Remscheider Gespräche 26.02.2004 Protokoll der Arbeitsgruppe: „Verbesserungsvorschläge zum Hilfeplanverfahren an den LVR“ Im Rahmen der „Remscheider Gespräche“ fand am 26.02.04 mit Herrn Flemming vom Landschaftsverband Rheinland eine Veranstaltung zum Thema „Hilfeplan“ statt. Eine Arbeitsgruppe befasste sich am Nachmittag mit Verbesserungsvorschlägen zu den vorgelegten Hilfeplan-Formularen und dem Umgang damit. Die Teilnehmer der Arbeitsgruppe und auch Herr Flemming waren an einer Zusammenfassung der Ergebnisse interessiert, die wir Ihnen hiermit zur Verfügung stellen. Auftrag und Thema der AG war die Erarbeitung von konkreten Verbesserungsvorschlägen. Insofern liegt der Schwerpunkt der Rückmeldungen naturgemäß auf den Bereichen, die zur Zeit noch als unzulänglich, unvollständig und verbesserungsbedürftig erlebt werden. Verbesserungsbedarf wird in erster Linie in folgenden Punkten gesehen: Das Verfahren wurde für Gruppen von Menschen mit bestimmten Behinderungen entwickelt. Andere Behinderungsarten (hier etwa Abhängigkeitserkrankungen) wurden in dieser Konzeption weniger berücksichtigt, das Hilfeplanverfahren soll aber auch bei verschiedenen Behindertengruppen zur Anwendung kommen. Das führt dazu, dass ein großer Teil dieser Menschen mit ihren speziellen Hilfebedürfnissen nicht adäquat abgebildet werden. Das eingeführte Verfahren soll sowohl bei ambulantem als auch bei stationärem Betreuten Wohnen zur Anwendung kommen. Die Unterschiede in der Behandlung und deren Wirkungsmechanismen sind aber derart gravierend, dass ebenfalls deutliche Unterschiede bei der Beantragung der Hilfe gemacht werden müssen, z. B. bei der Berücksichtigung unterschiedlichen Zeitaufwandes und der vorgehaltenen räumlichen und personellen Ressourcen von stationären Einrichtungen. Besonders in stationären Einrichtungen, in denen eine langfristige Unterbringung ermöglicht werden muss, ist es notwendig, dass ausführliche Informationen über den behandelten Menschen auch schon vor Aufnahme vorliegen, da es hier nicht um die Verbesserung einzelner isolierter Schwächen oder die Behandlung weniger problematischer Facetten der Persönlichkeit geht, sondern um die umfassende Berücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit mit ihrer Geschichte und Beziehungserfahrungen. Ein noch so gut ausgefüllter Hilfeplan ist kein Ersatz für eine differenzierte Sozialanamnese, die aber häufig von vorstellenden Einrichtungen nicht mehr erbracht werden (können? z. T. auch nicht mehr dürfen!). Ein Hilfeplan ist definitionsgemäß eine Anleitung dazu, wie die Hilfe geleistet werden soll, sowohl in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen als auch am einzelnen konkreten Defizit des Hilfesuchenden. Oftmals sind allerdings diejenigen Personen, die einen solchen Hilfeplan erstellen, nicht genügend oder adäquat dazu ausgebildet, eine solche Hilfe-(oder Behandlungs-)planung für spezielle Krankheitsbilder (z. B. Sucht) fachlich korrekt durchzuführen. Daraus ergeben sich verschiedene Vorschläge für die Optimierung des Instruments. Grundsätzliches Hilfreich und übersichtlich wäre die Konstruktion des Bogens als Modul-System: 1. Grunddaten 2. 3. 4. 5. Modul Geistige Behinderungen Modul Psychische Behinderungen Modul Körperliche Behinderungen Modul Sucht (z. B. mit Anzahl der Entgiftungen, Entwöhnungsbehandlungen; welche Hilfsangebote sind gescheitert? Art des Trinkens) Bei Comorbidität könnten mehrere Module sich ergänzend bearbeitet werden. In jedem Modul sollten besondere, die Behandlung erschwerende (Risiko-) Faktoren genannt werden können, z. B. auch Vereinsamung o.