1. DER ERKENNTNISMÄSSIGE ZUGANG ZUM PHÄNOMEN DES KIRCHENRECHTS Die Frage, die jetzt in den Mittelpunkt des Interesses tritt, kann folgendermaßen umschrieben werden: Wie ist es um die ontologische Qualität des Kirchenrechts und um den epsitemologischen Zugang zu diesem Phänomen der kirchlichen Wirklichkeit bestellt? Auf welchem Wege können die zu regelnden Werte eingesehen werden? Hat die Kanonistik ausschließlich theologisch vorzugehen, oder sind für sie auch Einsichten, die auf philosophischem und anthropologischem Weg gewonnen werden von Bedeutung? Wenn ja, in welchem Verhältnis stehen dann diese zu jenen?“ Diesem Themenbereich ist nach dem Erscheinen des CIC von 1917 nicht die entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt worden. Man beschränkte sich hauptsächlich auf eine „möglichst treue exegetische Erklärung des neuen kirchlichen Gesetzbuches“1, was auf Kosten des einführenden und grundlegenden Teiles an den theologischen oder kanonistischen Fakultäten ging.2 Das vorangehende Kapitel hat gezeigt, daß eine zu geringe Fundierung des Kirchenrechts in der theologischen Wirklichkeit der Kirche und eine zu starke Orientierung an philosophischen und anthropologischen Überlegungen das Kirchenrecht in eine Krise führte, indem sie dieses als einen Fremdkörper im kirchlichen Lebensvollzug erscheinen ließ. Kann man nun dieser Krise begegnen, indem man alles auf eine exklusiv theologische Basis stellt?3 Oder droht dem Kirchenrecht auf diese Weise eine neue Krise, sodaß die Lösung eher in einem dialogischen Verhältnis der verschiedenen Erkenntniswege zu suchen ist? Dem soll nun im Folgenden nachgegangen werden. 1.1. Kanonistik als theologische Disziplin. Tendenzen in der Kanonistik, das Kirchenrecht auf eine exklusiv theologische Basis zu stellen Nach Antonio RUOCO-VARELA war es vor allem Klaus MÖRSDORF, der in der Kanonistik in der Begründung und im Verständnis des kirchlichen Rechts die Ekklesiologie des IPE hinter sich gelassen hat und im Verstehen der Kirche und ihres 1 Ruoco-Varela, Rechtslehre ,99. 2 Vgl. ebd. 99 f. 3 Die Arbeiten mancher Autoren (z. B. E. Corecco, A. Ruoco-Varela, R. Sobanski), die sich mit einer eingehenderen theologischen Begründung des Kirchenrechts beschäftigen, erwecken den Eindruck einer solchen Exklusivität. Rechts mehr den theologischen Gehalt auszuschöpfen versuchte.4 K. MÖRSDORF definierte die Kanonistik als „eine theologische Wissenschaft mit juristischer Methode“5. Sie ist somit eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand auf dieselbe Weise wie die Dogmatik hat.6 Nach R. SOBANSKI sind es vor allem die fundamentalen Fragen des Kirchenrechts, die die Kanonistik als eine theologische Wissenschaft erkennen lassen.7 Daß sich in der Kanonistik eine derartige Wende vollzogen hat, ist nicht zuletzt den Impulsen aus der protestantischen Theologie zu verdanken, die bereits in der theologischen Konzeption LUTHERS grundgelegt waren und in dem Schaffen R. SOHMS voll zum Durchbruch gekommen sind.8 Man wurde sich bewußt, daß die 4 Vgl. ebd. 101. 5 Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, 36. In der Herausstreichung des theologischen Charakters der Kanonistik ist den deutschsprachigen Kanonisten eine Vorreiterrolle einzuräumen. Vgl. Kemmeren, Trends, 25. Nach J. Neumann läßt es sich zwar streiten, ob die Kanonistik eine theologische Disziplin ist oder nicht, aber auch er gibt eine Abhängigkeit des Kirchenrechts vom theologisch durchdrungenen Glaubensverständnis zu und räumt rechtstheologischen Überlegungen eine große Bedeutung ein. Vor allen bei der Bestimmung des Umfanges der kirchlichen Rechtsordnung sollte einer biblisch orientierten Theologie vor rechtspolitischen Gesichtspunkten der Vorrang gegeben werden. Vgl. Neumann / Hermann, Kirche, 29, 37, 48. Andererseits wäre Neumann jedoch sehr froh, sich mit einer naturrechtlich-soziologischen Begründung des Kirchenrechts zufriedengeben zu dürfen. Vgl. ebd. 49. 6 Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, 36. Von den Anfängen der Rechtswissenschaft bis zu Gratian wurde sie als Teil der Theologie verstanden. Vgl. ebd. 33 f. Gratian, der vielfach als Vater der Kanonistik bezeichnet wird, ist bei seiner Tätigkeit als Theologe vorgegangen, wie die dargebotenen Quellen im Decretum Gratiani zeigen. Sie „entstammen hauptsächlich der Heiligen Schrift, den alten Kirchenordnungen, den Canones ökumenischer und teilkirchlicher Synoden, den päpstlichen Dekretalen und den Schriften der Kirchenväter: mithin sind es Quellen, die für jedwede theologische Forschungsarbeit grundlegend sind“. Ders., Recht, 47. Erst in der Periode der klassischen Kanonistik trennte sie sich von der Theologie, ohne jedoch die Beziehungen zur Theologie ganz aufzugeben. Vgl. ders., Lehrbuch I, 33 f. 7 Vgl. Sobanski, Lage, 349. Vgl. auch Georg May, Enttheologisierung des Kirchenrechts?, in: AfkKR 134 (1965) 370-376, 376. Es gibt aber auch Autoren, die die Verschiedenheit der Kanonistik von der Theologie betonen. Vgl. Teodoro Jimenez-Urresti, Kirchenrecht und Theologie – zwei verschiedene Wissenschaften, in: Concilium 3 (1967) 608-612; Fürst, Wesen, 501, 504 f. Eine ähnliche Position vertrat auch R. C. Lara in seiner Ansprache anläßlich der Präsentation des neuen CIC. Vgl. Lara, Ansprache bei der Präsentation, 160. 8 „Da Luther das göttliche vom menschlichen Recht auf theologischer Ebene trennte und so die Verkörperung des ersten im zweiten unmöglich machte, verschärfte er die Antinomie zwischen Glaube Frage der Grundlegung und Sinndeutung des Kirchenrechts innerhalb der katholischen Kirche in ungenügender Weise behandelt worden ist, da man sich bisher mehr oder weniger mit einer theologisch-positivistischen Begründung begnügte.9 Durch das Kirchenverständnis des Vatikanum II wurden Bemühungen, das Recht der Kirche von einer theologischen Basis aus verständlich zu machen, sehr unterstützt.10 Im Dekret über die Priesterausbildung werden die Kanonisten sogar ausdrücklich aufgefordert, das kanonische Recht von dem neu wiedergewonnenen Verständnis der Kirche her zu verdeutlichen.11 „Dem Kanonisten ist damit eindeutig eine theologische Aufgabe gestellt.