1 Joachim Walter, Adelsheim Jugendvollzug in der Krise? 1. Rechtslage 1.1 Gesetzliche Vorschriften Die heute geltende gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs kann nur als äußerst kärglich bezeichnet werden. Einschlägige Vorschriften finden sich lediglich in den §§ 91, 92 und 115 JGG sowie in den § 176 und 178 Abs. 3 des StVollzG. In Erkenntnis dieses Mangels und um die Jugendstrafe nach einheitlichen Grundsätzen vollziehen zu können, haben die Landesjustizverwaltungen gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes zum 01.01.1977 die sogenannten „bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug)“ vereinbart, mit denen „die Übergangszeit bis zum Erlass umfassender gesetzlicher Regelungen“ überbrückt werden sollte1. Diese „Übergangszeit“ dauert nun allerdings schon ein Viertel Jahrhundert lang an. In der Sache übernehmen die VVJug die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und der dazu ergangenen Verwaltungsvorschriften nahezu vollständig, meistens wortwörtlich. Allenfalls wird der Begriff "Behandlung" gegen denjenigen der "Erziehung" ausgetauscht. Lediglich für ganz wenige Regelungsbereiche bestehen geringfügige materielle Unterschiede gegenüber dem Erwachsenenvollzug. 2 Bei dieser Rechtslage ist es kein Wunder, dass sich von Anfang an,3 in der letzten Zeit jedoch immer häufiger Stimmen erhoben haben, die die geltende Regelung als verfassungswidrig ansehen.4 Die Kritiker meinen, dass insbesondere auch die Art und Weise, in der die Jugendstrafe zu vollziehen ist, mit anderen Worten der Jugendstrafvollzug als Ganzer, einer förmlichen gesetzlichen Regelung bedarf, die sich nicht in Generalklauseln erschöpft, sondern in ihrer Gesamtregelung der aus rechtsstaatlichen Gründen zu fordernden Bestimmtheit genügt; ein Erfordernis, das gerade bei Eingriffen in Grundrechte und verfassungsrechtlich geschützte Positionen – man denke nur an die im Jugendvollzug häufig verhängten Disziplinarmaßnahmen – besonders zu beachten ist. Mehrere Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht haben, da sie als unzulässig verworfen wurden, zur Klärung kaum etwas beitragen können5. Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht anlässlich einer solchen Vorlage in einer Anfrage an die Bundesregierung um Stellungnahme gebeten, 1 So die Vorbemerkung in der amtlichen Ausgabe der VVJug. Z.B. bezüglich der Höchstdauer des Arrestes oder der Anwendung von Schusswaffen zur Verhinderung von Entweichungen. 3 Schon 1977 hielten die meisten Justizministerien die gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs für unzureichend und meinten, der (zum Erwachsenenvollzug ergangenen) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972 (BVerfGE 33, 1) komme auch für den Jugendstrafvollzug Bindungswirkung zu. Allerdings gelte die dem Gesetzgeber seinerzeit gesetzte Frist (BVerfGE 40, 276) für das Inkrafttreten einer gesetzlichen Regelung nur für den Strafvollzug an Erwachsenen (Böhm, NStZ 1984, S. 383). 4 Bammann, RdJB 2001, S. 24; Feest/Lesting in AKStVollzG § 1 Randziffer 9; Ostendorf JGG 5. Auflage § 91 Randziffer 3; Wölfl, ZRP 2000, S. 511; M. Walter, Strafvollzug, 1999, Randziffer 153 5 Zuletzt Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Herford vom 23.04.2001, DVJJ-Journal 2001, S. 427 mit Anmerkung Ostendorf und Beschluss des BVerfG vom 21.12.2001, DVJJ-Journal 2002, S. 90 2 2 weshalb die Arbeiten an einem Jugendstrafvollzugsgesetz noch immer nicht beendet worden seien. Da das Gericht dabei ausdrücklich auf seine früheren Entscheidungen zum Strafvollzug6 Bezug nahm, in denen es seinerzeit für den Strafvollzug an Erwachsenen das Erfordernis einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage aufgestellt hatte, darf dies als deutlicher Hinweis darauf verstanden werden, dass auch das Bundesverfassungsgericht Zweifel daran hat, dass die derzeitige gesetzliche Lage ausreichend ist.7 1.2 Erziehungsprinzip Immerhin ist durch die vorhandene Grundsatznorm des Jugendstrafvollzugs, § 91 JGG, festgelegt, dass der Verurteilte dazu erzogen werden soll, künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen. Was ist darunter zu verstehen? In negativer Abgrenzung zunächst einmal, dass im Jugendvollzug weder Unrecht vergolten oder Dritte abgeschreckt, erst Recht nicht ein Exempel statuiert oder die Gefangenen gar drangsaliert werden. Sie sollen erzogen werden – nichts anderes. Im Jugendvollzug geht es nicht darum, sie zur Verantwortung zu ziehen (das ist bereits durch das Urteil erfolgt), sondern sie zur Verantwortlichkeit zu erziehen. In der Pädagogik wird das Ziel von Erziehung heute nahezu einmütig als Entwicklung im Sinne der Entfaltung der Persönlichkeit beschrieben.8 Dementsprechend gibt § 1 Abs. 1 KJHG (SGB VIII) jedem jungen Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Im Strafvollzug kann freilich nicht bloß die Entfaltung der autonomen Persönlichkeit angestrebt werden. Aus gegebenem Anlass, regelmäßig einer ganzen Reihe von Straftaten, muss es im Vollzug darüber hinaus um eine solche gehen, die in sozialer Verantwortung Gesetz und Recht achtet. Gemäß der – nach jahrelangen Diskussionen – heute überwiegend in Wissenschaft und Rechtsprechung vertretenen Meinung ist damit Erziehungsziel des Jugendstrafvollzugs nicht mehr, aber auch nicht weniger als künftige Legalbewährung.9 Die Wahl der Erziehungsmittel- und Methoden muss sich im Rechtsstaat selbstverständlich an dem Erkenntnisstand der einschlägigen Fachdisziplinen, insbesondere der Erziehungswissenschaften, orientieren.10 Die etwas altväterlich anmutende Aufzählung in § 91 Abs. 2 JGG: „Ordnung, Arbeit, Unterricht, Leibesübungen und sinnvolle Beschäftigung in der Freizeit sind die Grundlagen dieser Erziehung“ ist deshalb als durchaus unvollständige Aufzählung von Regelbeispielen erzieherischer Angebote zu verstehen. Die Wahl der im Einzelfall anzuwendenden erzieherischen Mittel ist dann Aufgabe individualisierender Erziehungspraxis unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der wissenschaftlichen Pädagogik und der Berufsethik.11 6 S.o. Fußnote 3 So auch Wölfl ZRP 2000, S. 513 8 Grundlegend Kohlberg / Mayer 1972, S. 82 9 Dünkel 1990, S. 131; Heinz 1993, S. 54; Streng 1994, S. 85; Matt 1999, S. 46 10 Kaiser 1982, S. 77 11 Prim 1993, S. 267. Das Problem, bestimmte Formen erzieherischen Handelns nicht grundsätzlich in den Vordergrund zu stellen, wie das § 91 Abs. 2 JGG nahelegen kann, ist in § 3 des letzten vom BJM veröffentlichten Entwurfs eines Jugendvollzugsgesetzes, Stand 19.04.1993, durch 7 3 Freilich wird mitunter behauptet, dass im Vollzug der Jugendstrafe überhaupt nicht erzogen werden könne. Das widerspricht nicht nur jeder Erfahrung.12 Vielmehr ist unter Hinweis auf Watzlawicks “Metakommunikatives Axiom” (welches besagt, man nicht nicht kommunizieren kann13) daran zu erinnern, daß man, wie immer man es auch versuchen mag, ständig andere, zumal junge Menschen, beeinflußt und - als Vollzugsbeamter, Lehrer, Ausbildungsmeister - deshalb auch immer erzieht, selbst wenn man es bewußt nicht wollte.14 Ein Jugendvollzug ohne Erziehung ist deshalb genau genommen undenkbar. Er wäre im Hinblick auf das aus Art. 20 GG folgende Sozialstaatsprinzip im übrigen auch verfassungswidrig. Denn was allgemein für die gedeihliche Sozialisation junger Menschen für erforderlich angesehen wird, kann nicht ausgerechnet für Jugendstrafgefangene entbehrlich sein.15 Im Gesamtergebnis erscheint mir also Erziehung unter den Bedingungen des Freiheitsentzuges keineswegs unmöglich, durch die ungünstigen Rahmenbedingungen aber selbstverständlich sehr erschwert. Wie immer man zur Frage der Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzugs stehen mag: Dass Handlungsbedarf besteht und eine gesetzliche Regelung überfällig ist, ist unstreitig.16 Ob es dazu eines eigenen Jugendstrafvollzugsgesetzes bedarf oder ob, wie Dünkel vorgeschlagen hat, u.U. entsprechende Regelungen im JGG ausreichen würden,17 scheint mir nicht das Wichtigste zu sein. Auf die Inhalte kommt es an. 2. Aktuelle Situation 2.1 Neuere Entwicklung in Daten 2.1.1 Gefangenenziffern Fragt man, wie viele junge Menschen pro Hunderttausend der altersentsprechenden Bevölkerung inhaftiert werden, also nach der sogenannten Gefangenenziffer, so ist festzustellen, dass in den alten Bundesländern18 seit etwa 1994 die Zahl der zu Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden kontinuierlich angestiegen ist, wie das eine Aufzählung von Regelbeispielen erzieherischer Angebote meines Erachtens zufriedenstellend gelöst. 12 Böhm 1993, S. 197. 13 Watzlawick 1969, S. 50 ff: (S.53). 14 Busch 1992, S. 17; J. Walter 1993 S. 108; Wydra 1994 S. 16. 15 Kaiser 1995, S. 9 (16). 16 Lehmann 2002, S. 85 17 Dünkel 1992(a), S. 54 18 Die Situation in den neuen Bundesländern unterscheidet sich von derjenigen der alten Länder in vielerlei Hinsicht: Population (z.B. wenig Ausländer und Spätaussiedler), wirtschaftliche Situation, Anzeigeverhalten, Entwicklung und Organisation der Strafrechtspflege, Deliktsstrukturen, statistische Erfassung, vorhandene Vollzugseinrichtungen usw. mit der Folge, dass Datenzusammenführungen und -vergleiche problematisch sind. Ich beschränke mich deshalb, soweit überhaupt Daten zur Verfügung stehen, auf die Entwicklung in den alten Bundesländern oder beziehe mich auf Daten aus Baden-Württenberg. Ausführlich zur Situation des Jugendstrafvollzugs in den neuen Bundesländern vgl. Dünkel / Lang 2002. 4 Angabenpro100.000der Altersgruppejeweils zum31.3. desJahres Abb. 3: Jugendliche und Heranwachsende in Untersuchungsh Jugendstrafvollzug pro 100.000 der Altersgruppe 19 190 180 170 160 150 140 130 120 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 188,2 116,7 Heranwachsende Strafvollzug Heranwachsende Untersuchungshaft 87,4 70,1 Jugendliche Untersuchungshaft 23,6 Jugendliche Strafvollzug 35,9 26,1 22,7 197072 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 1999 in einem Überblick über die letzten dreißig Jahre ausweist: 19 In dem vergleichsweise kurzen Zeitraum von 1994 bis 1999 stieg bei den Heranwachsenden die Gefangenenziffer um mehr als das Doppelte, bei den Jugendlichen sogar um das Dreifache (!) – der dramatischste Anstieg, den es in der Geschichte der Bundesrepublik je gegeben hat.20 Der damit erreichte Höchststand der Gefangenenziffern übertrifft die Mitte der 70er und 80er Jahre verzeichneten Hochstände bei weitem. Daten aus Baden-Württemberg, wie sie aus 19 Für die freundliche Überlassung dieser Abbildung danke ich Prof. Dr. Frieder Dünkel, Universität Greifswald. 