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61. Kommunikative Übungen
1. Definition
Um kommunikative Übungen für die Praxis des Fremdsprachenunterrichts adäquat
hinsichtlich ihrer spezifischen Leistungen und ihres didaktischen Orts beschreiben zu
können, ist es unerlässlich, den Blick zunächst auf das Lernziel der fremdsprachlichen
Kommunikationsfähigkeit bzw. der kommunikativen Kompetenz zu richten.
Die gegenwärtige Forschungslage und die internationale Diskussion erlauben es,
den Begriff der fremdsprachlichen Kommunikationsfähigkeit folgendermaßen zu
fassen:
Zunächst einmal ist Kommunikationsfähigkeit das Vermögen der Lerner,
Äußerungen adressatengerecht im sozialen Interaktionsprozess so zu verwenden, dass
eine Verständigung gewährleistet ist. Von didaktischer Bedeutung im Lernprozess ist
hierbei, dass Lerner sich von einer engen Orientierung an den Sprachmitteln und von
ihrem sprachlichen Korrektheitsmonitor lösen können. Vielmehr geht es darum, dass
die Lerner nicht die Äußerung von sich geben, die sie in der Fremdsprache ausdrücken
können, sondern die sie auch tatsächlich inhaltlich ausdrücken wollen. Dabei spielt
eine entscheidende Rolle, dass der gesamte Fremdsprachenunterricht in seiner
Konzeption und praktischen Durchführung von Anfang an so angelegt ist, dass im
Bewusstsein der Lerner nicht der Eindruck entsteht oder verstärkt wird, dass Inhalte,
die durch die Sprache transportiert werden beliebig, nebensächlich oder gar
bedeutungslos sind. Nur wenn dies gelingt, kann die relative Künstlichkeit von
fremdsprachlicher Betätigung in einem muttersprachlichen Umfeld reduziert und
möglicherweise mit fortschreitender Lehrgangsdauer ausgeglichen werden. Demnach
müssen Inhalte so ausgewählt werden, dass bei jedem Kommunikationsanlass
Persönlichkeitsvariablen wie Urteilsvermögen, Vorwissen, Emotionen, soziale
Herkunft, Intentionen und Betroffenheit eine Rolle spielen können. Darüber hinaus
sind ebenso die Beziehungen der Gesprächsteilnehmer zueinander und die
Rahmenbedingungen der Sprechsituationen wie Ort, Zeit und Anlass des Gesprächs
kommunikativ bedeutsam (Pauels 1983.).
Durch die Berücksichtigung des gesamten komplexen Umfelds sprachlichen
Handelns und nicht zuletzt durch Modellentwürfe und empirische Befunde aus der
internationalen Zweitsprachenerwerbsforschung spielen zunehmend mehr auch
Diskussionsstrategien und Kommunikationsstrategien fachdidaktisch eine Rolle (Art.
69 und 71). Neueste Lehrwerke haben bereits Strategietraining als festen Bestandteil
des Lehrgangs verankert. Neben der Realisierung von Sprechabsichten durch
geeignete Redemittel gehört zu einer erfolgreichen Anbahnung kommunikativen
Handelns die Fähigkeit, Dynamik von Gesprächsabläufen zu erkennen und selbst
Einfluss zu nehmen, indem man weiß, wie man wann sich in ein Gespräch einschalten
kann, wie man selbst Gesprächsthemen verändern, Gespräche abbrechen oder in Gang
halten kann, wie man gegenseitiges Verstehen sicherstellen kann, Nachfragen stellen,
den Redefluss erhöhen oder Verstehensschwierigkeiten und sprachliche Defizite
ausgleichen kann, ohne die Kommunikation aufgeben zu müssen (Bach/Timm 1996).
Dazu gehört auch das Erkennen kultureller individueller Identitäten von Sprechern
und Reaktionen darauf, um Verstehen zu sichern oder mögliche Missverständnisse zu
thematisieren (Bliesener 1999). Letzteres allerdings bereitet didaktisch noch große
Schwierigkeiten,
obwohl
es
unstrittig
zu
sein
scheint,
dass
der
Fremdsprachenunterricht zunehmend mehr auch die Kompetenzen vermitteln muss,
1
Handbuch Fremdsprachenunterricht
die für die Bewältigung von Kommunikation zwischen Sprechern anderer
Muttersprachen,
die
sich
einer
gemeinsamen
Fremdsprache
als
Kommunikationsmedium bedienen und ihre eigenen kulturellen Identitäten
mitbringen. Hier wird in Zukunft ein Forschungsschwerpunkt liegen müssen (Art. 23).
Kommunikative Übungen sind solche Übungen, die Palette der genannten
Lernzielkomponenten fremdsprachlich direkt ansteuern. Sie sind nicht primär an der
Einübung linguistisch-formaler Bestände der Zielsprache ausgerichtet, sondern
Mitteilungen und Inhalten. Dazu steht den Lernern das gesamte Inventar der zuvor
bereits gelernten linguistischen Mittel zur Realisierung ihrer Sprechabsichten und
sprachlichen Interaktionen zur Verfügung. Da sich die Konzentration der Lerner
vornehmlich auf den Inhalt und weniger auf sprachliche Form richtet, ist je nach
Lehrgangsstadium und Leistungsstärke mit Fehlerhäufungen oder sprachlichen
Defiziten zu rechnen. Diesen sollte bewusst mit großer Toleranz begegnet werden, da
gerade der Versuch fremdsprachlicher Formulierung mitteilungsbezogener
Äußerungen einen direkten und nachhaltigen Lernbeitrag zur fremdsprachlichen
Kommunikationsfähigkeit
leisten
kann.
Darüber
hinaus
zwingt
die
Inhaltsorientierung die Lerner zur Verwendung von Kommunikationsstrategien, die
nämlich besonders dann gefordert sind, wenn sprachliche Schwierigkeiten bei
eigenständigen Formulierungen auftreten und dennoch die thematisch-inhaltliche
Orientierung seitens der Lerner nicht aufgegeben werden soll.
2. Der didaktische Ort kommunikativer Übungen
Zur Bedeutung und zum didaktischen Ort kommunikativer Übungen lässt sich heute
sagen, dass sie weltweit in der fachdidaktischen Diskussion und in praktischen
Lehrgangsprogrammen wesentlich an Bedeutung gewonnen haben und zu den
Übungen gehören, die über den Erfolg oder Misserfolg von Fremdsprachenlernen
entscheiden. Ihre spezifischen Lernziele sind bestimmt von der in einem breiten
didaktischen Konsens erreichten Einsicht, dass fremdsprachliche Lehrgänge sich
ständig weiter darum bemühen müssen, sich auf Kommunikationsfähigkeit in der
Zielsprache hin und auf Strategien, die auch für das Lernen weiterer Fremdsprachen
als Schlüsselqualifikationen mit hohem Transferpotential zur Verfügung stehen
können, auszurichten. Die Vermittlung von Sprachmaterial zum Ausdruck von
Redeintentionen ist demnach kommunikationsvorbereitend. So kann man heute davon
ausgehen, dass die Diskussion um den Vorrang einer kommunikativen oder
linguistischen Progression von Lehrgängen zugunsten einer Parallelprogression
beendet ist. Dieses Progressionskonzept impliziert, dass die Erweiterung
fremdsprachlicher Kommunikationsfähigkeit Hand in Hand mit dem Aufbau eines
soliden linguistischen Fundaments geht. Die spezifischen Lernziele kommunikativer
Übungen sind demnach abhängig vom Grad der linguistischen Kompetenz der Lerner,
also auch vom Lehrgangsstadium. In den letzten Jahren ist diese Parallelprogression
erweitert worden um die systematische Einbeziehung von kommunikationsrelevanter
Themenorientierung, die den Rahmen für das gesamte Übungsmaterial darstellen.
