsprechende Lebensordnung zu schaffen.20 Zur wirksamen Erfüllung dieser Aufgabe sind die Normen des menschlichen Kirchenrechts stets veränderbar, aber nicht im Sinne einer Beliebigkeit, sondern nur um einer besseren Entfaltung des göttlichen Rechtes wegen, auf das das menschliche Kirchenrecht stets verwiesen bleibt. Oder anders gesagt: „Das menschliche Recht ... ist in dem vom göttlichen Recht vorgegebenen Rahmen veränderlich.“21]] 4 Christliche/Kirchliche Gesetze sind auf den Glaubenssinn aller ChristInnen angewiesen Damit die Eigenart des Kirchenrechts, nämlich seine Spannung, seine Vereinigung von göttlichen und zugleich menschlichen Elementen tatsächlich zum Tragen kommt, sind vor allem zwei Dinge bei seiner Interpretation und Anwendung zu beachten: a) Die kirchlichen Rechtsnormen sind auf ihre theologische Legitimität hin zu überprüfen, d.h., es müssen die theologischen Grundlagen und die theologischen Grenzen der kirchlichen Rechtsnormen aufgezeigt werden. Die Eigenart des Kirchenrechts kann nur dann zum Tragen kommen, wenn stets danach gefragt wird, welches theologische Anliegen hinter den Rechtsbestimmungen steht und ob dieses theologische Anliegen durch die konkreten Rechtsnormen hinreichend zum Tragen kommt oder ob diese oder jene Rechtsnorm im Interesse der Theologie verändert werden muss.22 Natürlich müssen solche Überlegungen 18 Müller, G.-L., Theologische Überlegungen zur Weiterentwicklung des Diakonats, in: MThZ 40 (1989), 129143, 129. 19 Vgl. Aymans-Mörsdorf, Kanonisches Recht I, 5. 20 So ist z.B. die Ehe von zwei Getauften kraft göttlichen Rechts ein Sakrament; kraft kirchlichen Rechts ist festzulegen, wie eine sakramentale Ehe zustande kommt, welche Rechte und Pflichten ihr innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zukommen. 21 Aymans-Mörsdorf, Kanonisches Recht I, 5. Als Beispiel hierzu kann eine kurze Betrachtung von c.207 CIC dienen. Dort heißt es wörtlich: „Kraft göttlicher Weisung gibt es in der Kirche unter den Gläubigen geistliche Amtsträger, die im Recht auch Kleriker genannt werden; die übrigen dagegen heißen Laien.“ C.207 §1 sagt damit über das Verhältnis von Klerikern und Laien im Volk Gottes Folgendes aus: Die geistlichen Amtsträger bzw. Kleriker sind geweihte bzw. ordinierte Gläubige; sie stehen nicht über den anderen Gläubigen und diesen gegenüber, sondern gehen aus der Gemeinschaft aller Gläubigen hervor. Deshalb spricht c.207 §1 davon, dass es „unter den Gläubigen“ geistliche Amtsträger gibt. Diese Formulierung hebt die 22 Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 nicht bei jedem kirchlichen Lebensbereich im gleichen Ausmaß angewendet werden und auch nicht bei jeder Einzelnorm erfolgen. Hier gibt es eindeutig ein qualitatives Gefälle. So ist etwa das kirchliche Verfassungs-, Verkündigungs- und Sakramentenrecht wesentlich mehr auf seine theologischen Grundlagen und Grenzen zu befragen als etwa das kirchliche Vermögens- und Prozessrecht. Generell ist aber festzuhalten: Nur wenn die kirchlichen Gesetze kontinuierlich in den größeren Zusammenhang der Sendung der Kirche gestellt und auf ihre theologische Sinnhaftigkeit hin überprüft werden, ist Recht nicht primär ein rekonstruierendes, sondern auch ein gestaltendes Element,23 hinkt Recht nicht nur der Wirklichkeit hinterher, sondern kann auch den Lebensprozess der Kirche aktiv mitvollziehen und Entwicklungen in der Kirche aktiv mittragen.24 Nur durch die theologische Überprüfung kann sichergestellt werden, dass alle kirchlichen Gesetze wenigstens mittelbar im Dienst an der Sendung der Kirche stehen und nicht zu einer