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Prof. Dr. Seppo Hentilä (Helsinki/Berlin)
LMU München, Historisches Seminar/ Abt. für Neueste Geschichte und
Zeitgeschichte/ Institut für Finnougristik-Uralistik, den 28.11.2007,
18.00 Uhr
„Da sehen wir ein deutliches Risiko“
– Finnland in der Aussenpolitik der Bundesrepublik Deutschland bis
1973
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Die Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, liegt nun nur drei
bis vier Jahrzehnte zurück. Aber die Welt, sowie die deutsch-finnischen
Beziehungen haben inzwischen so gründlich verändert, dass es
wahrscheinlich für die jüngere Generation schwer zu verstehen ist, dass
Finnlands Beziehungen damals zu den beiden deutschen Staaten mit so
vielen politischen Problemen verbunden waren.
Das Stichjahr in meinem Vortragstitel – 1973 – ist das Jahr, in dem
Finnland diplomatische Beziehungen gleichzeitig zur Bundesrepublik
Deutschland und zu der DDR aufnehmen konnte. Danach, im Klima der
Entspannung und der sog. Neuen Ostpolitik der Bundesrepublik,
normalisierten sich auch die deutsch-finnischen Beziehungen auf der
Basis der Zweistaatlichkeit bis zur Grossen Europäischen Wende
1989/90. Seit 1995 sind Finnland und Deutschland Mitglieder der
selben politischen Union, der EU, und heute – so kann man wohl sagen,
gibt es zwischen unseren Ländern so gut wie keine politischen
Spannungen.
So, aus dem heutigen Blick scheinen die Schwierigkeiten in den
deutsch-finnischen Beziehungen während der ersten Phase des Kalten
Krieges um so spannender. Mein Vortrag basiert auf das Buch „Neutral
zwischen den beiden deutschen Staaten – Finnland und Deutschland im
Kalten Krieg“ erschienen genau vor einem Jahr im BWV.
Nach der Teilung Deutschlands 1949 erkannte der Westen die
Bundesrepublik Deutschland an, der Osten die Deutsche Demokratische
Republik, die DDR. Finnland, das bei der Zweiteilung im Kalten Krieg
selbst zwischen den Blöcken stand, war das einzige Land auf der Welt,
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das gezwungen war, in seinen Beziehungen zu den beiden deutschen
Staaten Neutralität anzustreben.
Keine andere internationale Streitfrage zog Finnland im Kalten Krieg so
unerbittlich zwischen die Blöcke wie die Deutschlandfrage. Das lag
daran, dass der im April 1948 geschlossene FZB-Vertrag zwischen
Finnland und der Sowjetunion von einer militärischen Bedrohung durch
Deutschland ausging.
Als dieser Vertrag zweimal – in den Jahren 1955 und 1970 – und beide
Male vorzeitig um 20 Jahre verlängert wurde, wurde am ursprünglichen
Text weder Punkt noch Komma verändert. Die Sowjetunion kümmerte
sich frühzeitig um die Verlängerung; 1955 wäre der Vertrag noch drei,
1970 sogar noch fünf Jahre gültig gewesen. Diese Eile war teils darauf
zurückzuführen, dass in Finnland beide Male Präsidentschaftswahlen
anstanden, doch im Hintergrund war auch die deutsche Frage wirksam.
Beide Male nahm die Sowjetunion gleichzeitig radikale Änderungen
ihrer Deutschlandpolitik vor, und wann immer in der UdSSR von
Deutschland die Rede war, kam auch der FZB-Vertrag mit Finnland
aufs Tapet.
Die außenpolitischen Erwartungen der beiden deutschen Staaten in
Bezug auf Finnland waren völlig konträr. Die DDR erhoffte sich von
Finnland genau das, was die Bundesrepublik Deutschland am meisten
fürchtete, nämlich dass Finnland als erster nicht-kommunistischer Staat
die DDR anerkennen würde. Ostdeutschland hoffte, dass dies
geschehen würde, weil Finnland ein guter Freund der Sowjetunion war,
während Westdeutschland dieselbe Entwicklung befürchtete, weil die
Sowjetunion Finnland möglicherweise unter Druck setzen würde.