20 Dünkel / Lang S. 27 5 Abb. 2: Gefangenenziffern, 18-21jährige und Unter18jä Baden-Württemberg Strafgefangene pro 100 000 der altersentsprechenden (gemeldeten) Bevölkerung 120 u18 18-21 100 80 60 40 20 0 u18 18-21 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 8 82 12 90 10 78 15 87 15 87 20 98 23 98 23 106 21 92 Nach Zahlen des Statist. Landesamts Baden-Württemberg hervorgehen, bestätigen für ein typisches Flächenland diese Befunde. Auch hier wurde seit 1994 zunehmend häufiger zur schärfsten Sanktion des Jugendstrafrechts gegriffen, der Jugendstrafe ohne Bewährung. 2.1.2 Belegungssituation Für die Belegung der Jugendstrafanstalten bedeutet das, dass die vorhandenen Haftplätze nicht ausreichen, um die ständig wachsende Zahl der Jugendstrafgefangenen ordnungsgemäß unterzubringen. Demgemäß meldeten für die Stichtagszählung zum 31. 3. 2001 alle Bundesländer außer MecklenburgVorpommern21 eine mehr oder weniger dramatische Überbelegung.22 Viele Gefangenen müssen sich zu zweit einen Einzelhaftraum teilen. Bedenken hinsichtlich der Wahrung der Menschenwürde drängen sich auf, weil die Jugendstrafgefangenen in diesem gemeinsam bewohnten Raum sich nicht nur für lange Zeiträume aufhalten, schlafen und essen, sondern meist auch ihre Notdurft verrichten müssen. Insbesondere aber sind solche Zustände einem Erziehungsvollzug, der auf Differenzierung und Individualisierung setzen muss, in besonderer Weise abträglich. Denn wie sollen unter solchen Umständen beispielsweise ältere Wiederkehrer von ganz jungen Erstverbüßern oder besonders durchsetzungsfähige Gefangene von sog. Opfertypen getrennt werden; wie soll verhindert werden, dass ethnische Gruppierungen eine gefährliche Subkultur bilden, dass Schwächere unterdrückt werden, dass das Aggressionspotential durch 'overcrowding' gesteigert wird, wenn die alles beherrschende Frage lautet, in welcher 21 22 Dort war zeitgleich die neue Jugendstrafanstalt Neustrelitz in Dienst gestellt worden. Dünkel / Lang 2002, S. 6 Abteilung für einen Neuankömmling noch ein Platz, notfalls als Matratzenlager, requiriert werden kann? Gleichzeitig hat die Überbelegung die Wirkung, dass die Zahl der Gefangenen ohne Schul-, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz steigt, weil in diesen Bereichen eben nicht so leicht wie im Unterkunftsbereich überzogen werden kann, zumal Personalvermehrung fast überall an knappen Haushaltsmitteln und am fehlenden politischen Willen zur Abhilfe scheitert. So sitzen viele der inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden tagsüber beschäftigungslos im doppelt belegten Einzelhaftraum: Das gerade Gegenteil sinnvoller Erziehung. 2.1.3 Altersstruktur Für die Zugänge der Jahre 1987 – 2001 zeigt Abb. 3: Durchschnittsalter bad.-württ. Jugendstrafgefan bei Zugang in JVA Adelsheim Jahre 20,6 20,4 20,2 20 19,8 19,6 Alle 1987 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 20,5 20,220,19 20,28 19,8820,220,2720,119,99 19,94 19,93 19,89 19,72 2001: 1. Halbjahr am Beispiel Baden-Württembergs, dass sich die Altersstruktur im Jugendstrafvollzug in letzter Zeit erheblich gewandelt hat. Seit einigen Jahren ist das Durchschnittsalter ständig gesunken. Waren 1987 die Jugendstrafgefangenen durchschnittlich 20,5 Jahre alt, hat sich inzwischen der Schwerpunkt deutlich zu den jüngeren Jahrgängen hin verlagert. Dementsprechend haben die im Rahmen der Altersspanne des Jugendstrafvollzugs „jungen“ Gefangenen, insbesondere die 16 – 18-jährigen, besonders stark zugenommen. Der Anteil der unter 18jährigen ist von 12,0 % 1991 auf 21,8 % im Jahre 2001 gestiegen. Nimmt man die 1993 mit 9,0% besonders niedrige Rate als Basis, 7 bedeutet das binnen 7 Jahren mehr als eine Verdoppelung ihres Anteils an der Population. 8 Abb. 4: P b % 2 2 1 1 5 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 9 1 1 1 1 1 1 1 2 Z Auf Bundesebene zeigt sich diese Verjüngung in der Altersstruktur des Jugenstrafvollzuges in ähnlicher Weise: Zur Stichtagszählung am 31. 3. 1980 betrug der Anteil der unter 18jährigen Jugendstrafgefangenen 11,7 %. Im Jahre 1990 war er auf 7,3% gefallen, 1999 auf 12,6 % gestiegen.23 2.1.4 Zwischenergebnis Als erstes Fazit ist festzuhalten, dass in den letzten Jahren wieder häufiger (starker Anstieg der Gefangenenziffer sowie der Belegung) und früher (gesunkenes Alter der Jugendstrafgefangenen) zur Jugendstrafe ohne Bewährung gegriffen wurde. Dies kann auch nicht etwa auf demographische Veränderungen zurückgeführt werden, weil die Gefangenenziffer als relative Größe (Zahl der Jugendstrafgefangenen pro Hunderttausend gleichalte Einwohner) etwaige Veränderungen in der Zahl oder Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigt. Es liegt der Schluss nahe, dass die zuvor jahrelang geübte jugendrichterliche Strategie, Jugendstrafe ohne Bewährung möglichst zu vermeiden und jedenfalls mit ihrer Verhängung solange wie möglich zuzuwarten, im Rückgang begriffen zu sein scheint. Darauf deuten auch Äußerungen zahlreicher Jugendrichter hin sowie die zuweilen sogar von Vollzugspraktikern erhobene Forderung nach „rechtzeitigerer Einweisung in den Jugendstrafvollzug“ 24. Die Folge ist eine allen Erfordernissen sinnvoller Erziehung zuwiderlaufende Überbelegung der Jugendvollzugsanstalten. 23 24 Daten nach Dünkel / Lang 2002, S. Fleck, DVJJ-Journal 2000, S. 178 (179) 9 2.2 Hintergründe 2.2.1 Steigende Jugendkriminalität? Als „Ursache“ für die geschilderten Entwicklungen - häufigere und frühere Verurteilung zu unbedingter Jugendstrafe – wird, zumal in Massenmedien, gerne auf die steigende Jugendkriminalität bzw. zunehmende Jugendgewalt verwiesen. Freilich ist keineswegs sicher, dass „die Jugendkriminalität“ – gemeint ist wohl die polizeilich registrierte Jugendkriminalität - in letzter Zeit ständig steigt. Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) hat für die Jugendkriminalität insgesamt in den letzten Jahren keine bedeutenden Anstiege, zum Teil sogar Rückgänge, verzeichnet. Außerdem ist der Jugendstrafvollzug eben nicht für „die Jugendkriminalität“ insgesamt zuständig, sondern nur für einen sehr kleinen Teil derselben, nämlich diejenige Jugendkriminalität, auf die mit Jugendstrafe ohne Bewährung reagiert wird. Das betraf z.B. im Jahr 1996 nur 4,2 % aller jugendrichterlichen Sanktionen.25 Ob es genau in diesem Bereich schwerer Jugendkriminalität in den Jahren des Belegungsanstiegs Steigerungen gegeben hat, ist unsicher. Betrachtet man die Daten der PKS bei einem schwereren (Massen-) Delikt wie Raub, das oft für den Anstieg der Verurteilungen verantwortlich gemacht wird, so findet man für den in Frage stehenden Zeitraum von 1994 bis 1999 eine moderate Steigerungsrate von knapp 9 %, Jugendliche und Heranwachsende zusammengenommen. Selbst für den Zeitraum der stärksten Zunahme zwischen 1994 und 1997 (dem dann bis 1999 ein deutlicher Rückgang folgte), errechnet sich "nur" eine Zunahme um 58,6%.26 Dies reicht aber zur Erklärung des gewaltigen Anstiegs der Gefangenenziffern um 200 300 % bei weitem nicht aus, abgesehen davon, dass dann der starke Rückgang bei den Raubdelikten in den Jahren bis 1999 auch zu einen Rückgang der Gefangenenziffer hätte führen müssen. Ohnedies können Gefangenenziffern und Vollzugsdaten wie die oben dargestellten genau genommen zunächst nichts anderes abbilden als justizielle Reaktionen – sie spiegeln lediglich, wie die Jugendkriminalrechtspflege entscheidet. Weshalb aber die Jugendgerichte so entscheiden, wie sie es tun, ist fraglich: Haben wir es zu tun mit einer Reaktion auf tatsächlich oder vermeintlich gestiegene schwere Jugendkriminalität, mit Auswirkungen aktueller Medienberichte und sich daran regelmäßig anschließende kriminalpolitische Diskussionen oder um bewusst alternative richterliche Strategien? Das kann den Daten nicht unmittelbar entnommen werden. Steht der gewaltigen Zunahme der Gefangenenziffer, insbesondere der Verdreifachung bei den unter 18jährigen Jugendstrafgefangenen, keine auch nur annähernd entsprechende Steigerung der registrierten (schweren) Jugendkriminalität gegenüber, so bleibt die Erklärung, die (Gewalt-)Taten der Jugendlichen seien in letzter Zeit immer brutaler geworden. Pfeiffer und Wetzels27 konnten in ihren Untersuchungen dies empirisch jedoch nicht bestätigen. Sie stellten fest, dass die polizeilich registrierten Gewalttaten in den letzten Jahren nicht brutaler geworden 25 Einstellungen nach §§ 45 Abs. 3, 47 JGG inbegriffen. Rechnet man diese heraus, handelt es sich immer noch nur um 6,7 % aller Verurteilungen, die auf Jugendstrafe ohne Bewährung lauteten. Datenquelle: BMJ 1997, S. 37. 26 Datenquelle: PKS 1994-1999. Raubdelikte (Schlüssel 2200) sind Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer. Im Ergebnis ähnlich Dünkel / Lang 2002, S. 50 f. 27 Pfeiffer / Wetzels 1999, S. 3 ff. 10 sind. Nach ihren Daten hat die durchschnittliche Deliktsschwere sogar erheblich abgenommen. So ist zwischen 1993 und 1996 beim Raub der Anteil der Fälle mit einem Schaden über DM 500,-- stark zurückgegangen28, ebenso der Anteil der Fälle in denen es zu einer Verletzung des Opfers kam, insbesondere auch einer solchen, die eine Krankenhausunterbringung erforderlich machte.29 Der Einsatz von Waffen war ebenfalls stark rückläufig.30 Früher schon hatte sich gezeigt, dass Verurteilungen wegen ganz schwerer Kriminalität selbst im Jugendstrafvollzug eher selten vorkommen.31 In einer Untersuchung des Jugendstrafvollzugs in Schleswig-Holstein legte Dünkel als Kriterium für schwere Taten zugrunde, dass das Opfer schwer oder tödlich verletzt wurde, dass eine Waffe gebraucht oder ein Schaden von mehr als DM 5.000,-- verursacht wurde. Auch nur eines dieser Merkmale traf gerade einmal auf ein ein Viertel der Jugendstrafgefangenen zu. Anzeichen dafür, dass sich dies signifikant geändert hat, sind in der Praxis nicht ersichtlich. Im Gegenteil sind inzwischen vermehrt Fälle zu verzeichnen, in denen Jugendliche wegen eher unbedeutender Delikte zu unbedingter Jugendstrafe verurteilt wurden.32 2.2.2 Diskurs über Jugendkriminalität und Jugendgewalt Kann die häufigere Verurteilung zu Jugendstrafe also nicht einfach auf das Ansteigen "der Jugendkriminalität" und auch nicht auf immer brutalere Taten zurückgeführt werden, spricht vieles dafür, dass es – zumindest auch – die massenmediale Berichterstattung und mediengeführte Diskurse sind, die dazu beitragen, dass Jugendgerichte wieder häufiger und früher zur Jugendstrafe greifen.33 Massenmedien sind bekanntlich alles Andere als Kriminalitätsfotografen, eher schon Kriminalitätsschöpfer,34 jedenfalls aber weniger Spiegel als Interpreten der Wirklichkeit.35 Sie zeichnen ein Bild von Kriminalität, das auf eigenen Gesetzen beruht.36 In erster Linie zu nennen ist hier der angestrebte wirtschaftliche Erfolg. Dessen Maßstab und Leitwährung ist die Einschaltquote bzw. die Auflage.37 Um diesen Erfolg zu erreichen, setzen die Quoten- und Auflagenstrategen in den Redaktionen – unter kaum zu überschätzendem Konkurrenzdruck! – auf die Mobilisierung von Gefühlen, neigen zu Dramatisierungen. Weil sie beim Medienkonsum überhaupt nicht an solche Produktionsbedingungen denken, übersehen die Konsumenten meistens diese Gesetzmäßigkeiten – und fassen die Medieninhalte als Abbild der Realität auf.38 „Wie ist es möglich, Informationen über die Welt und die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?