Eduard Tripp, Wie funktioniert Akupunktur?

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WIE FUNKTIONIERT AKUPUNKTUR? ERKLÄRUNGSANSÄTZE NACH
DEN ERGEBNISSEN DER GERAC- UND ART-STUDIEN
Eduard Tripp, SHIATSU-NEWSLETTER 153 vom 1. Februar 2009
Die Akupunktur ist heute in Österreich und Deutschland als Heilmethode weit
verbreitet und ihre Kosten werden zumindest teilweise von den Krankenkassen
übernommen. Über 30.000 Mediziner, wie Die Zeit 51/2008 berichtet, bieten derzeit
in Deutschland Akupunktur an, prozentuell gesehen mehr Ärzte als in China. Dort
kommen über 5.000 Patienten auf einen Akupunkteur, in Deutschland nur rund
2.500.
Groß angelegte Studien in den vergangenen Jahren (Gerac - German Acupuncture
Trials; http://www.shiatsu-austria.at/einfuehrung/forschung_16.htm und Art Acupuncture Randomized Trials; http://www.shiatsuaustria.at/einfuehrung/forschung_29.htm), bei denen rund 600.000 Patienten
genadelt wurden, zeigen ein, wie Die Zeit schreibt, verwirrendes Ergebnis, denn zum
einen hat sich die Akupunktur als sehr wirksam und der westlichen Standardmedizin
überlegen erwiesen (bei chronischen Kniegelenks- und Rückenbeschwerden), bei
anderen (Kopfschmerzen) hingegen nicht ? die deutschen Krankenkassen haben
das sehr pragmatisch hingenommen und bezahlen seit 2006 Akupunktur bei Knieund Rückenbeschwerden, nicht jedoch bei Kopfschmerzen.
Irritierender und in der Folge als sehr unterschiedlich interpretiert war jedoch ein
anderer Befund: Gleich ob die Behandler die Akupunkturpunkte der klassischen
Meridianlehre verwendeten oder nicht, es machte kaum einen Unterschied. Die
Wirkung der Nadelung schien weitgehend dieselbe zu sein, nur bei der Behandlung
von Kniearthroseschmerzen scheint die Wahl der gestochenen Punkte von
grundlegender Bedeutung für den Behandlungserfolg zu sein (Art-Studie).
Aus der Sicht der westlichen, evidenzbasierten Medizin bestätigt sich damit das
Konzept der Energiebahnen (Meridiane) im Körper nicht und für viele westliche
Mediziner scheint deshalb erwiesen, dass bei der Akupunktur allenfalls
Placeboeffekte und ein unspezifischer Nadeleffekt wirksam werden. Entsprechend
müssen also andere Wirkmechanismen gefunden werden, um der Akupunktur zu
wissenschaftlicher Anerkennung zu verhelfen.
Strenggläubige Verfechter der TCM indes halten an der traditionellen Lehre von den
Energiebahnen fest und sehen alle westlichen Erklärungsmodelle als einen Verrat
am Mythos, wie Ulrich Schnabel in Die Zeit 51/2008 schreibt. Vielfach werden zwar
moderne westliche wissenschaftliche Erklärungsmodelle einbezogen, das Konzept
der Meridiane als Informationswege jedoch beibehalten. Klassischerweise nämlich,
so Barbara Kirschbaum (Ärztin für Chinesische Medizin und Lehrbeauftragte der
Universität Witte/Herdecke), beruhen das westliche und östliche Medizinverständnis
auf unterschiedlichen Paradigmen. Während der Westen die kausal-analytische
Betrachtungsweise favorisiert, stützt sich die chinesische Medizin auf eine induktive,
synthesebildende Methode. Eine wissenschaftliche Erklärung einzelner Methoden,
so fürchtet Kirschbaum, könnte zu einer Fragmentierung der Praxis der chinesischen
Medizin führen und letztlich auch den Zauber einer ganzheitlichen
Behandlungsweise zerstören, die auf scheinbar uralter Weisheit beruht (Die Zeit
51/2008).