Dazu kommt als ständiges die Progression begleitendes Element die Vermittlung,
Bewusstmachung, Einübung und Verwendung von Strategien, die sich allmählich als
wesentlicher Bestandteil kommunikativer Übungen entwickeln. Über eine
Hierarchisierung von Kommunikationsstrategien, die Basis für eine Progression im
Lehrgang sein könnte, gibt es allerdings noch wenig Befunde, so dass hier eine
Sensibilisierung der Unterrichtenden vorausgesetzt werden muss, die es ermöglicht,
Strategieentfaltung der Lerner zuzulassen, zu thematisieren oder durch Instruktion
anzubahnen, wo immer sich Gelegenheit dazu gibt.
2
Handbuch Fremdsprachenunterricht
3. Kommunikative Übungsformen im Lehrgang
Freie, allerdings zunächst sprachlich einfache Kommunikation kann in einer
kommunikativen
Unterrichtsführung
ständig
in
nicht
eigens
geplanten
Übungseinheiten aufgebaut werden. Dies geschieht, indem die Primärsituation rund
um das Klassenzimmer und um die Unterrichtsorganisation fremdsprachlich nutzbar
gemacht wird. Hier ergeben sich von Anfang an Möglichkeiten, classroom discourse in
echter Kommunikation zu praktizieren, etwa durch Aufforderungen, Vorschläge, Kritik,
Lob, Tadel, Wünsche, Erklärungen, Richtigstellungen, Fragen, etc. (Cattliff/Thorne
1988). Entscheidend ist die Erfahrung der Lerner, dass sie durch eigene Verwendung
von classroom phrases (Hughes 1981) bei den Unterrichtenden wie bei Mitschülern
etwas bewirken und Handlungen in Gang setzen können (Bach/Timm 1996).
Innerhalb dieses Rahmens der ständigen Einübung und Erfahrung
kommunikativer Handlungen verändert sich die Spezifik kommunikativer Übungen im
Verlaufe eines Lehrgangs, wobei die Veränderung von der Entwicklung
fremdsprachlicher Gesprächskompetenz abhängt:
Zu Beginn werden sie von dem bestimmt, was man als sprachlichen Transfer
bezeichnet. Die Kommunikation ist noch relativ eng von der Übertragung und
Verwendung zuvor gelernter Sprachmittel in neuen bislang noch nicht
versprachlichten Situationen gesteuert. Diese enge Steuerung in einem frühen
Lernstadium muss dem Grundsatz folgen, dass sie immer auch möglichst solche
Inhalte, Kontexte und Situationen berücksichtigt, die in irgendeiner Weise
lernerorientiert sind, so dass sich auch hier bereits trotz der Steuerung durch zu
vermittelnde Sprachmittel Motivationen ergeben, die für die Lerner als Sprechanlässe
für weiterführende, eigene inhaltsbezogene Äußerungen dienen. Diese Äußerungen
können auch durch die Unterrichtenden initiiert werden durch Aufforderungen wie
„And what do you like?", „What is your favourite ...?", „What would you have done?",
„What did you do yesterday?", etc. (Legutke/Thomas 1993; Bundesarbeitsgemeinschaft
1996).
Kurzdialoge sind eine unbestritten geeignete Form kommunikativer Übungen. Hier
erfahren die Lerner zunächst kommunikative Ausschnitte, können aber auch ihre
eigenen personenbezogenen Äußerungen, Stellungnahmen etc. mit Hilfe vorgestellter
sprachlicher Modelle artikulieren. Sie können neue Kurzdialoge mit denselben oder
anderen Personen zum selben oder zu einem anderen Thema erarbeiten. Solche
Übungen sind in einem frühen Lernstadium angeraten, weil die Lerner trotz
vorgeschlagener sprachlicher Hilfen eigenständig inhaltlich kreativ sein können.
Oftmals verlangen diese Übungen Partner- oder Gruppenarbeit, wobei die Lerner
fremdsprachlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten miteinander kommunizieren. Die
Verwendung der deutschen Sprache bei Rückfragen wie etwa „What is ‚sich ärgern’ in
English?" gehört als Sprachwechsel mit zur Ausbildung von Kommunikationsstrategien.
Im Verlaufe des Lehrgangs ist es notwendig, dass kommunikative Übungen sich
immer weiter weg von einer Orientierung an den kommunikativ-sprachlichen Mitteln
hin zu einem inhaltsorientierten, sprachlich selbständigem Sprechen in der
Fremdsprache als dem eigentlichen Ziel kommunikativer Übungen entwickeln.
Dazu kann die Fortsetzung der Entwicklung von Kurzdialogen in Rollenspielen
beitragen, die durch unterschiedlich ausweitbare Szenarien etwa aus dem Alltag wie
z.B. Autopanne, Schultag, Kaufgespräche, Planung von Freizeitaktivitäten etc. die
Handlungs- und Kommunikationsspielräume erweitern. Hier gibt es kaum festlegbare
Anweisungen.
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
Simulationen sind gedacht als Ausgleich der eigentlich künstlichen
fremdsprachlichen
Kommunikationssituation
und
sollen
eine
vorgestellte
gesellschaftliche Wirklichkeit nachempfinden (Jones.1982). Hierzu gehören: Planung
eines neuen Schulgebäudes, Organisation eines Schulfestes, Vorschläge für einen
Klassenausflug oder eine Studienfahrt, Vorbereitung einer Ausstellung, Erstellung
einer Zeitungsseite mit Leitartikel und Kommentar, Durchführung von
Informationsveranstaltungen zu Themen wie Politik, Geldanlage Dritte Welt, Umwelt,
Städtepartnerschaften etc. (Arendt 1997; Yaiche 1996). Es bietet sich die
Bereitstellung von Diskussionsunterlagen sprachlich und inhaltlicher Art und die
Erprobung von Diskussionsspielregeln an. Im Sinne der Einübung von
Diskursstrategien ist es erforderlich, dass die Gesprächsteilnehmer mit Funktionen
ausgestattet werden wie Stadtplaner, Politiker, Betroffene, Interessenvertreter o.ä.
und als solche ihre Interessen vertreten und miteinander in Interaktionen eintreten
(Schiffler 1980). Dazu gehört, dass sie lernen, Handlungen zu bewerten, sich in
Gespräche einzulassen, Überzeugungsarbeit zu leisten, Kritik zu üben, etc. Auf diese
Weise kann erreicht werden, dass den Lernern die Diskussionsabläufe und die
Strukturen von Diskussionen selber bewusst werden. Dabei müssen den Lernern die
kommunikativen Mittel für den Ausdruck der Beziehungen der Gesprächsteilnehmer
zueinander, des Wortergreifens, der Sprechintentionen und ihrer Wirkungen zur
Verfügung gestellt oder Möglichkeiten zu ihrer Analyse gegeben werden, damit auf
diese Weise eine Transferflexibilität für das fremdsprachlich-kommunikative
Verhalten in ähnlichen Gesprächssituationen und mit sinnverwandten Themen
entstehen kann. An dieser Stelle muss auch auf die Funktion von Projekten
verschiedenster Thematik hingewiesen werden, die eine Fortsetzung und eine
Schulung der Transferflexibilität ansteuern (Legutke 1996; Art. 38). Ebenfalls müssen
an dieser Stelle Möglichkeiten kommunikativer Übungen durch neue Kommunikationstechnologien wie E-Mail und Internet erwähnt werden. Videokonferenzen mit
ausländischen Gesprächspartnern in Schulen werden möglich. Korrespondenzen über
E-Mail sollten nicht unterbleiben ebenso wenig wie das damit im Zusammenhang
stehende Sprechen über die neuen Medien, um neben dem inhaltlichen Interesse auch
ihre Fachsprache zu erlernen (Art. 51).
