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„Gesprächsforschung - Gesprächsschulung“
Wolfgang Boettcher (Germanistisches Institut Ruhr-Universität Bochum)
Dieser Beitrag plädiert für die Beteiligung der Gesprächs-Forschung in der GesprächsSchulung und gibt einen Blick auf ein Beispiel einer solchen `linguistischen Anwendung´.
Er skizziert einige der Ressourcen der Linguistik und sinnvolle Erweiterungen ihrer
Ressourcen für eine solche Anwendung.
Er legt die Reflexion der Praxis hochschulischer Gesprächsführung durch Studierende
und Lehrende als Studien-Projekt nahe, in dem die Studierenden eine solche
Anwendungsorientierung herausbilden können.
1
Vorüberlegungen
Von einer grammatikzentrierten Linguistik, in der ich – mit Vergnügen – groß geworden bin,
ist die Arbeit in der Gesprächsschulung, in der ich – aus Überzeugung - heute mein drittes
Standbein habe, zwei Schritte weit entfernt.
1.1 Die Grammatik `vor Augen´
Der erste Schritt – der Schritt von der Satz-Linguistik zur Gesprächs-Linguistik - ist der
innerwissenschaftliche Wechsel in eine ausdrücklich empirische Ausrichtung und damit
unausweichlich auch ein Wechsel der Komplexität des Gegenstandes: statt des strukturellen
Innenlebens von Sätzen habe ich jetzt interaktiv in Realzeit entstehende komplexe sprachliche
Produktionsprozesse und ihren Niederschlag vor mir: Äußerungen und Gespräche.
Studierende (und erst recht Fortbildungsteilnehmende) haben erhebliche Probleme, in
Transkripten Äußerungen nicht als Sätze zu `lesen´, zumal wenn Transkripte hinsichtlich
Interpunktion und Großschreibung satzähnliche Oberflächen anbieten.
Legt man ihnen zum Beispiel einen `Satz´ wie den folgenden vor, monieren sie ihn –
zumindest ab dem Beginn der `Ausklammerung´ („aus verschiedenen Gründen“) – als
chaotisch, kaum syntaktisch analysierbar:
Ich komm gerade aus ihrem Hauptseminar und möchte gerne an Transkripten arbeiten oder anderem
Textmaterial auf jeden Fall und und nur in möglichst geringem Umfang Fachliteratur hinzuziehen aus
verschiedenen Gründen also so wie sie meinen dass es eh nötig is natürlich selbstverständlich
Wenn sie solche Äußerungen als Zeichen mangelnder sprachlicher Elaboriertheit ächten,
reagieren sie bewertend unter dem Zwang der „schriftsprachlichen Voreingenommenheit“.
Diese `grammatische Abwertung´ wird durch eine gewissermaßen großzügige Erklärung als
Performanz-Problem eher bestätigt als relativiert: solche Sätze zeigen Mangel an
grammatischer Kompetenz bzw. Mangel an der Nutzung von Kompetenz.
Diese Ablehnungen sind nicht nur normative Fehl-Handlungen, die solche für
Mündlichkeit typischen Phänomene wie Pausenfüller („äh“), Wiederholungen („und und“)
oder Konstruktionsbrüche monieren und dabei mit dem impliziten Vorwurf mangelnder
`Fertigstellung´ arbeiten. Vielmehr verfehlen sie mit solchen Einschätzungen gerade den
Status als Gesprächsbeitrag, insofern diese Äußerung in Kontakt zu einer aktiv zuhörenden
2
Person so hergestellt worden ist. Wenn man diesen `Satz´ nämlich zur Äußerung reanimiert,
erscheint er plötzlich als dialogisch nachvollziehbar konstruiert:
Hochschullehrer:
017
018
019
020
021
022
023
Hm
Hm
Hm
Ja [lacht]
Studentin:
Ich komm gerade aus ihrem Hauptseminar und
möchte gerne (0) an Transkripten arbeiten oder
anderem Textmaterial auf jeden Fall und (0) und
nur in möglichst geringem Umfang Fachliteratur hinzuziehen (0) aus verschiedenen Gründen
also so wie sie meinen dass es eh nötig
is natürlich selbstverständlich [lacht]
Eine kurze Kommentierung: Es handelt sich um den Auszug aus einer
Hochschulsprechstunde, der Auszug setzt mit dem Beginn der Anliegensformulierung der
Studentin ein. Parallel zu ihrem Turn platziert der Hochschullehrer Hörrückmeldungen an
propositional aus seiner Sicht wichtigen Details (= transkriptbezogene, jedenfalls empirische
Ausrichtung ihrer geplanten Arbeit). In ihrer Turn-Gestaltung – die durch eine kurze, ev.
Zögerlichkeit anzeigende Pause getrennte Wiederholung: „und (0) und“ - gibt die Studentin
selber bereits mögliche Hinweise, dass die nun anstehende Bitte, die Sekundärliteratur
beschränken zu dürfen, für sie selber heikel ist (und zugleich stellt sie damit möglicherweise
die Wahrnehmung des Lehrenden auf eine solche kommende Problematik ein). Offenbar
reagiert die Studentin - die aufgrund ihres Betriebswissens den Normenverstoß (nämlich in
einer Hauptseminar-Arbeit die Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur zu umgehen)
natürlich ahnt - auf das Ausbleiben der für sie in Zeile 21 erwartbaren Hörrückmeldung des
Hochschullehrers und nimmt dieses Ausbleiben als Vorenthalten einer Ratifizierung ihres
heiklen Anliegens. Nun steuert sie nach einem kurzen Abwarten „(0)“ ihre Äußerung nach
und steuert sie teilweise um: Sie kündigt zunächst eine Palette von Begründungen an und
bietet dann – vielleicht angesichts eines `skeptisch´ klingenden „hm“ des Lehrenden in Zeile
22 - Entgegen-Kommen an; zugleich ent-lastet sie vorsorglich durch den Moduswechsel
(Lachen) – auf den der Hochschullehrer unmittelbar eingeht – die ihrer Erwartung nach
mögliche oder wahrscheinliche Krise; sie glaubt sich vermutlich – in ihrer Rolle als auf diesen
Prüfer angewiesene Studentin – einen blanken Affront nicht leisten zu können.
Dieses Beispiel macht zugleich deutlich, dass Turn und Hörrückmeldungen nur
gemeinsam als funktionierende Einheit gesehen werden können.
Auch die `Ausklammerung´ „... aus verschiedenen Gründen ...“ erscheint hier nun nicht
mehr stilistisch motiviert, sondern gesprächsdynamisch induziert; und dieser auf den ersten
Blick naheliegende Begriff der Ausklammerung selber erweist sich als ungeeignet, er operiert
sinnvoll nur auf der Basis extern unbeeinflusster Konstruktionsbedingungen.
Während bei (kompetenter) schriftsprachlicher Textkonstitution das Elaborieren als
Fertig-Stellen eines Satzes durch (mehrfache) Überarbeitungsprozesse geschieht, bleiben
Strukturen von Äußerungen sinnvoller Weise beweglich, im Prozessverlauf noch steuerbar.
Und es wäre geradezu ein Zeichen gestörter Kommunikationsbeziehungen, wenn Äußerungen
– abgeschottet von den Einflussnahmen der Hörenden – nur den Vorabentwürfen der
sprechenden Person folgten.
Studierende müssen also – auf dem Weg zu einer Gesprächs-Linguistik – erst wieder lernen,
Äußerungen im Gesprächsverlauf zu re-konstruieren aus der Zeit- und Handlungsperspektive
der Gesprächsbeteiligten: Sätze wieder zu Äußerungen zu verflüssigen.
Dies ist eine der Gefährdungen des Blicks auf mündliche Verständigungsprozesse durch
eine grammatische Fixierung – hier die Fixierung an eine Grammatik schriftsprachlicher
Produkte.
Ein weiteres Problem ist das der Integration und damit auch der Relativierung grammatischer
Kategorien im Kontext sprachpragmatischer Aspekte. Dazu ein Blick auf ein zweites
Transkript einer Hochschulsprechstunde und dort einen interessanten Sprech-Wechsel,
3
nämlich von 13 auf 14 (Doppelpunkt hinter einer Silbe markiert deren auffällig gedehnte
Aussprache):
Lehrender:
009
010
011
012
013
014
015
016
nehm sie platz
ja
ja
ja
Studentin:
ja
ich weiß (1) alle arbeiten die jetzt noch nicht
durchgesehen sind bis zur nächsten woche (0)
korrigiert (2)
nur ne ganz ja ich hab nur ne ganz KURze
frage und zwar hab ich ihn anfang des
semesters ne hausarbeit reingereicht (0) ähm s/
ich häng noch nich an der tür ich hatte sie
gebeten die: ähm
ja
super
ja?
Wenn ich – syntaktischen Kategorien folgend - syntaktische Unabgeschlossenheit und damit
Redeübergabe-Nichteignung konstatiere, mache ich den Lehrenden zum Ein-Brecher (und das
würde vorschnell zu gender-Hypothesen passen); wenn ich dann - Kooperations-Eifrigkeit
unterstellend - diese Unterbrechung funktional zu heilen versuche, biete ich gewissermaßen
`mildernde Umstände´ für den Lehrenden an, bestätige damit aber implizit zugleich den
diagnostischen Status „Unterbrechung“.
Wenn ich demgegenüber das Stocken nach der begonnenen Infinitivkonstruktion der
Studentin „..., die ähm“ als dem Lehrenden vorgezeigtes Stehenbleiben nehme – rechtzeitig
vor der danach erwartbaren Erinnerung an eine Termin-Zusage des Lehrenden –, dann sehe
ich hier eher einen Verzicht auf Ausführung eines (indirekten) Vorwurfs; und dann wäre es
ein Sich-unterbrechen-Lassen bzw. die Bitte um Unterbrochenwerden (mit geradezu
metakomplementärer Struktur): Der Lehrende hilft ihr, eine Vorwurfsausarbeitung ihm
gegenüber zu ersparen, und tut damit zugleich etwas für sie (= erspart ihr das Risiko, einem
Ranghöheren, von dessen Einverständnis die Scheinvergabe abhängt, einen Vorwurf zu
machen) und für sich (= vor der durch das Mikrofon vertretenen Öffentlichkeit den
imageschädigenden Vorwurf der Unzuverlässigkeit zu hören). Ob die Bereitwilligkeit,
Imageverletzungen anderen – Männern? – zu ersparen, ihrerseits dann (auch) gender-bezogen
gesehen werden kann, ist eine neue Frage.