Gustav J. Dobos, der an der Universität Duisburg-Essen den einzigen deutschen
Lehrstuhl für Naturheilkunde (mit Schwerpunkt Chinesischer Medizin) innehat und
Chefarzt für Innere Medizin an den Kliniken Essen-Mitte ist, hingegen sieht die hohe
Wirksamkeit der Akupunktur durch die Studien bestätigt und sucht nach einem
Modell, eine Sichtweise mit der er "ein altes Verfahren auf ganz neue Beine stellen"
kann - ähnlich Johannes Bischko, der in seinen Vorlesungen zur Akupunktur die
Ansicht vertrat, dass die Chinesische Medizin vielfach mit falschen Annahmen und
Modellen zu durchaus richtigen Ergebnissen kam.
Dobos erlebt die Erklärung der Akupunktur deshalb als so schwierig, weil sie
manchmal deutlich besser als die westliche Standardtherapie wirkt, manchmal
schlechter und weil es manchmal auf spezifische Akupunkturpunkte anzukommen
scheint und manchmal überhaupt nicht. Dobos ging deshalb mit Unterstützung von
Iven Tao (Sohn eines chinesischen Arztes, der Medizin, Sinologie und Psychologie
studiert hat) der Frage nach, seit wann überhaupt von spezifischen
Akupunkturpunkten die Rede ist und wie sie ursprünglich definiert wurden. Dabei
verglich er klassische Texte der Han- (206 v. Chr. - 220 n.Chr.), Jin- (265 - 420),
Song- 960 - 1279) und Ming-Zeit (1368 - 1644) mit den Inhalten aktueller
Lehrbücher.
Die alten Texte, so die Ergebnisse der Forschungen von Tao, waren keinesfalls so
exakt beschrieben, wie es heutige Abbildungen glauben machen. "Aufgrund der
Beschreibungen in den alten Texte hätte man nie einen Punkt nachvollziehen
können" und teilweise "lagen die Punkte zehn Zentimeter weit auseinander - von
einer Punktespezifität im heutigen Sinne konnte damals keine Rede sein" (Die Zeit
51/2008), vielmehr könne man allenfalls von "reaktiven Arealen" sprechen.
Die heutigen Tafeln mit den detaillierten Energieleitbahnen und genau festgelegten
Punkten sind, wie auch der Sinologe und Historiker Paul Unschuld ausführt, ein
Konstrukt (Kunstprodukt), das erst in den 1950er Jahren entstanden ist (vgl. Die
Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und
Kultur; http://www.shiatsu-austria.at/magazin/magazin_105.htm). Damals gab Mao
Zedong die Parole von der Chinesischen Medizin als einer Schatzkammer aus,
deren Schätze mit Hilfe der modernen Wissenschaft zu heben seien. Durch die
damals von der Regierung eingesetzte Kommission wurden die Energiebahnen und
Akupunkturpunkte exakt festgelegt und die Ungenauigkeit in den alten Texten wurde
durch wissenschaftlich klingende Exaktheit ersetzt. Damals, so Unschuld, wurde die
moderne Traditionelle Chinesische Medizin als Konstrukt geschaffen, ein
Kunstprodukt, das weltweit aufgegriffen wurde, aber mit den historischen Ursprüngen
zum Teil wenig zu tun hat.
Paul Unschuld, Direktor des 2006 gegründeten Stiftungsinstituts für Chinesische
Lebenswissenschaften an der Berliner Charité (http://www.charite.de/hgi) hält die aus
seiner Sicht unkritische Euphorie für die TCM für geschichtsvergessen und naiv.
Dass die TCM heute von chinesischer Sicht gefördert wird - zugleich wird in China
intensiv der Anschluss an die moderne Biomedizin und Pharmaforschung gesucht -
hat für Unschuld vor allem mit ihrem ökonomischen Potential zu tun: Allein in
Deutschland werden mit Traditioneller Chinesischer Medizin mehr als drei Milliarden
Euro umgesetzt.