So blieb es Finnland als einzigem Staat mehr als zwanzig Jahre
verwehrt, seine Beziehungen zu den beiden deutschen Staaten zu
normalisieren. Im Gegensatz zu den westlichen und neutralen Staaten
Europas hatte Finnland nicht die Möglichkeit, nur mit der
Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen anzuknüpfen;
dem stand der FZB-Vertrag im Wege.
Die Anerkennung beider deutscher Staaten wäre im Rahmen dieses
Pakts dagegen möglich gewesen – zumindest ab 1955, als die
Sowjetunion diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik
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aufnahm. Die Bundesrepublik erlaubte jedoch keinem anderen Staat, es
der Sowjetunion gleichzutun, sondern achtete genauestens darauf, dass
die DDR nicht anerkannt wurde. Die Bundesregierung betrachtete sich
als einzigen rechtmäßigen Vertreter des deutschen Volkes. Dieser
Alleinvertretungsanspruch diente dem übergeordneten Ziel der
bundesdeutschen Politik, der Wiedervereinigung.
1955, als die Bundesrepublik Deutschland der NATO beigetreten war,
gab die Sowjetunion ihr Ziel der Vereinigung Deutschlands auf, stellte
diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik her und erkannte die
Souveränität der DDR formal an. In dieser Phase bedeutete die
Verlängerung des FZB-Vertrags de facto, dass die militärische
Bedrohung durch die zur NATO gehörende Bundesrepublik
Deutschland in die finnisch-sowjetischen Beziehungen eingeschrieben
wurde.
Als die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland im
September 1955, als Ergebnis der Moskaureise von Bundeskanzler
Konrad Adenauer, vollgültige diplomatische Beziehungen aufnahmen,
durfte die finnische Regierung vorübergehend hoffen, Finnland werde
dieselbe Möglichkeit bekommen. In diesem Sinn führte der damalige
Ministerpräsident Urho Kekkonen im September 1955 im Kreml mit
der obersten Führung der Sowjetunion und der DDR Gespräche über
die gleichzeitige Anerkennung der beiden deutschen Staaten.
Die von der Bundesregierung im Dezember 1955 verkündete HallsteinDoktrin, derzufolge die Anerkennung der DDR als unfreundlicher Akt
gegen die Bundesrepublik Deutschland gewertet wurde, zwang
Finnland, seine Anerkennungspläne für mehr als anderthalb Jahrzehnte
zu begraben.
Eigentlich war Finnland 1955 das erste Land, das von der HallsteinDoktrin konkret betroffen war, was natürlich daran liegt, dass es
damals, zumindest in Europa, wenn nicht in der ganzen Welt, kein
zweites nicht-kommunistisches Land gab, das sich mit dem Plan
getragen hätte, die DDR anzuerkennen. Konkret war Jugoslawien im
Jahre 1957 das erste Land, mit dem die Bundesrepublik auf Grund der
Hallstein-Doktrin diplomatische Beziehungen gebrochen hat.
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Die Bundesregierung hätte die Hallstein-Doktrin zweifellos auch dann
angewandt, wenn ein Land wie Finnland, das zu keinem der beiden
deutschen Staaten diplomatische Beziehungen hatte, gleichzeitig beide
anerkannt hätte. Die Bundesrepublik hätte die Anerkennung kategorisch
zurückgewiesen, und es steht außer Zweifel, dass sie ihre Antwort nicht
mit diplomatischer Höflichkeit formuliert hätte.
Für Finnland war es nicht ratsam, einen Konflikt zu provozieren; es
musste die in der Hallstein-Doktrin angesprochenen Sanktionen ernst
nehmen und auf die Anerkennung der beiden deutschen Staaten
verzichten. Ein Zerwürfnis hätte im schlimmsten Fall den für die
finnische
Volkswirtschaft
wichtigen
Handelsaustausch
mit
Westdeutschland gelähmt oder zumindest stark reduziert.