Literatur
Arendt, M., Hrsg. (1997), Simulationen. Themenheft. Der fremdsprachliche Unterricht
Englisch, 26.
Bach, G./Timen, J.-P, Hrsg. (1996), Englischunterricht. Grundlagen und Methoden
einer handlungsorientierten Unterrichtspraxis, 2. Aufl., Tübingen/Basel.
Bliessener, U. (1999), „Die eigentlichen Fachfragen des Fremdsprachenunterrichts",
in: Neusprachliche Mitteilungen, 146-150.
Bundesarbeitsgemeinschaft Englisch an Gesamtschulen (1996), Kommunikativer
Englischunterricht. Prinzipien und Übungstypologie. Neue Ausgabe. Ein
Handbuch für Lehrer, München.
Gattliff, R./Thorne, S. (1988), English in the classroom, Frankfurt a.M.
Hughes, G. S. (1981), A Handbook of classroom English, Oxford.
Jones, K. (1982), Simulation in language teaching, Cambridge.
Legutke, M./Thomas, H. (1993), Process and experience in the language classroom, 2.
Auflage, London/New York.
Legutke, M. (1996), „Szenarien für einen handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht", in: Bach, G./Trimm, J.-E, Hrsg, 103-128.
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
Pauels, W. (1983), Kommunikative Fremdsprachendidaktik. Kritik und Perspektiven,
Frankfurt a.M.
Schiffler, L. (1980), Interaktiver Fremdsprachenunterricht, Stuttgart.
Yaiche, P. (1996), Les simulations globales, Paris.
Wolfgang Pauels
62. Interaktive Übungen
1. Grundlagen und Ziele
Untersuchungen zeigen, dass sowohl die Redeanteile von Lernern im Fremdsprachenunterricht als auch die Variationsbreite ihrer Aktionsarten noch immer sehr begrenzt
sind (Edmonson/House 1993; Art. 43). Interaktive Übungen begegnen diesem
Missstand, indem sie auf eine aktive Tätigkeit der Lernenden abzielen und deren
sprachliches miteinander Handeln zum Kernstück des Unterrichts machen. Dabei
streben interaktive Übungen nicht nur eine quantitative Veränderung an; vielmehr
sind sie darauf angelegt, das Interesse der Lernenden so zu engagieren, dass sie zu
möglichst authentischer, d.h. natürlicher und ungeschützter Kommunikation in der
Fremdsprache motiviert werden. Somit zeichnen diese Übungen sich durch eine
qualitative Bestimmung aus: Durch das Ansetzen an den persönlichen Äußerungsbedürfnissen der Lerner soll der Austausch von bedeutsamen Botschaften gefördert
werden, und damit jene Vereinigung von kognitiven, sozialen und emotionalen Lernprozessen, die maßgeblich für den Lernerfolg ist.
Zusammengefasst sind es demnach zwei Merkmale, die das Wesentliche von
interaktiven Übungen ausmachen (Schiffler 1985):


der Akzent auf die Interaktion der Lerner untereinander (im Gegensatz zu
der ,ping-pong-förmigen‘ Kommunikation über den Lehrer im Frontalunterricht)
die Ausrichtung der Aktivitäten auf lernergelenkte Kommunikation (anstelle von
Lernerreaktionen auf Lehrerimpulse).
Das
wissenschaftliche
Fundament
für
interaktive
Übungen
im
Fremdsprachenunterricht ist die kommunikative Didaktik der 70er-Jahre, die den
Handlung und Beziehungsaspekt von Sprache in den Mittelpunkt stellte, so dass die
Zielsprache nicht mehr vornehmlich als System von Strukturen, sondern als Medium
sozialer Interaktion betrachtet wurde. Das daraus folgende Richtziel Kommunikative
Kompetenz vereint eine sprachliche und eine pädagogische Dimension: neben dem
pragmalinguistischen
Ziel,
die
Lerner
zu
einer
situationsadäquaten
Sprachverwendung zu befähigen, steht das emanzipatorische Ziel, die Lerner in der
Entwicklung ihrer personalen und sozialen Identität zu unterstützen, indem ihre
kognitiven Fähigkeiten und ihre kooperative Handlungsfähigkeit gefördert wird.
Kommunikativer Fremdsprachenunterricht muss daher immer interaktiver
Unterricht sein. Ein vornehmlich auf die sprachliche Dimension ausgerichtetes
Einüben von Redemitteln ist nicht ausreichend, wenn nicht zugleich die Bereitschaft
und Fähigkeit der Lerner unterstützt wird, diese Redemittel anzuwenden und sich
dabei emotional und rational auf den Kommunikationspartner und die
Kommunikationssituation einzustellen (Hadfield 1992). Aus diesem Grunde gehen
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
interaktive Übungen vom Hier und Jetzt der gesamten Sprech- und Lernsituation der
Lernenden aus und nutzen die Interaktion im Klassenzimmer zum Erwerb wichtiger
Fähigkeiten wie z.B. der Aushandlung von Kommunikationsinhalten und von der
sprachlichen Ebene ihrer Erörterung, von Sprecherwechsel und von Rollen in der
Kommunikationsbeziehung sowie dem Einfordern bzw. Vollbringen sprachlicher
Reparaturleistungen zur Verständnissicherung. Interaktive Übungen setzen somit den
Akzent auf die soziale Dimension der Kommunikation; dementsprechend liegt ihnen
ein breiter Sprachbegriff zugrunde, der auch die para- und non-verbale Ebene
einbezieht. Intonation, Mimik und Gestik spielen daher eine ebenso wichtige Rolle wie
die kulturell und situativ unterschiedliche Bedeutung und Funktion von Schweigen für
eine erfolgreiche Kommunikation.
Nachdem
die
verstärkte
Berücksichtigung
der
pädagogischen
und
lernpsychologischen Dimension seit den 80er-Jahren die Frage in den Vordergrund
gerückt hat, wie Lernende dazu befähigt werden können, ihren Lernprozess
selbstverantwortlich zu organisieren, haben die Planung, Überwachung und
Evaluation
des
Lernprozesses
als
Teilbereiche
authentischer
Klassenzimmer-Interaktion an Bedeutung gewonnen (Art. 67). Neben das Ziel der
Kommunikationsfähigkeit tritt damit dasjenige der Bewusstwerdung und Reflexion
der Bedingungen von Kommunikation. Um dieses umfassende Ziel zu gewährleisten,
schließen interaktive Übungen eine metasprachliche Reflexion ein. Je nach aktuellem
Lernziel kommt es dabei zu einem unterschiedlichen Zusammenspiel der folgenden
Fokuspunkte:
-
-
-
-
die angewandten Sprachstrukturen mit dem Ziel, das linguistische Repertoire
entsprechend den individuellen Äußerungsabsichten zu erweitern (grammatische/
linguistische Kompetenz)
die Realisierung der individuellen situationsgebundenen Sprecherabsichten mit
dem Ziel, für Diskursmuster zu sensibilisieren und die Wirksamkeit von
Äußerungen für die Realisierung von Handlungsabsichten zu überprüfen
(diskursive Kompetenz)
sozial und kulturell geprägte Konventionen und Normen mit dem Ziel,
unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten von Äußerungen zu erfassen sowie
mögliche
Missverständnisse
zu
erkennen
und
zu
vermeiden
(soziolinguistische/interkulturelle Kompetenz)
die Strategien, die zur Initiierung, Aufrechterhaltung und Beendung der
sprachlichen
Interaktion
angewandt
wurden,
mit
dem
Ziel,
Kommunikationssituationen aktiv mitgestalten zu können (strategische
Kompetenz).