“ war deshalb die 28 Von 29,2 auf 18,4 % der Fälle; vgl. Pfeiffer / Wetzels a.a.O. Rückgang von 14,6 auf 7,9 % 30 Von 34,2 auf 17,5 % der Fälle; vgl. Pfeiffer / Wetzels a.a.O. So weist auch die polizeiliche Kriminalstatistik 1999, S. 54 ff. seit 1997 einen deutlichen Rückgang der Anzeigefälle aus, bei denen Schusswaffen Verwendung fanden. 31 Dünkel 1992(b), S. 74 ff. 32 Beispiele bei J. Walter 2000, S. 85 ff. 33 Vgl. auch Frehsee, DVJJ-Journal 2000, S. 69 34 M.Walter 1999, S. 349 35 Junge 2000, S. 182 ff. 36 Luhmann 1997, S. 1097; M.Walter 1999, S. 348; Kubink 1999, S. 438; Sessar 1996, S. 281; Obermöller / Gosch 1995, S. 45; grundlegend Kunz 1997; vgl. auch schon Scheerer 1978 37 Jentzsch 2000, S. 265 38 Hunziker 1988, S. 7 29 11 verwunderte Frage von Niklas Luhmann.39 Kurz, nach den Ergebnissen der Medienforschung entsteht das vom Konsumenten aus den Medien gewonnene Bild vom Kriminalitätsgeschehen und der Kriminalitätsentwicklung nicht in einer Gesamtschau auf empirischer Grundlage, sondern in Form einer Aneinanderreihung spektakulärer Einzelereignisse,40 vorzugsweise konzentriert auf Sex und Gewalt, und zwar in weit größerer Häufigkeit, als dies der Realität entspricht.41 So stehen in den Medien ganz besonders Gewaltdelikte junger Menschen im Vordergrund. Sie machen in der Berichterstattung weit mehr als die Hälfte der Darstellungen zur Jugendkriminalität aus, obwohl sie selbst in der höchstbelasteten Gruppe der Jugendlichen nur an der 10 % -Grenze liegen42 und obwohl z.B. weit über 90 % der Tötungsdelikte und vergleichbarer Schwerstkriminalität eben nicht von Jugendlichen begangen werden.43 Dementsprechend sind selbst im Jugendvollzug nur sehr wenige Gefangene wegen eines Kapitaldeliktes verurteilt. Außerdem berichten Medien natürlich keineswegs „wertfrei“, sondern regelmäßig von einem bestimmten, manchmal sogar deutlich definierten gesellschaftlichen Standort aus (konservativ, liberal, christlich oder wie auch immer die selbst zuerkannten Attribute heißen mögen). Schlussendlich erscheint das Feld der Kriminalität und der Kriminalitätsbekämpfung als eine Insel in einer überaus komplexen Welt, wo noch schlichte und für jedermann nachvollziehbare „Lösungen“ angeboten werden können.44 Nicht nur auf die Bürger, sondern auch auf Professionelle wie Politiker, Polizisten, Staatsanwälte und Richter werden (und sollen natürlich!) Mediendarstellungen Auswirkungen haben,45 zumal keineswegs nur Beiträge zum Thema Kriminalität selbst, sondern ebenso Unterhaltungsstücke (Soaps, Krimis, usw.) Kriminalitätsbilder erzeugen können. Sie führen den Menschen eine soziale Realität vor, die erheblich von der direkt erlebten Erfahrungswelt abweicht,46 ebenso von empirisch belegbaren Daten und Fakten. Das alles wird schwerlich ohne Folgen für die Entscheidungen von Politikern und Rechtsanwendern bleiben. Man spricht in diesem Zusammenhang sogar vom politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf.47 Gemeint ist damit, dass die Berichterstattung der Massenmedien für Politiker eine Hauptquelle ihrer Information darstellt und ihre dazu abgegebenen Stellungnahmen und Vorschläge erneut Nachrichenwert gewinnen.48 Auch wenn Richtern und Staatsanwälten in ihrem Berufsfeld Primärerfahrungen mit Kriminalität und Straftätern eher zugänglich sind, dürften diesbezügliche Berichte in Massenmedien gleichwohl keine vernachlässigenswerte Quelle ihres Wissens über Kriminalität sein. Kriminalstatistiken jedweder Art werden dagegen eher selten zu ihrer ständigen Lektüre gehören. Dass solches „Wissen“ sowie die auf dieser Basis geführten Diskurse dann auch auf das berufliche Handeln durchschlägt, ist naheliegend. 39 Luhmann 1996, S. 215 (Hervorhebung im Original). Reuband 2000, S. 43 (49) 41 So schon Lamnek 1990, S. 163 42 M. Walter DVJJ-Journal 2001, S. 364 43 Nach der PKS 1999 betrafen 6,5 % aller Anzeigen wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts Jugendliche. 44 M.Walter 1998, S. 439 45 Bourdieu 1998, S. 120 46 Hunziker 1998, S. 25 47 Scheerer 1978, S. 223 48 Obermöller / Gosch 1995, S. 45 40 12 2.3 Besondere Probleme Neben dem Hauptübel der Überbelegung ist der Jugendstrafvollzug jedoch zur Zeit noch mit einigen weiteren, besonderen Problemen belastet. 2.3.1 Überrepräsentation von Minoritäten In den Gefängnissen Europas sind seit einigen Jahren und mit zunehmender Tendenz die Angehörigen von Minoritätengruppen deutlich überrepräsentiert,49 z.B. Algerier in Frankreich, Türken in Deutschland, Tamilen in Holland usw. Für Deutschland (nur alte Bundesländer) hat eine neuere Studie aus dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen ergeben, dass zwischen 1990 und 1999 die Zahl der deutschen Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten um 8,9 % zugenommen hat, die der Nichtdeutschen hingegen um 161,7 %!50 Dieser enorme Zuwachs kann jedoch nicht etwa durch erhöhte polizeiliche Auffälligkeit der Nichtdeutschen erklärt werden. Denn jedenfalls im Zeitraum von 1990 – 1998 ist die Tatverdächtigenbelastungsziffer der Nichtdeutschen (Häufigkeit polizeilicher Registrierung als Tatverdächtige pro Hunderttausend der vergleichbaren Gruppe) um 2 % gefallen, wohingegen ihre Verurteiltenziffer (Verurteilte auf Hunderttausend der vergleichbaren Gruppe) um 22 % und die Gefangenenziffer (Strafgefangene pro Hunderttausend der Bezugsgruppe) um 73 % gestiegen ist.51 Umgekehrt ist bei den Deutschen die Tatverdächtigenbelastungsziffer deutlich um 13,8 % gestiegen, die Verurteiltenziffer dagegen nur um 9,8 % und die Gefangenenziffer sogar um 0,2 % gefallen.52 Die Chance Nichtdeutscher, im Falle des Verdachts einer Straftat zu Freiheitsentzug verurteilt zu werden, ist also signifikant höher als bei Deutschen unter denselben Umständen. Nun könnte man glauben, dass die Nichtdeutschen eben häufiger schwerere Delikte begehen. Das sollte sich (zumindest auch) an der Art und Zahl ihrer Vorstrafen erweisen. Eine in Niedersachsen und Schleswig-Holstein für die Jahre 1990/91 und 1997/98 durchgeführte Erhebung hat jedoch ergeben, dass die Vorstrafenbelastung deutscher Angeklagter durchweg erheblich höher war als diejenige der nichtdeutschen.53 Obgleich also Nichtdeutsche im vergangenen Jahrzehnt nur mit geringfügig steigender Tendenz polizeilich registriert worden sind, und obwohl sie eine geringere Vorstrafenbelastung aufwiesen als Deutsche, wurden sie im Gegensatz zu diesen deutlich häufiger verurteilt – und noch viel häufiger inhaftiert. Dies gilt für die Verurteilten und Inhaftierten insgesamt, zeigt sich aber ebenso im Jugendvollzug der alten Bundesländer. Etwa in dem Maße, in dem einheimische Deutsche, bezogen auf Hunderttausend der jeweils Gleichaltrigen, in den letzten Jahren einen immer geringeren Anteil an den Insassen des Jugendstrafvollzugs gestellt haben, hat der Anteil von Jugendlichen ohne deutschen Pass weiter überproportional zugenommen. Diesen Trend belegt prototypisch die langjährige 49 Tournier 1999, S. 3; Gesemann 2000, S. 28,32; Bammann 2001, S. 131 ff; M. Walter, Strafvollzug, 1999, Randnummer 88 50 Suhling / Schott 2001, S. 58 51 Suhling / Schott 2001, S. 61 52 Suhling / Schott a.a.O. 53 Suhling / Schott 2001, S. 66 f. 13 Entwicklung der Gefangenenziffern in Baden-Württemberg, wenn man zwischen Deutschen und Nichtdeutschen unterscheidet: 14 Abb. 5: Gefangenenziffern, 14-21jährige Baden-Württemberg Strafgefangene pro 100 000 der altersentsprechenden (gemeldeten) Bevölke 160 DeutscheNichtdeutsche 140 120 100 80 60 40 20 0 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 Deutsche 56 54 63 58 58 62 60 60 57 58 51 55 56 50 44 40 37 3638 34 3230 29 3126 28 24 35 40 42 40 Nichtdeutsche 50 36 42 45 51 57 49 40 48 50 67 75 88 68 68 87 7310387 7910190 8811395121136 138133 150 124 Nach Zahlen des Statist. Landesamts Baden-Württemberg Für den nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzug errechnete Wirth für das Jahr 1996 einen Ausländeranteil von 40,7 %. In den anderen (alten) Bundesländern dürfte die Situation kaum anders sein.54 Bei dieser Betrachtungsweise bleibt allerdings eine neuere „Problemgruppe“ des Jugendstrafvollzugs, nämlich die jungen Spätaussiedler, noch unberücksichtigt, da sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und deshalb in der Gruppe der Deutschen enthalten sind. Auf ihre immer häufigere Inhaftierung dürfte jedoch der seit Ende der 90er Jahre zu beobachtende Anstieg der Gefangenenziffern bei den Deutschen im wesentlichen zurückzuführen sein. 2.3.2 Neue "Problemgruppe" Spätaussiedler55 Differenziert man deshalb weiter und erfasst (mittels des Merkmals Geburtsort) die in Deutschland geborenen Deutschen, hier bzw. im Ausland geborenen Nichtdeutschen und (ebenfalls im Ausland geborenen) Aussiedler getrennt, wie in 54 Vgl. Pfeiffer / Dworschak 1999; M.Walter 1999, S. 124; Holthusen 2001, S. 27 f. mit weiteren Nachweisen 55 Dazu eingehend J. Walter 2002, S. 174 15 Abb. 6:56 Zugänge in den Jugendstrafvollzug Baden-Wü nach Nationalitätengruppen, in Prozent 100% 80% 60% 40% 20% %Dt*GUS%Nd*D %Nd*A %Dt*D %Dt*A(niGUS) 0% 198719881989199019911992199319941995199619971998199920002001 Zugänge559 %Nd*A14,8 %Nd*D 5,9 %Dt*GUS 1,8 %Dt*A(niGUS) %Dt*D77,5 678 18,7 7,8 607 18,9 8,4 582 18,8 9,3 590 22,7 13,6 556 21,9 17,2 2 71,5 2 70,7 2,1 69,9 2,2 61,5 2,8 58,1 631 28,6 19,5 0,5 2 49,4 604 30,5 19,8 2,4 2,1 45,2 545 31 19,6 3,2 2,6 43,6 576 