Ähnlich komplex sind viele weitere Dimensionen von Mündlichkeit (z.B. lokaler vorübergehender
Dialektgebrauch in Prüfungsgesprächen, der man nicht als prüfungsstress-bedingte Panne lesen muss, sondern
als `Beziehungs-Test´ auf Entspanntheit verstehen kann), die nicht nur in ihrem Kontrast gegenüber
Schriftlichkeit bearbeitet werden sollten, sondern als Interaktions-Instrumente.
Studierende brauchen erhebliche Unterstützung, ihre gesammelten grammatischen und im
weiteren Sinne linguistischen Kategorien auf solche Gesprächsverläufe anzuwenden.
Und diese Reihenfolge, die oft im Studium (wie auch im schulischen
Grammatikunterricht vorher) vorherrscht - nämlich zunächst systematische und
formenzentrierte Grammatikkenntnisse beizubringen, die später in pragmatischer Perspektive
`angewendet´ werden sollen -, ist selber Teil des Problems, nicht seiner Lösung: In dieser
Reihenfolge – die der schulischen Reihenfolge von „grammatischem Grundkenntnissen“ (in
der Sekundarstufe I) und „Anwendung auf Texte“ (in der Sekundarstufe II) fatal entspricht –
wird die Fiktion aufrechterhalten, schriftsprachlich konzipierte (in der Regel künstliche) Sätze
seien das Maß für Diagnose und Bewertung von Sprache. Wichtig wäre demgegenüber, von
Anfang an mit den Studierenden grammatische Strukturen von Sprache unter der Perspektive
„interaktioneller Ressourcen“ zu untersuchen, so dass diese Studierenden beweglich genug
gegenüber gesprochener Sprache in Gesprächen werden.
1.2 Von der Gesprächslinguistik zur Gesprächsschulung
4
Der zweite Schritt – und dies ist die Blickrichtung dieses Beitrags - ist der von der GesprächsLinguistik zur Gesprächs-Schulung (im Auftrag z.B. privater oder öffentlicher
Einrichtungen).
Seit 1987 gibt es den „Arbeitskreis für Angewandte Gesprächsforschung“ als
Interessensverbund von Gesprächslinguistinnen/Gesprächslinguisten, die das Wissen und die
Analyseverfahren der Gesprächslinguistik für Gesprächs-Fortbildungen nutzen wollen1.
„Angewandt“ heißt hier also „Nutzung für kommunikative Veränderungsprozesse“.
Als „Angewandte Linguistik“ würden demgegenüber viele linguistische Kolleginnen/Kollegen bereits die
Gesprächslinguistik bezeichnen, obwohl sie deskriptiv, nicht interventiv arbeitet. Man könnte sie als
„zugewandt“ bezeichnen: Sie blickt – weiterhin beschreibend – auf gesellschaftliche Sprachverwendung.
Hier bedeutet das Reden von „angewandt“ offenbar, dass Interaktion als angewandte Grammatik gesehen
wird, nicht Grammatik als – dann seinerseits ordnung-haltendes – Sediment gesellschaftlicher Interaktion. Es
liegt also ein Verständnis von Sprache und Sprachverwendung zugrunde, bei dem Grammatik als das Gegebene,
Zentrale, Relevante gesehen wird, nicht als Abstraktion.
1.2.1 Gesprächslinguistik und Gesprächsschulung als Nachbarn?
Dieser zweite Schritt ist nicht sehr groß: Denn eine empirische Gesprächsforschung arbeitet
bereits in Sichtweite von Anwendung; ich sehe zumindest drei Gründe für diese
Einschätzung:
Sichtbare – und zum Teil auch metakommunizierte - Probleme mit Gesprächsverhalten
(= dem eigenen und dem der anderen Gesprächsbeteiligten) haben auch die
Gesprächsteilnehmenden in den untersuchten Daten; Gesprächsforschung hat es also
mit Vorstellungen und ggf. Ansprüchen an ein „gutes“ Gespräch als Dimension des
Untersuchungsgegenstandes selber zu tun. (Entsprechende normative Vorstellungen
von Sprachteilhabenden bezogen z.B. auf richtigen bzw. „guten“ Satzbau kann ich zwar
erheben, ich finde sie aber nur sehr selten in den untersuchten Satz-Daten vor, wenn ich
denn überhaupt empirisch zentriert arbeite).
Sobald ich Gespräche nicht mehr nur als ein je einzelnes Exotikum untersuche, sondern
als reguläres Arbeitsmedium in funktionaler Bindung und institutionellem Rahmen,
trete ich in Kontakt mit Feld-Mitgliedern, die ich als Gesprächs-Gebende und dabei
teilweise auch als Feld-Expertinnen/Experten nutze. Fast unvermeidbar kommt dabei indirekt oder direkt - auch die Anfrage nach meiner Einschätzung der dort
aufgezeichneten Gespräche. Ich kann mich dann entweder in die Hochschule
zurückziehen oder eine Zeit bleiben und mich auf solche normativen Dimensionen
einlassen.
(Ganze) Gespräche sind eine Gegenstands-Größenordnung, die auch außerhalb einer
Forschungs-Perspektive meine Aufmerksamkeit regelmäßig bindet und meine Reflexion
beschäftigt:
- in meinen privaten und in öffentlichen Lebenszusammenhängen, aber auch
1.
2.
3.
1
Für das schulische Pendant gibt es eine institutionelle Trennung zwischen der – auch personell
eigenständigen - Instanz der Gesprächsdidaktik als (bedingt) wissenschaftlicher Befassung mit Zielen,
Verfahren, interaktionellen Rahmenbedingungen und Materialien unterrichtlicher Gesprächserziehung
und ihr gegenüber (teilweise an ihr orientiert) die unterrichtenden Lehrkräfte. Demgegenüber gibt es für
den Bereich der außerschulischen Gesprächsfortbildungen eine Personal-Union von Fortbildenden, die
selber – unterschiedlich professionell – über ihr Fortbildungs-Geschäft nachdenken und gelegentlich (oft
nur als Teil eines Akquisitions-Displays) ihre Vorstellungen von Gesprächsführungsschulung publizieren.
Innerhalb des Arbeitskreises Angewandte Gesprächsforschung gibt es Ansätze einer
gesprächsdidaktischen Diskussion unter den Gesprächs-Linguistinnen/Linguisten selber (vgl. Fiehler
2001). Nur marginal ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Erwachsenenpädagogik bzw. der
Fortbildungsdidaktik.
5
-
in meinen beruflichen: als Gesprächsforschungs-Lehrender bin ich in der
Gesprächsführung in zentralen beruflichen Zusammenhängen beteiligt - als Seminarleiter,
- als Sprechstundengeber,
- als Prüfer,
- in Gremien.
Ich müsste mich sehr anstrengen, um solche Gespräche nicht unter einer
Perspektive
der
Problemdiagnose
und
der
Veränderungsanstrengung
wahrzunehmen2. Zumal dann, wenn ich, bei wenigstens minimaler
hochschuldidaktischer Selbstreflexion, wahrnehme, dass ich ein Mensch (= einer
unter vielen, aber immerhin einer) bin, der die Gesprächs-Modellerfahrungen
mitgestaltet, in denen Studierende ihre in Familie und Schule entworfenen
Gesprächsvorstellungen weiterentwickeln - zementierend, differenzierend, umlernend. Lehrende – unter ihnen ich - betreiben also mit solchen Gesprächsmodellen
nachhaltig Lehrerausbildung, vor allem, wenn sie in der Arbeit mit den
Studierenden diese Dimension („das heimliche Curriculum“) der Lehrerausbildung
nicht
thematisieren,
entgegen
aller
sonstigen
professionellen
Thematisierungsbereitschaft.
1.2.2 Wozu Beteiligung in der Gesprächsschulung?
Bereits als Gesprächslinguist folge ich – zumindest implizit – Interessen und Normen: Welche
Gesprächsfelder wähle ich aus? Was lasse ich mir an den untersuchten Gesprächen auffallen?
In welche Richtung vereindeutige ich – am Übergang von qualitativer Einzel-Analyse zu
Regelfindung – meine generalisierenden Regelhypothesen?
Ich gehe im folgenden nicht auf solche impliziten normativen Stellungnahmen ein,
sondern auf die expliziten normativen Stellungnahmen, die ich abgeben muss, wenn ich aus
dem Forschungs-Rahmen in den der Fortbildung wechsele (gleich ob er im Rahmen der
Hochschule angeboten wird oder außerhalb).
Was bewegt eigentlich mich, was bewegt andere Gesprächsforschende, in der Fortbildung zu
arbeiten?
-
berufliche Karrieremöglichkeiten als Ersatz für Hochschulstellen? Ich habe volle
Achtung für diejenigen, die dort Chancen nutzen, die ihnen heute in der Hochschule –
bei aller Qualifiziertheit – aufgrund der hochschulpolitischen Entwicklung in den
Geisteswissenschaften weitgehend verwehrt werden
oder ein leichterer Zugang zum Forschungsfeld? Einmal dort `aufgenommen´, kriegt
man weitgehenden Zugang zu spannenden Datentypen
oder der Wunsch, gesellschaftlich positiv wahrgenommen zu werden? Die
Literaturwissenschaft hat immerhin viele `Reich-Ranickys´ produziert - die Linguistik
lediglich die Kröte Rechtschreibreform? Dabei hat die Linguistik, insbesondere für die
Gesprächs- und Textberatung, erhebliche Ressourcen anzubieten
oder gar die Einsicht in die Veränderbarkeit und Veränderungsbedürftigkeit des
Gesprächsumgangs in Beruf, Öffentlichkeit und Privatbereich?
-
-
Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz ist öfters gestellt worden: Gesprächsfähigkeit
als hochrangige Jobressource hat zu einer (immer noch wachsenden) Nachfrage von
2
Ist der Unterschied zwischen Gesprächslinguistik und angewandter Gesprächslinguistik dann nur noch der, dass bei
angewandter Gesprächslinguistik externe Auftraggeber mit expliziten Aufträgen warten? Warum kann ich mir als
Gesprächs-Linguist nicht selber den Auftrag geben, in meinen beruflichen Zusammenhängen – vor allem eben am
Hauptarbeitsplatz Hochschullehre – in wechselseitige Gesprächs-Reflexionen und Gesprächs-Analysen einzutreten?
6
Betrieben, Verwaltungen und auch pädagogischen Institutionen nach Gesprächs-Schulungen
geführt.