Helsinki wurde Anfang der 1950er-Jahre für fast zwei Jahrzehnte zur
einzigen Hauptstadt der Welt, in der die beiden deutschen Staaten im
Prinzip unter gleichen Bedingungen miteinander konkurrierten. Beide
hatten in den Jahren 1953–73 in Finnland eine Handelsvertretung auf
Generalkonsulebene. Für die außenpolitische Führung Finnlands waren
die unangenehmsten Begleitumstände dieser Situation einerseits das
ständige Streben nach Gleichbehandlung beider deutscher Länder und
andererseits die deutsch-deutsche Konkurrenz um die Sympathien der
Finnen.
Im Archiv des finnischen Außenministeriums finden sich zahlreiche
Ordner mit Beschwerden und anderem Material, mit dem die Vertreter
beider deutscher Staaten zu beweisen suchten, dass Finnland in dieser
oder jener Sache wieder einmal das jeweils andere Deutschland
bevorzugt habe. Auf finnischem Boden wurde in den 1950er- und
1960er-Jahren ein permanenter deutsch-deutscher „Kalter Kleinkrieg”
geführt.
Zeitgenossen erinnern sich lebhaft daran, wie die Ostdeutschen in
Finnland unter Einsatz erheblicher Ressourcen für die Anerkennung
ihres Staates warben. Es gelang ihnen, um die Wende von den 1960erzu den 1970er-Jahren eine Anerkennungsbewegung zu schaffen, die auf
ungemein breiter Basis stand und der prominente Vertreter fast aller
Parteien, zahlreicher Bürgerinitiativen, der Medien sowie der
Wissenschaft, der Kunst und des Kulturlebens angehörten. Da der
Boden in Finnland aus DDR-Sicht immer fruchtbarer wurde, begann
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die Bundesrepublik Deutschland ernsthaft zu befürchten, sie werde den
Zweikampf verlieren. Aber natürlich noch größer war ihre Befürchtung,
die Sowjetunion werde Finnland zur Anerkennung der DDR zwingen.
Die Bundesregierung begann bekanntlich bereits Ende der 1960er-Jahre
von der Hallstein-Doktrin abzurücken, indem sie 1967 diplomatische
Beziehungen mit Rumänien herstellte und 1968 die Beziehungen mit
Jugoslawien wieder aufnahm, obwohl beide Länder bereits auf gleicher
Ebene Beziehungen mit der DDR hatten. Für Finnland schien die
gelockerte Interpretation der Hallstein-Doktrin jedoch nicht zu gelten.
Der Trumpf der Bundesrepublik Deutschland war die Androhung
handelspolitischer Sanktionen, sollte Finnland vom rechten Weg
abweichen.
Für Finnland blieb die Situation unverändert: Bis Anfang der 1970erJahre schien die Deutschlandfrage einen unauflöslichen Knoten zu
bilden.
Bis
zur
Unterzeichnung
des
deutsch-deutschen
Grundlagenvertrags wollte die Bundesregierung nicht, dass Finnland
die DDR anerkannte. Darauf wies Bonn noch im November 1972 hin.
In diesem Sinn war Finnland auch das letzte Opfer der HallsteinDoktrin.
1970 wollte die Sowjetunion die Fortsetzung des FZB-Vertrags auf der
bisherigen Basis sicherstellen, bevor sie das gerade auf dem
Verhandlungstisch liegende Gewaltverzichtsabkommen mit der
Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete. Auch in diesem Fall
waren die Ziele, die die Sowjetunion dem FZB-Vertrag zuschrieb, eng
mit ihrer eigenen Deutschlandpolitik verknüpft. Dies erkannte man in
Finnland nicht oder wollte es nicht zur Kenntnis nehmen.
Hinter dieser eingeschränkten Wahrnehmung steht das aus den sog.
Jahren der Unterdrückung, d. h. aus der Zeit der Russifizierungspolitik
um die Wende zum 20. Jahrhundert stammende Legalitätsdenken,
demzufolge man die Ostbeziehungen Finnlands als Zweikampf
zwischen dem kleinen Finnland, das seine Rechte verteidigte, und der
die finnischen Privilegien bedrohenden, bösen Großmacht im Osten
betrachtete, ganz so, als ob der Rest der Welt nicht existierte. Diese
Denkweise hat den Blick darauf verstellt, dass die Finnlandpolitik
Russlands/ der Sowjetunion auch andere Motive hatte, die sich nicht
unmittelbar auf Finnland bezogen.
