Finnland Info 901 19.8.11 Irrtum auf Bundesebene

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Finnland Info 901
19.8.11
Irrtum auf Bundesebene: Illettrismusbekämpfung ist nicht möglich
http://www.ich-will-waehlen.ch/meta/kursunterlagen/
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Am 23. Oktober 2011 wählt die Schweizer Stimmbevölkerung das Parlament. Die
für die Teilnahme an den Wahlen notwendigen Unterlagen und Anleitungen
liegen zumeist in schriftlicher Form vor.
Viele Erwachsene in der Schweiz verfügen über Leseschwierigkeiten. Diese
Personen können die vorliegenden schriftlichen Wahlinformationen nicht oder
nur ungenügend verstehen.
Mit der Webseite www.ich-will-waehlen.ch wird ein unabhängiges,
dreisprachiges Informationsangebot für Erwachsene mit Leseschwierigkeiten
geschaffen. Ziel ist es, bestehende Barrieren im Zugang zu den
Parlamentswahlen abzubauen und dadurch einen Beitrag zur Erhöhung der
Wahlbeteiligung zu leisten.
Anmerkung H. Joss:
‚Bestehende Barrieren abbauen‘ weist darauf hin, dass die
Autoren der Website das Phänomen ‚Illettrismus‘ kaum
kennen.
Weshalb?
Die Zeit von einigen Monaten reicht nicht, um die
sprachlichen Kompetenzen Betroffener zu fördern.
Die Barrieren sind vor allem psychologischer Art: Jahrelange
Misserfolge während der Schulzeit, begleitet von
Beschämungen, haben kaum therapierbare psychische
Schäden hinterlassen.
Im Sinne von: „Ich bin dumm, das schaffe ich nie. Deshalb
melde ich mich nie für einen Kurs an, diese Schmerzen will
ich nicht noch einmal erleben“. (Finnland Info 891).
Illettrismusbekämpfung‘: Illettrismus bei Erwachsenen kann
nicht bekämpft werden. Der irreführende Begriff löst falsche
Hoffnungen aus.
Eine Hungersnot kann bekämpft werden, Armut ebenfalls.
Indem Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Die Opfer verlangen nach Nahrung und Geldmitteln.
Erwachsene mit Problemen in Lesen und Schreiben
verlangen grundsätzlich keine Hilfe.
Sie sind überzeugt von dem, was ihnen während der
Schulzeit immer wieder prophezeit wurde. „Du wirst es nie
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lernen“. Verbunden mit tief greifenden, kaum löschbaren
Beschämungen.
Im Gegenteil: Sie versuchen ihre Schwäche mit allen Mitteln
zu verbergen. Sie setzen geniale Strategien ein, um ja nicht
erkannt zu werden.
‚Illettrismusbekämpfung‘ kann gegenteilige Wirkung haben:
Betroffene ziehen sich noch mehr zurück. Je mehr
Kampagnen durchgeführt werden, umso weniger
Erwachsene melden sich für Kurse bei Lesen und Schreiben
an.
Schweizweit sind die Zahlen rückgängig.
Die laufenden Kampagnen sind gut gemeint, wenn auch
nicht ganz uneigennützig, Aufwand und Ertrag stehen dabei
in einem kaum verantwortbaren Verhältnis.
Illettrismus kann bei Erwachsenen nicht bekämpft werden,
bestenfalls bei Kindern im Stadium des Erwerbs von Lesen
und Schreiben. Ab Vorschule und während der gesamten
Schulzeit.
Anstatt immer wieder neue, kostenaufwendige Aktionen
und Kampagnen zu starten, mit kontraproduktiven Effekten,
wären altersübergreifende Massnahmen ab Vorschule weit
nachhaltiger und letztlich auch kostengünstiger.
Und vor allem menschlicher.
Neben der Webseite werden im Rahmen des Projekts Kursmaterialien zum
Thema "Wählen" entwickelt, welche im Rahmen von Lese- und Schreibkursen
mit Erwachsenen eingesetzt werden. Ausserdem werden die politischen
Parteien sowie die Öffentlichkeit zum Zusammenhang zwischen tiefen
Lesekompetenzen und der ungenügenden Wahrnehmung von politischen
Rechten aufmerksam gemacht.