unsachgemäßen Verrechtlichung des kirchlichen Lebens beitragen.25 b) (Kirchen-)Rechtliches Handeln kann und darf nicht nur auf eine Buchstabengerechtigkeit und einen reinen Gesetzesgehorsam reduziert werden; (kirchen-)rechtliches Handeln verlangt vielmehr, nicht nur auf den Wortlaut eines Gesetzes zu achten, sondern mit Hilfe von übergeordneten Rechtsprinzipien wie Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Heil der Seelen den Sinn des Gesetzes auf die konkrete Situation anzuwenden. Nur unter Beachtung von solchen übergeordneten Rechtsprinzipien kann vermieden werden, was bereits im frühen römischen Recht in den Grundsatz gekleidet worden ist: Summum ius est summa iniuria – höchstes Recht ist höchste Ungerechtigkeit.26 Und nur so, also nur mit Hilfe von übergeordneten Rechtsprinzipien, kann die Rechtsordnung den Anforderungen des (kirchlichen) Lebens entsprechend fortentwickelt werden. Schließlich kann auch nur so (Kirchen-)Recht eine lebendige Ordnung bleiben, die im Dienst des Menschen steht und nicht umgekehrt den Mensch zu ihrem Diener macht. Deshalb haben alle Gläubigen das Recht, aber auch die Pflicht, sich nicht einfach blind den von der kirchlichen Autorität angeordneten Gesetzen zu unterwerfen, sondern diese in einem aktiven Akt der Einsicht in das Gebotene anzuerkennen und in verantwortetem Gehorsam zu befolgen oder nach kritischer Prüfung aus Überzeugung bzw. verantwortetem Ungehorsam abzulehnen. 27 Ein fundamentale Gleichheit aller Glieder hervor (vgl. c.208 CIC), die trotz der Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien nicht aufgehoben ist. In Widerspruch dazu steht aber der zweite Halbsatz, in dem die Laien gleichsam abwertend als die „übrigen (sc. Gläubigen)“ bezeichnet werden. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als wäre die Existenz der Kleriker vorrangiger als die der Laien, obwohl doch theologisch gilt, dass kraft der Taufe eine fundamentale Gleichheit besteht. 23 Potz, R., Die Geltung kirchenrechtlicher Normen, Wien 1978, 268. 24 Vgl. Müller, Das Gesetz in der Kirche, 4f. 25 Vgl. Müller, Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht, 330. 26 Vgl. Cicero, De officiis I, 33. 27 In c.212 §1 CIC, der von der Gehorsamspflicht in der Kirche handelt, ist dementsprechend auch nicht nur einfach von der christlichen Gehorsamspflicht die Rede, sondern die Forderung nach dem christlichen Gehorsam ist hier vielmehr verbunden mit dem Hinweis, diesen „im Bewußtsein der eigenen Verantwortung“ zu leisten. Damit ist der christliche Gehorsam klar von einem blinden und erzwungenen Gehorsam, von einem Kadavergehorsam abgegrenzt und als ein reifer bzw. mündiger und vernünftiger Gehorsam charakterisiert, der in Freiheit angenommen und verantwortet wird. Reife, Mündigkeit und Vernünftigkeit verlangen ein erhebliches Maß an Urteilsvermögen wie auch an Zivilcourage. Denn die Wahrnehmung der Verantwortung, d.h. die gewissenhafte Prüfung ohne subjektive Überheblichkeit und voreilige Besserwisserei, kann unter Umständen nicht zu dem gewünschten Gehorsam, sondern im Gegenteil zu einem Ungehorsam und Widerstand führen (vgl. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 6 recht verstandener (kirchlicher) Rechtsgehorsam bedeutet somit nicht einfach unkritische Annahme jeder (kirchlichen) Vorschrift, sondern eine kreative Auseinandersetzung mit der Vorschrift unter dem Aspekt der höheren Gerechtigkeit. Denn als personale Tugend beinhaltet die Gerechtigkeit „nicht bloß, das Gerechte zu tun, sondern es aus einer bestimmten Gesinnung heraus, nämlich deshalb zu tun, weil es gerecht ist, und nicht etwa deshalb, weil man andernfalls bestraft oder sozial gemieden würde.