“12 Papst Paul VI. hat ebenfalls immer wieder in seinen Reden auf die Notwendigkeit einer theologischen Fundierung des Kirchenrechts hingewiesen.13 Diese Aufforderung ist in der Kanonistik auf offene Ohren gestoßen. 14 Man begann intensiver theologisch fundierte Modelle der Kirche als Leitvorstellungen für die und Vernunft, unsichtbarer und sichtbarer Kirche und zwischen Liebe und Recht, indem er das erste Mal das christliche Gedankengut nötigte, das Problem des Rechts nicht mehr unter dem philosophisch-theologischen, sondern ausschließlich unter theologischem Aspekt in Angriff zu nehmen. So schuf er unbewußt die Voraussetzungen für eine Theologie des Rechts, die auch Theologie des kanonischen Rechts wurde, vorerst auf protestantischem Felde und dann, nachdem Rudolph Sohm ... eine unheilbare Antinomie zwischen Kirche und Recht geschaffen hatte, auf katholischer Ebene.“ Corecco, Theologie I, 39. Vgl. auch Kemmeren, Trends, 25 f; Mörsdorf, Recht, 49 ff. 9 „... denn wir haben ja den ‚Christus legislator‘ als Gesetzgeber, als gesetzgeberisches Wort Gottes auf Erden, der eigentlich alles gesagt hat, was wichtig war, und dessen Aussagen lediglich unter der Führung des Heiligen Geistes durch die Kirche entfaltet zu werden brauchen. Eine solche Konzeption erübrigt sowohl eine Rechtstheologie als auch eine Rechtsphilosophie.“ Neumann / Hermann, Kirche, 38. 10 Das Konzil ging zwar nicht unmittelbar auf die Grundlagenproblematik ein, aber es hat durch sein Kirchenverständnis unübersehbare Akzente gesetzt, „die sich äußerst anregend im Hinblick auf eine Vertiefung und Aktualisierung der katholischen Theologie des Kirchenrechts auswirken können“. Ruoco-Varela, Rechtstheologie, 12. 11 Vgl. OT 16,4. 12 Mörsdorf, Recht, 58. Vgl. auch Aymans, Leitlinien, 29. 13 Vgl. Richard Potz, Papst Paul VI. und das Recht, in: ÖAKR 29 (1978) 199-216, 202, 210. 14 Das zeigen auch die Internationalen Kongresse der Kanonistik, auf denen sich die Notwendigkeit einer theologischen Fundierung immer mehr durchzusetzen begann. Vgl. Sobanski, Lage, 354. Begründung des Kirchenrechts herauszuarbeiten. Von der herkömmlichen Weise, das Recht in der Kirche durch einen analogen Vergleich mit außerkirchlichen Rechtsgemeinschaften, vor allem dem Staat, zu erklären, wurde und wird immer mehr Abstand genommen.15 Das Recht der Kirche kann nicht primär vom Weltlichen her verstanden werden.16 Die Kanonistik habe den Rechtsbegriff, der dem CIC von 1917 zu Grunde lag und von SUAREZ als Synthese des gesamten philosophischjuristischen Denkens der Scholastik formuliert worden ist, auf seine Tauglichkeit hin zu überprüfen, weil er der der Gemeinschaft der Kirche innewohnenden Dynamik, die nicht von der menschlichen Natur, sondern von der Gnade hervorgebracht wird, nicht gerecht werde.17 Das Verständnis des Gesetzes als „ordinatio rationis“ würde die spezifische Eigenart des Kirchenrechts nicht genügend herausstreichen.18 Die Kirche ist nicht nach menschlichen Kriterien sozialisiert und ist von Grund auf von außerkirchlichen Gemeinwesen verschieden.19 Als Gnadenwirklichkeit weist sie „andere intersubjektive und strukturelle Beziehungen, die zur Konstitution der Kirche gehören und einzig durch den Glauben zu erkennen sind“20, auf. Das Verhältnis von Kirchenglied und Kirchengemeinschaft ist qualitativ anders gelagert als das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und außerkirchlichen Gesellschaftsgebilden. Hier ist dem Verstehen der Gemeinwesen das Verstehen der menschlichen Person vorgeordnet; dort aber ermöglicht erst ein Verstehen der Kirche das rechte Verstehen der Situation des Gläubigen,21 weil ihm eine neue ontologische Daseinsweise von Gott durch die Kirche geschenkt wird.22 Die Normfindung verlangt eine dem Glauben eigene Logik und Methodologie.23 Der Glaube bietet dem Gesetzgeber die Inhalte, 15 Vgl. Höhn, Gnade, 349. 16 Vgl. Corecco, Theologie I, 98. 17 Vgl. Corecco, Theologie I, 99; ders., Ordinatio, 483 f. 18 Vgl. Sobanski, Methoden, 4 f. 19 Vgl. Corecco, Ordinatio, 495. 20 Ders., Theologie I, 99 f. Vgl. auch Sobanski, Methoden, 17; ders., Geist, 379. 21 Vgl. Corecco, Grundlagen, 166. 22 Das ergibt sich aus der sakramentalen Vermittlung. Vgl.auch Sobanski, Lage 372 f; ders. Modell, 42. 23 Vgl. Corecco, Theologie I, 98; „Während das menschliche Korrelativ zur ‚lex aeterna‘, verstanden in ihrer primären philosophischen Valenz, das positive Gesetz als ‚ordinatio rationis‘ ist, kann das menschliche Korrelativ zur ‚lex aeterna‘, in ihrer primär theologischen Valenz, d. h. als ‚lex divina die er rechtlich zu regeln hat.24 Das Leitmodell des Kanonisten kann daher nicht das naturrechtlich erschlossene Modell der „societas perfecta“ sein; an dessen Stelle hat das Modell der gnadenhaft bewirkten „communio“ als Formalprinzip des Kirchenrechts, von dem sowohl die zwischenmenschlichen Beziehungen als auch die strukturellen Verhältnisse der Teilkirchen untereinander und zur Großkirche durchdrungen sind, zu treten.25 Die Vorstellung der communio stellt im Gegensatz zum Modell der vollkommenen Gesellschaft ein endogenes Modell der kirchlichen Sozialität dar26 und weist auf die sakramental verursachte und somit gnadenhaft bestimmte ontologische Struktur des Kirchengliedes hin, aus der heraus die rechtliche Struktur des Zusammenlebens zu ermitteln ist27, und erschließt die Kirche in ihrem Wesen und ihrer rechtlichen Struktur, ohne zuvor philosophische und anthropologische Überlegungen zu bemühen: „Dieser Begriff führt uns nicht nur zu einem Aspekt oder zu