Für Dobos bedeutet dieser Befund, dass das klassische Konzept der Energiebahnen
nicht aufrecht zu erhalten ist, dass es aber sehr wohl auf die reaktiven Areale
ankäme. Das würde erklären, warum in den Gerac- und Art-Studien selbst dann eine
Wirkung beobachtet werden konnte, wenn neben die klassischen Akupunkturpunkte
gestochen wurde. Ein solches Abgehen von exakt lokalisierten Punkten befürwortet
auch Barbara Kirschbaum, da "die Menschen (...) nun einmal alle unterschiedlich
sind": "Die ursprüngliche chinesische Medizin hat ja viel mit Anfassen zu tun, man
sucht nach Spannungen, Vertiefungen in der Haut und spürt so, wo der rechte Punkt
sitzt" (Die Zeit 51/2008). Ähnlich der Düssldorfer Orthopäde Albrecht Molsberger, der
an den Gerac-Studien beteiligt war: "Die chinesischen Punktelandkarten zeigen, mit
welchen Akupunkturstellen man gut zum Ziel kommt, man kann jedoch auch andere
Wege gehen. Das Prinzip ist entscheidend" (Tagesspiegel am 11.11.2008).
Für Dobos ergibt sich damit eine moderne, gleichsam nüchterne Theorie, in der die
Nadelwirkung auf mehreren, ineinandergreifenden Mechanismen beruht:
Neurologische Effekte, die mit der Schmerzwahrnehmung zusammenhängen und vereinfacht ausgedrückt - darauf hinauslaufen, dass ein bestehender Schmerz durch
einen neuen Schmerz an anderer Stelle (ausgelöst durch die Akupunkturnadel)
verdrängt werden kann.
Spezifische physiologische Effekte, die zumindest an einigen Stellen des Körpers
nachgewiesen werden konnten, wie die Ausschüttung von Botenstoffen, die lokal die
Schmerzrezeptoren beeinflussen durch Mikroläsionen des Körpers.
Psychologische Effekte, die vielfach unter dem Schlagwort Placebowirkung
zusammengefasst werden und einen entscheidenden Anteil an der (jeder) Genesung
haben.
Zu beachten ist dabei aber auch, dass eine Akupunkturtherapie ein sehr komplexes
Therapieverfahren darstellt, bei dem nicht nur die Auswahl der Akupunkturpunkte,
sondern auch eine Vielzahl weiterer Faktoren - wie die Stärke der Nadelstimulation,
die Anzahl der Nadeln und die Behandlungshäufigkeit - auf die individuelle Situation
des Patienten zugeschnitten wird. Ferner entsteht während der Behandlung in der
Regel eine intensive Interaktion zwischen Patient und Therapeut, die mitunter eine
wichtige Grundlage des therapeutischen Erfolges darstellen kann. Dies sollte
allerdings nicht mit dem aus der Pharmaforschung stammenden "Placeboeffekt"
verwechselt werden. Im Gegensatz zur Therapie mit Pharmaka ist in der
Akupunkturbehandlung u.a. auch der Faktor "Beziehung zwischen Arzt und Patient"
untrennbarer Bestandteil der Behandlung (G. J. Dobos: Projekte und klinische
Forschung an der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Kliniken
Essen-Mitte).
In derselben Publikation differenziert Dobos zwischen punktspezifischen und nicht
punktspezifischen Effekten:
-
punktspezifische physiologische Effekte,
nicht punktspezifische unspezifische physiologische Effekte (z.B. Herzfrequenz,
Blutdruck, Atemfrequenz),
nicht punktspezifische spezifische psychologische Effekte und
nicht punktspezifische unspezifische psychologische Effekte.
(Quellen: Ulrich Schnabel: Hauen ums Stechen. Die Zeit 51/2008,
http://www.zeit.de/2008/51/M-Akupunktur?page=all
Sabine Kersebaum: Akupunktur darf nicht zum Fließbandverfahren verkommen!
Interview mit Iven Tao. Gehirn & Geist 7-8/2005,
http://www.spektrumverlag.de/artikel/837649
Adelheid Müller-Lissner: Die Nadelprobe. Tagesspiegel am 11.11.2008,
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Akupunktur;art304,2658100
Gustav J. Dobos: Projekte und klinische Forschung an der Klinik für Naturheilkunde
und Integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte. http://www.carstensstiftung.de/wissen/nhk/pdf/Dobos_jb_klinische.pdf
Ins Knie gestochen. ZEIT online, 19.4.2006,
http://www.zeit.de/online/2006/17/akupunktur
Die Gerac-Akupunkturstudien, http://www.shiatsuaustria.at/einfuehrung/forschung_16.htm
Die Art-Akupunkturstudien, http://www.shiatsuaustria.at/einfuehrung/forschung_29.htm)
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