Die meisten Nachfragen zielen auf Gesprächsfähigkeit als Verpackungskunst, nicht als
Kooperationsmedium. Und unter Kommunikations-Beratung wird dabei entsprechend
meistens Coaching gesucht, nicht aufklärungsverpflichtete Beratungsmodelle wie z.B.
Supervision.
Die Entscheidung ist also wichtig, auf welchen Institutionstyp und welche Auftragsziele ich
mich einlassen will und welche eigene Sicht und welche Absichten ich dabei habe.
Ich wähle für die weiteren Überlegungen aus den GesprächsschulungsZusammenhängen, in denen ich seit ca. 20 Jahren arbeite, die Schulung von
Schulleitungsmitgliedern in NRW. Es handelt sich um ein- oder zwei-tägige Schulungen zu
einzelnen Gesprächstypen, in der Regel zu Kritikgesprächen und Personalentwicklungs- oder
Mitarbeitergesprächen, manchmal auch zu Schlichtungsgesprächen; Beratungsgespräche
werden in der neuen Version dieser insgesamt eineinhalbjährigen breitbandigen
Schulleiterfortbildung durch eine verpflichtende Teilnahme an einer (anfangs professionell
geleiteten) Fallbesprechungsgruppe lernbar gemacht.
2
Schulungsvorgaben der Gesprächsforschung
Ich sehe in den Ressourcen der Gesprächslinguistik für solche Schulungen auf
gesprächslinguistischer Basis erhebliche Anregungen, freilich dabei auch erhebliche
Provokationen für die Fortbildungsteilnehmenden, zumal wenn sie traditionelle
Gesprächstrainings gewohnt sind.
Drei dieser provokativen Anregungen deute ich an:
2.1 Konzeptionen von `Gespräch´ auf dem Prüfstand
Gesprächsforschung konzeptualisiert Gespräche als Ergebnisse eines Kooperationsprozesses
von zwei oder mehr Beteiligten.
Entsprechend betrachtet sie eine `rhetorische´ Konzeption von Gesprächs-„Führung“ mit
Misstrauen, nämlich als auf Dauer nicht erfolgreiches und zugleich ethisch heikles
Verständnis von Gesprächen und ihrer Lenkbarkeit. Für sie sind es Konzepte einer verdeckten
Vorteilsnahme, `Verkäufer-Modelle´ (die hervorragend mit den parallel boomenden NLPSchulungen harmonieren):
Ein Blick auf das Nutzungsversprechen in einem – noch relativ guten - der zahlreichen Gesprächsratgeber (Saul
1993):
„Auf dem Weg ins Jahr 2000 werden vor allem die Führungskräfte Erfolg haben, die mit ihren
Mitarbeitern so sprechen, daß sie Bestleistungen erbringen: Vorgesetzte werden zu
Kommunikationsmanagern.“ (10)
„Geschickt geführte Mitarbeitergespräche“ [Halbfett-Druck durch mich, W.B.] (10) wirken
sich für Mitarbeiter positiv aus, indem sie mehr Befriedigung und verbesserte Lebensqualität im
betrieblichen Alltag schaffen, dadurch
höhere Leistungsbereitschaft, dadurch
höheren Profit für das Unternehmen.
Ganz offensichtlich wird hier mit doppelter Buchführung gearbeitet: ein interaktioneller
Gewinn für die Mitarbeitenden, ein materieller Gewinn für die Führungskraft. Ein bissel
7
bösartiger formuliert: Was Mozart für die Milchkuh, ist das neue `kommunikative outfit´ der
Führungskraft für die Mitarbeitenden.3
Die Annahme, man könne quasi monologisch ein Gespräch „führen“ durch individuell
beherrschte Techniken auf der Basis eines einseitigen strategischen Kalküls, wird zwar verbal
inzwischen in `entwickelten´ Gesprächsratgebern aufgegeben, en Detail ist dann aber die
traditionelle rhetorische Prägung doch noch präsent (aus dem o.g. Ratgeber von S. Saul):
„Wir empfehlen Ihnen: Überlassen Sie die Wirkung Ihres Kommunikationsverhaltens nicht dem
Zufall, sondern verhalten Sie sich möglichst so, daß bei Ihrem Mitarbeiter das Bild von Ihnen
entsteht, das er nach Ihrer Meinung von Ihnen haben soll“ (106).
„Setzen Sie solche Techniken der Gesprächsführung ein, die von Ihrem Mitarbeiter als
mitarbeiterorientiert erlebt werden“ [Halbfett: W.B.] (21)
„Kleiden Sie die Inhalte Ihrer sachdienlichen und zielgerichteten Beiträge in mitarbeiterorientierte Formulierungen“ (21)
Um so wichtiger ist eine starke Präsenz einer gesprächslinguistisch fundierten
Gesprächsschulung, die auch in ihren Empfehlungen offen die beiderseitige Verantwortung
zugrundelegt.
2.2 Primat der Diagnostik und Selbstreflexion
Wer aus der Gesprächsforschung kommend Gesprächsschulungen anbietet, setzt vorrangig
auf Diagnose-Schulung und Selbstreflexion, nicht auf Rezeptologie.
Für Gesprächsschulungen auf ihrer Basis bietet die Gesprächsforschung erhebliche
Ressourcen an:
eine durchgängige Sensibilisierung für Gesprächsoberflächen, für sprachliche Akte im
Gesprächsprozess und deren lokale Funktionen
Hintergrundserklärungen und Differenzierungen für Gesprächsauffälligkeiten, für
Gesprächsprobleme und ihre Auswirkungen
und sie bietet
Wissens-Angebote: Musterwissen über Gesprächstypen, die in relativ festen AufgabenRollen-Konstellationen etabliert worden sind: etwa Schlichtungsgespräche, aber auch
Kritikgespräche.
Die Gesprächsforschung bietet, gerade wegen der Prozessgebundenheit, wegen der Vielzahl
von Gesprächsaufgaben und der sozialen Differenziertheit der Personenkonstellationen
vergleichsweise wenig generalisierte Gesprächsverhaltens-Rezepte an.
Die Gesprächslinguistik kann auch deshalb wenig investieren in generell formulierte
Rezepte für die Fortbildungsteilnehmenden, weil ihre Nutzung voraussetzen würde, die
jeweilige Gesprächssituation zu analysieren und eine klare Indikation für das eine oder eben
das andere Rezept zu erarbeiten. Daher setzt sie lieber gleich eine Etage höher an und schult
die Diagnosefähigkeit bei den Teilnehmenden selber.
Konzepte auf der Basis der Gesprächsforschung schulen vorrangig die Selbstwahrnehmung
und die Gesprächsdiagnostik und halten die Notwendigkeit des Einzelnen aufrecht, sich selber
- kontextsensitiv - für konkretes Gesprächsverhalten zu entscheiden. Sie stellen für manche
Fortbildungswillige damit zunächst eine Zu-Mutung dar.
2.3 Differenzierung vorschneller Normansprüche
3
Nichts gegen Mozart!
8
Auf der Basis gesprächslinguistischer Befunde lassen sich in Gesprächsschulungen
vorschnelle Normsetzungen der Fortbildungsteilnehmenden differenzieren:
Eine solche vorschnelle Normsetzung wäre das klassische (z.B. innerschulische) Lernziel
„einander aussprechen lassen“; hier bietet die Gesprächslinguistik vorsorglich eine NormenDifferenzierung hinsichtlich unterschiedlicher Funktionen von Unterbrechungen und
entsprechend
unterschiedlicher
kommunikativer
Bewertungen
und
interaktiver
Bearbeitungen: Ich skizziere – auf der imaginären Linie zwischen `Opfer´ und
`Initiatorin/Initiator´ von Unterbrechungen - folgende Typen:
-
-
erlittene Unterbrechungen (stark abhängigkeitsgeprägt, z.B. Gerichtsverhandlungen)
geduldete Unterbrechungen (je nach Involviertheit, nach Betroffenheit, Affekt usw.)
legitimierbare Unterbrechungen (z.B. als Expansionsverhinderer bei unakzeptablen
Witzerzählungen)
funktional kluge Unterbrechungen (z.B. Unterbrechungen von Anliegensformulierungen
bei der Weiterleitung in Telefonzentralen von Institutionen, aber auch Unterbrechungen
zur Richtigstellung oder – z.B. bei der Terminvereinbarung vor einem Kritikgespräch –
als Schutzmaßnahme) oder bei Moderator-Eingriffen zum Schutz der Redezeit der
Teilnehmenden)
(implizit) erbetene Unterbrechungen, die z.B. - wie in dem weiter oben angesprochenen
Sprechstundenausschnitt - der sprechenden Person und dem andern Menschen die
Ausarbeitung eines Vorwurf ersparen.
Es geht also nicht nur um (tolerierte) Abweichungen, sondern um die Differenzierung der
Geltungsbedingungen der Norm selber.
Und daher ginge es z.B. im Deutschunterricht nicht darum, Soll-Vorschriften des Typs „Wir lassen einander
ausreden!“ auf die Wand zu hängen und allenfalls mit den Schülern zu beobachten und zu analysieren, unter
welchen besonderen Bedingungen real existierende Gesprächs-Teilnehmende „schon mal abweichen“, sondern
um mehr: um die Einsicht, dass die Norm „aussprechen lassen“ ihrerseits nur auf der Basis einer fairen
Verteilung des „Einflussmittels Sprechen“ gilt, also unter Bezug auf eine ethische Selbstverpflichtung; wer das
„Dran-Sein“ missbraucht, verliert den Schutz dieser Norm.
Interessant ist freilich, dass diese Norm im Bewusstsein sehr stark ist, so dass z.B. eine
Schulleiterin
in
der
Terminvereinbarung
zu
einem
Kritikgespräch
ihre
Unterbrechungshandlung metakommunikativ anspricht, offenbar um diese Unterbrechung
nicht als Regel-Verletzung, sondern als Regel-Differenzierung zu präsentieren:
„Herr X, ich unterbreche Sie hier, weil ich nicht möchte, dass wir jetzt bereits in dieses Gespräch
hineinrutschen; ich brauche dazu mehr Ruhe, und ich vermute, Sie auch“
3
Ein Schulungs-Transkript als Beispiel
Sensibilisierung für Gesprächs-Verläufe und Diagnose der Gesprächsbedingungen von
Institution, Rollenkonstellation, Gesprächszwecken und individuellen Gesprächseinstellungen
ist der spezifisch gesprächslinguistische Beitrag in der Gesprächsschulung.