einer Funktion der Kirche, sondern verdichtet in sich ihr Wesen und ihre Aufgabe: Verkündigung und Vergegenwärtigung des Heils in der Gemeinschaft der Menschen mit Gott. ... Das Geheimnis der Kirche so, wie es geglaubt wird, ausdrückend, führt uns dieser Begriff unmittelbar in die rechtliche Wirklichkeit der Kirche hinein, ohne sie vorher in eine rechtsphilosophische Formel revelata‘ verstanden – die nicht mehr die Projektion der menschlichen Rationalität und Intelligenz auf Gott ist, sondern bloß das arteigene, unwiederholbare ‚intellegere‘ Gottes besagt –, nicht mehr die ‚ratio‘ als diskursive oder intellektive Erkenntnisweise des Menschen sein, sondern nur eine andere Erkenntnisart. Die ‚ratio divina‘ die die ‚Motivation‘ oder ‚Ursache‘, d. h. den ‚Wesensgrund‘ oder die ‚Sinnstruktur‘ aller im Heilsplan Gottes enthaltenen Wirklichkeiten deutet, findet ihr ‚analogatum minor‘ nicht in der Vernunft, sondern im Glauben.“ Corecco, Theologie I, 104. Vgl. auch ders., Ordinatio, 484; Ruoco-Varela, Rechtslehre, 110; ders., Rechtstheologie, 14; Sobanski, Modell, 30; 42. 24 „Die für seine Tätigkeit notwendigen Kenntnisse erlangt der kirchliche Gesetzgeber mit dem Blick des Glaubens - und es kann gar nicht anders sein, wenn wir seine Stellung und Rolle in der Kirche berücksichtigen. Er erfaßt auf diese Weise Inhalte, die Gegenstand des Glaubens sind.“ Ders., Geist 383. 25 Vgl. Corecco, Theologie I, 100; ders., Erwägungen zum Problem, 441; Aymans, Kirche, 11; ders., Leitlinien, 44 f. 26 Vgl. Sobanski, Lage, 363. „Unter einem endogenen Modell verstehen wir ein auf Grund theologischer Prämissen erarbeitetes, also aus dem Bewußtsein der Kirche, das auf der im Glauben angenommenen Offenbarung basiert, ausgeführtes Modell.“ Ders., Modell, 25. 27 Vgl. Corecco, Theologie I, 100; ders., Grundlagen, 171. hineinzupressen und auf einer vorkanonistischen Stufe mit philosophisch- soziologischen Kategorien zu bearbeiten.“28 In der Definition des kanonischen Gesetzes ist daher die „ratio“ durch die „fides“ zu ersetzen,29 d. h. Vernunfteinsichten, wie sie sich insbesondere in philosophischnaturrechtlichen Einsichten kundtun, sind als obligatorischer Faktor im kirchenrechtlichen Normfindungsprozeß nicht relevant, sie erhalten den Status der Bedeutungslosigkeit.30 Der Kanonist bedient sich nicht nur der Ergebnisse anderer theologischer Disziplinen, sondern er ist letztlich ein Theologe, der mit seiner juristischen Methode die Offenbarung bearbeitet.31 Der spezifische Zugang zum 28 Sobanski, Lage, 364. Sobanski übersieht in diesem Zusammenhang wie viele Rechtstheologen der Gegenwart, „daß auch der Begriff der communio eine Geschichte hat, in der die Interdependenz zur staatlich-weltlichen Sphäre eine gewichtige Rolle spielt“. Richard Potz, Rechtsbegriff und Rechtsfortbildung nach dem CIC 1983, in: Concilium 22 (1986) 173-178, 175. Potz gibt einen kurzen Abriß dieser Geschichte, die von der Übernahme der aristotelischen koininia-Lehre bis zur gegenwärtigen Kritik an einer rein formaldemokratischen Legitimation, an staatlicher Allmacht, dem Wunsch nach kleineren überschaubaren Einheiten, nach einem wahrhaft demokratischen Verfahren, das eine Sicherstellung der Artikulation der Interessen aller Beteiligten gewährleistet, reicht. Vgl. ebd. „Ein Zusammenhang zwischen dem Erfolg der communio-Ekklesiologie und diesen gesellschaftlichen Entwicklungen ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Es treten also auch exogene Faktoren in der Entwicklung der communio-Ekklesiologie zu Tage, wenn auch die Wiederentdeckungsfreude diese Einsicht oft überdeckt. Es ist wohl immer einfacher, in historischen Kirchenbildern die exogenen Faktoren zu bestimmen als in den zeitgenössischen, bei deren Beurteilung wir oft befangen sind.“ Ebd. 29 Vgl. Winfried Aymans, LEX CANONICA. Erwägungen zum kanonischen Gesetzesbegriff, in: AfkKR 153 (1984) 337-353, 345. 30 „Wir möchten ... bemerken, daß Auffassungen, Begründungen und jedwede Erwägungen, die an die Rechtsphilosophie oder überhaupt an das philosophische Bild des Menschen anknüpfen, keine adäquate Basis für die Kirchenrechtsforschung darstellen und auch weder auf der Stufe der Rechtssetzung noch der Rechtsanwendung ein genuines Bild des Subjekts des Kirchenrechts geben. ... Die sozialen Veranlagungen des Menschen haben da als Argument keine wesentliche Bedeutung; denn nicht von diesen, sondern vom Wirken Christi leitet die Kirche ihren Ursprung ab.“ Sobanski, Lage, 367. Vgl. ders., Modell, 25. „Im Hinblick auf das Kirchengesetz aber könnte man mit der vom Glauben erleuchteten Vernunft allein dann operieren, wenn die Kirche selbst im Grunde ein Phänomen der Natur wäre, in das nur bestimmte Offenbarungspostulate einzutragen wären.“ Aymans, Lex, 344. 31 Vgl. Sobanski, Lage, 360; Corecco, Erwägungen zum Problem, 431 f; Ruoco-Varela, Grundfragen, 345. Wesen des Kirchenrechts erfolgt über das theologisch erschlossene Wesen der Kirche.32 Der Kanonist bedarf keiner Sensibilisierung für das Recht mittels Reflexion außerkirchlicher Rechtsgebilde und Rechtsbegriffe. Der Kanonist schaut vielmehr unmittelbar im Wesen der Kirche deren rechtliche Qualität.33 Die Vernunft tritt erst wieder auf den Plan, wenn es darum geht, die eingesehenen normativen Werte in die jeweils gegebene kulturelle Situation zu „inkarnieren“,34 wobei die Humanwissenschaften als Hilfswissenschaften zu dieser Aufgabe beigezogen werden.35 Ihr Beitrag beschränkt sich auf die operative Ebene, d. h. sie sollen klären, wie eine möglichst optimale und effektive Umsetzung der aus dem Glauben gewonnenen rechtlichen Strukturen in die jeweiligen Kulturkreise möglich ist.36 Um dies zu erreichen, bedient sich die Kanonistik weiters der Methoden und Begriffe der zivilen Rechtswissenschaften37 als formale Rahmen für die theologisch gewonnenen rechtlichen Inhalte.38 Die mit diesen Begriffen verbundenen Rechtsvorstellungen werden jedoch links liegen gelassen.39 Hier erhebt sich aber eine ernstzunehmende Frage. Ist eine solche Umsetzung überhaupt möglich, ohne an die inhaltlichen Rechtsvorstellungen der verschiedenen Kulturkreise anzuknüpfen?40 32 Vgl. Sobanski, Modell, 29; Ruoco-Varela, Grundfragen, 344. 