Anmerkung H. Joss:
Das Interesse der politischen Parteien an betroffenen
Erwachsenen ist eindrücklich. Wenn auch nicht ohne
Eigeninteressen. Man erhofft sich Stimmen von Personen,
welche sich bisher wenig mit Wahlen beschäftigt haben.
Die politischen Parteien wollen etwas von erwachsenen
Menschen, von Menschen, denen die gleichen Parteien
etwas vorenthalten haben während ihrer gesamten
Schulzeit: Professionelle Begleitung und Unterstützung beim
Erwerb von Lesen und Schreiben.
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Die politischen Parteien erhalten sozusagen die Quittung für
ein Problem, das sie während Jahrzehnten ausgeblendet
haben, und noch heute ausblenden: Dass die öffentliche
Schule ihren Auftrag im muttersprachlichem Bereich, dem
eigentlichen Kernbereich unserer Kultur, nicht mehr erfüllen
kann. Es fehlt an den notwendigen Ressourcen.
Bleibt zu hoffen, dass sich die politischen Parteien über die
Wahlen hinaus- auch wenn das Projekt „Illettrismusbekämpfung“ misslingt – so wie es vorbereitet wurde misslingen muss - so engagiert für betroffene Lernende
einsetzen und endlich überfällige Anpassungen der
öffentlichen Schule an die Forderungen von Gegenwart und
Zukunft durchsetzen.
Leider immer noch ohne bildungspolitisches Gesamtkonzept.
Mir ist keine Partei bekannt, welcher es gelungen ist, die
Mittel für den muttersprachlichen Unterricht an der
öffentlichen Schule so zu fördern, dass die Anzahl
Jugendlicher, welche die Schule mit ungenügenden
Sprachkompetenzen verlassen, (in der Schweiz 15-20%, in
Finnland 5 %), markant zurückgegangen wäre.
Ganz zu schweigen von Früherfassungen und
Frühförderungen.
Dabei wird deutlich, dass die Verhinderung von Illettrismus
ein langfristiger Prozess ist, der sich über mindestens 10
Schuljahre, resp. 3-4 Jahre bereits vor Schulbeginn
erstreckt.
Ein Umstand, der kurzfristige politische Profilierungen
unmöglich macht.
Das Projekt www.ich-will-waehlen.ch ist eine Initiative des Schweizerischen
Verbandes für Weiterbildung. Es wird im Rahmen einer breiten Partnerschaft
umgesetzt.
Anmerkung H. Joss:
Die breite Partnerschaft, welche das Projekt umsetzt, ist
eindrücklich.
Umso erstaunlicher, dass offenbar keine kritischen Stimmen
vorhanden waren, welche auf die unrealistischen
Hoffnungen hingewiesen haben, welche mit dem
aufwendigen Projekt verbunden sind.
Ein Hinweis, dass sich nationale Projekte und Basisarbeit in
Kursen von Lesen und Schreiben weiterhin in unterschiedliche Richtungen entwickeln werden.
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Jede Kursleiterin, jeder Kursleiter kann bestätigen, dass die
angepeilten Ziele viel zu hoch gesteckt sind und kaum
Wirkung zeigen werden bei Betroffenen.
Eine Evaluation, die allerdings schwierig durchzuführen
wäre, würde den Misserfolg bestätigen.
So wird der Begriff ‚Illettrismusbekämpfung‘ weiterhin
irreführend und unkorrekt verwendet werden im Rahmen
von aufwendigen Projekten.
Verbunden mit dem Ausblenden von realisierbaren,
konstruktiven Möglichkeiten im Vorschul- und
Volksschulbereich.
Das Problem sind nicht nur eingesparte Finanzen, sondern
die fehlende Einsicht der verantwortlichen Stellen – wer
eigentlich genau?- in realisierbare Projekte, welche
helfen, Illettrismus nicht aufkommen zu lassen im
Volksschulbereich.