In dem Sinne ist das Lernen über den Interaktionsprozess von gleicher Wichtigkeit wie
das Lernen der dazu notwendigen sprachlichen Mittel: Erst die bewusste
Wahrnehmung der verschiedenen Dimensionen der Interaktion und der Erwerb von
Strategien zur Einflussnahme auf diese Dimensionen ermöglichen den Lernern ein
selbsttätiges Weiterlernen in natürlichen Kommunikationssituationen außerhalb des
Klassenzimmers.
2. Übungsformen
In der fachdidaktischen Literatur wird häufig zwischen (eher freisetzenden,
produktiven) Aufgaben und (eher bindenden, imitativen) Übungen unterschieden (z.B.
Häusermann/Piepho 1996); da diese beiden Begriffe aber eher die Endpunkte auf
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
einem Kontinuum darstellen, als dass eine klare Grenzlinie zwischen ihnen gezogen
werden könnte, dient die Bezeichnung interaktive Übungen hier als Oberbegriff für
kooperative Lernaktivitäten mit einem unterschiedlichen Grad an Steuerung
hinsichtlich des Inhalts, der Versprachlichung und der Zielformulierung. Gemeinsam
ist ihnen ihre Ausrichtung auf ein bestimmtes Handlungsziel der Lernenden im Hier
und Jetzt ihre Lernsituation; dementsprechend rangiert die Fokussierung der
Lerneraufmerksamkeit auf Verständigung vor derjenigen auf sprachliche Formen. Die
Übungen bereiten die Lerner also nicht lediglich auf Kommunikation als Lernziel vor,
sondern basieren auf Kommunikation als Lernprinzip. Deutlich wird dies in den drei
verschiedenen Übungsformen:
a) Schließen von einseitigen oder gegenseitigen Informationslücken:
Bei ersteren verfügt ein Lernender oder eine Gruppe von Lernenden über
Informationen, die für den oder die anderen von Interesse sind und deswegen von
ihnen erfragt werden; dies ist auf natürliche Weise in solchen Situationen gegeben, wo
persönliche und damit einzigartige Wissensbetende oder Erfahrungen einzelner Lerner
in das Unterrichtsgeschehen eingebracht werden (Partnerinterviews, hotchair).
Gegenseitigkeit ist auf authentische Weise in Kennenlernsituationen zu Anfang
eines neuen Kurses gegeben, oder wenn Lerner sich über ihre Lernerwartungen und
-bedürfnisse austauschen; künstlich geschaffen werden kann sie durch Aufgabenstellungen, die verschiedenen Angehörigen der Lernergruppe unterschiedliche
Teilinformationen zur Verfügung stellen, welche nur durch ein Zusammentragen zur
Beantwortung der Ausgangsfrage führen: so z.B. wenn ein Teil der Lernergruppe
lediglich die Tonspur eines Filmausschnittes hört, während die andere Hälfte nur die
Bilder ohne Ton zu sehen bekommt - was genau Film vorgeht, wird erst ersichtlich,
wenn die Lerner ihre jeweiligen Informationen in Partner oder Gruppenarbeit
zusammentragen.
b) Gemeinsames Lösen von Problemen oder Erarbeiten von Projekten (Art. 48):
Bei der Bearbeitung von Problemstellungen stehen real gegebene oder für den Zweck
präsentierte Fragen oder Probleme zu einer gemeinsam auszuhandelnden Lösung an:
dies kann vom Planen des Unterrichtsablaufs über das Reflektieren des jeweiligen
Lernverhaltens bis zur Vorbereitung und Durchführung von Projekten wie dem
Erstellen einer kurseigenen Homepage oder einer Exkursion reichen. Das Aufteilen der
Gesamtaufgabe und das Erarbeiten ihrer einzelnen Teile in Kleingruppen schafft beim
Zusammentragen der Teilergebnisse wiederum eine Situation von Informationslücken
und gibt somit Anlass zu echter Interaktion; findet die Auswertung nicht im Plenum
sondern in sog. Wirbelgruppen statt, die sich aus je einem Vertreter aller Kleingruppen
neu zusammensetzen, ergibt sich die größtmögliche Beteiligung aller Lerner am
Auswertungsprozess.
c) Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Simulationen:
Simulationen bieten eine Antwort auf die natürliche Begrenztheit von authentischen
Kommunikationssituationen innerhalb des Klassenzimmers. Sie können auch eine
Brücke schlagen zwischen lehrbuchgelenkter Arbeit und freier Sprachanwendung: so
ermöglicht die bewusste Einbeziehung von aktiven und phantasievollen Momenten es
z.B., farblose Lehrbuchdialoge durch präzisere Konturierungen der Charaktere
authentischer zu gestalten, oder durch ein Überzeichnen der Dialogpartner zu
karikieren; während bei ersterem die Simulation an Authentizität gewinnt und durch
7
Handbuch Fremdsprachenunterricht
Rollentausch jenen Perspektivenwechsel ermöglicht, der für Rollendistanz notwendig
ist, kann letzteres helfen, Konventionen bewusst zu machen und für die gemeinsame
Reflexion aufzubereiten. Damit dies in angemessener Weise möglich wird, ist es
notwendig, dass die Lernenden zuvor die Interaktionssituation und die in ihr
beteiligten Personen im Hinblick auf ihre soziale Rolle, ihr Handlungsmotiv und ihre
Handlungsabsicht hinreichend spezifizieren (Schewe 1993). Das besondere Potenzial
von Simulationen ist dann, durch die Einbeziehung para- und außersprachlicher
Elemente wie Intonation, Lautstärke, Gestik und Mimik, der Emotionalität und der
Leiblichkeit der Lerner Rechnung zu tragen.
Die Betonung der sozialen Komponente als Spezifikum von interaktiven Übungen
macht deutlich, dass eine Unterscheidung zu treffen ist zwischen sozial-interaktiven
Aktivitäten innerhalb von Lernerpaaren oder -gruppen im Unterricht und dem
Arbeiten einzelner Lernender mit sog. interaktiver Lernsoftware (Art. 94). Wenn auf
diesem Gebiet in den letzten Jahren auch anerkennenswerte Entwicklungen geleistet
wurden, gilt nichtsdestoweniger die pointierte Formulierung: Solange Computer
nicht ,intelligent' sind, eigene Interessen vertreten, Gefühle ausdrücken und Humor
zeigen können, muss die Interaktion im Rahmen von Sprachlernprogrammen
zwangsläufig auf vorprogrammierte, mehr oder weniger differenzierte Rückmeldungen
auf begrenzt mögliche Lerneraktivitäten beschränkt bleiben, die den Akzent auf den
Erwerb von Strukturen und Wortschatz legen (Felix 1997). Damit soll dem Computer
allerdings nicht generell abgesprochen werden, Interaktion im hier verstandenen
Sinne zu ermöglichen; vielmehr sind die vielerorts dokumentierten Möglichkeiten, über
das Internet Kontakte zu anderen Lernern oder zu Muttersprachlern der Zielsprache
herzustellen und für den Lernprozess zu nutzen, ein Beispiel für die bestechenden
Möglichkeiten zu authentischer Kommunikation (Art. 51), die bis auf die
Möglichkeiten mit voice-mail und video-conferencing freilich weitgehend auf
schriftliche Interaktion beschränkt sind (also die para- und körpersprachliche
Dimension nicht einbeziehen).