33 Vgl. Sobanski, Lage, 360. 34 Vgl. Corecco, Theologie I 107; Sobanski, Methoden, 4; 19. 35 Vgl. Corecco, Theologie II, 24; ders., Theologie I, 106; ders., Ordinatio, 494. 36 Vgl. ebd. 495; Sobanski, Lage, 367. 37 Vgl. Ders., Methode, 19. 38 „Wie andere Glaubenswahrheiten wird das göttliche Recht ins Leben der Kirche in der Hülle eines geschichtlich ausgebauten Rechtssystems eingeführt. Dieses dient mit all seinen Vorschriften der Konkretisierung des göttlichen Rechts, seiner Einwurzelung in den Realitäten des Lebens.“ Sobanski, Geist, 380. Vgl. auch ebd. 388; ders., Methode, 21. 39 Vgl. ebd. 22. 40 An einer anderen Stelle betont Sobanski aber auch die Nutzbarmachung der mit der heimischen Rechtskultur verbundenen Wertvorstellungen. Vgl. Sobanski, Lage, 375. 1.2. Die Relevanz philosophischer und anthropologischer Überlegungen für die Normfindung im Kirchenrecht 1.2.1. Der Zusammenhang zwischen vernunftmäßiger Suche nach der Wahrheit und der Theologie Wenn sich die Kanonistik als eine theologische Disziplin versteht, dann haben auch für sie jene Grundsätze zu gelten, die das Verhältnis zwischen vernunftmäßiger, nicht ausdrücklich auf Offenbarung bezugnehmender Suche nach der Wahrheit und theologischem Suchen nach der Wahrheit betreffen. Nach Johann AUER und Joseph RATZINGER „muß in unserem Reden über Gott auch immer wieder das menschliche Denken in seiner ganzen Tiefe, wie es sich in `der Philosophie` reflektiert und ausspricht, zur Sprache kommen“.41 Selbst die Urkirche hat sich philosophischer und mythischer Elemente bedient, um die Wirklichkeit Christi auszusagen, wie z. B. der Christushymnus im Kolosserbrief zu erkennen gibt.42 Was hier im Zusammenhang der Gotteserkenntnis und der Christologie gesagt wird, gilt für die Theologie als Ganze.43 Das „Wort Gottes hat es immer schon mit der Philosophie zu tun, nämlich mit der gelebten Philosophie der hörenden Menschen. Es hat damit zu tun, insofern es von sich aus mit den Menschen zu tun hat und sie treffen will in ihren Gedanken, in ihren Interessen, in ihrem Herzen“44. Diese gelebte Philosophie ist trotz dem Fehlen einer theoretischen Explikation in der Aneignung des Glaubens also immer am Werk.45 In der heutigen Zeit, „in der der religiöse Sinn geschwächt und verunsichert ist, die Kräfte der kritischen Reflexion aber um so stärker und wacher entwickelt sind, wird wohl nicht nur eine gelebte, sondern auch eine reflektierte Explikation des Selbst- und Weltverständnisses des Menschen nötig sein, d. h. eine reflektierte und 41 Johann Aurt / Joseph Ratzinger, Gott – Der Eine und Dreieine (KKD II). Regensburg 1978, 24. 42 Vgl. Witte, Kirche, 446. 43 Vgl. Hans Urs von Balthasar, Evangelium und Philosophie, in: FZPhTh 23 (1976)3-12. 44 Bernhard Welte, Was hat die Philosophie in der Theologie zu tun?, in: ThQ 154 (1974) 303-310, 304. 45 Vgl. ebd. ausgearbeitete Philosophie, damit das Wort Gottes angemessen verstanden werden könne“46. Zweifellos vermittelt der Glaube dem Menschen Einsichten, die seine natürliche Erkenntnisfähigkeit übersteigen und die seine Existenz in einem neuen Licht erstrahlen lassen.47 Andererseits kann der Glaube nur in Menschenworten ausgesprochen werden, in denen unweigerlich die Einsichten seines „profanen“ Suchens, seines Welt- und Selbstverständnisses mitschwingen,48 wenn sie auch im Zusammentreffen mit der Glaubenswahrheit modifiziert werden.49 In der Theologie findet sich also die Überzeugung, daß das menschliche Suchen nach der Wahrheit theologische Relevanz hat und daß die Ergebnisse dieses Suchens in die Theologie zu integrieren sind.50 Die Kanonistik als theologische Disziplin darf hier keine Ausnahme machen.51 1.2.2. Der Zusammenhang von Schöpfungs- und Erlösungsordnung Dieser Zusammenhang zwischen Theologie und menschlichem Suchen nach der Wahrheit hat seinen letzten, inneren Grund in dem Zusammenhang, der zwischen Erlösungs- und Schöpfungsordnung besteht. 46 Ebd. 304 f. Vgl. auch Balthasar, Evangelium, 11 f. 47 Vgl. Kern / Niemann, Erkenntnislehre, 45. „Und freilich werden durch den Aufgang dieses ewigen Sinn-Lichtes (Gott: Anm. des Autors) dann auch Welt und Mensch in ein neues Licht getaucht, Sinnzusammenhänge werden sichtbar, die bereits in der Schöpfung lagen, aber der Selbstoffenbarung Gottes bedurften, um überhaupt oder wenigstens mit Sicherheit gesehen zu werden.“ Balthasar, Evangelium, 4. 48 Vgl. Kern / Niemann, Erkenntnislehre, 20 f. 49 Vgl. Balthasar, Evangelium, 8. 50 Vgl. Kern / Niemann, Erkenntnislehre, 52. 51 Das verdeutlicht auch die Grundlagenproblematik der Moraltheologie, die ja der Kanonistik sehr verwandt ist. Auch hier war man in den letzten Jahrzehnten bestrebt, eine intensivere theologische Fundierung zu erreichen. Vgl. Rotter, Handeln, 11-19; Bernhard Stoeckle, Flucht ins Humane? Erwägungen zur Diskussion über die Frage nach dem Proprium christlicher Ethik, in: IKZ Communio 6 (1977) 312-325. Trotz der Wichtigkeit der Herausstreichung des theologischen Arguments dürfen in dieser Disziplin philosophische und anthropologische Methoden nicht ausgeklammert werden, wenn man dem Menschen gerecht werden will. Vgl. Hans Rotter, Das theologische Argument in der Moral, in: ZkTh 100 (1978) 178-196, 178. Auch wenn die Kirche eine durch Gottes Heilshandeln verursachte Neuschöpfung ist, ist sie dennoch als eine „die ursprüngliche Schöpfung fortsetzende Schöpfung“ 52 anzusehen. Die Schöpfungsordnung ist somit durch die Erlösungsordnung nicht einfach ausgelöscht, sondern aufgehoben und