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Da Finnland im Kalten Krieg ein Sonderfall war – gut Freund mit der
Sowjetunion und das einzige Land, das gleichwertige Beziehungen mit
beiden deutschen Staaten hatte –, wurde es auch in der Außenpolitik der
DDR zum Sonderfall. Ostdeutschland sah Finnland als schwächstes
Glied der kapitalistischen Welt; wenn dieses Glied brach, würde sich
die Anerkennungsbewegung in die anderen neutralen Länder und von
dort weiter nach Westen ausbreiten.
Eine echte Bedeutung erhielt diese „Finnland-Option” der DDR jedoch
erst, als die DDR die Möglichkeit erhielt, ihr außenpolitisches Profil zu
schärfen und ihre Isolation zu durchbrechen. Diese Fragen lagen nicht
in der Entscheidungsgewalt der ostdeutschen Staatsführung; vielmehr
war die DDR anfangs weniger als ein Bauer auf dem Schachbrett des
Kreml.
Erst in den 1960er-Jahren, als Ostdeutschland für die Sowjetunion als
Verbündeter immer wichtiger zu werden begann, wuchs ihr
Eigengewicht. Die Sowjetführung beschloss, die DDR müsse ein
Gegengewicht Westdeutschlands und ein Schaufenster zum Westen
werden; infolgedessen musste die DDR auch als Staat internationale
Anerkennung suchen. Das erste westliche Land, das in den Radius
„Zirkeldeutschlands” geriet, war Finnland.
Für die Vertreter der Bundesrepublik in Finnland stellte sich die
Situation – um eine Metapher aus dem Eishockey zu verwenden – so
dar, als würde die Sowjetunion mit aller Macht für die DDR spielen,
während die Bundesrepublik auf der Strafbank saß und tatenlos mit
ansehen musste, wie rücksichtslos ihre Interessen verletzt wurden und
wie leicht der DDR-Virus die Finnen infizierte. Ganz so eindeutig war
die Situation freilich nicht. Aufgrund der vorliegenden Untersuchung
lässt sich ein genaueres Bild von den Voraussetzungen der finnischen
Deutschlandpolitik unter westlichem und östlichem Druck zeichnen.
Im finnischen Aussenministerium wurde im Frühjahr 1971 eine
Gesamtlösung zur finnischen Deutschlandpolitik vorbereitet. Das
Ergebnis wurde später unter dem Namen „Deutschland-Paket“ bekannt.
Die Bezeichnung Paket wurde im Sprachgebrauch übernommen, weil
die Deutschen für die Anerkennung ein möglichst hohen Preis zahlen
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sollten. Daher schlug der Hauptarchitekt des Plans im finnischen
Aussenministerium, Keijo Korhonen, in seiner Version vor, Finnland
solle Reparationen für die Zerstörungen im sogenannten Lapplandkrieg
1944/45 und die ausdrückliche Anerkennung der finnischen Neutralität
durch beide deutsche Staaten verlangen.
Das streng vertrauliche Deutschland-Paket gelangte Anfang September
1971 unerwartet in die Öffentlichkeit als Finnlands damaliger
Aussenminister Väinö Leskinen während des skandinavischen
Auβenministertreffens in Kopenhagen unter starkem Alkoholeinfluβ
seinen Amtskollegen aufdeckte, Finnland plane die beiden deutschen
Staaten schon in nächster Zukunft anzuerkennen.
Präsident Kekkonen und die finnische Regierung gerieten durch
Leskinens unvorsichtiges Agieren in eine äuβerst peinliche Situation:
man muβte so schnell wie möglich die deutschlandpolitische Initiative
publik machen.
In gleichlautenden Noten am 10.9.1971 an die beiden deutschen
Regierungen schlug Finnland vor, über folgende Fragen zu verhandeln:
1. Aufnahme diplomatischer Beziehungen,
2. Austausch von Gewaltverzichtserklärungen,
3. Regelung noch offener juristischer und wirtschaftlicher Fragen, die
sich aus den durch deutsche Truppen verursachten Zerstörungen in
Finnland in den Jahren 1944/45 und dem Kriegszustand zwischen den
beiden Staaten ergeben,
4. Ausdrückliche Anerkennung der finnischen Neutralität durch die
beiden deutschen Staaten.