3. Implikationen
Die Fähigkeit zum kommunikativen Handeln im sozialen Kontext authentischer
Situationen lässt sich durch Fremdsprachenunterricht nur erreichen, wenn die
Lernenden ausreichend Gelegenheit zu selbstgelenkter Interaktion haben, um die
reale Situation Fremdsprachenunterricht ihren jeweiligen Interessen und Gefühlen
entsprechend miteinander auszuhandeln und zu gestalten. Den Lehrenden kommt
dabei die Rolle zu, als Organisatoren des Lernprozesses und als Berater die
Interaktionsbereitschaft der Lerner zu fördern und die Aufarbeitung ihrer
Kommunikationserfahrungen zu effektivieren. Insbesondere ist anzustreben, dass die
Lernenden Toleranz entwickeln, wenn nicht sogleich Verständigung erreicht wird, und
dass sie zur Klärung von Unklarheiten oder von Missverständnissen selbst aktiv
werden. Zusammengenommen verlangt dies nach einer Veränderung der traditionellen
Machtstrukturen im Unteracht, der nicht mehr vom Lehrwerk und vom Lehrenden
dominiert sein darf, sondern von Anfang an einen hohen Anteil von
selbstverantworteter Partner- und Gruppenarbeit aufweisen muss (Art. 46).
Eine weitere Voraussetzung ist die Schaffung eines positiven Lernklimas, da davon
auszugehen ist, dass die Lerner nur in einem so geprägten Klima zu kooperativem
sprachlichen Handeln und zu der Aufbereitung davon bereit sind. Das Bemühen um
eine positive soziale Interaktion darf allerdings nicht mit Konfliktvermeidung
verwechselt werden; sind es im Alltag doch gerade Konflikte, die auf eine Lösung durch
erfolgreiche Gesprächsführung drängen.
Dies stellt Lehrende vor eine hohe Anforderung bezüglich ihrer Funktion als
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
sprachliches Modell: Voraussetzung ist ein Lehrerverhalten, das von Respekt für die
Einzigartigkeit der verschiedenen Lerner getragen ist und ihre unterschiedlichen
Interaktionsstrategien als Chance für gemeinsames Lernen wahrnimmt. Für ein
solches interaktives Lehrerverhalten, das die hier beschriebenen Lernformen fördert
und unterstützt, sind Trainingskonzepte mit zahlreichen konkreten Übungen
ausgearbeitet worden (Schiffler 1985; Art. 74).
Eine weitere Implikation ist, dass ein auf interaktive Übungen ausgerichteter
Unterricht konsequenterweise auch durch interaktive Formen von Tests evaluiert und
bewertet werden muss: Tests sollten daher die Interaktionsfähigkeit in realitätsnahen
Sprachverwendungssituationen zum Gegenstand haben und nicht allein auf
strukturelle Korrektheit ausgerichtet sein, wie dies beispielsweise beim mündlichen
Prüfungsteil der revidierten Europäischen Sprachen-Zertifikate zu realisieren versucht
wird (Art. 82).
Literatur
Edmonson, W /House, J. (1993), Einführung in die Sprachlehrforschung,
Tübingen/Basel.
Felix, U. (1997), „In the Future Now? Towards Meaningful Interaction in Multimedia
Programs for Language Teaching", in: Meißner, E-J., Hrsg., Interaktiver
Fremdsprachenunterricht. Wege zu authentischer Kommunikation. Festschrift
für Ludger Schiffler zum 60. Geburtstag, Tübingen, 129-142.
Hadfield, J. (1992), Classroom Dynamics, Oxford.
Häussermann, U./Piepho, H.-E. (1996), Aufgaben-Handbuch Deutsch als
Fremdsprache. Abriss einer Aufgaben- und Übungstypologie, München.
Legutke, M./Thomas, H. (1991), Process and Experience in the Language Classroom,
London.
Schewe, M.
(1993), Fremdsprache
inszenieren. Zur Fundierung einer
dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis, Oldenburg.
Schiffler, L. (1985), Interaktiver Fremdsprachenunterricht, 2. , Auflage, Stuttgart.
Susanne Duxa
63. Kreative Übungen
1. Kreativität im Fremdsprachenunterricht
In den letzten 50 Jahren sind Hunderte von Versuchen unternommen worden, den
schillernden Begriff der Kreativität zu definieren (einen knappen Überblick über die
zumeist psychologische Forschung geben Urban 1989 und Weinen 1991) Auch für den
pädagogischen Bereich liegt bis jetzt keine allgemein anerkannte Definition vor. Sie
müsste berücksichtigen,
-
-
dass es sich bei Kreativität um die prinzipiell in jedem Menschen angelegte
Fähigkeit handelt, verschiedene ihm bekannte Elemente in neuen
Zusammenhängen so miteinander zu verbinden, dass daraus etwas für ihn bzw.
für seine Gruppe ,Neues' und ,Sinnvolles' entsteht,
dass im pädagogischen Bereich dem kreativen Prozess eine größere Bedeutung
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
-
zukommt als dem dabei entstehenden Produkt,
und dass die gesamte Person mit ihren kognitiven und nicht-kognitiven
Fähigkeiten in kreative Prozesse involviert ist.
In Bezug auf den Fremdsprachenunterricht müsste sie als weitere Elemente enthalten,
- dass es sich um einen produktiven Umgang mit Sprache und Texten handelt,
- der zwischen Normerfüllung und gezielter Veränderung oszilliert und
- für den Interaktion eine herausragende Rolle spielt (Rück 1997; Art. 43).
Die im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen wohl bekannteste
Definition von Genzlinger (1980, 14), ist angesichts dieser Kriterien zu einseitig auf
den vielgestaltigen Prozesscharakter von Kreativität gerichtet: „Kreativ ist der
Vorgang selbsttätigen Entwickelns, Entdeckens, Findens, Experimentierens,
Umdeutens, Umkehrens, Andersmachens, Variierens, Transferierens, Assoziierens etc.,
wobei das jeweils neu geschaffene lediglich im Selbstverständnis des Individuums
als ,neu' empfunden werden muss."
Trotzdem haben Genzlingers Vorschläge für kreative Übungen ebenso wie die
Anregungen Caré/Debyser (1978) entscheidend dazu beigetragen, dass seit Mitte der
80er-Jahre eine kaum noch überschaubare Fülle an zumeist praxisbezogenen
Vorschlägen und Untersuchungen erscheint, die Kreativität als Ziel wie als Methode
von Fremdsprachenunterricht propagiert (größere Studien liegen vor von Caspari 1994
und Wernsing 1995). Auch in den neueren Richtlinien und Lehrplänen werden
kreative Arbeitsformen als Ergänzung und Alternative, z.T. auch als gelegentlicher
Ersatz für ,traditionelle’ Verfahren aufgeführt.
Diese rasche und weite Verbreitung des Kreativitätsgedankens im Fremdsprachenunterricht sicherlich durch den ungebrochenen Kreativitätsboom in
Gesellschaft und Schule unterstützt (Kreativitätsförderung in der Schule Cropley 1990
und Serve 1994, Kritik z.B. von Hentig 1998). Der wichtigere Grund dürfte jedoch der
sein, dass kreative Prozesse und Spracherwerbsprozesse wichtige Parallelen
aufweisen: Hier wie dort spielen das Wahrnehmen und Analysieren von ,Problemen',
das Aufstellen und Überprüfen selbst erstellter Thesen durch Ausprobieren sowie die
Modifikation bei Fehlkommunikation oder Nichtbestätigung eine große Rolle. Kreative
Übungen trainieren somit Fähigkeiten, die auch für das Fremdsprachenlernen wichtig
sind, z.B. Geläufigkeit (fluency), Flexibilität und Umstrukturierung (redefinition).