32,6 19,9 7,8 2,9 36,8 702 24,7 24,3 10,8 4,9 35,4 779 25,2 17,4 12,3 2,9 42,2 813 27,6 14,1 15,3 4,2 38,7 772 23,2 10,6 18 3,6 44,6 18,8 12,8 19,1 2,3 47 Zugangsabteilung JVA Adelsheim; 2001: 1. Halbjahr so ergibt sich, jedenfalls für Baden-Württemberg, dass dort inzwischen mehr als die Hälfte der Zugänge (55,4 %), die im Jahr 2000 in den Jugendstrafvollzug gekommen sind, einer Minorität entstammen, also junge Nichtdeutsche oder Aussiedler sind. Im Vergleich mit den einheimischen Deutschen sind die aus Minoritäten stammenden Gefangenen – Nichtdeutsche ebenso wie Aussiedler – im Jugendstrafvollzug der alten Bundesländer inzwischen um rund das dreifache überrepräsentiert.57 Dass seit 1998 der Anteil der deutschen Passinhaber an den Jugendstrafgefangenen wieder etwas gestiegen zu sein scheint, ändert an diesem Befund wenig, zumal zu vermuten ist, dass dieser Zuwachs zu einem Teil der inzwischen erleichterten Einbürgerung Nichtdeutscher zu verdanken ist. Der rasant gewachsene und inzwischen sehr hohe Anteil der jungen Aussiedler an der Population des Jugendstrafvollzuges zeigt an, dass es sich bei ihnen um die neuen "Problemkinder der Institutionen sozialer Kontrolle"58 handeln dürfte. Erneut ist darauf hinzuweisen, dass die dargestellten Daten nicht einfach nur die Entwicklung der schweren und deshalb zu Jugendstrafe ohne Bewährung führenden Jugendkriminalität widerspiegeln. Das zeigt schon der überproportionale Anstieg der Gefangenenziffer bei den Nichtdeutschen. Vielmehr demonstrieren sie in erster Linie, bei welchen Personengruppen die Jugendkriminalrechtspflege in einem bestimmten 56 Legende: Dt*D = Deutsche, geboren in Deutschland ("Einheimische") Dt*A(niGUS) = Deutsche geb. im Ausland, jedoch nicht in GUS ("Aussiedler aus anderen als GUS-Ländern"). Dt*A = Deutsche geb. im Ausland ("Aussiedler aus GUS", "Russlanddeutsche") Nd*D = Nichtdeutsche geb. in Deutschland ("hier geborene Ausländer") Nd*A = Nichtdeutsche geb. im Ausland ("Ausländer") 57 Näher Walter / Grübl 1999, S. 180; Pfeiffer u.a. 1998, S. 24; Holthusen 2001, S. 27 f. 58 So der Titel eines Aufsatzes von Kawamura-Reindl, 2002 16 historischen Zeitraum eine Reaktion mit der härtesten Sanktion, der unbedingten Jugendstrafe, für erforderlich gehalten hat. Gerade auch das letzte Schaubild macht in seinem langjährigen Verlauf deutlich, dass offenbar die justiziellen Problemdefinitionen im Lauf der Jahre beträchtlichem Wandel unterliegen – sei es als Folge veränderten „Kriminalitätsaufkommens“, geänderter Rechtslage, alternativer richterlicher Strategien oder infolge demographischer Entwicklungen. Jedenfalls lässt sich ablesen, bei welchen Personengruppen die Jugendkriminalrechtspflege ein Hauptproblem gesehen hat: Dort nämlich, wo deutliche Zuwächse bei der Verhängung der unbedingten Jugendstrafe zu verzeichnen sind. Das ist ganz deutlich der Fall bei den verschiedenen Minoritätengruppen: Bis Mitte der 90er Jahre bei den im Ausland geborenen Nichtdeutschen, sodann – zeitlich nur leicht versetzt – bei den in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Nichtdeutschen (die die deutsche Staatsangehörigkeit gleichwohl bisher nicht erworben haben) und schließlich in den letzten Jahren bei den jungen Aussiedlern. Mit Blick auf die hohen Gefangenenziffern bei den Angehörigen von Minoritäten lassen sich diese Befunde mit Müller-Dietz59 aber auch so interpretieren, dass die Verfeinerung der Kriminalitätskontrolle (im Sinne einer Liberalisierung und Differenzierung der Sanktionen sowie dem Vorrang diversiver Strategien) nur für einheimische Bürger Platz greift, während für die großen Ströme der Migranten, vor allem auch der Wirtschaftsflüchtlinge aus armen Ländern, der Freiheitsentzug an Bedeutung gewinnt. 2.3.3 Zusammenfassung In den letzten Jahren haben die Jugendgerichte mit drastisch zunehmender Häufigkeit zur unbedingten Jugendstrafe gegriffen. Davon betroffen sind neben den Heranwachsenden ganz besonders unter 18jährige, deren Gefangenenziffer (Inhaftierte pro 100 000 Gleichaltrige) sich deshalb seit 1994 verdreifacht hat. In Folge dessen sind fast alle Jugenstrafanstalten massiv überbelegt. Weit überproportional häufig zu Jugendstrafe verurteilt wurden auch Angehörige von Minoritäten, also Nichtdeutsche und Aussiedler. Sie sind im Jugendvollzug der alten Bundesländer in Bezug auf die altersentsprechende Bevölkerung ihrer Gruppe gegenüber einheimischen Deutschen um ein mehrfaches überrepräsentiert.60 Diese Entwicklungen müssen uns Anlass zu Beunruhigung sein. 3. Neuere Vorschläge in der Diskussion 3.1 „Wehret den Anfängen“, "Zero Tolerance“ Die kriminalpolitischen Devisen „Wehret den Anfängen“ oder, eng damit verwandt, "Zero Tolerance“, scheinen an der beschriebenen Entwicklung der Gefangenenziffern und der daraus resultierenden Überbelegung des Jugendstrafvollzugs nicht ganz unbeteiligt zu sein. Fraglich ist jedoch, ob sie kriminalpolitisch sinnvoll und vertretbar sind. 59 Müller-Dietz 1999, S. 8 Das gilt im Übrigen nicht nur für die Jugendstrafhaft, sondern auch für die Jugenduntersuchungshaft. Dort ist der Anteil der aus Minoritätengruppen stammenden Jugendlichen unter Umständen noch etwas höher. 60 17 Nach Heinz61 stehen hinter dem Leitsatz „Wehret den Anfängen“ die folgenden, allerdings meist unausgesprochenen Annahmen: a) Straffälligkeit im Kindes- oder Jugendalter ist ein Indiz dafür, dass der normale Verlauf des Sozialisationsprozesses gefährdet ist; b) dieser Erziehungsnotstand ist behandlungs- und interventionsbedürftig, ansonsten droht eine Verfestigung und Verschärfung; c) die (jugend)strafrechtlichen Mittel sind zur Behebung des Erziehungsnotstandes erforderlich und geeignet; d) je früher eine (jugend)strafrechtliche Intervention erfolgt, desto größer sind die Erfolgsaussichten; e) zwischen der Intensität des erzieherischen Eingriffs und dem erzieherischen Erfolg besteht ein positiver Zusammenhang. In dieser Allgemeinheit ist jedoch keine dieser Annahmen zutreffend. Als empirisch weitgehend gesichert kann hingegen gelten: a) Jugendkriminalität ist als ein alters- und entwicklungsspezifisches Phänomen sowohl im statistischen wie auch im entwicklungspsychologischen Sinne normal und deshalb auch weit verbreitet („ubiquitär“). Probierverhalten, Abenteuerlust, Aufbegehren, Protest und Provokationen sowie Lernfehler sind und waren zu allen Zeiten jugendtypisch. Am Auffallendsten wäre wohl derjenige Jugendliche, der die Phase der Pubertät und frühen Adoleszenz ständig stabil und schwankungslos durchleben würde.62 Zu verzeichnende Anstiege in der registrierten Häufigkeit von Straftaten junger Menschen dürften deshalb weniger auf Änderungen im altersentsprechenden Verhalten beruhen als auf Änderungen der Gelegenheitsstruktur und der Art der sozialen (also auch strafrechtlichen) Reaktion. b) Wie zahlreiche Täterbefragungen ergeben haben, verbleibt Jugendkriminalität überwiegend im Dunkelfeld. Dennoch – oder gerade deshalb – kommt es in der weitaus meisten Zahl der Fälle nicht zu einer „kriminellen Karriere“. c) Die weitaus meisten Jugendlichen hören von selbst auf, Straftaten zu begehen, ohne dass es dazu förmlicher Reaktionen durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Justiz bedarf. Strafrechtliche Auffälligkeit im Jugendalter ist deshalb für sich allein, aber auch in Verbindung mit sozialen Belastungsmerkmalen, kein zuverlässiger Prädiktor für eine drohende negative Entwicklung. d) Jugendkriminalität ist in aller Regel im Lebenslängsschnitt eines Jugendlichen ein passageres Phänomen, sie bleibt fast immer Episode. e) Sogenannte Intensivtäter ('Chronic Offenders'), die über einen längeren Zeitraum und mit zahlreichen Delikten auffallen, sind eine kleine Minderheit. Zwar ist seit 61 62 Heinz 1999, S. 6; 1998, S. 399 ff. Dörner / Ploog 1986, S. 107 18 Jahren kriminologischen Grundwissen, dass zwischen 3 und 5 % einer Geburtskohorte für 30 % oder mehr aller in einem Jahr begangenen Straftaten verantwortlich sein dürften. Aber selbst die Zuordnung zu dieser Gruppe straffälliger Jugendlicher läßt eine sichere Prognose nicht zu, denn trotz oft hoher Belastung mit sozialen und individuellen Mängellagen wird selbst von diesen hochbelasteten Jugendlichen ein beträchtlicher Prozentsatz nach einigen Jahren nicht mehr auffällig.63 Nach dem gegenwärtigen Stand empirischer Forschung steht noch nicht einmal fest, dass die Verhängung einer Sanktion spezialpräventiv besser wirkt als eine Verfahrenseinstellung, geschweige denn, dass härtere Sanktionen oder gar die vollstreckte Jugendstrafe eine bessere präventive Wirkung hätten. Kerner fasst den aktuellen Forschungsstand wie folgt zusammen: „Bei Konstanthaltung der soziobiographischen Faktoren und der justiziellen Vorgeschichte war die Rückkfallquote nach allen Sanktionen im Wesentlichen gleich. Als wesentlichstes Resultat bleibt die Austauschbarkeit der Sanktionen ... Deutlich erscheint auch, dass Sanktionen ab einem gewissen Härtegrad spezialpräventiv klar kontraproduktiv sind, also das Gegenteil von dem bewirken, was mit ihrer Verhängung spezialpräventiv beabsichtigt war“.64 Wehret den Anfängen – statt zuzuwarten – ist eine im Bereich gesundheitlicher Prävention überzeugende Maxime.65 In der Jugendkriminalpolitik ist sie angesichts von Normalität, Ubiquität und Episodenhaftigkeit auch mittelschwerer und selbst schwerer Formen von Jugenddelinquenz kontraindiziert . Auch Normverdeutlichung im Sinne der positiven Generalprävention setzt keineswegs voraus, dass einschneidende Sanktionen ergriffen werden. Vermutlich können die Integrationswirkungen auch von Strafrechtssystemen erzielt werden, die wenig punitiv orientiert sind.66 Zuwarten mit der Anwendung einschneidender Sanktionen stellt daher im Regelfall die sinnvollste Präventionsmaßnahme dar. Im Zweifelsfall ist weniger genug.67 Deshalb kann und sollte sich die unbedingte Jugendstrafe auf zwei Tätergruppen beschränken: Auf solche Täter, die schwere Straftaten begangen haben und auf jene, die als gefährlich angesehen werden müssen.68 Nahe verwandt mit dem Grundsatz "Wehret den Anfängen“ ist die Devise "Zero Tolerance“, was man zutreffend mit Null-Toleranz oder Intoleranz übersetzt. Neben den oben bereits aufgeführten Gründen sollte aber Intoleranz unseren Umgang selbst mit erheblich straffälligen Jugendlichen schon deshalb nicht bestimmen, weil es ja keineswegs die nachwachsende Generation ist, die ihre Aufwuchsbedingungen gestaltet hat. Wir waren es, die Erwachsenen und die Etablierten!69 Gerade im 63 Zuletzt wieder Stelly / Thomas, S. 224, 226 Kerner (unter Berufung auf Hüsler / Locher) 1996, S. 35 65 Dementsprechend war das erstmals bei Horaz zu lesende "prinzipiis obsta“ auf die möglichst frühzeitige Intervention bei Krankheiten bezogen. Um solche handelt es sich bei Jugenddelinquenz aber gerade nicht. 