Die DDR antwortete erwartungsgemäß schnell und positiv auf die
finnische Initiative. Die Bundesrepublik reagierte dagegen auf den
finnischen Vorschlag von Anfang an äußerst distanziert. Sie verzichtete
monatelang auf eine offizielle und endgültige Antwort gab aber bereits
am 11.9.1971 bekannt, daß die finnische Initiative offensichtlich auf
einer zu optimistischen Analyse der internationalen Politik beruhen
würde.
In ihrer vorläufigen inoffiziellen Antwort zwei Wochen später
bezeichnete die Bundesregierung den finnischen Vorschlag als übereilt
und verfrüht, weil die Verhandlungen über den deutsch-deutschen
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Grundlagenvertrag kaum das Anfangsstadium erreicht hatten. Finnlands
Vorschlag wurde in Bonn als unangenehmer Friedensstörer genommen.
In der Frage der Anerkennung seiner Neutralitätspolitik packte
Finnland den Stier bewusst bei den Hörnern. Über die Motive, die auf
eine Schwächung oder gar Aufhebung der Bedeutung des FZB-Vertrags
hinausliefen, lässt sich keine vergleichbar sichere Aussage machen. Es
steht jedoch fest, dass sich die außenpolitische Führung Finnlands bei
der Abfassung ihres Vorschlags auch dieser Dimension bewusst war.
Finnland forderte nicht nur die Sowjetunion, sondern zugleich auch die
Bundesrepublik Deutschland heraus – obendrein in der heikelsten
Frage, der Anerkennung der DDR. Die in der Hallstein- und der
späteren Scheel-Doktrin vorgesehenen Sanktionen, die die
Bundesrepublik im schlimmsten Fall über Finnland hätte verhängen
können, konnten im Herbst 1971 durchaus noch nicht als minimales
Risiko betrachtet werden.
Von allen vier Punkten des Deutschland-Pakets, neben der
Anerkennung der DDR, war der finnische Vorschlag, Verhandlungen
über Reparationen vom sog. Lappland-Krieg aufzunehmen am meisten
unangenehm. Als Beispiel davon, wie tief die Krise zwischen Helsinki
und Bonn damals war, möchte ich diesen Punkt etwas detaillierter
erläuten.
Der bundesdeutsche Generalkonsul Detlev Scheel erinnerte in seinem
Bericht im September 1971 nach Bonn daran, dass Deutschland
während des Zweiten Weltkriegs in Finnland neue Straßen, Brücken
und Flugplätze gebaut sowie Eisenbahnstrecken und Häfen
instandgesetzt hatte. Der Wert dieser Arbeiten sei vermutlich um ein
Vielfaches höher als die Zerstörungen in Lappland.
In diplomatischen Kreisen erzählte man sich, in Bonn habe ein Beamter
der älteren Generation, als er von der Forderung der Finnen hörte,
ausgerufen: „Dann schicken wir nach Helsinki eine Rechnung über alle
Lieferungen an Kriegsmaterial und Lebensmitteln, die im Zweiten
Weltkrieg gratis nach Finnland gegangen sind.” Ein westdeutscher
Journalist erzählte dem finnischen Generalkonsul Väänänen, er wisse,
dass das AA berechnen ließ, wieviel die Finnen Deutschland für
Waffen- und Lebensmittellieferungen im Krieg schuldig geblieben sei.
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Derartige Berechnungen wurden auch privat angestellt. Dr. Ernst
Heinrich, der Präsident der Deutsch-Finnischen Gesellschaft (DFG),
berichtete Generalkonsul Scheel bei einem Besuch in Helsinki im
Februar 1972, er kenne drei Bundeswehrgeneräle A.D., die während des
Krieges als Wehrmachtsoffiziere in Finnland gedient hätten. Sie
könnten gegebenenfalls genauere Angaben darüber machen, was alles
die Deutschen den Finnen ohne Entschädigung ausgehändigt und
gebaut hatten. Scheel selbst sagte, er habe aus den Memoiren des
deutschen Gesandten wähdrend des Krieges in Helsinki, Wipert von
Blücher, den Eindruck gewonnen, dass man die finnischen
Waffenbrüder großzügig mit Lebensmitteln und Kriegsmaterial
versorgt und nie eine Rechnung geschickt hatte.