Darüber hinaus unterstützen sie Lernende beim Aufbau sprachlichen Selbstbewusstseins, indem sie Hemmungen vor Unbekanntem und Angst vor dem
Fehlermachen abbauen, und sie bewirken verblüffende motivationale und
Behaltenseffekte. Nicht zuletzt dürften sie langfristig die Ausbildung von language
awareness (Art. 70) und den Sinn für ästhetische Qualitäten unterstützen.
2. Charakteristika und Einsatzbereiche kreativer Übungen
Aufgrund dieser Forschungslage können nur wenige, allgemeine Charakteristika
genannt werden, die kreative Übungen auszeichnen:
- Sie weisen eine offene Aufgabenstellung auf, die nicht eine einzige, sondern
viele ,richtige' Lösungen zulässt, auch originelle, komische, absurde etc. Lösungen.
- Sie regen zu vielfältigen Arbeits- und Lernprozessen an.
- Sie gestatten und fördern unterschiedliche, kollektive und individuelle Ausdrucks-
10
Handbuch Fremdsprachenunterricht
formen.
- Sie beziehen die Person als Ganzes ein, d.h. sie sprechen nicht nur kognitive,
sondern auch affektive Faktoren an, sie regen Intuition, Phantasie und
Spontaneität an und geben Gelegenheit zum persönlichen Ausdruck.
Die Spannbreite kreativer Übungen reicht von engen, stark vorlagengebundenen
Formen bis zu weiten, vorlagenungebundenen Formen. Erstere sind aufgrund
ihrer ,Zwänge' oft besonders gut geeignet, das kreative Potential der Lerner
herauszufordern. Wichtig für alle Übungen ist ein Stimulus, z.B. in Form von
Textmaterial, Bildern, Musik, Geräuschen, Gegenständen oder einer Phantasiereise,
und eine präzise Aufgabenstellung (die von den Lernern jedoch grundsätzlich
verändert werden darf).
Inzwischen wurden kreative Übungen für nahezu alle Bereiche des Fremdsprachenunterrichts entwickelt. Besonders viele Vorschläge liegen vor für
-
Lernspiele (vor allem für Wortschatz- und Grammatikarbeit, Art. 49, 55 und 56)
Lehrbucharbeit (vgl. Groeber 1988 und die Vorschläge in den entsprechenden
Begleitmaterialien)
Spiele mit Sprache (Care/Debyser 1978; Art. 49)
kreatives Schreiben (Beile 1996; Minuth 1996; Art. 58)
kreativen Umgang mit Bildern (Brandi/Dommel/Hehnling 1988; Hellwig 1995)
kreativen Umgang mit Texten (auch Hörtexten, Liedern/Chansons, Filmen etc.)
(Caspari 1997; Hinz 1996)
Theaterarbeit/ Dramenpädagogik (Bollinger 1999; Hagge/Leupold/Vignaud 1998).
3. Grundmuster kreativer Übungen
Die folgende Systematisierung versucht die Vielfalt unterschiedlichster Übungen für
den Fremdsprachenunterricht auf eine begrenzte Anzahl von Grundmustern kreativen
Handelns zurückzuführen. Grundsätzlich können alle Grundmuster für die Arbeit mit
isolierten sprachlichen Elementen (z.B. Wörtern oder Einzelsätzen) und mit Texten
sowie auf die Arbeit mit Medien (z.B. Bildern) angewandt werden. Die Grundmuster
können je nach Material und genauer Aufgabenstellung zu einer eher mechanischen,
einer eher spielerisch-experimentellen oder einer eher individuell-persönlichen
Arbeitsweise bzw. einem entsprechenden Endprodukt animieren. Dabei ist zu beachten,
dass als ,Produkte' kreativer Übungen nicht nur schriftliche Ergebnisse in Frage
kommen, auch Ideen zw. ,Denkprodukte', mündliche Äußerungen, Klangcollagen,
bildliche oder plastische Darstellungen, Pantomimen und andere Theaterformen,
Spiele usw. und nicht zuletzt die Entwicklung eigener Übungen können die Produkte
kreativer Übungen sein. Der besseren Verständlichkeit halber werden die
Grundmuster mit je einem Beispiel aus dem Bereich Aneignung, Festigung oder
Wiederholung von Wörtern bzw. Begriffen illustriert. Diese Beispiele stammen, aus
Care/Debyser (1976), Gauthey/Spiekermann (1994), Genzlinger (1980), Karbe (1993)
und Wernsing (1995), wo genauere Angaben zur Realisierung zu finden sind.
Etwas ergänzen bzw. hinzufügen
- zu etwas vollständig Gegebenem (z.B. zu einem gegebenen Wort ein zweites, zu
diesem zweiten ein drittes Wort assoziieren usf.)
- wo zuvor etwas weggelassen wurde (z.B. ein Wortteil zu möglichst vielen Wörtern
11
Handbuch Fremdsprachenunterricht
ergänzen)
Etwas weglassen (z.B. einen Lückentext erstellen oder einen Text auf Schlüsselwörter
reduzieren)
Unverbundenes zusammenfügen
- Ungeordnetes ordnen (z.B. in ein Raster Wörter unter Benutzung bereits
vorhandener Buchstaben in jede Leserichtung eintragen bzw. ratend wieder finden)
- Beziehungen finden bzw. herstellen (z.B. Wort und Themenfelder erstellen)
Zusammenhängendes trennen und ggf. neu ordnen (z.B. aus zwei oder drei
Einzelwörtern oder Wortteilen ein neues Wort erfinden und definieren: Europe +
television = Eurovision)
Möglichst viele bzw. möglichst unterschiedliche Elemente, Lösungen, Antworten etc.
finden (z.B. durch Brainstorming: alle bekannten Wörter mit dem
Anfangsbuchstaben ,l' oder alles, was rot ist)
Etwas Vorgegebenes transformieren
- in ein anderes Medium (z.B. Wörter bildlich oder pantomimisch darstellen)
- in eine andere Darstellungsweise (z.B. Wörter definieren bzw. umschreiben)
- mit anderen Elementen (z.B. aus einem Kinderzimmer (Foto) ein Jugendzimmer
machen und dies beschreiben
Etwas Vorgegebenes variieren
-
ausgestalten (z.B. aus vorgegebenen Wörtern eine Geschichte schreiben)
nach Anweisung verändern (z.B. die einzelnen Buchstaben eines Wortes als
Anfangsbuchstaben für neue Wörter nehmen)
Alternativen entwickeln (z.B. für Modewörter oder Jugendsprache)
weiter entwickeln (z.B. ausgehend von einem Buchstaben durch sukzessives
Hinzufügen von weiteren Buchstaben eine Wörterpyramide erstellen)
Etwas zuvor Verändertes rekonstruieren (z.B. Scharaden -die als einzelne Wörter
definierte Silben eines längeren Wortes - enträtseln)
Assoziationen entwickeln (z.B. Fantasiereisen zu Wörtern/Wortfeldern durchführen)
4. Ausblick
Kreative Übungen dürften aufgrund einiger aktuellen Tendenzen im Fremdsprachenunterricht weiteren Aufschwung erhalten: So dürfte die gegenwärtige
Diskussion um Lernerstrategien und Lerntechniken (Art. 69 und 71 ) sowie um
Autonomieförderung und Individualisierung des Lernens (Art. 67, Stichwörter:
Projektunterricht; Art. 48, Offener Unterricht, Freiarbeit) die Bereitschaft der
Unterrichtenden und der Verlage erhöhen, immer auch kreative Übungen anzubieten.