66 Dölling 1990, S. 19 67 Schüler-Springorum 1991, S. 252 m.w.N.; Kunz (1997a, S. 71) nennt die Annahme, dass von mehrerer konkret in Betracht kommenden Interventionen gegen Kriminalität die jeweils härtere keine höhere Wirksamkeit erwarten lasse, den zentralen Ertrag der empirischen Forschung der letzten beiden Jahrzehnte. 68 Müller-Dietz 1999, S. 9. Um dies zu erreichen, müsste freilich der seit langem kritisierte Begriff der „schädlichen Neigungen“ in § 17 Abs. 2 JGG endlich aufgegeben werden. 69 Montesquieu hat das schon im Jahre 1748 (De L'Esprit des Lois) wie folgt formuliert: "Ce n'est point le peuple naissant qui dégénère; il ne se perd que lorsque les hommes faits sont déjà cor64 19 Umgang mit Minderheiten und Abweichlern zeigt sich die Stärke und Stabilität eines Gemeinwesens. Auch wäre zu fragen, was wohl Jugendliche aus der Intoleranz Erwachsener bzw. der Gesellschaft gegenüber ihren Fehlern lernen. Sollen sie auf diese Weise für den demokratischen Rechtsstaat geworben werden? Selbst noch im Jugendvollzug, will er einen pädagogischen Anspruch erheben, müssen sie das Recht haben, Fehler, ja Torheiten zu begehen und bedürfen der Toleranz gerade dann besonders, wenn sie in Lebensverhältnissen aufgewachsen sind, die ihnen eine sozialkonforme Entwicklung erschwert haben.70 Bleibt freilich die unbedingte Jugendstrafe nicht ultima ratio, also das allerletzte Mittel eines vernunftgeleiteten Strafrechts, sondern kommt jenes „letzte Mittel“ immer häufiger zum Einsatz oder verkommt es gar zum "vorrangigsten Mittel des Umgangs mit Problemen gleich welcher Art"71, so führt das nicht nur zu der beschriebenen Krise des Jugendstrafvollzugs. Es muss vielmehr als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise angesehen werden.72 3.2 Neutralisierung, "Incapacitation" Keinen kriminalpolitisch sinnvollen Beitrag liefern auch die Vertreter des besonders in den USA in Bezug auf Intensivtäter praktizierten Konzepts der Neutralisierung mittels Langzeitinhaftierung ("Selective Incapacitation“). Dunkelfelduntersuchungen haben gezeigt, dass es allenfalls in sehr geringem Umfang funktionieren kann. Denn die meisten Täter, gerade auch bei Gewaltdelikten, werden nicht erkannt und verbleiben im Dunkelfeld; es könnten also von vornherein nur wenige erwischte Täter tatsächlich „neutralisiert“ werden. So hat Killias in der Schweiz bei einer Befragung von 970 Jugendlichen gefunden, dass selbst durch die ausnahmslose Inhaftierung aller der darunter befindlichen und polizeilich erkannten 31 Vielfachtäter von Gewaltdelikten maximal 7,2 % der im folgenden Jahr begangenen Delikte hätten verhindert werden können.73 Gerade schwerste Taten wie z.B. Tötungsdelikte werden aber häufig von Jugendlichen begangen, die bis dahin strafrechtlich völlig unbelastet waren. Sie könnten folglich von keiner Neutralisierungsstrategie erfasst werden. „Konsequentes Wegschließen“ jugendlicher Täter würde deshalb keineswegs zu einer nennenswerten Verringerung des Kriminalitätsvolumens führen, für das Personen dieser Altersgruppe verantwortlich sind,74 wohl aber zu weiterer Überbelegung der Jugendgefängnisse. Da außerdem die prognostischen Möglichkeiten, kriminelle Karrieren frühzeitig und zuverlässig zu erkennen, weit überschätzt werden,75 würde die präventive Unschädlichmachung eine große Zahl Jugendlicher erfassen, von denen eine Gefahr überhaupt nicht oder nicht mehr ausgeht (sog. „falsch Positive“). Schließlich stellt das Neutralisierungskonzept ein mit dem vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzten Schuldstrafrecht kaum vereinbares Modell totaler Exklusion dar, ähnlich den mittelalterlichen rompus." ( Es ist keinesfalls die junge Generation, die entartet; sie geht nur dann verloren, wenn die reifen Menschen bereits verdorben sind.) 70 Dölling 1995, S. 157; anders dagegen die Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager Lichtenburg in nationalsozialistischer Zeit, in der es hieß: „Toleranz bedeutet Schwäche“. 71 Sack 2002, S. 41 72 Ausführlich dazu M. Walter, DVJJ-Journal 2001, S. 359 ff 73 Killias 1999, S. 429 ff. 74 Killias 1999, S. 432 75 Heinz 1998, S. 424; Stelly / Thomas 2001, S. 244 f, 251, 263 20 Aussetzungsstrategien bei Leprakranken, die im Umgang mit unseren Jugendlichen m.E. nicht akzeptabel sind. 3.3 Haftverschärfung; Boot-Camp Maßnahmen der Haftverschärfung wie z.B. Boot-Camp Modelle mögen vielleicht in beschränktem Umfang geeignet sein, das Jugendgefängnis abschreckender erscheinen zu lassen – für Zeitungsleser. Dass dies auf Jugendliche angesichts der entwicklungsbedingten Normalität sowie Ubiquität von Normabweichungen im Jugendalter kaum so wirken dürfte, ergibt sich bereits aus den oben (unter 3.1) gemachten Ausführungen. Außerdem darf Abschreckung Dritter nach unserem Verständnis im Jugendkriminalrecht und erst recht im Jugendvollzug keinen Platz haben.76 Hauptsächlich aber können solche Maßnahmen und Vollzugsgestaltungen das eigentliche Ziel nicht erreichen, nämlich Schutz der Bevölkerung durch Verminderung der Rückfallwahrscheinlichkeit. Die Evaluierung amerikanischer Modelle hat jedenfalls gezeigt, dass die Rückfallquote im Vergleich zu anderen Institutionen nicht gesenkt werden konnte.77 Militärischer Drill, der den zentralen Bestandteil aller Boot-Camp-Programme ausmacht, ist kriminalpädagogisch sinnlos. Im besten Fall kann man auf diese Art und Weise Soldaten produzieren, für die es danach keine Verwendung gibt. 78 Und was Politikern, Publizisten und Bürgern daran oft imponiert, nämlich die Verschärfung der Haftbedingungen für bestimmte oder alle Gefangenen, heizt lediglich das Vollzugsklima in negativer Weise auf, stärkt die Subkultur und erschwert damit die Wiedereingliederungsbemühungen des Strafvollzugs. 79 Der Spagat zwischen edukativen und rehabilitativen Zielsetzungen einerseits und harter vollzuglicher Ausgestaltung andererseits kann nicht gelingen.80 Vielmehr gilt weiterhin die alte, durch Erfahrung vielfach abgesicherte Leitlinie einer rationalen Jugendkriminalpolitik: Milde zahlt sich aus, und zwar auch in der Gestaltung des Jugendstrafvollzugs. Er sollte nicht auf stumpfsinnigen Drill setzen, sondern auf die Eröffnung relevanter Lern- und Übungsfelder, die seinen Insassen bisher verschlossen waren. 3.4 "Modell Glen Mills", konfrontative Pädagogik In der Berichterstattung der Massenmedien, aber auch im fachlichen Diskurs hat in letzter Zeit das „Modell Glen Mills“ viel Beachtung gefunden.81 Nahezu allen diesen Beiträgen ist gemeinsam, dass eine ausgesprochen niedrige Rückfallquote nach Durchlaufen des knapp einjährigen Programms hervorgehoben wird, wobei 76 H.M.; Brunner / Dölling 1996, § 18 Randziffer 9, 9a m.w.N.; Beispiele aus der Rechtssprechung des BGH bei Böhm NStZ 1994, S. 529 77 Gescher 2000, S. 24 f. 78 Kunz 1997 b, S. 86 79 Kunz 1997 b, S. 31 80 Gescher 2000, S. 26 81 vgl. z.B. Brigitte-Reportage, 2000, Brigitte 22, S. 100 – 106; Spiegel-Reportage „Angriff auf die bösen Jungs“, Spiegel Nr. 12 1999, S. 118; Ferrainola: Zur Notwendigkeit einer effektiven Veränderung stationärer Behandlungsmodelle delinquenter Jugendlicher, DVJJ-Journal 1999, S. 321 und Guder: Glen Mills – ein amerikanisches Mythos oder reale Chance? Ein Statement für eine konkrete Utopie im Rahmen der Gestaltung alternativer Handlungsansätze von Jugendhilfe und Justiz auch innerhalb des deutschen Jugendgerichtssystems. DVJJ-Journal 1999, S. 324 21 regelmäßig auf mehrere im Auftrag der Glen Mills Schools erstellte wissenschaftliche Untersuchungen82 Bezug genommen wird. Allerdings hat eine Überprüfung dieser - meist pauschalen - Behauptungen anhand der entsprechenden Veröffentlichungen sowie ein Vergleich mit deutschen Rückfalldaten ergeben, dass keine Rede davon sein kann, die „Erfolgsquote“ der Glen Mills Schools sei besser als diejenige des deutschen Jugendstrafvollzugs.83 Obwohl im deutschen Jugendstrafvollzug nicht, wie in den Glen Mills Schools, eine kriminalprognostisch günstig ausgewählte Population anzutreffen ist, unterscheiden sich die gemessenen Rückfallraten nicht wesentlich von denjenigen, die die Glen Mills Absolventen erreichen, sofern man nur die selbe Definition des Rückfalls – z.B. erneute Inhaftierung ("Reincarceration”) – und den selben Beobachtungszeitraum – 24 bzw. 27 Monate nach Entlassung – anwendet. Dann entspricht die Wiederinhaftierungsrate der Glen Mills Absolventen ziemlich genau derjenigen des deutschen Jugendvollzugs. Berücksichtigt man schließlich die in Glen Mills betriebene, kriminalprognostisch positive Vorauswahl der Insassen, erscheint die Rückfallrate sogar vergleichsweise ungünstig. Im Vergleich zum amerikanischen Jugendstrafvollzug dürfte dies freilich durchaus anders sein. Das heißt natürlich nicht, dass wir von den Glen Mills Schools nichts lernen könnten.84 Zunächst beeindruckt dieses Internat mit seinem Konzept “Menschen statt Mauern”, also den Verzicht auf Mauern, Gitter und Stacheldraht. Des Weiteren imponiert die qualitätsvolle, gute und großzügige Ausstattung der Einrichtung, die als günstiges Lernfeld empfunden wird und den Jugendlichen signalisiert, dass sie etwas wert sind. Besonders zu begrüßen ist, dass im Erziehungskonzept der Glen Mills Schools die Gleichaltrigengruppe, die Peergroup, ganz im Mittelpunkt steht. Es wurde erkannt, dass im Jugendalter die Gleichaltrigengruppe eine enorme Bedeutung gewinnt und Erziehungsarbeit gegen sie oder an ihr vorbei schwerlich Erfolg haben kann.85 Außerdem wird berücksichtigt, dass im herkömmlichen Jugendgefängnis Prisonisierungsprozesse zu einer Insassensubkultur führen, die das Klima zwischen Insassen und Mitarbeitern in ausgesprochen feindlicher Weise prägt und dadurch sowohl die Möglichkeiten wie auch die Erfolgsaussichten einer Verhaltensbeeinflussung durch das Personal erheblich reduziert. Grundsätzlich positiv zu bewerten ist weiter, dass der subkulturellen Verfestigung abweichenden Verhaltens durch ein System einfacher und klarer Normen des institutionellen Alltags sowie mit viel Peergroup Pressure – so problematisch das auch