Gesprächstranskripte sind ihr klassisches Material dazu.
Daher soll an einem der in Fortbildungen von mir verwendeten Transkripte die
Arbeitsweise wenigstens angedeutet werden.
3.1 Zum Status und Zweck von Rollenspiel-Analysen
9
Die den Transkripten zugrunde liegenden Gesprächsaufzeichnungen sind Rollenspiele. Aus
den – von den Spielenden freigegebenen – Rollenspielaufzeichnungen der „Trio-Übungen“
entsteht ein Fundus nutzbarer Gesprächsbeispiele, die teilweise auch als Tonband benutzt
werden dürfen.
In der Gesprächslinguistik wurden Rollenspiele lange Zeit als nicht-natürliche bzw. nichtechte Gespräche abgelehnt; ich denke aufgrund einer irrtümlichen Definition von „natürlich“
und „echt“.
In Fortbildungen sind Rollenspiele nach meiner Erfahrung diagnostisch starke
Instrumente. Ich handhabe sie unter doppelt verschärften Bedingungen: erstens wird die
Lehrerrolle ausdrücklich nicht festgelegt, und zweitens gebe ich der schulleitungsspielenden
Person nur minimale Vorbereitungszeit. Diese Spielbedingungen haben zwei spezifische – für
meine Fortbildungskonzeption hilfreiche – Effekte:
-
-
Die Schulleitung-Spielenden können sich in ihrem Gesprächsverhalten nicht auf eine
vorab bekannte Rollengestaltung der Lehrer-Spielenden einstellen; sie müssen
`innengeleitet´ von sich her entscheiden, was sie sagen/tun (und müssen sich dann
überraschen lassen von der improvisierten Rollenfüllung der Lehrer-Spielenden). Eine
vorrangig strategische Orientierung ihres Spielverhaltens liefe daher ins Leere; diese
Erfahrung mit einer vorrangig von der eigenen Sicht auf Rolle, Ansprüche, Deutlichkeit
usw. gesteuerten Gesprächsführung finde ich wichtig, insofern beginnt in diesen Spielen
auch zugleich ein Trainings-Prozess.
Angesichts der fast völlig fehlenden Vorbereitungszeit sind diese SchulleiterrollenSpielenden hoffnungslos (oder hoffnungsvoll) angewiesen auf ihre grundständigen
Gesprächsführungs-Ressourcen, sie zeigen unter dieser Verschärfung ihre spontan zur
Verfügung stehende Gangart; und ihr Wunsch, vor dem Plenum ein besonders gutes
Exemplar von Kritikgespräch abzuliefern, führt dazu, dass sie ihre Normen von „gutem
Kritikgesprächsverhalten“ wie unter dem Vergrößerungsglas zeigen.
Solange der Zweck ein diagnostischer ist, nämlich in die für die Schulleiter-Spielenden (nur
die stehen im Fokus) naheliegenden strukturellen Fallen dieses Gesprächstyps zu treten, ist
die `Nicht-Natürlichkeit´ solcher Rollenspiele kein Verlust, sondern eher ein Gewinn. `Echt´
sind solche Gesprächs-Rollenspiele ohnehin, sie entwickeln eine sehr reale Dynamik. Als
Rahmen für die Einübung von `gutem´ Gesprächsverhalten – wenn man denn solches Einüben
überhaupt für sinnvoll und machbar hält – wären sie weniger geeignet.
Natürlich brauchen die Schulleiterspielenden bei der öffentlichen Auswertung
spezifischen Schutz (dazu weiter unten).
3.2 Zum Zweck von Transkriptanalysen in Gesprächsschulungen
Kritikgesprächs-Rollenspiele früherer Schulungen bieten für nachfolgende Schulungen
diagnostisches Material mit dem gerade für die Startphase einer Schulung wichtigen Schutz
`geborgter Praxis´, an der die Teilnehmenden ihre beruflich vertraute Bewertungs-Haltung
umstellen lernen müssen zugunsten einer re-konstruktiven Analyse-Haltung.
Ein Blick auf einen Auszug aus einem Transkript eines Kritikgespräch-Rollenspiels:
zu den Rollenspielvorgaben:
-
Es war die Entscheidung des Schulleiter-Spielers, die Lehrerin im Lehrerzimmer anzusprechen, wo sie - nach dem
Klingelzeichen - noch mit Unterrichtsvorbereitungen sitzt.
Legende:
-
auffällige Betonung wird durch Großbuchstaben der entsprechenden Silbe markiert, also „GROSSartig“
simultanes Sprechen wird durch Unterstreichen in beiden Spalten markiert
Abbruch im Wort (z.B. vor Selbstkorrektur) wird durch schrägen Balken ohne Leerzeichen markiert, also „Ich werde bald anf/
anfangen“
Wörter in runden Klammern „Sie war (gestern) hier“ = vermuteter Wortlaut
10
-
Zahlen in runden Klammern „(3)“ = Pause/Schweigephase in Sekunden: (0) bedeutet eine Pause unter 1 Sekunde, (3) eine
Pause/Schweigephase zwischen 2 und 3 Sekunden
Angaben zu nicht-verbalen Auffälligkeiten = kursiv und eckige Klammern „[lacht]“
Schulleiter („Herr A“):
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
Lehrerin („Frau B“):
Tag Frau B kann ich sie mal nen
Augenblick sprechen?
Ja Tag Herr A worum gehts denn?
Sie wissen wie spät es jetzt ist?
Moment Sekunde ja 20 vor 10
Was machen sie denn da gerade?
Ja wissen sie ich habe da ein eh
Projekt eh in Angriff genommen eh
in meiner 6. Klasse und ich bin
grade noch dabei zu überlegen wie
ich das Ganze angehe das ist also
ganz wichtig ehm weil ich die
Schüler natürlich dazu motivieren
möchte und eh das ist also nich so
ganz einfach das is auch etwas
was ich zum aller ersten Mal ausprobiere und das bedarf natürlich
also großer Vorarbeit aber ich
finde das ganz interessant und eh
ja da überlege ich grade noch
daran eh weil es wichtig ich
möchte das gleich anfangen und eh
ich muss das also für mich noch abklären vorher
Womit wollten sie anfangen? (2)
Mit dem Projekt
In der Klasse?
In der Klasse ja (3)
Aber sie sind ja eigentlich schon
ziemlich spät dran
sie wissen das
Das gibt eigentlich mir Anlass eh
darüber nachzudenken wie wir sie
mal doch besser mit ihren Überlegungen ins Kollegium einbeziehen
können es is ja kein Einzelfall
also es is an mich herangetragen
worden dass sie doch häufig zu
spät in ihre Klasse kommen und da
herrscht Unruhe Kollegen beschweren sich wär es da nicht ne Möglichkeit dass wir mal zusammen/ uns
zusammensetzen und darüber
nachdenken wie sie halt doch da
mehr Gelegenheit bekommen
(mit den andern zu sprechen)
Ja och mein Gott Herr A sie wissen doch also ich mein es gibt
die Zeiten sind immer so kurz wissen sie diese Pausen man alleine
schon der Weg den ich habe sie
wissen doch ich komme von dem
Nebentrakt bis ich in in im
Lehrerzimmer bin das ist also ehm
man kommt ja auch zu gar keinem
Gespräch mal mit nem Kollegen und
eh über die Kinder zum Beispiel zu
reden das ist doch auch sehr
wichtig ich muss mich doch auch
austauschen ich als Klassenlehrerin
zum Beispiel von meiner Klasse ich
hab ja kaum Gelegenheit mit den
Kollegen die noch in der Klasse
unterrichten und da gibt es
durchaus auch schon mal Probleme
eh mich auszutauschen
Da möcht ich mal gerne wissen wer
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ihnen das dann gesagt hat: wer hat
sich beschwert ich käme immer zu
spät in den Unterricht? Das würde
mich doch jetzt mal interessieren
da möcht ich gerne [pocht mit dem
Finger auf den Tisch] Namen hören
Äh das darf ich nich sagen das
wissen sie das is in diesem Falle is
mir das allgemein gesagt worden;
aber hat das etwas mit dem Grundproblem zu tun? Sie wissen dass
wir jetzt unter Zeitdruck stehen
ja ich möchte also das jetzt nicht
ausdiskutieren
Aber wissen sie Herr A ich will
ihnen mal etwas
ich will ihnen mal was sagen ich
könnte ihnen reihenweise Kollegen
ich könnte ihnen reihenweise Kollegen nennen die auch mal später in
den Unterricht gehen wenn ich
nur an sie denke gestern noch
erinnern sie sich traf ich sie auf
dem Flur; ich GING pünktlich
in den Unterricht SIE haben
aber noch die Gelegenheit beim
Schopf ergriffen mit einem Kollegen
was zu bereden hätten sie das
nicht auf nen andern Zeitpunkt
verschieben können? Nein sie sind
auch zu spät in den Unterricht gegangen[...]
Ich nutze dieses Kritikgesprächs-Transkript im Rahmen der ersten Arbeitseinheit von
Schulungen zum Kritikgespräch. Ich benutze dabei – ohne darauf methodisch explizit
einzugehen - das Instrumentarium und die Analyseroutinen der Gesprächsanalyse und helfe
den Teilnehmenden ihrerseits, solche Instrumente zu benutzen und dabei gesprächssensitiver
zu werden. Selbstreflexionsfähigkeit ist in dem dauer-komplexen Berufsalltag von
Schulleitungsmitgliedern eine notwendige (nicht hinreichende) Qualifikation. Bereits das
Standardangebot der Gesprächslinguistik hält also Qualifizierungsmöglichkeiten bereit.
Ich markiere einige Gesprächsstellen, die auch den Teilnehmenden auffallen; mein Part
besteht bei der Transkriptanalyse eher darin, dass ich helfe, die im Schul-Milieu typische
bewertende Einstellung der Teilnehmenden auf eine rekonstruktive umzustellen; denn
Kunstfehler dieses Schulleiter-Spielers zu finden, ist nicht schwierig und zudem nicht sehr
interessant; schwieriger fällt es den Teilnehmenden und interessanter ist es, nachvollziehbar
zu machen, warum dieser Spieler – der ein möglichst gutes Gespräch vorzeigen wollte –
solche unübersehbaren Fehler produziert, also den tieferen interaktionellen Sinn dieser
`Fehler´ zu rekonstruieren:
-
-
-
Warum wählt der Schulleiter für die Eröffnung des Kritikgesprächs die Situation „in
flagranti“, obwohl er damit seinerseits ihr Zuspätkommen vergrößert (und dies von ihr
an einer späteren Stelle des Gesprächs berechtigterweise vorgehalten bekommt)?