“28 Werden demzufolge Gesetze nicht nur vereinzelt, sondern von der Mehrheit der Gemeinschaft befolgt oder abgelehnt, ist das als eine Art gelebter Rechtsakt zu verstehen, der im Wesen der Kirche als Gemeinschaft der Getauften mit ureigenen Geistesgaben gründet.29 Ohne einen solchen gelebten Rechtsakt kraft Ungehorsams bzw. gesetzwidriger Gewohnheit wäre es z.B. in der katholischen Kirche nicht zu der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils, vor allem hinsichtlich der Muttersprache, gekommen. Ebenso hat der Ungehorsam gegenüber dem kirchlichen Verbot, eine bekenntnisverschiedene Ehe einzugehen, zu einer neuen und positiven Bewertung dieser Ehen in theologischem wie rechtlichem Sinn beigetragen. Auch die Zulassung von Mädchen als Ministrantinnen war zunächst durch gelebten Ungehorsam eingeführt worden. 5 Christlich-kirchliche Gesetze sind unerlässlich, aber nicht das Wichtigste Soll und will eine christliche Gemeinschaft wie z.B. die katholische Kirche eine lebendige und einladende Wirklichkeit im Dienst des Heils der Menschen sein, braucht sie rechtliche Normen, darf diese aber nicht zum Allheilmittel oder alleingültigen Maßstab erheben. Die rechtlichen Strukturen müssen vielmehr so gestaltet sein und werden, dass sie für das Wirken des Heiligen Geistes und die Antwort des Menschen offen sind und bleiben. „Recht [hat] die tragende, stützende Aufgabe eines Skeletts, ohne das Lebewesen nicht sein können. Das Skelett soll ja nicht sichtbar, aber es muß da sein. So hat das Recht zu stützen ... .“30 Entscheidend ist, dass auf der Grundlage von Recht die vielfältigen Dimensionen der Kirche so zum Tragen kommen, dass eine Kirche entsteht, die nach dem Willen Gottes ist und den Bedürfnissen der Menschen in ihrer Zeit und Kultur entspricht. Das wiederum kann aber nur gelingen, wenn die Rechtsnormen nicht nur von der kirchlichen Autorität im Alleingang, sondern von der Kirche als dem gesamten Volk Gottes gemeinsam hervorgebracht und gestaltet werden. Wo und wenn die Verantwortung vor der und für die Rechtskultur in der Kirche von allen Gliedern gemeinsam wahrgenommen wird, und zwar als Gabe wie auch als Aufgabe, spricht vieles dafür, dass Rechtsforderungen weder nach Belieben und Willkür eingesetzt noch als Zwangsjacke zur Durchsetzung der Macht verwendet oder empfunden werden. Vielmehr werden dann die treffenden Worte von Papst Paul VI. nicht mehr nur Zielvorgabe sein, sondern auch erfahrbare Realität werden: „Recht in der Kirche ist nicht Hindernis, sondern pastorale Hilfe; es tötet nicht, sondern macht lebendig. Seine Hauptaufgabe ist es nicht, zu unterdrücken, zu hemmen oder gegen etwas anzugehen, sondern es soll anregen, fördern, behüten und den echten Freiheitsraum schützen.“31 Hilpert, K., Gehorsam. II. Theologisch-ethisch, in: LThK 4, Freiburg i.Br. 1995 (3.Auflage), 360 - 362, 362). 28 Höffe, O., Moral und Recht. Eine philosophische Perspektive, in: StdZ 198 (1980), 111 – 121, 120. Müller, H., Das Gesetz in der Kirche `zwischen´ amtlichem Anspruch und konkretem Vollzug – Annahme und Ablehnung universalkirchlicher Gesetze als Anfrage an die Kirchenrechtswissenschaft, München 1978, 9f. 29 30 Scheuermann, Die Rechtsgestalt der Kirche, 77. 31 Ansprache Papst Paul VI. am 19.02.1977 an den Internationalen Kongreß für Kirchenrecht anlässlich der 100Jahr-Feier der Kanonistischen Fakultät der Gregoriana, in: OR (D) Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 18. März 1977, 4 – 5. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.