sein kann – entgegen gewirkt wird. Erfreulich ist schließlich, dass im Gegensatz zum deutschen Jugendstrafvollzug, in dem Disziplinardenken weit verbreitet ist, der Blick statt auf das unerlaubte auch auf das erlaubte Verhalten gerichtet ist und neben einem Malussystem auch ein Bonussystem entwickelt wurde. Andererseits ist festzustellen, dass sich der Glen Mills Ansatz für einen Großteil der im deutschen Jugendvollzug untergebrachten Insassen kaum eigenen dürfte. Nach seinen - freilich nicht ganz transparenten86 - Kriterien setzt er gemeinschaftsfähige und einordnungsbereite, gang-geprägte Straftäter voraus, die nicht autoaggressiv 82 83 84 85 86 Grissom 1984; Grissom / Dubnov 1989 Ausführlich hierzu J.Walter 2001, S. 59 Dazu demnächst J. Walter, ZfStrVo 2002, Heft 3 vgl. Wetzels / Enzmann 1999, S. 129 Trede 2001, S. 120 22 oder gar suizidgefährdet, nicht drogenabhängig und nicht mit erheblichen psychischen Problemen belastet sind. Allerdings enthält das Programm auch eine ganze Anzahl problematischer Elemente. Insbesondere sind die mit viel Peergroup Pressure rigide durchgesetzten und sehr zahlreichen Anstaltsnormen jeder Diskussion entzogen. Sie bedürfen offenbar keiner rationalen, geschweige denn demokratischen und rechtsstaatlichen Legitimation. Kann man das bei Regeln akzeptieren, die sich unmittelbar von den Menschenrechten ableiten oder vielleicht auch noch bei solchen, die für das Zusammenleben einer großen Anzahl von Menschen unerlässlich sind, so erscheint dies kaum hinnehmbar bei den in Glen Mills besonders häufigen Vorschriften jener Art, dass z.B. das Hemd in der Hose zu tragen ist, die Fahrbahn nicht betreten werden, ein Rangniedriger einen Ranghöheren nicht von sich aus ansprechen darf oder gar Zumutungen wie derjenigen, dass ein gebrauchtes Hemd genauestens zusammengefaltet werden muss, bevor es in den Behälter für gebrauchte Wäsche geworfen wird. Bedenken sind auch dagegen zu erheben, dass Denunziation zur Pflicht gemacht wird und eigenes Vorankommen nur dadurch möglich ist, dass man ständig auf die Fehler seiner Kameraden achtet, diese damit “konfrontiert” – statt zunächst vor der eigenen Tür zu kehren. Wie auf diese Weise persönliche moralische Entwicklung stimuliert werden, wie Perspektivenübernahme, Einübung von Aushandelungsprozessen und Kompromissfähigkeit gefördert werden soll, ist nicht zu erkennen. Dagegen werden Sekundärtugenden (Sauberkeit, Ordnung) und Hierarchie überbetont, wird kritisches Denken verpönt und blinde Verhaltensanpassung, ja Kadavergehorsam, statt Einsicht propagiert. Entscheidend dürfte freilich sein – und dies bestätigen die ersten Erfahrungen mit in die Bundesrepublik zurückgekehrten Glen Mills Absolventen87 - dass wegen des stark auf Drill und Dressur setzenden Programms nicht mit dauerhafter Verhaltensänderung, sondern allenfalls mit vorübergehender Verhaltensanpassung gerechnet werden kann. Bekanntlich führt Druck, und das gilt grundsätzlich auch für den Druck der Gleichaltrigengruppe, nur selten zu internalisierter Normanpassung kraft Überzeugung, sondern meistens lediglich zu Meideverhalten.88 Dieses hat nicht oder nur wenig länger Bestand, als der Druck anhält. „Glen Mills erzielt zunächst wirksame, aber unreife Internalisierungen, die nicht ausreichen, dauerhaft sozialkonformes Verhalten im Alltag zu erzeugen.“89 Auch was die sogenannten „konfrontative Pädagogik“90 angeht, ist jedenfalls im Jugendvollzug Vorsicht am Platze. Die hohen Erwartungen, die in das sogenannte „Antigewalttraining“ gesetzt wurden, haben durch die bisher einzige dazu vorliegende Rückfalluntersuchung keine Bestätigung erfahren: In einer Evaluation des am längsten im Jugendstrafvollzug implementierten Antigewalttrainings in der Jugendanstalt Hameln kamen Ohlemacher und Mitarbeiter91 zu dem Ergebnis, dass die Rückfallrate bezüglich Gewalttaten mit 37 % bei den Trainingsteilnehmern gegenüber 34,2 % bei den Nichtteilnehmern nahezu identisch, jedenfalls nicht günstiger war, ebenso die Zahl der registrierten Gewaltrückfälle für beide Gruppen. 87 Lang 1999 Wiswede 1976, S. 137; Wiswede 1979, S. 168. 89 Körner 2001, S. 57; ähnlich Winkler 2001, S. 95 90 Siehe hierzu insbesondere den von Colla, Scholz und Weidner herausgegebenen Sammelband „ Konfrontative Pädagogik“. Das Glen Mills Experiment, 2001 91 Ohlemacher u.A., 2001, S. 345 88 23 Selbst die Rückfallgeschwindigkeit zeigt für die 5 Jahre nach der Entlassung eine nahezu deckungsgleiche Kurve. Allein bei der Intensität des Rückfalls liegen die Trainingsteilnehmer etwas günstiger, ohne das Signifikanzniveau zu erreichen. In der letzten Phase seit 1995 war sogar zu beobachten, dass die trainierte Gruppe mit 47,1 % Gewaltrückfällen deutlich schlechter abschnitt als die untrainierte Gruppe mit 29,4 %. Angesichts der im Jugendstrafvollzug verbreiteten, konzeptionell recht unterschiedlichen Antigewaltprogramme92 muss das nicht sehr viel besagen und durchaus nicht für alle gelten. Andererseits liegt eine prinzipielle Schwierigkeit, Antigewaltprogramme zu etablieren, - und das wird oft übersehen – darin, dass der Strafvollzug selber auch heute noch Gewalt und Degradierung als Methode, Konflikte zu „lösen“, zu sehr betont.93 Zu deutlich hat der Gefangene das alltägliche und institutionalisierte Gewaltprogramm (Mauern, Gitter, Stacheldraht, Absonderung, Fesselung, unmittelbaren Zwang, Disziplinierung...) vor Augen. Ein vergleichbares grundsätzliches Problem hat auch die „konfrontative Pädagogik“. Sie setzt selbst auf Gewalt, wenn z.B. auf dem sogenannten „heißen Stuhl“ versucht wird, mittels „leichter Belästigungen bis zu aggressivitätsauslösenden Provokationen den Tätern Betroffenheit über Gewalt zu vermitteln“ und sie „zu zwingen“ (!), sich mit der Einstellung potenzieller „Gegner“ (!) auseinander zu setzen.94 Gewalt als solche wird also nicht problematisiert, vielmehr in Form von Peergroup Pressure sowie zahlenmäßiger und mentaler Überlegenheit der Trainer95 unbedenklich eingesetzt. Im günstigsten Fall wird – immerhin! – gelernt, reale Gewaltattacken durch verbale zu ersetzen.96 Wahrscheinlich wird aber ebenso gelernt, dass wer in Konfrontationen Gewinner sein will, sich am Besten auf die Seite der Mehrheit schlägt und auf zahlenmäßige Übermacht setzt. Demgegenüber bleibt die Forderung des Gewaltberichts der Bundesregierung überzeugend, dass die „Gewaltlosigkeit der Erziehung wesentlicher Bestandteil der Erziehung zur Gewaltlosigkeit“ sein muss.97 3.5 Verurteilungen zurückdrängen, Entlassung beschleunigen Wenn Jugendstrafe weiterhin ultima ratio, also allerletztes Mittel eines vernunftgeleiteten Strafrechts bleiben soll, außerdem der Jugendvollzug wieder in den Stand gesetzt werden soll, die von ihm erwartete Erziehungsarbeit leisten zu können, müssen die Verurteilungen zu Jugendstrafe wieder auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden. Dass dies kriminalpolitisch ohnehin sinnvoll und geboten ist, wurde oben unter 3.1 bereits dargelegt. Bleibt im Einzelfall trotz allem keine andere Wahl, als Jugendstrafe zu verhängen, muss diese, wenn irgend vertretbar, zur Bewährung ausgesetzt werden. Denn immer noch ist die zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe der vollstreckten im Hinblick auf die Rückfallwahrscheinlichkeit deutlich überlegen. Im Auftrag des Bundesjustizministeriums veröffentlichte Zahlen der Bewährungshilfestatistik zeigen z.B. für das Jahr 1991, dass nicht weniger als 77,7 % der zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen nach Ablauf der 2 – 3-jährigen 92 93 94 95 96 97 Vgl. etwa Wolters 1993, S. 56; Kneifel 2002, S. 249; Michl 2002, S. 235. Schumann 1988 So Geretshauser / Lenfert / Weidner 1993, S. 34 ff. Kritisch J. Walter 1999, S. 23 Eindrucksvoll in dieser Hinsicht Heilemann / Fischwasser von Proeck 1998, S. 231 Krasmann 2000, S. 217 Schwind / Baumann 1989, S. 159 (Hervorhebung im Original) 24 Bewährungszeit erlassen werden konnten.98 Von besonders harten Sanktionen oder Sanktionsverschärfungen kann dagegen nach den Forschungsergebnissen der letzten Jahre weder unter spezial- noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten eine Reduzierung von Jugendkriminalität erwartet werden.99 Außerdem sollte wegen der möglichen schädlichen Folgen (vergl. § 3 Abs. 2 StVollzG) auch eines erzieherisch gestaltenden Jugendvollzugs so früh wie möglich eine vorzeitige Entlassung zur Bewährung ins Auge gefasst werden. Dazu ist erforderlich, dass die weitreichenden Möglichkeiten, die § 88 JGG bietet – vorzeitige Entlassung zur Bewährung bereits nach Verbüßung eines Drittels der Jugendstrafe – ausgeschöpft werden. Dies macht gerade auch unter präventiven Gesichtspunkten Sinn, weil nahezu alle Rückfalluntersuchungen feststellen, dass die Entlassung mit einem Strafrest zur Bewährung mit besseren Ergebnissen einhergeht als die Entlassung zum Strafende.100 Auch die Bewährungshilfestatistik zeigt, dass die nachträgliche Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung in immerhin 66,2 % insofern erfolgreich ist, als jedenfalls innerhalb der 2 – 3-jährigen Bewährungszeit ein Widerruf nicht erfolgen musste.101 Eine bedeutend großzügigere Handhabung der Strafaussetzung nach § 88 JGG ist deshalb nicht nur naheliegend, sondern geboten, und zwar unter Gesichtspunkten der geringeren Rückfallwahrscheinlichkeit, der Verhältnismäßigkeit sowie – Jugendstrafvollzug ist erheblich teurer als Bewährungshilfe – der sparsamen Haushaltsführung. Soweit nach den Vorschriften des Ausländergesetzes Ausweisung und Abschiebung eines Jugendstrafgefangenen unabweisbar zu erfolgen hat, soll diese möglichst frühzeitig durchgeführt werden. Weder unter präventiven noch unter kriminalpädagogischen Aspekten ist es sinnvoll, nichtdeutsche Jugendstrafgefangene, die ohnehin abgeschoben werden, länger als bis zur Verbüßung von einem Drittel, höchstens aber der Hälfte ihrer Strafe, im Jugendstrafvollzug zu belassen. 