Bereits seit langem bewährt haben sich kreative Übungen als Prinzip und Element
fremdsprachlichen Lernens bei den diversen Formen des Begegnungslernens
(Stichwörter: Schülerkorrespondenz und -austausch, Art. 52 und 53; Tandemkurse, Art.
50; E-Mail-Projekte, Art. 51). Zusätzliche Argumente für den Einsatz kreativer
12
Handbuch Fremdsprachenunterricht
Arbeitsformen im Umgang mit literarischen Texten liefert ihr Potenzial für Prozesse
des Fremdverstehens (Caspari 2001). Eine zunehmend wichtigere Rolle dürften im
Zuge der Forderung nach Schaffung komplexer Lernumgebungen komplexe Formen
kreativer Arbeit spielen, wie z.B. die Simulation globale (Hagge/Leupold 1994) oder der
Storyline-Ansatz (Fehse 1995).
Damit das Potenzial kreativer Arbeitsaufgaben und Übungen für den Fremdsprachenunterricht jedoch noch besser ausgeschöpft werden kann, müsste das
Augenmerk der Forschung und der Praxis verstärkt auf folgende Bereiche gelenkt
werden: 1. auf die Korrektur und Bewertung kreativer Leistungen, z.B. ihre
Berücksichtigung im Abitur, 2. auf die Haltungen eines kreativitätsfördernden Lehrers
(Eggert 1996) und 3. auf die noch genauere Zielbestimmung beim Einsatz kreativer
Arbeitsaufgaben und Übungen. Nur bei präziser Bestimmung der Lernziele und bei
sorgfältiger Formulierung der Arbeitsanweisungen kann das Potenzial kreativer
Arbeitsaufgaben und Übungen voll ausgeschöpft werden. Beim Einsatz als
Motivationshilfe, als Belohnung oder gar als ,Aktivität um der Aktivität willen' besteht
dagegen die Gefahr, dass es wirkungslos verpufft.
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
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Daniela Caspari
64. Übungen zur interkulturellen Kommunikation
Im Fremdsprachenunterricht sollen Lernende zur erfolgreichen interkulturellen
Kommunikation (Art. 16 und 23) befähigt werden. Auch wenn der Unterricht in seiner
Gesamtheit auf dieses Lernziel hin ausgerichtet ist, gibt es Übungen und Aufgaben,
die für die Förderung des interkulturellen Lernens besonders geeignet sind.
1. Lernziele
Die Übungen und Aufgaben zur interkulturellen Kommunikation verfolgen das
übergeordnete Ziel des Erwerbs einer interkulturellen Kompetenz bzw. einer
kommunikativen Kompetenz in interkulturellen Situationen.
Einige Aufgaben und Übungen dienen vor allem der Förderung affektiver Lernziele
wie dem Erwerb der Fähigkeit zu mehrperspektivischer Wahrnehmung
fremdkultureller Gegebenheiten, der Empathie und der kritischen Toleranz. Sie sollen
dazu beitragen, dass sich die Lernenden überhaupt auf interkulturelle
Kommunikationssituationen und langfristig auf einen Perspektivenwechsel einlassen.
Andere Aufgaben und Übungen können schwerpunktmäßig im Hinblick auf
14
Handbuch Fremdsprachenunterricht
kognitive Lernziele eingesetzt werden, d.h. zum Erwerb von zielkulturspezifischem
(soziokulturellem) und sprachspezifischem (grammatischem und lexikalischem) Wissen
sowie zur Bewusstmachung von eigenkulturellem bzw. muttersprachlichem Wissen.
Sie können darüber hinaus der Festigung von allgemeinen Kenntnissen über die
Kulturabhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns sowie der Vertiefung des
allgemeinen und ziel- wie muttersprachenspezifischen pragmalinguistischen und
diskursorganisatorischen Wissens dienen.
Schließlich gibt es Aufgaben und Übungen, die vor allem handlungsorientierte
Lernziele verfolgen. Mithilfe dieser Aufgaben und Übungen sollen Interpretations- und
Relationsstrategien für das erfolgreiche Handeln in interkulturellen Kommunikationssituationen als auch Investigationsstrategien für die Erweiterung und
Differenzierung von fremd- und eigenkulturellem und fremd- und muttersprachlichem
Wissen eingeübt werden (Knapp-Potthoff 1997; Byram 1997).
2. Aufgaben- und Übungsformen
Im Folgenden soll der Versuch einer Kategorisierung von Aufgaben und Übungen
unternommen werden, auch wenn eine klare Zuordnung - wie bei den meisten
Typologien für die Unterrichtspraxis - nur annäherungsweise gelingen kann. Wir
unterscheiden vier Formen (Bachmann et a1. 1996; Häussermann/Piepho 1996):
Aufgaben und Übungen zur Wahrnehmungsschulung a), die vor allem der Förderung
affektiver Lernziele dienen; Aufgaben und Übungen zur Sprachreflexion b) und zum
Kulturvergleich c), die vor allem kognitive – aber auch handlungsorientierte -
Lernziele unterstützen; und schließlich Aufgaben und Übungen zur Entwicklung einer
kommunikativen Kompetenz in interkulturellen Kontaktsituationen d), die vor allem
handlungsorientierten Lernzielen dienen. Die Reihenfolge der Darstellung dieser
Aufgaben und Übungsformen bildet keine Progression ab. Bei den ersten drei Formen
wird versucht, Aspekte der interkulturellen Kompetenz isoliert und damit gezielt zu
fördern. Die unter d) angeführten Übungen inszenieren die interkulturelle Begegnung
in einer Annäherung an deren Komplexität. Die unter Punkt a) bis c) gefassten
Aufgaben und Übungen dienen somit sowohl der Vorbereitung als auch der
permanenten Unterstützung der in der letzten Kategorie angestrebten
handlungsorientierten Lernziele.
a) Wahrnehmungsschulung
Zahlreiche dem Fremdsprachlehrer durchaus bekannte Aufgaben und Übungen lassen
sich dafür nutzen, dem Lernenden den selektiven und stets interpretativen Charakter
von Wahrnehmungsprozessen und die perspektivische Gebundenheit fremd- wie
eigenkultureller Blickrichtungen zu verdeutlichen und ihn auf diese Weise für die
angestrebte mehrperspektivische Wahrnehmung zu öffnen (Richter 1998). Der Schritt
der Blicköffnung beinhaltet zwar auch kognitive Komponenten (Erwerb von Wissen
über die menschliche Wahrnehmung), dient aber schwerpunktmäßig den oben
aufgezählten affektiven Lernzielen.
Aufgaben- und Übungsformen sind:
-
Freie Assoziationen zu Bildern, detaillierte Beschreibungen von Bildern oder
Filmsequenzen, um den Lernenden für eigene Seh-, Wahrnehmungs- und
Verstehensprozesse zu sensibilisieren: Was nehme ich als erstes wahr? Welche
15
Handbuch Fremdsprachenunterricht
-
-
-
visuellen Reize interpretiere ich wie? Inwieweit hängen meine Interpretationen
mit meiner Kultur zusammen? (Häussermann/Piepho 1996, 409).
Hypothesenbildung zu Handlungsabläufen von Bildgeschichten, um den Prozess
der Herstellung von Ursache – Wirkungszusammenhängen allgemein und deren
Kulturabhängigkeit zu verdeutlichen (Bachmann et a1. 1996, 79).