bewahrt zugleich.53 Kirche wie Schöpfung verdanken sich im letzten dem Dreifaltigen Gott,54 und es ist an der Identität zwischen dem erlösenden und dem erschaffenden Logos festzuhalten.55 Dieses theologische Faktum läßt es nicht zu, Schöpfungs- und Erlösungsordnung, Natur und Gnade, das Menschliche und das Göttliche gegeneinander auszuspielen.56 Die Berechtigung der Miteinbeziehung philosophischer und anthropologischer Überlegungen in die Interpretation der kirchlichen Sozialität läßt sich auch vom Geheimnis der Inkarnation her beleuchten. Es besteht ja eine Analogie zwischen diesem Geheimnis und dem Geheimnis der Kirche.57 In der Menschwerdung Christi drückt sich der volle Respekt Gottes vor dem Menschensein des Menschen aus.58 Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich, wie das Konzil von Chalcedon verkündet.59 Die Gottheit Christi hat sein Menschsein nicht aufgehoben. Es besteht unvermischt und ungetrennt mit seiner göttlichen Natur.60 „Als Mensch lebt Er sein 52 Hernandez, Selbstverständnis, 178. 53 Die übernatürliche Erhebung bedeutet „keine Denaturierung der menschlichen Natur ..., sondern daß diese gerade ganz sie selbst bleibt in ihrer Struktur und relativen Eigengesetzlichkeit ...“. Jan L. Witte, Die Kirche, `Sacramentum Unitatis` für die ganze Welt, in: De Ecclesia (siehe Anm. 15), 420452, 448. 54 Vgl. Philipon, Dreifaltigkeit, 252. 55 Vgl. Joh 1,3. Vgl. dazu Elias Zoghby, Einheit und Mannigfaltigkeit der Kirche, in: De Ecclesia (siehe Anm. 15), 453-473, 467. „Der erlösende Logos ist ja nicht gekommen, um das Werk des erschaffenden Logos aufzuheben. Christus ist nicht gekommen, um seine Geschöpfe zu vernichten, sondern um sie zu erkaufen, zu erneuern und zu versöhnen, indem er in ihnen die Sünde vernichtet. Es besteht eine Kontiniutät im Wirken Gottes.“ Ebd. 486. Vgl. auch Enda McDonagh, The Natural Law and the Law of Christ, in: Ius sacrum (siehe Anm. 67), 69-81,. 56 Vgl. Gustave Martelet, Die Kirche und das Zeitliche. Auf dem Wege zu einer neuen Auffassung, in: De Ecclesia (siehe Anm. 15), 474-493, 482, 493. 57 Vgl. LG 8. 58 McDonagh, Law, 77 59 Vgl. NR 178. 60 Vgl .ebd. göttliches Leben in der menschlichen Natur und der menschlichen Natur gemäß. Alles, was Er als Mensch tut, ist eine Tat des Sohnes Gottes, eine Gottestat in menschlicher Formgebung.“61 Gott vermittelt sich an den Menschen durch die menschliche Natur Jesu Christi. Christus kann somit nur dann verstanden werden, wenn zugleich sein Menschsein voll ernst genommen wird. Ähnlich kann auch das Tun der Kirche nicht in adäquater Weise verstanden werden, wenn nicht zugleich mit ihrem theologischen Gehalt auch das menschliche Moment voll ernst genommen wird. „Beide Dimensionen, die soziologische und die theologische, vereint die Kirche in sich gleichwohl ‚ungetrennt‘ und ‚unvermischt‘ (vgl. LG 8). Diese ‚chalzedonische Signatur‘ ist daher auch der eigentliche Grund, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kirche sowohl einer soziologischen wie einer theologischen Interpretation unterzogen werden kann.“62 Selbst bei den Autoren, die sich sehr eingehend mit einer theologischen Begründung des Kirchenrechts befassen und den Eindruck erwecken, das Verstehen dieses Rechts und ihrer Werte, die es zu verwirklichen hat, seien ausschließlich aus dem Glauben und somit ausschließlich auf theologischem Wege einzusehen, finden sich, vor allem in den jüngeren Arbeiten, Aussagen die diese Exklusivität relativieren. So schreibt RUOCO-VARELA: „Die Kirche ist dennoch nicht nur Volk Gottes, Leib Christi, apostolische Gemeinde. Sie ist auch menschliche Gemeinschaft. Die Menschen, die dem Ruf Gottes des Vaters in seinem Sohn Jesus Christus durch den Hl. Geist folgen und ihr beitreten, tun es mit ihrem vollen menschlichen Dasein, ohne etwas von ihrer anthropologischen Integrität draußen zu lassen. Dazu zählt selbstverständlich ihre Gemeinschaftlichkeit, ja sogar ihre Gesellschaftlichkeit. Somit tritt das Anthropologisch-Soziale in die Konstruktion der Kirche als christologischer Bund interpersonaler Beziehung selbst ein, und zwar als ein ihre Verfassung und Ordnung mitbedingender Faktor, der sich hindernd oder fördernd vor sie stellen kann. Gewiß ist die Kirche `Kirche` nicht aufgrund sozialanthropologischer Faktoren, sondern aufgrund des ewigen Ratschlusses Gottes des Vaters durch Jesus Christus im Hl. Geist, aber auch nicht ohne diese.“63 Ähnliche Aussagen finden sich auch bei 61 Edward H. Schillebeeckx, Christus - Sakrament der Gottesbegegnung. Mainz 21965, 23f 62 Höhn, Gnade, 353. Vgl. auch Arnold, Prinzip, 153. 63 Ruoco-Varela, Grundfragen, 350. R. SOBANSKI64 und E. CORECCO65. Allerdings ist das Verhältnis der Autoren zur Relevanz dieses Menschenbildes nicht eindeutig zu bestimmen. So kann für E. CORECCO eine Argumentation, die sich auf ein philosophisches Menschenbild stützt, nur von „rein provisorischer und zwischenzeitlicher Natur“ sein, „und zwar in Erwartung, daß die Christen im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe die Werte und Mäßstäbe, welche die Eigenart ihrer kirchlichen Erfahrung bestimmen sollten, in ihrer Gesamtheit erfassen“66. Mit anderen Worten, eine derartige Argumentation ist letztlich eigentlich belanglos. Sie erfüllt nur eine Lückenbüßerfunktion. Mit fortschreitendem Glaubensbewußtsein wird sie überflüssig. Auch bei SOBANSKI scheint die gnadenhafte Verwandlung der anthropologischen Struktur durch die Taufe in einem Ausmaß zu geschehen, das die Relevanz einer philosophischen und anthropologischen Argumentation, was die Normfindung und Sinndeutung anbelangt, wieder stark zurückdrängt.67 Zumindest ist es bei ihm schwer zu ergründen, inwieweit die gnadenhafte Umwandlung die Gegebenheiten seines natürlichen Geschaffenseins bewahrend aufgehoben hat. Denn nur wenn dieses verwandelnde Gnadengeschehen