Warum meint er sie schwächen zu müssen, wo er doch in einer doppelt starken Position
ihr gegenüber ist: als Schulleiter und als Nicht-Fehlhandelnder? Worin sieht er ihre
interaktionelle Stärke, die er für sich offenbar als zu bedrohlich definiert?
Der Schulleiter startet – dies ist typisch für die Eröffnungsphase von Kritikgesprächen
(bzw. für Terminvereinbarungen für spätere Kritikgespräche) – in einer `Bittsteller´Rolle, solange die Lehrerin den Zweck und den Gegenstand des Gesprächs noch nicht
kennt: „kann“, „mal“, „nen Augenblick“. Heikel ist aber das (unnötige) Ausmaß der
Bagatellisierung dieses eigenen Anliegens. Will er diese Eröffnung besonders behutsam
für die Lehrerin - oder schonend für ihn selber - gestalten angesichts der
erwarteten/befürchteten Konfliktschärfe des Gesprächskerns (= „Schiebewurst“)?
Statt das Problem direkt anzusprechen, schleicht er aus zwei Richtungen an: die
Vergewisserungs-`Frage´ (Zeile 4 und 25) und die pseudointeressierte Frage nach dem,
12
was sie gerade tut (Zeile 6). Sie soll – so vermute ich - selber ihr Fehlverhalten
entdecken und ansprechen; wenn man so will: die Fehlübertragung des - schon im
Unterricht gegenüber Schülern strittigen - Verfahrens `des fragend-entwickelnden
Unterrichtsstils´ auf die Erwachsenen-Erwachsenen-Beziehung.
Es gibt viele weitere Verhaltensweisen des Schulleiters, die - normativ gesehen - Kunstfehler sind: z.B.
dass er – als sie sich nicht gleich seiner indirekten Kritik öffnet - Fußtruppen heranzieht (Z. 56 ff),
obwohl er ihr Fehlverhalten hinreichend aus eigener Anschauung kennt und daher mit minimaler
Öffentlichkeit (= unter vier Augen) arbeiten könnte und auch sollte. Dieser Kunstfehler hat zwei heikle
Folgen: Zum einen erfolgt die Imageverletzung gegenüber der Lehrerin - statt unter vier Augen - in der
(gesamten) kollegialen Öffentlichkeit. Zum andern zeigt sich der Schulleiter als jemand, der nicht in
eigener Rollenzuständigkeit als Schul-Leiter ein Kritikgespräch mit der Lehrerin führt, sondern scheinbar
nur als `Moderator´ der interkollegialen Kritik handelt; dadurch eröffnet er mit hoher Wahrscheinlichkeit
einen `Krieg´ im Kollegium (und zugleich diskreditiert er sich damit als ein Schulleiter, der nicht offen
mit eigener Kritik umgeht, sondern die eigene Kritik `im Schilde führt´).
Wie komme ich dazu, diese Verhaltensweisen als Kunstfehler bzw. als Gesprächsprobleme zu
definieren?
-
Was lasse ich mir auffallen, und woran?
In welcher Dimension definiere ich ein Problem:
- als das der Gesprächs-Technik? fast nie
- als ein nur-/vorrangig-individuelles Problem? manchmal auch
- als das des Nicht-richtig-in-der-Rolle-Sitzens? Fast immer
- als das der institutionellen Strukturen? immer auch.
Natürlich entsteht in mir ein Fundus an typischen und daher erwartbaren Problemen solcher
beruflichen Gespräche. Ich sehe sie freilich als strukturell nahegelegt an.
Insofern ein Blick auf mich und meine individuellen Vorgaben:
4
Schulungsvorgaben eines Gesprächsforschers
Gesprächslinguistische Ressourcen sind für mein Konzept von Gesprächsschulung
notwendige, aber nicht auch schon hinreichende Basis für gute Arbeit. Damit eine
angemessene Bearbeitungstiefe möglich wird, brauche ich institutionsdiagnostische
Kenntnisse; und die analytischen Ressourcen, wie sie beide Disziplinen zur Verfügung
stellen, müssen im Beratungsmodus zur Verfügung gestellt werden.
Einige Konturierungen eines solchen Verständnisses von Gesprächsschulung:
4.1 Vom Hirn zum Maul
In meiner eigenen, vorbereitenden Analyse eines solchen Rollenspiel-Transkripts bewerte ich
einige der Verhaltensweisen dieses Schulleiter-Spielers klar als Kunstfehler.
Das ist für mich aber zunächst nicht die relevante Analyseebene; sondern - gerade weil
die Mängelhaftigkeit z.B. der Gesprächs-Eröffnung nach Unterrichtsbeginn so offensichtlich
ist - relevant ist die Hintergrunds- bzw. Untergrunds-Erhellung: Welche Sorge um sich hat
dieser Schulleiter, dass er die Lehrerin situationell geschwächt ansprechen will?
Solche Sorgen suche ich nicht vorrangig in unterstellten persönlichen Unsicherheiten
der jeweiligen Schulleitungs-Spielenden, sondern in Rollenunsicherheiten innerhalb einer
institutionellen Struktur, die möglicherweise unsichere Rollen vorgibt. Dass der Umgang mit
solchen Rollenunsicherheiten durch jeweilige persönliche Unsicherheitsbereitschaft zusätzlich
beeinflusst sind, ist klar (und für die Plenumsarbeit nicht im Fokus - die individuelle Spielart
13
solcher struktureller Unsicherheiten wäre im Rahmen meiner Vorauswertung mit der
schulleitungsspielenden Person unter vier (bzw. sechs) Augen oder im Rahmen von
Einzelsupervision natürlich ein zusätzliches Thema).
Ich nehme solche Gesprächsverhaltensauffälligkeiten also als Indikatoren für mentale
Probleme in der Sicht der eigenen Rolle innerhalb einer spezifischen Institution, hier:
Schulleiterin/Schulleiter einer Schule in Deutschland, NRW, 2002; konkret: der
schulleiterspielende Schulleiter kam aus einer Grundschule (da auch Schulform-Unterschiede
relevant sind).
In
dieser
dreifachen
Verschiebung
von
sichtbaren
individuellen
Gesprächsverhaltensweisen zu mentalen Rollenunsicherheiten in einer spezifischen
Institution verlasse ich natürlich etappenweise den `geschützten Sektor´ der
Gesprächsforschung. Ich nutze die methodischen Ressourcen der Gesprächsforschung als
Entdeckungsverfahren, die Arbeit geht dann aber weiter als Klärung der Rollensicht der
Teilnehmenden und ihres institutionellen Ortes. Dabei entwickele ich – bezogen auf das
angesprochene Transkriptbeispiel - folgende Hypothesen:
-
-
-
-
Dieser Schulleiter sieht sich (noch) nicht in erster Rollenidentität als Schulleiter,
sondern als Lehrer, der gelegentlich - auf Widerruf (durch das Kollegium) - `die
Schulleitungsfahne trägt´. Angesichts der geringen Stundenentlastung als Schulleiter
einer Grundschule und einer/eines (in vielen kleinen Grundschulen) fehlenden
Stellvertreterin/Stellvertreters, mit der/dem er sich gemeinsam als eigene Instanz
„Schulleitung“ etablieren könnte, ist dieser Rollenirrtum naheliegend.
Er hat eine doppelte Sorge vor einem in diesem Kritikgespräch entstehenden Konflikt
mit der Lehrerin:
- dass sie ihm ihre kollegiale Nähe entzieht und
- dass er - ließe sie sich nicht freiwillig auf seine kritische Sicht ein - letztlich keine
Einflussmittel hätte, sie auf genauen Umgang mit der Lernzeit ihrer
Schülerinnen/Schüler zu verpflichten.
Er sieht - zumal als innerhalb dieser Schule Aufgestiegener - seine Arbeitsbeziehung
noch immer als „Kollegial“-Beziehung; Schulleiterinnen/Schulleiter sprechen fast alle
von den Lehrerinnen bzw. Lehrern ihres Kollegiums als „ihren Kolleginnen und
Kollegen“, nicht von „Lehrerinnen/Lehrern ihrer Schule“ („Kolleginnen/Kollegen“
wären Schulleitungsmitglieder anderer Schulen).
Er hat das Schulleiter-Sein - auch das Kritikgespräch-Führen - in der vorübergehenden
Rolle als stellvertretender Schulleiter `gelernt´: als Stellvertreter hat er aber (in den
meisten Schultypen) gerade nicht die Rollenausstattung, die für ein Kritikgespräch
notwendig ist; er hat also `kollegial kritisieren´ geübt, nicht `ein Kritikgespräch führen´.
Diese Hintergrunds-Einordnung legt nicht das Verhalten der einzelnen Person als von „der
Institution“ kausalistisch fremdbestimmt fest, sondern legt die naheliegenden Orientierungen
offen.
Eine solche Arbeitsweise verlangt von der Gesprächsforschung:
-
dass sie den Blick nicht nur auf das individuelle kontextenthobene Transkript richtet,
sondern auch auf mehrere im gleichen Kontext verankerte
und
dass sie den Blick nicht nur auf das „wie“ und das jeweilige „wozu“, sondern auch auf
das „warum“ richtet, freilich nicht ein „warum“ der Motivunterstellungen, sondern ein
„warum?“, das sich um Einflussfaktoren kümmert, die den Gesprächsbeteiligten selber
oft nicht deutlich sind.
Es geht dabei um eine Unterschichtung der von den Teilnehmenden selbst wahrgenommenen als
`individuell´ erscheinenden Gründe mit strukturellen, institutionellen. In der Auswertung solcher
Rollenspiele äußern die Schulleiter-Spielenden, sie hätten so gespielt, weil sie vermeiden wollten, dass
sie der/dem andern (= dem Lehrerin/Lehrer) weh tun. Das ist auf den ersten Blick rücksichtsvoll. Wenn
14
man einmal zurück-sieht auf sie selber, so entdecken sie, dass sie auch sich schützen wollen vor
Distanzierungsdrohungen solcher Lehrerinnen/Lehrer. Gegenüber solchen Motiven, die zu verstehen
wichtig sind, eröffnet die Frage nach dem `warum´ aber auch noch den wichtigen Zugang zu nicht-nurindividuellen Handlungsgründen: den Blick auf die Rollenstruktur, die synchron eine undeutliche
Ambivalenz zwischen Leiten und Kollegin/Kollege-Sein bietet und diachron durch einen doppelten
Rollenwechsel von Stellvertreterin/Stellvertreter-Werden und dann nochmals Schulleiterin/SchulleiterWerden zustande kommt. Gerade diese Hintergrundsbeleuchtung der vermeintlich individuellen
`Macken´ hinsichtlich ihrer strukturellen Bedingungen hilft den Teilnehmenden, auch die eigenen
Problemanteile mit weniger Scheu zu sehen und den Blick frei zu kriegen für einen professionellen
Umgang mit der eigenen Rolle.