3.6 Jugendstrafvollzug in freien Formen Nimmt man die Vorgabe des § 91 Abs. 1 JGG ernst und gibt der Erziehung absoluten Vorrang, kommt man nach allen empirischen Befunden um die Erkenntnis nicht herum, dass dies am Besten durch Öffnung der Anstalten und vielfältige Lockerungen des Vollzuges erreicht wird. Das hat auch der Gesetzgeber schon frühzeitig gesehen und deshalb in Abs. 3 der genannten Vorschrift weitreichende und bisher kaum genutzte Möglichkeiten eröffnet: „Um das angestrebte Erziehungsziel zu erreichen, kann der Vollzug aufgelockert und in geeigneten Fällen weitgehend in freien Formen durchgeführt werden“.102 Über die Errichtung offener Anstalten hinaus sollte von dieser Möglichkeit endlich ausgiebig Gebrauch gemacht und Jugendvollzug in freien Formen entwickelt werden. Ich erwarte mir davon - weniger Ausgliederung der Gefangenen aus ihrem familiären und sozialen Umfeld und damit geringere Hürden für eine Wiedereingliederung, 98 Bundesministerium der Justiz 1997, S. 41 f. Dölling 1989, S. 318; Rössner 1988, S. 425; M.Walter 1995, Randnummer 338; Heinz 1998, S. 417; Kerner 1996, S. 35 100 Etwa Dolde / Grübl 1996, S. 289 ff. 101 Bundesministerium der Justiz 1997, S 41 f. 102 vgl. Rössner 1990, S. 523 (534) mit dem Vorschlag, bei den unter-18-jährigen Jugendstrafgefangenen generell von dieser Vorschrift Gebrauch zu machen. 99 25 - eine Zurückdrängung der gefängnistypischen Subkultur, - weniger, zumindest aber nicht mehr Rückfall, - weniger Leid, - eine gewisse Reduzierung des Belegungsdrucks im Jugendstrafvollzug, - in einer Gesamtbetrachtung auch geringere Kosten. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass das Justizministerium Baden-Württemberg hier mit dem "Projekt Chance" die Initiative ergriffen hat und in einem Pilotprojekt ca. 15 Jugendstrafgefangene ihre Strafe außerhalb des Justizvollzugs in einem von einem freien Träger betriebenen Internat verbüßen lassen will.103 Auch im Rahmen erlebnispädagogischer Maßnahmen104 könnten weitere Formen eines freien Jugendstrafvollzugs entwickelt werden. 4. Anforderungen an ein künftiges Jugendvollzugsgesetz 4.1 Am Erziehungsgedanken festhalten! Nach jahrelanger Diskussion um den Erziehungsbegriff im Jugendstrafrecht, die freilich in erster Linie die Verhängung der Jugendstrafe, weniger den Jugendvollzug betraf, besteht inzwischen weitgehend Einigkeit, dass zwar der Erziehungsbegriff neu zu formulieren105 bzw. zu aktualisieren106 ist, ansonsten aber das Jugendkriminalrecht auf den Erziehungsgedanken, insbesondere wegen seiner strafrechtslimitierenden, den Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen besserstellenden Funktion, nicht verzichten kann. Im Jugendvollzug muss der Erziehungsgedanke darüber hinaus als alleiniges Leitprinzip sowohl für seine Zielsetzung als auch für die Gestaltungsgrundsätze dienen.107 Muss aber der Jugendstrafvollzug durch den Erziehungsgedanken dominiert werden, so kann seine künftige gesetzliche Regelung sich nicht in einem bloßen Abklatsch der Regelungen des Strafvollzugsgesetzes108 erschöpfen, ggf. ergänzt durch einige erzieherische Einsprengsel. So wenig Jugendliche kleine Erwachsene sind, so wenig kann eine speziell für den Vollzug der Freiheitsstrafe konzipierte und auch geeignete Regelung den ganz anderen Erfordernissen des Jugendvollzugs als Erziehungsvollzug gerecht werden. Wir brauchen vielmehr eine Gesamtregelung, die den besonderen Entwicklungbedingungen des Jugendlichen oder Heranwachsenden ebenso angemessen ist wie den spezifischen Erziehungsbedingungen des Jugendvollzuges – einen "Maßanzug" also. 4.2 Standards festschreiben! Neben einer möglichst präzisen Bestimmung des Erziehungs- und Vollzugszieles muss ein kommendes Jugendvollzugsgesetz die Standards festschreiben, die im 103 104 Nähere Informationen hierzu im Internet unter http://www.projekt-chance.de aus Gründen des aufrechtzuerhaltenden hoheitlichen Vollzugsverhältnisses jedoch nur im Inland 105 Heinz 1992, S. 369 ff. Dünkel 1990, S. 456 m.w.N.; Kräupl 1994, S. 21 107 Deutscher Jugendgerichtstag 1995 (AK II/VI DVJJ-Journal 1996, S. 264) 108 Dünkel 1992(a) S. 59 zum Entwurf eines JVollzG des BJM vom 24. 9. 1991:"...weitgehendes Plagiat des Strafvollzugsgesetzes". 106 26 Jugendvollzug einzuhalten sind. Das bedeutet zunächst, dass die Rechte der Inhaftierten (und ihrer gesetzlichen Vertreter bzw. Sorgeberechtigten) sowohl präzise umschrieben als auch ohne besondere formale Hürden gerichtlich einklagbar sind. Mit einem Anspruch auf fehlerfreien Ermessensgebrauch ist es nicht getan. Auch insoweit ist es an der Zeit, dass die beträchtlichen Benachteiligungen Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber den zu Freiheitsstrafe Verurteilten ein Ende hat. 109 Als weitere qualitative Mindestabsicherung des Jugendvollzugs sind gesetzliche Standards hinsichtlich seiner personellen und sächlichen Ausstattung (insbesondere Anstaltsgröße, Unterbringung, Personalschlüssel), der Ausbildung der Bediensteten sowie die institutionelle Garantie eines zeitgemäßen Schul-, Ausbildungs- und Behandlungsangebotes zu fordern. 4.3 Entlastetes Lebensfeld ermöglichen! Nirgendwo sonst wird man eine solche Zusammenballung von besonders gefährdeten und schwierigen jungen Menschen finden wie im Jugendstrafvollzug. 110 Nun gilt bei Jugendlichen neben der (gewaltfreien) informellen sozialen Kontrolle ein positives Selbstkonzept als eine wichtige Voraussetzung zur „Immunisierung“ gegen abweichende Verhaltensweisen und Rollenübernahmen. Denn ein positives Selbstwerterleben und die Überzeugung der Selbstwirksamkeit haben sich in neueren Arbeiten zur seelischen Widerstandsfähigkeit von Jugendlichen aus Multiproblemmileu als ein wesentlicher Schutzfaktor erwiesen.111 Es ist deshalb wichtig, den Jugendstrafgefangenen legitime Erfolge zu ermöglichen. Dafür brauchen sie jedoch einen Lebensraum, innerhalb dessen sie sich nicht durch ihre Handlungen und dadurch wieder provozierte Reaktionen immer tiefer in ihr Fehlverhalten verstricken, mit anderen Worten ein entlastetes Lebensfeld.112 Dem steht zunächst der meist überreglementierte Strafvollzug entgegen. Der Insasse ist permanent einer solchen Vielzahl von Verhaltensanforderungen und Verboten ausgesetzt, daß er, selbst wenn er es wollte, unmöglich alle beachten kann: Er sitzt in der “Normenfalle”,113 ist sozusagen zum Normbruch gezwungen. Disziplinierungen sind die zwangsläufige Folge,114 nicht selten auch Stigmatisierungen ("unverbesserlich"). Weiter verschärft wird die Situation durch die von den meisten Bundesländern durch Allgemeinverfügungen geregelten weitgehenden Anzeigepflichten der Anstaltsleiter selbst bei den geringfügigsten Vorkommnissen. So verlangt die einschlägige niedersächsische Vorschrift,115 dass „alle Vorfälle und alle Behauptungen von Gefangenen, die möglicherweise strafbare Handlungen zum Inhalt haben, (...) unverzüglich der zuständigen Staatsanwaltschaft zur strafrechtlichen Überprüfung mitzuteilen“ sind. Die baden-württembergische Regelung besagt u.a., dass "Vorkommnisse, bei denen der Verdacht auf eine strafbare Handlung besteht, (...) 109 Man denke nur an den bisher gemäß § 23 EGGVG zum OLG (!) führenden Rechtsweg bei Anträgen auf gerichtliche Entscheidung gegen vollzugliche Maßnahmen. 110 Rössner 1988, S. 429; EKD 1990, S. 116 111 Lösel, Stichwort: Täterpersönlichkeit, in KKW 1993, S. 536 112 Thiersch 1967, S. 401 113 Treiber 1973, S. 43 ff. 114 Interessanterweise führen disziplinäre Ordnungsverstöße in einer mittleren Häufigkeit nicht zu schlechteren Bewährungsaussichten nach Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug; Dolde/Grübl 1996, S. 273 m.w.N. 115 AV des MJ vom 12.07.1993 – Nds. Rpfl. S. 184 -. 27 der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft anzuzeigen" sind, "wenn nicht auf Grund bisheriger Erfahrungen davon ausgegangen werden kann, dass ein Strafverfahren wegen Geringfügigkeit nicht durchgeführt würde".116 Einen Unterschied zwischen Erwachsenenvollzug und Jugendvollzug machen diese Vorschriften regelmäßig nicht, so dass eine pädagogisch orientierte, "kontextsensitive" und die Besonderheiten des Jugendalters berücksichtigende Entscheidung sehr häufig auf der Strecke bleibt. Mit solchen Regelungen wird aber das Erziehungsprinzip im Jugendvollzug weitgehend ausgehebelt, weil der dem Legalitätsprinzip unterliegende Staatsanwalt in unkalkulierbarem Umfang „mit erzieht“. Dazuhin wirken sich anhängige Ermittlungs- und Strafverfahren, selbst wenn sie später eingestellt werden, regelmäßig als Hemmnisse bei der Vollzugsplanung sowie als faktische Lockerungssperre aus. Und das alles, obwohl in den meisten der Betracht kommenden Fälle der sozialregulative Zweck durch eine anstaltsinterne Erziehungsmaßnahme oder auch Disziplinarmaßnahme genauso gut oder besser zu erreichen ist, was außerdem den Vorzug einer unverzüglichen und für die Beteiligten sichtbaren Reaktion hat. Es geht hier selbstverständlich nicht darum, Straftaten "unter den Teppich zu kehren". Es handelt sich auch nicht nur um die bekannte und im Erziehungsvollzug besonders prekäre Problematik der Doppelsanktionierung von im Vollzug begangenen Straftaten durch Disziplinarmaßnahmen und zusätzliche Kriminalstrafe117 oder um die Rechtsunsicherheit für Anstaltsleiter, denen zwar strafrechtlich, jedoch nicht dienstrechtlich ein erheblicher Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage zusteht,118 ob eine Strafanzeige erstattet werden soll. Vielmehr geht es zuallererst darum, auf Verhaltensauffälligkeiten Jugendlicher pädagogisch sinnvoll zu reagieren. Das Problem muss deshalb einer eindeutigen und den Erziehungsauftrag angemessen berücksichtigenden gesetzlichen Regelung zugeführt werden. Diese sollte davon ausgehen, dass im Jugendvollzug das Primat erzieherischer Maßnahmen gilt und gesetzlich definieren, in welchen Fällen der Anstaltsleiter auf jeden Fall Strafanzeige zu erstatten hat. 4.4 Besondere Ausbildung sowie Supervision des Personals einführen! De lege lata bestimmt § 91 Abs. 4 JGG, dass die Beamten des Jugendstrafvollzugs für die Erziehungsaufgabe geeignet und ausgebildet sein müssen. Trotzdem haben bisher nur wenige Bundesländer solche speziellen Ausbildungsprogramme eingeführt.119 Angesichts der „Renitenz“ der Bundesländer gegenüber der eindeutigen gesetzlichen Vorgabe ist zunächst zu erwägen, in einem künftigen Jugendvollzugsgesetz noch enger zu formulieren, etwa dass „im Jugendvollzug nur eingesetzt werden darf, wer eine zusätzliche pädagogische Ausbildung für die Arbeit in einer Jugendanstalt absolviert hat“. Da gleichwohl zu besorgen ist, dass die Primärausbildung insbesondere des Allgemeinen Vollzugsdienstes, in der Sicherheit und Ordnung deutlich im Vordergrund stehen, ein Hindernis auf dem Weg zu einem 116 Demgegenüber enthielt die DVollzO keine einschlägige Bestimmung. Einige Dienst- und Vollzugsordnungen der Zeit vor dem 2. Weltkrieg ermächtigen lediglich den Anstaltsleiter, Strafanzeigen zu erstatten und Strafanträge zu erstellen. 