zugleich ein bewahrendes, wenn auch reinigendes Geschehen ist, kann in begründeter Weise von einer Relevanz der angesprochenen Argumentation gesprochen werden. Zeigt nun aber nicht das konkrete Leben, daß sich Theologie und menschliches Suchen nach der Wahrheit über den Menschen immer wieder gegenseitig in positiver Hinsicht vorantreiben? So hat sich z. B. das christliche Verständnis von der Würde der Person gestaltwirkend im politischen Bereich ausgewirkt, 68 indem es dem menschlichen Denken neue Dimensionen im Erfassen der menschlichen Wirklichkeit eröffnete, die es in eigenständiger Weise weitergedacht hat. Darf sich die Kirche nun ihrerseits gegen die Impulse aus dem gesellschaftlichen Denken und Leben verschließen? Muß sie diese nicht vielmehr auch aufgreifen und danach fragen, 64 „Auch in der Kirche gelten alle durch das Recht ausgeübten Funktionen, die im Zusammenhang mit dem philosophischen oder soziologischen Bild des Menschen betont werden.“ Sobanski, Lage, 367 f. 65 Corecco verweist auf das scholastische Prinzip gratia perficit, non destruit naturam. Dieses Prinzip ist besonders bei der Ehe und Gewissensfreiheit zu berücksichtigen. Corecco, Erwägungen zum Problem, 450. 66 Ebd. 453. 67 Vgl. Sobanski, Lage, 368 f. 68 Vgl. Timpe, Kirchenbild, 29. inwieweit diese Anregungen auch innerhalb ihrerselbst realisierbar sind, vor allem dann, wenn diese Anstöße aufgrund ihrer Herkunft69 zu ihr eine besondere Nähe aufweisen? Darf die Kirche, um ein konkretes Beispiel zu nennen, demokratisches Gedankengut strikt von sich weisen? Kann sich die Kirche überhaupt als eine wahre menschliche Gemeinschaft verstehen, wenn sie die Analogie zu außerkirchlichen Gemeinwesen zu wenig bedenkt?70 1.2.3. Die Interdependez zwischen Kirche und ziviler Gesellschaft Ein Blick in die Geschichte der Kirche zeigt, daß eine vollkommene Verwahrung gegen Impulse aus der zivilen Gesellschaft faktisch nicht feststellbar ist. 71 Die Schule des IPE ging sogar in der Annahme derartiger Anregungen sehr weit, mitunter sogar zu weit. Auch die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit in der Kirche, die das Zweite Vatikanische Konzil hervorgebracht haben, vollzogen sich nicht ohne jeglichen Einfluß aus der zivilen Gesellschaft.72 Die Kirche muß ja stets die Zeichen der Zeit ernst nehmen und aufgrund dieser ihr eigenes Selbstverständnis hinterfragen, weil sie die Vorgänge in der Zeit als Herausforderung Gottes versteht.73 Gott teilt sich der Kirche auch durch das außerkirchliche, nicht unmittelbar auf die Wortoffenbarung gestützte Suchen des Menschen mit. Denn die Welt, verstanden als Schöpfung Gottes und als grundsätzlich von seinem Erlösungswillen erfaßte, veranlaßt die Kirche, die durch dieses Suchen gefundenen Antworten als möglichen Anspruch Gottes zu interpretieren.74 69 „Die Impulse des Humanismus, der französischen Revolution, sind in ihren besten Intentionen sicher ausgelöst durch echt evangelische Realitäten.“ Timpe, Kirchenbild, 29. 70 Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 4. 71 „Immer schon hat das kirchliche Recht auf die spezifischen Lebensformen einer Gesellschaft, ihr Rechtsbewußtsein, ihre politischen Strukturen, ihre Prinzipien politischer Gerechtigkeit Rücksicht genommen, sich ihnen angepaßt und ihre Rechtskonzeptionen auf eine durchaus schöpferische Weise in der eigenen Rechtsordnung rezipiert.“ Luf, Freiheitsgeschichte, 550. 72 Vgl. Grillmeier, Geist, 140. Grillmeier erwähnt an dieser Stelle unter anderem den Sinn für die Würde und Freiheit der Person und den Blick für das Soziale, die zusammen mit Entwicklungen innerhalb der Kirche und der Theologie für das Zustandekommen des Zweiten Vatikanischen Konzils mitverantwortlich zeichnen. 73 Vgl. Hernandez, Selbstverständnis, 167. 74 Auer / Ratzinger, Gott, 47 weisen im Anschluß an L. Lackmann, Vom Geheimnis der Schöpfung: die Geschichte der Exegese von Röm 1,18-23; 2,14-16; Apg 14,15-17; 17,22-29 vom 2. Jahrhundert bis So ist, um bei dem oben genannten Beispiel zu bleiben, für die Kirche die Konfrontation mit demokratischen Vorstellungen ernst zu nehmen, vor allem auch, um den kirchlichen Sendungsauftrag nicht zu behindern. Denn würde die Kirche derartige Anregungen überhaupt nicht aufgreifen und in der Strukturierung ihrer Sozialität vielleicht Erinnerungen an feudales Gehabe wachrufen, so würde sie bei den Menschen auf Unverständnis stoßen.75 Sicherlich darf die Ordnung der zivilen Gesellschaft, die einen von der Kirche verschiedenen Aufgabenbereich zu realisieren hat und so von eigenen Prinzipien geordnet wird,76 nicht so ohne weiteres auf die soziale Ordnung der Kirche übertragen werden, weil sich die Ordnung der Kirche wesentlich aus ihrem Verhältnis zum Evangelium bestimmt.77 Die Rechte und Pflichten, die die Menschen als Glieder der Kirche und als Glieder des zivilen Gesellschafftsverbandes haben, sind nicht identisch.78 Aber die Rechte und Pflichten als Glieder der Kirche dürfen nicht dergestalt sein, daß sie zu den Rechten und zu Beginn der Orthodoxie. Stuttgart 1952 darauf hin, „daß die Kirche neben Christi offenbarendem Wort von Anfang an auch die Welt als Schöpfung und damit als Gottesoffenbarung gesehen hat“. Nach Schillebeeckx, Christus, 18 ist die vom Heilswillen Gottes erfaßte Schöpfung ein Moment des „inneren, wenn auch noch anonymen Dialogs mit Gott. Wenn Gott, der mit uns persönliche Beziehungen anknüpfen will, der Schöpfer des Himmels und der Erde ist, so liegt darin beschlossen, daß unsere Begegnung mit dieser Welt, das Sein-in-dieser-Welt uns mehr über den lebendigen Gott sagt, als die Welt aus sich selbst vermag. Mehr, als daß Gott nur der Schöpfer von allem ist. Das Leben in der Welt gehört daher selbst zum Inhalt des inneren Anrufs Gottes. Es sagt auf eine vage Weise etwas darüber, was der lebendige Gott persönlich durch seine Gnade, mit der Er uns an sich zieht, unserem Herzen eingibt. Mag es auch noch so unbestimmt sein, es wird zu einer wirklich übernatürlichen Offenbarung, in der das Geschöpfliche zu uns die Sprache des Heiles spricht und zum Zeichen höherer Wirklichkeiten wird.