Bildbeschreibungen im bewussten Dreischritt „wahrnehmen/beschreiben,
Hypothesen bilden, persönliche Eindrücke formulieren", um den Automatismus
aufzubrechen, der den Betrachter meist – ohne dass es ihm auffiele – von der
Wahrnehmung direkt zur kulturabhängigen Wertung führt (Bachmann et a1. 1996,
80).
Die gleiche Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählen lassen, um die
Vorstellungskraft im Hinblick darauf zu trainieren, was – von unterschiedlichen
Standpunkten her gesehen – wichtig oder bedeutungsvoll sein könnte (Bachmann
et a1. 1996, 81).
Wahrnehmungsreduktion, Übungen zu Sinnestäuschungen, um sich einzelner
Sinne bewusster zu werden (Häusermann/Piepho 1996, 408).
Diskussionen über Geschichten aus anderen Kulturen, um Grenzen der eigenen
Erfahrungen und/oder des eigenen Wissens zu erkennen (Häusermann/Piepho
1996, 403ff.).
b) Sprachreflexion über Begriffsbildung und Begriffserschließung
Viele traditionelle Übungen und Aufgaben zur Wortschatzarbeit lassen sich zu
interkulturellen erweitern, indem die soziokulturelle Bedingtheit konnotativer
Wortbedeutungen transparent gemacht wird und Strategien zum Erkennen von
strukturellen Divergenzen und Gemeinsamkeiten von Wortschätzen vermittelt werden
(Richter 1998). Auf diese Weise werden die kognitiven Wissensbestände der Lernenden
im Hinblick auf die fremd- und muttersprachliche Lexik erweitert, bzw. bewusst
gemacht und damit die sprachliche Komponente der interkulturellen Kompetenz
gefördert. Gleichzeitig werden Investigationsstrategien vermittelt, die Lernende auch
auf andere Wissensbereiche anwenden können.
Aufgaben- und Übungsformen sind:
-
-
Untersuchung eines Wort- (Brot) oder erweiterten Begriffsfeldes (Essen und
Trinken), um seine konnotativen Bedeutungen, seine Verknüpfungen mit anderen
Wörtern, seine Differenzen, die ihn eingrenzenden Kriterien etc. zu erfassen.
Solche Begriffsrecherchen können erst als Assoziogramme im Hinblick auf die
eigene Sprache und anschließend evtl. in Feldforschungsprojekten (s. Punkt d) real
oder virtuell (als Internetrecherchen) im Hinblick auf die Fremdsprache
durchgeführt werden. Letzteren sollte eine Liste bedeutungsrelevanter Fragen
zugrunde liegen (Müller 1994).
Bedeutungscollagen aus Bildern, um die Funktionen und Begriffsvernetzungen
eines Wortes nicht nur sprachlich, sondern auch visuell darzustellen und eventuell
auch kulturspezifische Prototypen kennen zu lernen (Bachmann et a1.1996, 82).
Aus Assoziogrammen von Muttersprachlern zu einem Begriff Mehrfachnennungen
herausziehen, um auf diese Weise Kulturmengen zu bestimmen und diese mit
eigenen Kulturmengen zu kontrastieren (Bachmann et a1. 1996, 83).
Begriffe auf Skalen oder in Koordinatensysteme eintragen, um ihre Vernetzungen
und hierarchischen Strukturen visuell sichtbar zu machen (Bachmann et a1. 1996,
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Handbuch Fremdsprachenunterricht
83).
c) Einblicke in fremde Welten und Kulturvergleich
Neben der beliebten Frage „Und wie ist das in Ihrem Land?" bzw. „Wie ist das bei
uns?“ können eine Reihe von Aufgaben- und Übungsformen Fremdsprachenlernende
dazu anleiten, Eigenes und Fremdes in Beziehung zueinander zu setzen. Eine
unverzichtbare Grundlage für kulturvergleichendes Arbeiten ist die Entdeckung und
Beschreibung kulturspezifischer Denk-, Kommunikations- und Verhaltensweisen
sowohl in der fremden als auch in der eigenen Kultur. Die Problematik des Vergleichs
als Methode der Erkenntnisgewinnung sollte dabei allerdings immer im Auge behalten
werden (Pauldrach 1987).
Aufgaben- und Übungsformen sind:
-
-
-
-
Literarische Texte als Zugang zu einer fremden Welt (Bredella 1997).
Analyse von kulturspezifischen Werten in Werbung (z.B. Produktwerbungen, die
länderspezifisch unterschiedlich sind), Kontaktanzeigen (Schönheitsideale,
gewünschte Charaktereigenschaften) oder Sprichwörtern (gibt es vergleichbare
Sprichwörter, ähnlich oder gegensätzlich?) (Tomalin/Stempleski 1993).
Kulturvergleich von Zeit- und Raumkonzepten, Aspekten des Alltagslebens
(Wohnen, Einkaufen etc.) durch Mini-Befragungen von Angehörigen der Zielkultur
mit vorher gemeinsam ausgearbeiteten Fragebögen (Tomalin/Stempleski 1993, 95
f.) oder WWW Recherchen.
Culture Assimilator: Situationen, bei denen sich die Lernenden aus einer Auswahl
von möglichen Verhaltensweisen für die kulturell angemessenste entscheiden
sollen. Durch die Diskussion der Lösungsmöglichkeiten können kulturspezifische
Verhaltensweisen bewusst gemacht und kontrastiert werden (Seelye 1992, 116ff.).
Untersuchung von situationsabhängigen Verhaltensweisen in Filmen oder
literarischen Texten, z. B. Begrüßungsszenen in soap aperes (Tomalin/Stempleski
1993, 77 f.; 102 f.).
Sammeln und diskutieren von Redewendungen, die häufig zu interkulturellen
Missverständnissen führen, z.B. „How are you?", „Let’s have lunch some time!"
(Tomalin/Stempleski 1993, 135f.).
d) Entwicklung kommunikativer Kompetenz in interkulturellen Kontaktsituationen
Die hier zusammengefassten Aufgaben und Übungen bieten den Lernenden entweder
die Möglichkeit, sich in echten interkulturellen Situationen selbst zu erleben und
Strategien in der Anwendung zu üben, oder in Simulationen den Interkulturellen
Ernstfall zu erproben.
Aufgaben- und Übungsformen sind:
-
Dramapädagogische Übungen und Rollenspiele, die von der Spannung aus
Engagement und reflexiver Distanz leben und dadurch den spielerischen Blick
hinter die Oberfläche von (Sprech-)Handlungen ermöglichen. Sie sprechen
insbesondere die Gefühlswelt der Lernenden an und erleichtern das ganzheitliche
Hineinversetzen in eine andere Rolle und den damit verbundenen
Perspektivenwechsel. Außerdem kann der fremdkulturelle Umgang mit
non-verbalen Kommunikationsmitteln entdeckt und ausprobiert werden (Schewe
17
Handbuch Fremdsprachenunterricht
-
-
1993; Byram/Fleming 1998).
Planspiele und Simulationen, die ein vollständiges Eintauchen der Lernenden in
einen
fremden
Kontext
ermöglichen,
z.B.
eine
internationale
Verhandlungssituation (Bolten 1993).
Feldforschung/ ethnographische Projekte, die sich hauptsächlich für
Lernsituationen im kulturellen Umfeld der Zielsprache anbieten (oder an Orten
mit internationalem Publikum wie Flughäfen oder touristischen Zentren).
Alternativ dazu können auch Muttersprachler im Unterricht als Informanten
fungieren (Wicke 1995).
Klassenkorrespondenzen zu unterschiedlichen Themen oder literarischen Texten
über verschiedene Medien wie Briefe, Video-/Audiokassetten, E-Mail, Fax etc.
(Wicke 1995; Art. 52).
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18
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