Im April 1972 übergab einer der von Heinrich erwähnten Generäle,
Wilhelm Hess, eine detaillierte Aufstellung der deutschen Investitionen
in Finnland während des Zweiten Weltkriegs. Er berichtete, die
Deutschen hätten nicht nur Straßen und Brücken gebaut, sondern
beispielsweise auch fast alle Häfen am Bottnischen Meerbusen
einschließlich der Speditionsanlagen gründlich saniert. Das AA dankte
dem General, unternahm jedoch keine weiteren Schritte.
Die kleine diplomatische Krise zwischen Bonn und Helsinki wegen
Kekkonens Deutschland-Paket war der Tiefpunkt der Beziehungen.
Allerdings blieben die Meinungsverschiedenheiten weitgehend hinter
den Kulissen. Der normale Bürger konnte von den Medien davon kaum
etwas erfahren.
Die Bundesrepublik Deutschland begnügte sich in Finnland mit einem
deutlich flacheren Profil als die DDR. Ihr wichtigstes Ziel war es,
Finnland an der Anerkennung der DDR zu hindern. Das schlimmste
Szenario aus ihrer Perspektive war die Möglichkeit, dass die
Sowjetunion Finnland zu diesem Schritt zwingen könnte.
Aber war die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR in
Finnland so sehr im Hintertreffen wie behauptet wurde? Aufgrund der
vorliegenden Untersuchung kann man feststellen, dass die
Befürchtungen der Westdeutschen stark übertrieben waren. Auch die
Behauptungen von der Passivität der Bundesrepublik scheinen grundlos
zu sein.
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Tatsächlich schwenkte die Bundesrepublik zumindest insofern den
Taktstock in den Beziehungen Finnlands zu den beiden deutschen
Staaten, als sie bis in den Herbst 1972 auch die Ebene der Beziehungen
Finnlands auch zur DDR bestimmte. Dass man so lange auf der Ebene
von Handelsbeziehungen blieb, entsprach dem Wunsch der
Bundesregierung. Sie war bereit, diesen Preis dafür zu zahlen, dass
Finnland die DDR nicht anerkannte.
Die Sowjetunion verbot Finnland keineswegs, diplomatische
Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen; sie
verhinderte lediglich die einseitige Anerkennung der Bonner
Bundesregierung. Diese Tatsache gerät häufig in Vergessenheit, wenn
man von den Beziehungen Finnlands zum geteilten Deutschland
spricht, obwohl man andererseits natürlich nicht vergessen darf, dass
die Bundesrepublik Deutschland in Finnland eine auf ihr Grundgesetz
gestützte Außenpolitik betrieb, deren Ziel es war, die künftige
Wiedervereinigung Deutschlands zu schützen.
Wie die DDR versuchte auch die Bundesrepublik auf die finnische
Deutschlandpolitik Einfluss zu nehmen, auch wenn ihre Tätigkeit
weniger plakativ und propagandistisch war. Hinter den Kulissen übte
sie jedoch erheblichen diplomatischen Druck aus und rief immer wieder
auch ihre Verbündeten zu Hilfe, um Finnland in Schach zu halten. Aus
den Dokumenten des State Department lässt sich ablesen, wie
übertrieben und übereilt die Reaktionen der Westdeutschen dem
transatlantischen Bündnispartner erschienen. Ein Grund für diese
offenkundige Überreaktion mag darin liegen, dass die Westdeutschen
außer in Finnland nirgendwo unter gleichen Bedingungen mit der „sog.
DDR” konkurrieren mussten und ihnen die Situation deshalb fremd
war.
Die Bundesrepublik betätigte sich aus ihrer eigenen aussenpolitischen
Interessen her, in den deutsch-finnischen Beziehungen bis 1973 stets als
Bremser. Die Initiativen Finnlands bereiteten ihr in vielerlei Hinsicht
Schwierigkeiten, was sich darin widerspiegelte, dass die
Bundesregierung ständig mit doppelten Karten spielen musste.