“ 75 Vgl. Merklein, Amt, 399. 76 Vgl. LG 36. 77 Vgl. Merklein, Amt, 331. Darum ist auch zu beachten, „daß eine demokratische Kirchenordnung als solche das Wesen der Kirche genausowenig zum Ausdruck bringen kann wie eine am mittelalterlichen oder gar absolutistischen Staat orientierte. Als wesentlich im Evangelium konstituiert muß die konkrete Struktur der Kirche eine Sache sui generis sein. Eine Reform der Kirche darf deshalb im letzten nicht von der Frage geleitet sein: ‚Wie ist mehr Demokratie zu erreichen?‘ ..., sondern nur von der alles entscheidenden Frage, wie die absolute Abhängigkeit der Kirche von ihrem Herrn, der ihr im Evangelium begegnet, in heutiger Situation am besten konkrete Gestalt annehmen könne“. Ebd. 399 f. 78 „Um der Heilsökonomie selbst willen sollen die Gläubigen genau zu unterscheiden lernen zwischen den Rechten und Pflichten, die sie haben, insofern sie zur Kirche gehören, und denen, die sie als Glieder der menschlichen Gesellschaft haben.“ Ebd. Pflichten der Menschen in der zivilen Gesellschaft einen Widerspruch bilden.79 Es kann aufgrund des inneren Zusammenhanges zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung nicht sein, daß die Grundstruktur des sozialen Verhaltens und der sozialen Ordnung im zivilen Bereich, die vielfach ohne ausdrückliche Beziehung auf Wortoffenbarung auf philosophischem und anthropologischem Weg erarbeitet wird, mit der Grundstruktur des sozialen Verhaltens und der sozialen Ordnung der Kirche dermaßen im Widerstreit liegt, daß sie nicht irgendwo, wenn auch in einer der Eigenart der Kirche rechnungtragenden Weise modifiziert, wiederkehrt.80 Ansonsten hätte der Mensch, der beiden Ordnungen angehört, ein gespaltenes Dasein zu führen.81 Es muß vielmehr bei einem faktischen Auftreten eines solchen Gegensatzes darauf gedrängt werden, durch angestrengtes Suchen nach der Wahrheit einen Ausgleich zu finden. Denn das ehrliche Bemühen um die Wahrheit des Menschen kann, auch wenn es sich nicht ausdrücklich auf die Wortoffenbarung bezieht, letztlich nicht zu der aus dem Glauben gewonnen Wahrheit über den Menschen in einen wirklichen Widerspruch geraten.82 79 Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Emile Joseph de Smedt, Das Priestertum der Gläubigen, in: De Ecclesia (siehe Anm. 15), 380-392, 390. Tatsächlich hat die Kirche auch immer wieder weltliches Recht in ihre eigene Ordnung übernommen. Vgl. Neumann / Hermann, Kirche, 5 f. 80 Es ist vielleicht nicht uninteressant, auf das Vorgehen des Apostels Paulus bei der Begründung der Direktiven des sozialen Zusammenlebens für die Gemeinden zu verweisen. Fundamentale Basis dieser Direktiven war selbstverständlich das auf der Frohbotschaft beruhende neue Sein der Gemeinde. Vgl. Campenhausen, Begründung, 14, 29 f. Dennoch hat Paulus zur Verständlichmachung seiner Anordnungen auch allgemein gültige Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens in seine Argumentation eingebaut. Vgl. ebd. 25. Campenhausen verweist hier auf 1 Kor 9,7-11. „Paulus hat ... durchaus keine Aversionen gegen das Recht – so wenig wie gegen Einsichten des vernünftigen und ‚natürlichen‘ Empfindens.“ Ebd. 35. Paulus zieht solche Einsichten vielmehr heran, um Mindestfoderungen und Selbstverständlichkeiten aufzuzeigen, hinter denen das überschwengliche, geistliche Leben der Gemeinde nicht zurückbleiben darf. Vgl. ebd. 30. „Bei aller Ausgegrenztheit aus der Welt und bei allem eschatologischen Enthusiasmus bleibt sie ... dennoch dem verpflichtet, was auch `bei denen draußen` als das bürgerlich Anständige gilt.“ Laub, Paulus, 24. 81 Vgl. Luf, Freiheitsgeschichte, 550 f. 82 „Wenn auch der Glaube über der Vernunft steht, so kann es doch zwischen Glaube und Vernunft nie einen wirklichen Widerspruch geben, weil derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingibt, der Menschenseele auch das Licht der Vernunft gegeben hat.“ NR 40. „Indes, trotz seines strengen Gnadencharakters steht christliches Glauben dem natürlichen Erkennen und Wissen des Menschen nicht dialektisch als das ‚ganz Andere‘ gegenüber. Die Urheberschaft des offenbarenden Gottes schließt die freilich nur sekundäre Urheberschaft der menschlichen 1.2.4. Die Problematik der Inkulturation Hierher fällt auch die ganze Problematik der Inkulturation83 des christlichen Glaubens in das Selbst- und Weltverständnis der verschiedenen Kulturen. Weil dieses aufgrund des oben Gesagten von vornherein nicht als vollkommen verwerflich abgetan werden kann,84 müssen diese Deutungen der menschlichen Wirklichkeit in die konkrete christliche und kirchliche Lebensgestaltung Eingang finden, bzw. der Glaube muß sich in den verschiedenen Kulturen „inkarnieren“.85 Nur auf diese Weise kann in allen gläubig gewordenen Menschen ein Bewußtsein entstehen, daß es sich wirklich um ihre Kirche handelt, in der sie eine neue Heimat gefunden haben.86 Darum hat sich die Theologie zu bemühen, den Glauben soweit als möglich in der sprachlichen Begrifflichkeit und den jeweiligen Denk- und Vorstellungsweisen der verschiedenen Kulturen auszudrücken, um der Kirche den Weg zu einer fruchtbaren Verkündigung zu bereiten.87 Vernunftnatur nicht aus. Diese beiden Urheberschaften stehen auch nicht neben- und nicht gegeneinander. Ihr Wirken greift vielmehr ineinander über.“ Arnold, Prinzip, 155. 83 „Der Ausdruck ‚Inkulturation‘ ist ein Neologismus und kommt in einem offiziellen kirchlichen Dokument, wie es scheint, zum ersten Mal in der ‚Botschaft an das Volk Gottes‘ vor. Mit dieser wurde die allgemeine Versammlung der Bischofssynode 1977 abgeschlossen, und darin ist von der Katechese als einem ‚Instrument der Inkulturation‘ die Rede.