ä. Evtl. könnten für jedes Modul Behandlungsstandards vorgegeben werden, die für jeden Einzelfall ergänzt werden. Obwohl der Hilfeplan eine ärztliche Stellungnahme nicht ersetzt, wäre die Erfassung ärztlicher Diagnosen (z. B. im Grunddaten-Blatt) sinnvoll, da für die Behandlung z. B. eines Suchtkranken auch mögliche andere zusätzliche (Epilepsie, Diabetes etc.) relevant sind. Es muss von den Erstellern des Hilfeplans eine Anamnese oder ein Sozialbericht gefordert werden können! Deren Erstellung darf nicht mit Kosten- oder Zeitargumenten abgelehnt werden können! Spezielles Die „Skalen“-Beschreibungen A-E sind nicht praxisgerecht: Die Skalierung legt sowohl bei Erstellern als auch bei Auswertern nahe, dass es sich um eine Intervallskala von „A = wenig“ bis „E = viel Hilfe erforderlich“ handelt. Die Ausfüllenden könnten nach diesem bekannten Muster antworten, nicht unbedingt nach der Beschreibung der Skalen in der Legende. Innerhalb eines Items werden unterschiedliche Möglichkeiten vorgesehen, diese müssen in eigenen Items aufgeführt werden. Beispiel: „A: keine Hilfe erforderlich/gewünscht“. Hilfe beim täglichen Wäschewechsel mag vom Hilfesuchenden nicht erwünscht sein, kann aber absolut erforderlich sein, also müsste es zwei Kategorien geben: „keine Hilfe erforderlich“ und „keine Hilfe erwünscht“. Oder bei C: Soll derjenige z. B. bei der Wäschepflege „begleitet“ werden, oder soll diese stellvertretend für ihn durchgeführt werden? Das sind Aussagen, die sich gegenseitig widersprechen! Was bedeutet der Schrägstrich in den Legenden? UND oder ODER? Wenn er durch „oder“ ersetzt werden soll, sind die Definitionen widersprüchlich oder sinnentstellend: Wenn man jemanden bei einer Maßnahme „begleitet“ ist das etwas grundsätzlich anderes als wenn man diese „stellvertretend ausführt“ (C). Wie unterscheidet sich darüber hinaus „Begleitung“ (C) von „Assistenz/Hilfestellung“ (B) oder von „Anleitung“ (D). Oder ist damit „intensive Anleitung“ gemeint (so wie „intensive Förderung“)? Diese Art der Schrägstrich-Benutzung in D wäre aber merkwürdig, da man sonst auch „stellvertretende Begleitung“ in C verstehen müsste, was jedoch sinnlos ist, da eine Begleitung nicht stellvertretend durchgeführt werden kann. Die Möglichkeit der Mehrfachankreuzung erscheint nicht sinnvoll. Was bedeutet es konkret, wenn z. B. bei der Wäschepflege C und E angekreuzt werden? Soll derjenige hierbei begleitet werden, oder soll die Wäsche stellvertretend für ihn gepflegt werden? In der Bemerkung am Anfang des Bogens II gibt es unklare Feststellungen bzw. Anweisungen: Zeile 5: „...welche Hilfestellung JETZT erforderlich ist.“ Heißt das, die JETZT schon erforderlich ist und auch schon gegeben wird oder die JETZT schon erforderlich wäre, aber erst AB JETZT gegeben werden soll? Zeilen 5/6: „Die aktuelle Art der Hilfestellung wird durch Ankreuzen markiert. Handelt es sich um eine neue Antragstellung ohne aktuelle Hilfestellung, werden die Felder nicht angekreuzt.“ In der Praxis werden diese beiden Sätze im „Kleingedruckten“ oft überlesen. Viele der Kollegen, die diesen Hilfeplan schon selbst ausgefüllt hatten, hatten diese beiden letzten Sätze überhaupt zur Kenntnis genommen oder wirklich so verstanden und ernst genommen, d.h. es wurde immer A, B etc. angekreuzt, als wäre dies bereits die Hilfeplanung. Es sollte deutlicher werden, daß Bogen II die Statuserhebung (incl. eventueller Hilfen, wenn sie bereits jetzt erbracht werden) ist, auf deren Basis die Hilfeplanung in Bogen III erfolgt. In Bogen I wird nach dem Wunsch bezüglich zukünftiger Lern- bzw. Arbeitssituation gefragt (I.3), in den späteren Bögen wird hierauf nicht mehr eingegangen. Eine Berechnung des zeitlichen Aufwandes (Bogen III) für ambulantes Betreutes Wohnen ist noch sinnvoll. Für stationäre Unterbringungsformen sind solche Angaben jedoch äußerst problematisch. Die Festschreibung solcher „Zeitbudgets“ für stationäre Einrichtungen geht an den Gegebenheiten dort völlig vorbei. Die „Raumdeckung“ (sowohl örtlich/räumlich als auch personell und vor allem auch „atmosphärisch“ verstanden) wird nicht berücksichtigt: - Einrichtungen halten viele Räume oder therapeutische Angebote vor, die von Bewohnern prinzipiell benutzt werden können. Ob sie dies tun, ist häufig ihnen selbst überlassen, oft besteht aber auch die Verpflichtung zur Teilnahme an therapeutischen Maßnahmen. Trotzdem benutzen nicht alle Bewohner alle Angebote zum gleichen Zeitpunkt: Oft führt erst die Möglichkeit, ein Angebot eventuell nutzen zu können und zu dürfen, viel später erst zu der Überlegung, dies tatsächlich einmal probieren zu wollen. Dies lässt sich nicht in Minutenwerten pro Woche ausdrücken! - Das Setting in Einrichtungen, das Konzept der therapeutischen Gemeinschaft, führt zu Erfolgen in der Behandlung, selbst dann, wenn Mitarbeiter an diesen Prozessen nicht oder nicht immer oder nur aufarbeitend im Nachhinein beteiligt sind. Dies lässt sich nicht in Minutenwerten pro Woche ausdrücken! - Das therapeutische Handeln durch Mitarbeiter an Person A hat Auswirkung bzw. Rückwirkung auf weitere Personen in der Einrichtung/in der Gruppe, da auch andere Bewohner von diesen Prozessen profitieren. Dies lässt sich nicht in Minutenwerten pro Woche ausdrücken! - Selbst das Handeln der Bewohner untereinander hat Rückwirkungen auf den therapeutischen oder Entwicklungs-Prozess weiterer Bewohner. Genanntes Beispiel: Prinzipiell könnte das abendliche gemeinsame Fernsehen auch bei ambulanter Betreuung organisiert werden. Ob dies dann lange anhalten würde, ist doch sehr fraglich. Die Bewohner in Einrichtungen nutzen diese Chance der gemeinsamen Freizeitgestaltung ganz selbstverständlich, weil sie vielleicht nur aus ihrer Zimmertür über Flur gehen müssen. Dies lässt sich nicht in Minutenwerten pro Woche ausdrücken! Genanntes Beispiel: Sterbebegleitung eines Todkranken durch Mitbewohner, die Begleitung zur Beerdigung oder die Grabpflege durch Bewohner hat auf andere Bewohner die Wirkung, sich dessen bewusst zu werden, dass sie nicht alleine gelassen sind und auch nach ihrem Tod nicht vergessen werden. Sie können sich vielleicht erstmals als wichtig genommene Person erleben und sich geliebt fühlen. Dies lässt sich nicht in Minutenwerten pro Woche ausdrücken! - Das Vorhandensein von Nachtwachen (auch solchen mit der Möglichkeit, in der Einrichtung zeitweise zu schlafen), ist nicht nur notwendig bei der Behandlung von multipel erkrankten Menschen. Für viele Bewohner ist die Sicherheit, die damit einher geht, beruhigend und gibt Schutz. Diese Sicherheit/Geborgenheit ist vorhanden, ob die Nachtwachen nun in Anspruch genommen werden oder nicht. Dies lässt sich nicht in Minutenwerten pro Woche ausdrücken! - Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit! Aus den genannten Gründen ist gerade bei comorbid chronisch erkrankten Menschen eine umfassende Behandlung/Betreuung/Therapie/Unterbringung häufig die einzige Behandlungsform, die eine allseitige Betrachtung und Entwicklung der Person möglich macht. Eine enge Begrenzung auf wenige eher kurzfristig erreichbare Ziele, wie es in Bogen III gefordert wird, ist somit ebenfalls nicht sinnvoll, jedenfalls nicht bei geplanter stationärer