117 Dazu Baumann 1977, S. 267 ff. 118 Näher hierzu AK-StVollzG § 103 Randziffer 30 119 Zum bad.-württ.Programm Walter / Ostheimer ZfStrVO 1999, S. 92 28 Erziehungsvollzug sein könnte, der diesen Namen verdient, sollte mittels einer Öffnungsklausel ermöglicht werden, dass auch pädagogisch ausgebildete Erzieher und Erzieherinnen mit der Aufgabe stationärer Erziehung Jugendstrafgefangener betraut werden können. Diese Absolventen der Fachschulen für Erzieher müssten sich dann umgekehrt für die besonderen Bedingungen des Jugendvollzugs durch Ablegung einer Laufbahnprüfung zusätzlich qualifizieren 120 und könnten im Laufe der Zeit eine Verschiebung hin zu einem stärker pädagogisch orientierten Allgemeinen Vollzugsdienst bewirken. Supervision des beruflichen Handelns ist im Jugendvollzug bisher, wenn überhaupt, nur für die Angehörigen der Fachdienste, insbesondere Psychologen und Sozialarbeiter, vorgesehen. Schon im Hinblick auf den Erziehungsauftrag des Jugendvollzugs, der sich an alle Bediensteten richtet, erscheint Supervision aber auch für die Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes unverzichtbar,121 zumal sie wie keine andere Berufsgruppe tagtäglich besonderen Belastungen und Rollenkonflikten ausgesetzt sind. Damit soll nicht nur dem verbreiteten „Burn-outSyndrom“ entgegen gewirkt werden. Auch darf sich Supervision nicht in Fallbesprechung erschöpfen. Vielmehr kann professionelle Supervision einen Lernprozess in Gang setzen, der eine Reflexion der eigenen beruflichen Rolle ermöglicht, aber auch den Umgang mit Ängsten und Aggressionen erleichtert und schließlich dabei helfen kann, die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Gefangenen zu finden. Sie ist darüber hinaus eine Maßnahme professioneller Weiterentwicklung, ebenso auch der Psychohygiene, die anzubieten dem Dienstherrn aufgrund seiner Fürsorgepflicht obliegt.122 4.5. Soziales Lernen betonen! In den meisten Jugendstrafanstalten kann man auch heute schon einen Hauptschulabschluss in kurzer Zeit nachmachen oder – in einem etwas längerem Zeitraum – eine Berufsausbildung absolvieren. Viel schlechter sieht es aus mit dem sozialen Lernen, insbesondere dem Erlernen gewaltfreien Umgangs mit Konflikten. Hierfür müssten die Fähigkeiten der Perspektivenübernahme, der Empathie als Schlüsselqualifikation in den Mittelpunkt der Erziehungsarbeit gestellt werden. Das würde freilich die Öffnung entsprechender Lern- und Übungsfelder voraussetzen. Nun wird aber die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere in der „totalen Institution“ des Gefängnisses bei weitgehender Reglementierung des Alltags und gleichzeitiger Vollversorgung von den Jugendstrafgefangenen in aller Regel nicht nur nicht verlangt; sie wird ihnen sogar größtenteils unmöglich gemacht. Soziale Verantwortung, wie sie § 2 StVollzG (und auch bisherige Entwürfe für ein Jugendvollzugsgesetz) als ein Vollzugsziel bestimmen, kann also im Vollzugsalltag kaum erlebt - und folglich auch nicht gelernt werden.123 Immer noch beruht ja Erziehung im Jugendstrafvollzug weitgehend auf einer einseitigen Kommunikation zwischen Beamten, die das Sagen, und Jugendlichen, die zu gehorchen haben. Das ist zu ändern, indem auch insoweit, entsprechend dem in § 3 Abs. 1 StVollzG niedergelegten Angleichungsgrundsatz, das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen wird. Das bedeutet aber auch, dass ohne eine 120 121 122 123 Näher J. Walter 2000, S. 100 Langer/Zuber 1998, S. 292 So auch Langer / Zuber aaO Prim 1988, S. 76 f. 29 weitgehende und verantwortliche Beteiligung der Insassen an alltäglichen Entscheidungen soziales Lernen kaum gefördert werden kann. In der Jugend und Adoleszenz ist die Gleichaltrigengruppe für die Entwicklung der Persönlichkeit und sozialer Beziehungen von größter Bedeutung. Dementsprechend sind für die Jugendstrafgefangenen Meinungen, die von Gleichaltrigen geäußert oder Problemlösungen, die von ihnen empfohlen werden, von viel größerer Bedeutung als diejenigen, die z.B. die Betreuer vorschlagen. Im heutigen „multiethnischen“ Jugendstrafvollzug hat die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe noch einmal zugenommen, weil sie – besonders auch in der von Nichtdeutschen und Aussiedlern erlebten Diaspora-Situation – die sichere Rückzugsbasis darstellt. Ein Großteil der Ängste der Gefangenen dreht sich nämlich darum, von den Mitgliedern ihrer Bezugsgruppe akzeptiert zu werden und sich konform zu den Ansprüchen der eigenen Clique zu verhalten, um als Gegenleistung dafür Schutz und Integration zu erhalten.124 Erziehungsarbeit gegen oder an der Gleichaltrigengruppe vorbei wird deshalb schwerlich Erfolg haben können.125 Allerdings ist oft das subkulturelle Verhalten der Mitgefangenen das Modell, an dem gelernt wird. Wenn aber alle Erfahrungen zeigen, dass Erziehung gegen die Gleichaltrigengruppe oder an ihr vorbei nicht erfolgversprechend ist, so sollte sie insofern akzeptiert und in Dienst genommen werden, als ihre wichtigen Leistungen erkannt und anerkannt werden müssen. Die Gleichaltrigengruppe muss in positiver Weise in den Mittelpunkt der Erziehungsarbeit gestellt werden, allerdings nicht im Sinne von "Peergroup Pressure", sondern von "Peergroup Learning".126 Dabei sollten wir uns verabschieden von einer überwiegend an der Vergangenheit des jungen Menschen orientierten Du-Pädagogik des erhobenen Zeigefingers und zu einer nichtpaternalistischen Wir-Pädagogik kommen, die die Zukunft des jungen Menschen ins Auge fasst. 4.6 Positive Sanktionen vorsehen! Je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, so lautet eine empirisch gut abgesicherte Regel der Lerntheorie, desto wahrscheinlicher wird sie diese Aktivität ausführen.127 Außerdem bleiben durch Belohnung erreichte Verhaltensänderungen mit größerer Wahrscheinlichkeit bestehen als jene, die mit repressiven Mitteln bewirkt und aufrecht erhalten werden.128 Folglich darf im erzieherisch zu gestaltenden Vollzug der Blick nicht nur auf unerlaubtes Verhalten, sondern muss viel mehr als bisher auf das erlaubte Verhalten gerichtet werden. Zusätzlich zu dem vorhandenen Malussystem (Disziplinarmaßnahmen, besondere Sicherheitsmaßnahmen, Strafanzeige...) muss also ein Bonussystem entwickelt werden. So könnten für erwünschtes Verhalten der Insassen, möglichst umgehend, Gratifikationen und Vorteile gewährt werden, z.B. auch in Form sogenannter „Tokens“ (Wertmarken), die der Insasse gegen selbst gewählte Güter oder Leistungen eintauschen kann. Ein erster Schritt in diese Richtung ist mit den sogenannten „nicht monetären Vorteilen“ beim Arbeitsentgelt gemäß § 43 StVollzG ja bereits gemacht. Entsprechend sollten vom Gefangenen erreichte und von der 124 125 126 127 128 Greve / Hosser 1998, S. 92 Wetzels / Enzmann 1999, S. 129 Dazu näher Walter / Waschek 2002, S. 191 Wiswede 1979, S. 168 Kerner in KKW 1993, Stichwort: Sanktionen, S. 438 f. 30 Anstalt zu dokumentierende Verhaltensfortschritte mehr als bisher bei der Entscheidung über eine vorzeitige Entlassung berücksichtigt werden. Die Selbstwertschätzung eines jungen Menschen hängt – auch das kann der deutsche Jugendstrafvollzug von Glen Mills lernen – in erheblichem Umfang von subjektiven Erfolgen ab, die er im Überwinden von Hindernissen errungen hat. Ein moderner Jugendvollzug sollte deshalb nicht in erster Linie an den Schwächen und Defiziten seiner Insassen ansetzen, sondern – Stichwort "Empowerment" - an ihren Begabungen und Stärken, um auf diese Weise ermutigende Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Leitbild kommender Gesetzgebung sollte somit nicht der defizitäre, sondern der entwicklungsfähige junge Mensch sein. In der Erforschung der „kriminellen Karrieren“ und der Biographien der jugendlichen Straftäter wird neuerdings mehr als früher das Augenmerk auf Brüche und Wendepunkte gerichtet. Dementsprechend wird nicht mehr so sehr nach den „Ursachen“ der Straffälligkeit junger Menschen in der Vergangenheit gefragt als vielmehr nach den Voraussetzungen ihrer zukünftigen sozialen Integration. „Für das Auslaufen oder sogar den raschen Abbruch scheinbar verfestigter krimineller Karrieren sind weniger Faktoren aus der frühen Kindheits- und Jugendgeschichte verantwortlich als vielmehr die jeweils aktuellen Einbindung der Probanden in die informellen Bereiche der sozialen Kontrolle wie Freundschaftsbeziehungen, Partnerschaft, Familie und Arbeitswelt. Einem Großteil der Häftlingsprobanden gelingt es auf diese Weise, sich wider alle Belastungsfolgen aus dem bisherigen Leben in eine sozial unauffällige Lebensweise erfolgreich zu integrieren“.129 Der aus diesen Erkenntnissen zu ziehenden Konsequenz entspricht die hier vorgeschlagene Strategie: Bei den Bemühungen des Jugendvollzugs weniger die "Persönlichkeit des Täters" – die soll sich ja noch entwickeln - und zurückliegende Verhaltensauffälligkeiten, sondern viel mehr die zukünftigen sozialen Integrationsbedingungen in den Mittelpunkt stellen!130 129 130 Kerner im Vorwort zu Stelly / Thomas 2001, S. 9 Stelly / Thomas 2001, S. 306 31 Literatur AK-StVollzG, herausgegeben von Johannes Feest): Kommentar zum Strafvollzugsgesetz 4. Aufl. Neuwied, Kriftel 2000 Bamann, Kai: Der Jugendstrafvollzug vor neuen Herausforderungen – rechtlicher und tatsächlicher Art. UJ 2002, S. 30 Bammann, Kai: Ist der Jugendstrafvollzug verfassungswidrig? Zur Diskussion um die Notwendigkeit, ein Jugendstrafvollzugsgesetz zu schaffen. Recht der Jugend und des Bildungswesens 2001, S. 24 Baumann, Jürgen: Denkansätze bei der Strafvollzugsgesetzgebung in Geschichte und Gegenwart. Dargestellt am Beispiel der Disziplinarverfehlungen. In: Gernhuber, Joachim (Hrsg.): Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät usw., Tübingen 1977, S. 263 ff. Böhm, Alexander: Der Jugendstrafvollzug im Spiegel der neueren Rechtsprechung. In: Trenczek, Thomas (Hrsg.): Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen. Bonn 1993, S. 197 Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen. Frankfurt a.M. 1998 Brunner, Rudolf / Dölling, Dieter: Jugendgerichtsgesetz, 10. Auflage, Berlin, New York, 1994. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Jörg-Martin Jehle: Strafrechtspflege in Deutschland. Fakten und Zahlen. Bonn 1997. Busch, Max: Recht und Erziehung - ein bleibendes Spannungsverhältnis. ZfstrVo 1992, S. 15 . 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