4.2 Ent-Schämen
Das Anschleichen als typische Gangart von Schulleitungsmitgliedern in Kritikgesprächen
wird auf diese Weise nachvollziehbar, ohne dass es aufhört, als Kunstfehler zu gelten. Für die
Teilnehmenden insgesamt - vor allem aber für die Rollenspielenden, deren Produkt im
Plenum ausgewertet wird - bietet dieses rekonstruktive und dabei rollen- und
institutionsdiagnostische Vorgehen eine Ent-Schämung: die vorgezeigten `fehler-haltigen´
Rollenspielaufnahmen werden kostbarer Reflexions- und Klärungsanlass, es dominiert nicht
mehr der Aspekt des peinlichen Versagens.
Bei einer solchen Vorgehensweise lassen sich die Teilnehmenden auf eine unüblich
große Bearbeitungstiefe ihrer beruflichen Gesprächsprobleme ein.
Die Gesprächslinguistik kommt einer solchen Arbeitsweise entgegen: in ihr werden
kommunikative Störungen nicht als psychopathologische Ausnahmen exkommuniziert,
sondern als eine Standard-Dimension von Gesprächsarbeit gesehen (und zugleich zeigt sie
auf, wie auch in extrem gestörten Gesprächsbeziehungen immer noch ein Mindestmaß an
Kooperativität vorliegen muss, sonst könnten `Lieblings-Feinde´ im Gespräch einander ihre
Feindschaft nicht mehr zeigen).
Eine in dieser Weise erweiterte Gesprächsforschung bietet also gerade für Schulungen
das Aufdecken möglicher Mängel und eine rekonstruktive Untersuchungshaltung, die solche
Mängel konstruktiv zu nutzen erlaubt, weil ihre Hintergründe verständlicher werden.
Dass ich selber - offen - solche Kritikgesprächseröffnungen als Anschleichen und damit als Mangel definiere
und über mentale Rollenvergewisserung zu ändern anbiete, kann ich nicht als „reiner“ Gesprächsforscher; ich
nutze diagnostische und Bewertungs-Möglichkeiten, die ich durch relativ umfangreiche Beratungsausbildung
und -erfahrung und viel an Feld-Kontakt erst erwerben musste. Gesprächsforschende brauchen also
Feldkompetenz, zumindest Felderschließungskompetenz.
4.3 „Sie als Experte müssen´s doch wissen“
In der Sicht der Teilnehmenden muss ich als doppelter Experte Alternativen empfehlen
können: Ich bin Fortbildungs-Experte und ich bin Gesprächsforscher. Bietet die
Gesprächsforschung oder biete allenfalls ich als ein spezifischer Gesprächsforscher normative
Empfehlungen?
Dabei geht es nicht mehr nur um klassische textbezogene Normen wie z.B.
Verständlichkeit - die kann ich natürlich mit linguistischen Kategorien operationalisieren
helfen (etwa als Begrenzung der syntaktischen Einbettungstiefe und/oder als maximale
Reduktion von Mehrdeutigkeit und/oder als adressaten- und themenabhängige Balance aus
Explizitheit und Implizitheit) -, sondern um dialogbezogene Normen.
Ich mache einen kursorischen Durchgang durch verschiedene Dimensionen möglicher
Gesprächsführungs-Empfehlungen:
15
4.3.1 gesprächstechnische Dimension
Als Beispiel die Wahl der Sitzordnung:
Wenn z.B. in einem Schlichtungsgespräch-Rollenspiel ein teilnehmender Schulleiter die
Sitzordnung des von ihm geleiteten Schlichtungsgesprächs festlegt, so wählt er - `zuverlässig´
- in aller Selbstverständlichkeit eine Sitzordnung, bei der – an einem rechteckigen Tisch - er
selber als Schulleiter sich zwischen die beiden streitenden Parteien (z.B. ein Lehrer und eine
Schülermutter) setzt, die dadurch einander gegenüber sitzen. Das ist raumsymbolisch
naheliegend (weil es der Mittler-Rolle entspricht), aber gesprächsdynamisch fatal: zum einen
heizen sich die Kontrahenten in dieser vis-à-vis-Sitzordnung wechselseitig an, zum andern hat
der Schulleiter – gerade in solchen `heißen´ Phasen – die beiden anderen nicht im
Blickkontakt mit ihm und verliert dadurch eines seiner Steuerungsmittel. Diese – in Ratgebern
immer wieder (nur) angeführte – aggressionssteigernde Wirkung der frontalen Sitzordnung
lässt sich für die Teilnehmenden gesprächslinguistisch erläutern: in der vis-à-vis-Sitzordnung
ist das unmarkierte Blickverhalten das Geradeaus- und damit den anderen Anblicken. Wer –
z.B. während des eigenen Formulierens – aus dem Blickkontakt gehen will, muss daher aus
dieser Standard-Blickrichtung herausgehen, zur Seite oder nach oben/unten blicken. In der
vorerst gespannten bzw. `feindlichen´ Beziehung der beiden Parteien zueinander gerät dieses
markierte Blickverhalten nun aber unter die Interpretationskategorie `Ausweichen´ und wird
damit verdächtig als Nachgeben, als Niederlageindikator. Um diese Interpretation zu
verhindern, bleiben die beiden – entgegen ihrem ev. Entlastungs-Wunsch - im Anblicken und
verfallen dann – auch in ihrem Ärger über diese belastende Situation – leicht in das uns
äffisch vertraute Drohstarren. Diese Dynamik ist für Schlichtungsgespräche natürlich
kontraindiziert.
Empfehlung wäre daher, die beiden Parteien dem das Schlichtungsgespräch leitenden
Schulleiter gegenüber in Mercedes-Stern-Weise zu platzieren (das ist leichter bei einem
runden oder sechseckigen Tisch, möglich aber auch bei einem viereckigen).
Solche Empfehlungen – die unmittelbare Anwendungen gesprächslinguistischer Kenntnisse
sind - gebe ich natürlich weiter, es sind nicht strategische Mittel einer verdeckten
Vorteilsnahme, sondern sie helfen den Beteiligten unnötige Verschärfungen zu ersparen.
Gegenbeispiele wären kommunikationstechnische Empfehlungen, wie sie in Ratgebern öfters
zu finden sind:
-
-
-
die andere Person zu irritieren, indem man konstant auf einen Punkt zwischen ihren
Augen blickt (= im Bemühen, mein Blickverhalten als Anblicken oder Nichtanblicken
zu identifizieren, lenkt sich die andere Person selber ab)
maximales Nicht-Anblicken in der Hörerrolle (gesprächslinguistisch erläutert: Entzug
von Kooperativität als Zeichen kommunikativer Abwertung der anderen Person: sie ist
es nicht wert, dass ich ihr mein Gesicht als feedback-Geber zur Verfügung stelle)
maximales Anblicken in der Sprecherrolle (gesprächslinguistisch erläutert: ein Zeichen
argumentativer Souveränität: Ich brauche mich während meines Turns nicht durch
Blickabwendung vor der kognitiv überlastenden Verarbeitung des feedback-Verhaltens
der anderen Person zu schützen).
Dies wären Macht-Strategien, die die andere Person in ihren Einflussmöglichkeiten
vorsätzlich schwächen sollen; ich biete solche Strategien ausdrücklich nicht an.
4.3.2 Formulierungs-Dimension
Hier ist die Gesprächsanalyse zunächst einmal in ihrem Element; sie hilft den
Fortbildungsteilnehmenden, ihre eigenen sprachlichen Realisierungsversuche auf Konsistenz,
auf Rollen-Deutlichkeit, auf Zugewandtheit usw. hin zu diagnostizieren.
16
Einige Passagen aus einem zweiten Kritikgesprächs-Rollenspiel:
Eröffnung des Kritikgesprächs:
[002] Ja Herr B. is schön daß Sie noch eh Zeit haben nach der fünften Stunde (1) ich hatte Sie ja heute
morgen gebeten (1) mal noch bei mir vorbeizukommen denn (0) ich hab da (1) so was im Magen liegen
und ich mußn (0) Problembereich ma ansprechen
Auffällig ist die Formulierung „is schön, dass ...“; sie entspräche Dankbarkeit/Freude über ein
Entgegenkommen des Lehrers. Diese Formulierung und auch die Formulierung „ich hatte Sie
... gebeten“ entsprächen einem freiwilligen Angebot des Lehrers, nicht aber entsprechen sie
der Verpflichtung zur Teilnahme an einem Kritikgespräch.
Mit dem „mal noch bei mir vorbeizukommen“ bietet der Schulleiter eine
bagatellisierende Formulierung für den Status des Kritikgesprächs an: „mal“ betont die relativ
geringe Wichtigkeit, ebenso „vorbeikommen“ (gewissermaßen „auf einen Sprung
reinschauen“). Möchte der Schulleiter den Lehrer beruhigen (oder möchte er sich dadurch vor
einem befürchteten Affekt des Lehrers schützen)?
„Ich hab da so was im Magen liegen“ verdeutlicht noch einmal gut die Startsituation:
Zunächst habe ich als Schulleiter das interaktionelle Problem, wie ich Lehrer dazu bringe, das
Sach-Problem als seines zu übernehmen.
Interessant auch das Modalverb „ich muss...“ – distanziert er sich von seiner eigenen
Schulleiterrolle (um die Haftung für diesen Image-Angriff, den jedes Kritikgespräch – und
schon jedes Kritisieren – bedeutet, auf seine Rolle zu schieben)?
Kritik ansprechen:
In diesem Rollenspiel nähert sich der Schulleiter dem Lehrer in der Verkleidung als Kollege
(und wird von dem Lehrer später selber `gestellt´ mit der Anfrage, in welcher Rolle er diese
Kritik äußert). Eine der zahlreichen Versuche, die Kritik risikolos `an den Mann zu bringen´:
[080] Eh ich bin mir nich so ganz sicher ob das (0) ne glückliche Lösung is dass Sie das so (0) ja ganz
spontan eben individuell mit der 7a gelöst haben ...