Öffentlich äußerte sie sich anders als hinter den Kulissen.
Diese „Doppelzüngigkeit” war darauf zurückzuführen, dass die
Bundesrepublik vor dem Abschluss des deutsch-deutschen
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Grundlagenvertrags nicht öffentlich über Initiativen verhandeln konnte,
die die Anerkennung der DDR einschlossen. Andererseits hatten
sowohl die KSZE-Initiative als auch das Deutschland-Paket der
finnischen Regierung dasselbe Ziel wie Brandts neue Ostpolitik,
nämlich den Abbau von Spannungen und die Beruhigung der Situation
im Herzen Europas. Ungeachtet ihrer Drohungen hätte sich die
Bundesrepublik nicht aus dem KSZE-Prozess ausklinken können.
Deshalb musste sie der außenpolitischen Führung Finnlands insgeheim
versichern, dass ihre öffentliche Kritik und die Androhung von
Sanktionen im Sinne der Hallstein-Doktrin nur ein „Bluff” waren, den
man nicht zu ernst nehmen solle. Doch Finnland musste bei seiner
Deutschlandpolitik natürlich vor allem darauf achten, der Sowjetunion
keinen Anlass zu geben, unter Hinweis auf eine Bedrohung von Seiten
Deutschlands militärische Konsultationen gemäß dem FZB-Vertrag zu
fordern. In dieser Hinsicht war die finnische Deutschlandpolitik
letztlich per definitionem den Ostbeziehungen untergeordnet und von
diesen abhängig.
Die Bundesrepublik gab ihr Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands
bekanntlich nie auf. Die als Ergebnis der neuen Ostpolitik von
Bundeskanzler Willy Brandt in den Jahren 1970–1972 geschlossenen
Ostverträge mit der Sowjetunion und Polen bedeuteten jedoch in der
Praxis, dass sie die Existenz zweier deutscher Staaten in den Grenzen
von 1945 de facto anerkannte. Gleichzeitig verzichtete die
Bundesregierung auf ihren Alleinvertretungsanspruch und erlaubte
anderen Staaten, die DDR anzuerkennen.
Willy Brandts neue Ostpolitik war ein zentrales Element der im Kalten
Krieg seit dem Ende der 1960er-Jahre aufkeimenden Entspannung
zwischen den Großmächten, der Détente, die im Gipfeltreffen der
KSZE, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa,
im Sommer 1975 in Helsinki ihren Höhepunkt fand.
Im Geist der Entspannung normalisierte sich auch die deutsche Frage
scheinbar endgültig. Es ist bemerkenswert, dass diese Lösungen
weitgehend den Initiativen entsprachen, die die Sowjetunion seit Mitte
der 1950er-Jahre unbeirrt verfochten hatte: Die nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges 1945 entstandenen Grenzen wurden als Grundlage
des Status quo in Europa bestätigt. Die von der Bundesrepublik
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angestrebte Wiedervereinigung Deutschlands schien
unwiderruflich im Dunst der Geschichte zu verschwinden.
damals
Zum Schluss:
War Finnland hinsichtlich der Ziele der Hallstein-Doktrin ein
schwaches Glied, so hatte umgekehrt die außenpolitische Führung
Finnlands allen Grund, in erster Linie das Verhalten der
Bundesrepublik zu fürchten, auf das die Sowjetunion reagieren konnte,
indem sie sich auf den FZB-Vertrag berief. Dies geschah in der Tat zur
Zeit der beiden Berlin-Krisen 1958 und 1961, als sich auch das
finnisch-sowjetische Verhältnis erheblich verschlechterte.
Natürlich darf man die Bedeutung des Falls Finnland in der
Aussepolitik der Bundesrepublik nicht überbewerten, andererseits sollte
man aber auch nicht vergessen, dass Finnland sicherlich der schwächste
Teil des auf der Hallstein-Doktrin beruhenden Blockaderings um die
DDR war. Unter den nicht-sozialistischen Staaten war Finnland
zweifellos bis 1972 der größte Unsicherheitsfaktor für die Außenpolitik
der Bundesrepublik Deutschland.
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