Unterbringung. Die „Zeitbudgetierung“ des pädagogisch-therapeutischen Handelns legt die Vermutung nahe, dass in absehbarer Zeit ein ähnliches Vorgehen zur Abrechnung von Leistungen angestrebt wird, wie es in Krankenhäusern schon praktiziert wird, und das schon heute zu katastrophalen Folgen geführt hat. Dies liegt nicht im Interesse der betreuten / behandelten Personen und auch nicht der Mitarbeiter, die in diesen Bereichen Hilfen / Therapie anbieten. Die Formulare wenden sich – von der Idee her gut - an die Antragsteller. Diese sind (siehe Grunddaten S. 1) behindert auf Grund von körperlich nicht begründbaren Psychosen, Hirnschädigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen/Persönlichkeitsstörungen, geistiger oder „einfacher“ körperlicher Behinderung oder einer Kombination dieser Erkrankungen. Von diesen Personen wird erwartet, dass sie an der Erstellung des Hilfeplans teilnehmen. Dies bedeutet nicht nur, dass sie mit den Diskrepanzen zwischen ihrer aktuellen Situation und zukünftigen Wünschen konfrontiert werden, sondern auch mit der abweichenden Meinung ihrer Betreuer bzw. anderer Fachleute. Diese schon für sich genommen schwierige Situation wird noch getoppt dadurch, dass sie diese Diskrepanzen auch noch alle unterschreiben müssen. Hierdurch können massive Ängste und Verunsicherungen entstehen. Dies wird von Teilnehmern als Erfahrung aus der Praxis auch berichtet. Wenn sich der Antrag an diese Personengruppen richtet, müsste er konsequenterweise auch entsprechend einfacher und verständlicher formuliert sein. In vielen Fällen werden die angesprochenen Antragsteller die Fragen oder Antwortmöglichkeiten nicht verstehen. Umgehen mit dem Instrument und der Kostenzusage Wenn Menschen schon bei Erstellung des Hilfeplanes in Einrichtungen sind, ist es notwendig (besonders für kleinere Einrichtungen) eine sofortige Kostenzusage zu geben, und wenn sie auch nur vorläufig oder befristet sein mag. Bei der langen Dauer der Bearbeitung der Anträge ist sonst eine unzumutbare finanzielle Belastung der Einrichtungen die Folge. Es ist irritierend und verunsichernd, wenn offensichtlich auf Grund mangelnder oder nicht ausreichender Schulung der LVR-Mitarbeiter die Handhabung der Kostenzusagen sehr unterschiedlich erfolgt. Auch Informationen und Auskünfte sowohl von Mitarbeitern einer Ebene als auch auf unterschiedlichen Ebenen widersprechen sich häufig, der Informationsstand der LVR-Mitarbeiter ist höchst unterschiedlich. Bei den Sachbearbeitern wäre ein gleicher Kenntnisstand und gleiche Beurteilungskriterien wünschenswert. Dies trifft auch zu für Mitarbeiter von LVR-Kliniken. Hier ist festzustellen, dass teilweise die Erstellung von (zusätzlichen) Sozialberichten von Vorgesetzten regelrecht verboten werden, obwohl hierfür keinerlei Grundlage im Hilfeplanverfahren besteht. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung mit den Entwicklungsberichten vor, die durch das Hilfeplanverfahren ersetzt wurden. Zum Wegfall der Entwicklungsberichte muss gesagt werden, dass die Erstellung des Hilfeplanes für diese kein Ersatz sein kann, da diese in aller Regel wesentlich aussagekräftiger sind und ein besseres Bild von den erforderlichen Hilfen für einen Menschen und über seine Vorstellungen ergeben können. Die Teilnehmer der AG befürchten, dass der geplante Abbau stationärer Plätze zugunsten von ambulanten Plätzen und das damit verbundene Ziel der Kostendämpfung eher zu Verunsicherungen auf der Seite der Betroffenen und zu Einschränkungen des Behandlungsangebotes als zu den geplanten Kosteneinsparungen führt. Karl-Heinz Bobring (Protokoll)