Ich denke: Der Schulleiter ist sich ganz sicher, dass es ein grober Verfahrensübergriff des Lehrers war,
Unterrichtszeit-Änderungen selber vorzunehmen, statt das Problem der Schulleitung gegenüber anzusprechen.
Formulieren des Änderungsanspruchs:
Der Schulleiter unternimmt an zwei verschiedenen Stellen des Gesprächs den Versuch, seinen
Änderungsanspruch gegenüber dem Lehrer zu formulieren:
[195] [Hüsteln] Grundsätzlich wär ich Ihnen eigentlich dankbar wenn Sie erkannt hätten da isn Problem
für meine Schüler und das müssten wir eigentlich auch vonner Schulseite aus lösen ...
Diese erste Änderungsanspruchsformulierung ist in ihrer vierfachen Selbstrücknahme
besonders auffällig:
„Grundsätzlich“ – also nicht unbedingt in jedem – und auch nicht unbedingt in diesem –
Einzelfall?
„Wär ich Ihnen dankbar, wenn“ – und wenn nicht: Ist das dann auch akzeptiert (nur
dass ich in diesem Fall halt keine Dankbarkeit des Schulleiters erhalte)?
„... erkannt hätten“ – reicht also meine Erkenntnis (und brauche ich also in diesem oder
ähnlichen Fällen keine Folgen zu ziehen)?
„das müssten wir eigentlich auch“ – also doch nicht unbedingt?
und
[215] ... ich wär Ihnen dankbar wenn Sie jetzt mal in den nächsten zwei Wochen versuchen könnten den
normalen Rhythmus den die andern auch alle haben einzuhalten.
Auch diese verhaltensbezogene Anspruchsformulierung ist zweifach zurückgenommen:
„ich wär Ihnen dankbar, wenn“ – erneut wählt der Schulleiter den Modus der Bitte (auf
deren Erfüllung er mit Dank zu reagieren hätte); vermutlich rechnet er damit, dass vor dem
17
Hintergrund seiner Rolle als Schulleiter die `Bitte´ vom Lehrer als Aufforderung/Verlangen
hochgerechnet wird.
„... versuchen könnten ...“ – reicht dem Schulleiter der gute Wille des Lehrers? Und was
täte er, wenn der Lehrer ihm nach ein paar Tagen mitteilt, `es habe halt nicht geklappt´?
Welche Sorgen diesen schulleiterspielenden Schulleiter zu solchen Formulierungen bewegen, kann freilich nur
mit institutionsdiagnostisch erweiterten gesprächslinguistischen Ressourcen verständlich gemacht werden.
Solche Diagnosen ergeben nicht von selber empfehlbare `bessere´ Formulierungen
Man kann die vorgefundene Anspruchsformulierung in eine Skala möglicher
alternativer Anspruchsformulierungen hineinphantasieren, z.B.
-
...
`Wir sollten mal wieder ein bisschen mehr darauf achten, pünktlicher in den Unterricht zu gehen´
„ich wär Ihnen dankbar wenn Sie jetzt mal in den nächsten zwei Wochen versuchen könnten den
normalen Rhythmus den die andern auch alle haben einzuhalten“
`Ich bitte Sie doch sehr, ...´
`Ich möchte, dass Sie ...´
`Ich verlange von Ihnen, dass Sie ...´
...
Für die Fortbildungsteilnehmenden geht es nun darum, einen Formulierungsmodus
(gewissermaßen eine gute Gesprächs-Temperatur) auszuprobieren, der zum Gesprächszweck,
zu ihrer Rolle, zu dieser spezifischen Personkonstellation und zu ihrer momentanen
interaktionellen Stärke/Schwäche passt. Gesprächslinguistische Ressourcen begleiten die
Teilnehmenden bei diesen Finde-Versuchen, indem sie sprachliche Indikatoren anbieten, die
einen geschärfteren Blick für mögliche andere Formulierungen geben. Für die Rolle der
Gesprächslinguistik heißt dies, dass sie nicht deskriptiv oder präskriptiv ist, sondern
diagnostisch relevant wird.
Ob z.B. der Anspruch den Status eines „Verlangens“ oder eine „Bitte“ hat, ist nicht
gesprächslinguistisch zu entscheiden, sondern hängt von der `Sache´ (= dem kritisierten
Verhalten, der Schulform, dem Bundesland usw.) ab. Dazu sind Feld-Kenntnisse notwendig.
Diese Feldkenntnisse können unterschiedlich realisiert werden:
durch Fortbildungs-Teams (in denen die verschiedenen Ressourcen kooperieren),
durch eigene Weiterbildung (= `zwei Personen in einer´)
und natürlich immer (auch)
durch Klärung mit den Teilnehmenden selber.
Und in welcher Gesprächseinstellung eine Schulleiterin bzw. ein Schulleiter die eigene
Schulleitungsrolle realisieren will, ist wiederum eine individuelle Basisentscheidung (dazu
weiter unten).
4.3.3 phasenstrukturelle Dimension
Bezogen auf Kritikgespräche lassen sich zahlreiche Empfehlungen geben, ich nenne hier vier:
1.
2.
Verlagerung der Angabe von Gesprächszweck und Gegenstand aus dem Kritikgespräch
in das Terminvereinbarungsgespräch zur Entlastung des eigentlichen Kritikgesprächs,
auch wenn ich als Schulleiter dadurch das Terminvereinbarungsgespräch schwieriger
mache (dies ist eine Güterabwägung: kurzfristige Konfliktersparnis oder Erhöhung der
Chancen des Kritikgesprächs?)
In einem Terminvereinbarungsgespräch auf einer Themenbegrenzung insistieren, das
heißt, auch dann auf einem Gesprächsbeendigung insistieren, wenn der andere Mensch
mich in die sachliche Auseinandersetzung hineinziehen will; ich `darf´ also das Ende
18
3.
4.
des Terminvereinbarungsgesprächs notfalls auch ohne Ratifizierung des andern setzen,
entgegen dem üblichen hoch-kooperativen Ping-Pong aus Vorbeendigungs- und
Beendigungsschritten.
Zu Beginn des Kritikgesprächs kein small talk,
- weil er die Fallhöhe, den Temperatur-Sturz des Gesprächs-Kerns erhöhen würde,
- weil er die Sorge des Schulleitungsmitglieds vor dem Gespräch als größer
erscheinen und damit die phantasierte Schärfe des Kritiksachverhaltes als höher
phantasieren lassen könnte,
- weil er Kritikgespräche als etwas Peinliches, Nichterlaubtes, zu Vermeidendes
zeigen könnte.
Bei mehreren Kritikpunkten: Platzierung des heißesten am Anfang, nicht - wie spontan
in allen Rollenspielen gewählt - am Ende (= Prinzip Schiebewurst); denn das Ende
eines Gesprächs soll möglichst konsenshaltig gestaltet werden, weil die End-Stimmung
in die Zeit bis zum nächsten Gespräch wirkt. Aus dem gleichen Grund ist auch eine
metakommunikative Thematisierung von Konsens und Dissens am Ende des Gesprächs
gut, so dass wenigstens auf Meta-Ebene Konsens entsteht (wir sehen übereinstimmend,
wo zwischen uns noch Dissens ist, so dass wir in der Zukunft darauf gut achten
können).
4.3.4 gesprächstypbezogene Einsichten und Folgerungen daraus
Kritikgespräche sind strukturell organisierte Imageverletzungen, weil sie einseitig
Mängelzuschreibungen sind; verständlich ist daher
-
-
-
der Versuch der kritisierten Person zu kontern, um durch wechselseitiges Verrechnen
von Kritik die Imagebalance wieder herzustellen,
der `Drang´ des kritikführenden Schulleitungsmitglieds, diese asymmetrische AmtsHandlung zu verzögern und - zumindest im Vor- und Nachspann - Symmetrie-Display
zu betreiben (beides z.B. durch small talk),
die durch das Kritisieren gestörte Imagebalance durch (fingierte) Selbstverletzung oder
kollektive Selbstverletzung auszugleichen: „Ich kenn das auch von mir früher als
Lehrer“ / „Das kann uns allen mal passieren“,
die Scheu, der anderen Person mit dieser Verletzungsabsicht unter die Augen zu treten
und deshalb die Eröffnung zu bagatellisieren: „Ich hab so ein Problem im Magen liegen
...“ (diese Not verschwindet erst, wenn die andere Person das vorgeworfene VerhaltensProblem sichtbar als ihres übernommen und damit mir das interaktionelle Problem
abgenommen hat).
Solches Gesprächstyp-Wissen eröffnet für die Teilnehmenden einen anderen Blick auf die
Hintergründe ihres individuell gezeigten Verhaltens, mit dem sie selber oft nicht
einverstanden sind. Und es hilft ihnen, sich auf solche verständlichen Probleme mit
Kritikgesprächen anders vorzubereiten: nicht primär durch Sinnen auf Überlistung oder
Weichmachen der Kritisierten, sondern durch mentale Klarheit hinsichtlich der eigenen Rolle
in solchen Gesprächen. Sie erlauben sich zum Beispiel,
-
-
Konterversuche nicht zu bekämpfen, sondern ihnen lediglich nicht nachzugeben,
die Asymmetrie als mit der Rolle verbunden zu akzeptieren (und daher kollegiale Nähe
nicht zu verlangen, wohl sich über freiwillig und auf Widerruf angebotene Nähe zu
freuen),
die eigene Gesprächsabsicht offen zu zeigen.
19
4.3.5 Dimension der Gesprächseinstellung
Die meisten der – für mich (und die Teilnehmenden) – erkennbaren
Gesprächsführungsprobleme im Schulleitungsalltag sind in Rollenunsicherheiten bzw.
Konzept-Unklarheiten verankert und erst mit der Klärung der eigenen Leitungsrolle und mit
der Entwicklung einer konsistenten Gesprächseinstellung überhaupt lösbar.
Hier geht es um gesprächsethische Orientierungen, die von der Gesprächslinguistik – vor
allem aufgrund ihrer reichhaltigen empirischen Einsichten – unterstützt, aber nicht zur
Verfügung gestellt werden können:
-
-
-
Ich kann zwar versuchen, bestimmte Leitungsempfehlungen mit akzeptierten
kommunikationsethischen Prinzipien zu vernetzen; z.B. kann ich die Empfehlung,
sichtbar zu leiten und die vorhandenen Rollenunterschiede nicht zu bagatellisieren oder
zu kaschieren, auf Kooperationsmaximen der Rollen-Verständlichkeit und der RollenAufrichtigkeit beziehen.