Es geht nicht um ‚Bekämpfung‘, sondern um das Fördern
und Unterstützen von Lernenden. Klar ohne Selektion.
Zuerst schafft die selektive Schulstruktur während rund 10
Jahren 15-20 % zwingend Lernende, welche die Schule mit
ungenügenden Sprachkompetenzen verlassen.
(Selektion wird legitimiert durch gleichzeitige Aussonderungen).
Die meisten Betroffenen mit der festen Ueberzeugung, die
Schuld liege bei ihnen. Sie sind gleichsam zweifache Opfer
der selektiven Schulstruktur: Einerseits erhielten sie nicht die
Förderung, auf die sie Anrecht hatten, anderseits wurde
ihnen immer wieder auf beschämende Art und Weise
mitgeteilt, dass sie es nie schaffen würden.
So oft, dass sie spätestens beim Verlassen der
obligatorischen Schule daran glauben.
Der Schweizerische Verband für Weiterbildung setzt sich
anschliessend für die betroffenen Erwachsenen ein.
Mit „Illettrismusbekämpfung“ soll rückgängig gemacht
werden, was während 10 Jahren angerichtet und immer
wieder ‚bewiesen‘ wurde in der öffentlichen Schule.
Irreparable psychische Versehrungen bei jungen
Erwachsenen will der Schweizerische Verband für
Weiterbildung wieder gut machen.
Tragik, Widersprüchlichkeit und Dramatik des Phänomens
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‚Illettrismus‘ sind für Aussenstehende schwer fassbar,
schwer erkennbar.
Vergleich: Verkehrstote an einer viel befahrenen Kreuzung.
Ab einer bestimmten Anzahl von Zusammenstössen mit
schwer Verletzten und Todesfällen, werden sofort Ampeln
oder ein Kreisel aufgestellt.
Auf Initiative von Angehörigen, Schwerverletzten und der
Oeffentlichkeit.
Bei jungen Erwachsenen mit schwachen Leistungen in Lesen
und Schreiben bemerkt kaum jemand etwas von den
Schwierigkeiten. Die selektive/aussondernde Schule musste
ihnen ‚klar‘ zeigen, wo sie hingehören. Muttersprachliche
Kompetenzen gehören zu den entscheidenden selektiven
Zuweisungskriterien.
Womit auf den unmöglichen Auftrag der Volksschule
‚fördern UND selektionieren/aussondern) hingewiesen
werden kann.
Die Betroffenen versuchen die Schwäche mit allen
möglichen Mitteln zu verheimlichen.
Weil sie zusätzlich – völlig zu Unrecht - überzeugt sind von
der persönlichen Schuld, würden sie sich nie öffentlich für
die Anliegen Betroffener einsetzen. Zum Beispiel
Schadenersatzforderungen stellen und Gratisangebote
einfordern für vorenthaltene Unterstützung während der
obligatorischen Schulzeit.
Die Volksschule darf nicht zur Misserfolgsfalle werden für
rund 20% der Lernenden.
Es ist höchste Zeit, dass dieser unhaltbare Zustand möglichst
rasch geändert wird. Ohne Kampfansage. Konstruktiv, auf
der Grundlage der vorliegenden Daten.
Im Sinne von ‚lebenslangem Lernen‘.
Das Projekt www.ich-will-waehlen.ch wird vom Bundesamt für Kultur im Rahmen seiner Strategie zur
Illettrismusbekämpfung finanziell unterstützt.
Aus:
http://www.ich-will-waehlen.ch/meta/kursunterlagen/
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Siehe auch:
Finnland-Info 894:CH:9.8.11:Die Schule war für mich eine Horrorzeit
Finnland-Info 356/29.11.08 CH: Keine Verbindung zw. Erstausbildung u Weiterb.?
Der Film zum Thema Illettrismus: BOGGSEN, http://www.boggsen.ch/
Anfragen für Visionierungen des Films durch Fachleute bitte per Mail richten an:
[email protected]
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