“ Mühlsteiger, Rezeption, 272. Das Anliegen selbst ist jedoch in der Kirche sehr alt. Mühlsteiger verweist auf die Beschneidung der Heiden (Apg 15,1-35) und die Vision des Petrus in Joppe (Apg 10,9-23 und 34.35). Vgl. ebd. 84 Der schaffende Logos hat Geist und Herz des Menschen gestaltet und so auch die Völker durch ihre Geschichte geleitet. Vgl. Zoghby, Einheit, 468. 85 Vgl. ebd. Der Glaube ist zwar an keine bestimmte Kultur gebunden, aber er kann nur in Form einer bestimmten Kultur bestehen. Vgl. Mühlsteiger, Rezeption, 273. 86 „Um universal zu sein, muß die Kirche nicht nur die Völker zu den ihren machen, sondern sie muß selber zur Kirche dieser Völker werden. Die neuen christlichen Gemeinden müssen in ihr die Umwandlung ihres eigenen menschlichen Erbes finden: ihre Zivilisation, ihre Tradition, die ihre eigene Seele darstellen, müssen ihrem neuen Leben eingegliedert werden.“ Zoghby, Einheit, 459. Vgl. auch Provost / Walf, Recht, 160. Sicherlich wird ein solcher Prozeß seine Schwierigkeiten haben, wenn es gilt, „die Treue zum Kulturerbe, zum Eigenleben, zur eigenen Vitalität mit der Treue zum christlichen Offenbarungsgehalt in Einklang zu bringen“. Mühlsteiger, Rezeption, 273. 87 Die „Trennung von Glaube und Kultur erweist sich als eine nicht geringe Schwierigkeit für die Glaubensverkündigung“. Ebd. 274. So hat die Kirche aufgrund des universalen Sendungsauftrages auch die Pflicht, die eigenen sittlichen und rechtlichen Vorstellungen in das konkrete kulturelle sittliche und rechtliche Empfinden der Völker einzupflanzen und so an dieses Empfinden anzuknüpfen.88 1.3. Zusammenfassung Man muß sicherlich den Kanonisten zustimmen, die für ein rechtes Verständnis des Kirchenrechts auf eine Fundierung und Erklärung desselben aus dem Glauben, somit auf theologische Einsichten insistieren. Die Kirche ist ja schließlich keine soziale Wirklichkeit, die einfach aus der gesellschaftlichen Natur des Menschen ableitbar wäre, und so ihre rechtliche Struktur auf philosophischem und anthropologischem Wege hinreichend erklärt werden könnte.89 Es ist auch richtig, daß eine theologische Fundierung die Entfremdung und Krise des Kirchenrechts überwinden hilft,90 und es ist weiters richtig, daß das Kirchenrecht erst dann als Recht der Kirche verstanden werden kann, „wenn das Mysterium als eine fundamentale Voraussetzung und tragende Tatsache berücksichtigt wird“91. Dennoch haben die angestellten Überlegungen gezeigt, daß philosophische und anthropologische Einsichten nicht völlig aus dem Verständnis- und Normfindungsprozeß ausgeschlossen werden dürfen. Dies erfordert vor allem der theologisch begründete Zusammenhang von 88 „Diese Sendung umschließt die Aufgabe, das Ethos der Nachfolge in die jeweilige Gestalt konkreter Sittlichkeit einzupflanzen und sie so umzuformen. ... Kirchliches Ethos respektiert so die eigentümliche sittliche Gestalt der Kulturen und die Art der Völker. Die `Sendung` zielt darauf, dieses jeweilige geschichtliche Ethos der Gruppen und Gesellschaften zum vollen Aufblühen durch die Einbeziehung ins christliche Nachfolgeethos zu bringen.“ Vgl. Peter Hünermann, Das neuzeitliche Menschheitsethos und die Kirche. Eine systematisch-theologische Reflexion, in: ThQ 167 (1987) 7-25, 13. „Im Lichte ihres Verkündigungsauftrages besteht für die Kirche die Notwendigkeit, die christliche Botschaft in einer den konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingungen adäquaten Weise zu entfalten, was auch die Forderung beinhaltet, die institutionellen Garantien dieses Verkündigungsauftrages in Übereinstimmung mit dem herrschenden Rechtsbewußtsein zu gestalten.“ Luf, Freiheitsgeschichte, 550. 89 „In der Kirchenrechtswissenschaft hat, unterstützt durch das päpstliche Lehramt, die Einsicht zugenommen, daß das Kirchenrecht nicht einfach als soziologische Tatsache begründet werden kann, sondern der theologischen Begründung und Entfaltung bedarf.“ Aymans, Lex, 338 f. 90 91 Vgl. Sobanski, Lage, 348. Ebd. 351. Angesprochen ist konkret der sakramentale Charakter kirchlicher Tätigkeit bzw. das Verständnis der Kirche als Heilsorgan. Vgl. ebd. 353. Schöpfungs- und Erlösungsordnung. Das Verhältnis der angesprochenen Erkenntniswege ist mit einem ständig anhaltenden Dialog zu vergleichen, in dem sicherlich theologischen Überlegungen ein unbestreitbarer Vorrang zuzubilligen ist92 und die Kanonistik darauf zu achten hat, das Proprium der kirchlichen Sozialität nicht aus den Augen zu verlieren.93 Um dieses dialogische Verhältnis abschließend nocheinmal zu unterstreichen, sei ein Zitat von K. MÖRSDORF angeführt. Für ihn ist das auf philosophischem und anthropologischem Wege eingesehene und „recht verstandene Naturrecht ... kein menschliches Gemächte, sondern heilige Schöpfungsordnung Gottes. Seine Hereinnahme in das Recht der Kirche bedeutet weder Einbruch weltlichen Rechts in den sakralen Bereich noch Aufspaltung der durch Wort und Sakrament begründeten Kirche. Das Naturrecht ist eine lebendige Kraft in der Gestaltung des kirchlichen Gemeinschaftslebens, aber ganz und gar eingebettet in die übernatürliche Existenz der Kirche“94. 92 Die theologische Erkenntnis ist „primär eine intellektuelle Begegnung mit dem ‚Mysterium‘, d. h. katholische Theologie versteht sich zunächst und vor allem als Theologie des ‚Mysteriums‘, die nicht nur irgendwelcher Geschichtsphilosophie, sondern auch jeder Metaphysik des Seins oder der Existenz überlegen ist“. Ruoco-Varela, Was ist „Katholische“ Rechtstheologie? Gedanken zu dem Buch von B. Schüller: Die Herrschaft Christi und das weltliche Recht, in: AfkKR 135 (1966) 530-543, 532. 93 Vgl. Höhn, Gnade, 348; Luf, Freiheitsgeschichte, 551. 94 Klaus Mörsdorf, Wort und Sakrament als Bauelemente der Kirchenverfassung, in: AfkKR 134 (1965) 72-79, 79.