Ich kann zudem versuchen, die Teilnehmenden in ihren kommunikativen
Selbstbindungen kritisch zu begleiten; z.B. haben viele Schulleitungsmitglieder Scheu,
ihren Einflussvorsprung gegenüber einzelnen Lehrpersonen guten Gefühls (und daher
auch sichtbar) zu nutzen, weil sie Einfluss unter dem ungeprüften Anspruch, in der
pädagogisch orientierten Institution Schule `um Gottes willen´ keine Macht auszuüben,
semantisch verteufeln. Solche Bedeutungs-Verstrickungen aufzulösen hilft ihnen oft,
sich klarer in ihre Rolle einzulassen.
Ich kann auch Normen-Kollisionen identifizieren helfen, z.B. die Kollision der
alltagsweltlichen strengen Norm, nicht das `Gesicht´ einer anderen Person (schon gar
nicht öffentlich) zu verletzen, mit der beruflichen Leitungs-Norm, unprofessionelles
Verhalten von einzelnen Lehrpersonen zum Schutz ihrer Schülerinnen/Schüler bzw. der
Kooperationsqualität im Kollegium offen anzusprechen; das oben kommentierte
„Anschleichen“ in Kritikgesprächen dient der Umgehung dieses Normenkonflikts; erst
in dieser Klarheit können die Teilnehmenden für sich ausprobieren, wie sie mit diesem
Normenkonflikt umgehen können, z.B. durch Formen „zugewandter Konfrontation“.
Ich denke darüber hinaus, dass die Möglichkeiten, auch berufliche Gesprächsführung auf
gesprächslinguistische Fundamente zu stellen (die – gesprächslinguistisch re-konstruierten –
Konversationsmaximen von Grice wären eine der Plattformen für einen solchen Versuch).
Aber solche Orientierungsangebote sind – offen zu handhabende – Angebote des
einzelnen Fortbildners gegenüber den einzelnen Fortbildungsteilnehmenden.
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Was ist ein `gutes´ Gesprächsverhalten?
Anhand eines einzelnen Interaktionsmusters, das in beiden Transkripten angesprochen wurde
– des „Anschleichens“ des Schulleiters an den von ihm kritisierten Sachverhalt – möchte ich
nochmals den Beitrag der Gesprächslinguistik (pur) für die Entwicklung von
Verhaltensempfehlungen ansprechen.
Zunächst ein Blick auf die Einschätzung von Reinhard Fiehler (Fiehler 2001, 1706-1707):
„Die Frage `Was ist ein gutes Gespräch(sverhalten)?´ läßt sich aus der Sicht der Gesprächsforschung mit
der Angabe von drei Bedingungen beantworten: Ein gutes Gespräch liegt vor,
wenn keine (gravierenden) Verständigungs-/Kommunikationsprobleme auftauchen,
wenn die Beteiligten der Meinung sind, daß der beabsichtigte Zweck mit vertretbarem Aufwand
realisiert wurde und
wenn das Gespräch(sverhalten) nicht zu stark von der jeweiligen Normalform abweicht.“
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Zur Erinnerung an das, was „Anschleichen“ hieß:
In beiden Kritikgesprächs-Rollenspielen hat der Schulleiter das von ihm gesehene
Problem der Lehrerin bzw. des Lehrers zunächst in der `Verkleidung´ als Lehrer, als Kollege,
angesprochen.
In beiden Fällen finden sich zahlreiche Formulierungen der Bitte um Zugänglichkeit,
der Bagatellisierung des Problems, der Herabstufung der Verbindlichkeit des
Änderungsanspruchs.
Im ersten Rollenspiel entsteht ein dramatisch eskalierender Konflikt, im zweiten lässt
sich der Lehrer auf den Änderungsvorschlag des Schulleiters ein.
Prüft man nun beide Gesprächsverläufe unter den drei Fiehler´schen Gesichtspunkten, dann
kann man sagen:
-
-
Das Gesprächsverhalten des zweiten Schulleiters weicht – empirisch gesehen – nicht
von der „Normalform“ ab, es ist – auch aus der Sicht der Fortbildungsteilnehmenden
selber – geradezu muster-haft. Das Verhalten des ersten Schulleiters wurde als
überzogen ängstlich eingeschätzt und insofern abweichend.
Die am Rollenspiel Beteiligten – und auch die Mehrzahl der Teilnehmenden bei der
ersten Durchsicht des Transkripts – halten im ersten Beispiel natürlich die
Gesprächsführung für „schlecht“, die Gesprächsführung des zweiten Schulleiters
demgegenüber für gut, auch im Sinne von Effizienz (= mit vertretbarem Aufwand).
Bedeutet dies also, dass „Anschleichen“ in sich gut, nur in der ungeschickten Version des
ersten Schulleiters schlecht ist? Tatsächlich wünschen sich die Teilnehmenden zu Beginn
solcher Tagungen Strategien geschickter Gesprächsführung; die solchen Wünschen zugrunde
liegende Sorge vor Konflikten, vor Distanzierungen der Lehrer ihrer Schule und das
Unbehagen vieler Schulleitungsmitglieder vor einer sichtbaren Leitung selber wird erst – so
wie ich in der Fortbildung arbeite – zum vorrangigen Problem.
Mit der Kategorie der „Normalform“ scheint die Sicht Fiehlers – und damit die Relevanz der
Gesprächsforschung für die Entwicklung von Gesprächsverhaltensempfehlungen - zu steigen
oder zu fallen:
„Mit empirischen Regularitäten als Basis für ihre Empfehlungen unterscheidet sich die
Gesprächsanalyse von vielen anderen Formen der Sprachkritik, der Kommunikationsberatung und
des Kommunikationstrainings. Die gängige Praxis in vielen Trainings besteht darin, präskriptive
Normen
für
Kommunikationsverhalten
zu
propagieren
und
in
rezeptartigen
Handlungsanweisungen zu operationalisieren, wobei häufig unklar ist, wie sich diese Normen
legitimieren und wodurch die Annahme gesichert ist, daß die Befolgung der
Handlungsanweisungen wirklich zu einer `besseren´ oder `effektiveren` Kommunikation führt.“
(Fiehler 2001, 1702-1703)
Dieser empirische Bezugspunkt für Präskription von Normen sind eben die sog.
„Normalformen“:
„Am ausgeprägtesten normativ handelt die angewandte Gesprächsforschung, wenn sie eingespielte
Regularitäten, Muster und Gesprächsschemata bewußt macht und dafür plädiert, sie auch der
zukünftigen kommunikativen Praxis zugrundezulegen. Normen können - um daran zu erinnern deskriptiv basiert oder präskriptiv sein. Normen, auf die GesprächsanalytikerInnen im Prozeß der
Anwendung rekurrieren, sind im wesentlichen deskriptiv begründet. Sie beruhen auf deskriptiven
Einsichten in Organisationsprinzipien und Regularitäten der Kommunikation, wie sie in
kommunikationsanalytischen Untersuchungen gewonnen werden.
Für die Gesprächsforschung spielt es eine wesentliche Rolle, ob und inwieweit ein
Gesprächsverhalten von deskriptiv ermittelten `Normalformen´ abweicht. Normalformen, wie sie
sich in kommunikativen Regeln, Mustern oder Handlungsschemata widerspiegeln, sind
gesellschaftlich für bestimmte Zwecke ausgebildete Standardlösungen für die Bewältigung
kommunikativer Aufgaben. Sie legen das Gesprächsverhalten nicht im Detail fest, aber sie
umreißen den Rahmen, in dem es sich bewegt. Die Normalformen haben sich gesellschaftlich
vielfach bewährt und sind im Zuge ihrer Ausarbeitung optimiert worden. Wechselseitig wird
erwartet, daß man sie benutzt und daß man nicht ohne Not gegen sie verstößt, sie modifiziert oder
sie außer acht läßt. Sie besitzen so die normative Kraft des Faktischen und Bewährten. Bei einer
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Abweichung von Normalformen erhöht sich deutlich die Wahrscheinlichkeit von
Kommunikationsproblemen, und ein erheblicher Teil der beobachteten Kommunikationsprobleme
ist in der Tat Resultat der Abweichung von den betreffenden Normalformen.“ (Fiehler 2001, 1702)
Eine solche Normalform-Analyse ergäbe für die Phase der Kritik-Offenlegung als
`deskriptive Norm´ tatsächlich als Standard-Muster das „Anschleichen“, wie es beide
Rollenspiele zeigen, das erste in erfolgloser, das zweite in erfolgreicher Version. Ziel der
Gesprächsschulung bestünde dann nur noch darin, erfolglose Versionen dieses Anschleichens
durch erfolgreiche zu ersetzen.
Noch einmal zurück zu dem ersten der drei von Fiehler genannten Bewertungsgesichtspunkte:
-
wenn keine (gravierenden) Verständigungs-/Kommunikationsprobleme auftauchen;
diese Formulierung lässt offen, aus wessen Sicht hier Kommunikationsprobleme definiert
werden; und offen ist dabei auch, welche Reichweite diese Bewertungsgesichtspunkte haben
sollen: wenn ich meine Bewertung nur `lokal´ orientiere, d.h. prüfe, ob in diesem konkreten
einzelnen Gespräch ein manifestes Kommunikationsproblem auftaucht, dann könnte ich
sagen: Es taucht keines auf. Wenn aber die Reichweite vergrößert wird und ich
Gesichtspunkte wie die folgenden berücksichtige -
ich möchte als Schulleiter `aufrecht´ in solche Gespräche gehen und mich als konsistent
erleben,
ich möchte einschätzbar für die anderen sein,
ich möchte als Schulleiter à la longue eine klare Sicht der Lehrer auf meine Rolle als
Schulleiter erreichen,
ich möchte mein Gesprächshandeln so ausrichten, dass es für die Lehrpersonen
ihrerseits ein geeignetes Modell für ihren Umgang mit ihren Schülerinnen und Schülern
ist (= hinsichtlich mentaler Klarheit und interaktioneller Deutlichkeit im Umgang mit
ihrer Rolle) –,
dann ist auch das zweite Rollenspiel gespickt voll mit Kommunikationsproblemen.
Insofern kann man – zumal in einer Zeit, wo Schul-Leitung sich wandeln (soll) – gerade nicht
fest-haltend auf das Bewährte des Üblichen zurückgreifen, sondern soll für sich die jetzt
passenden Handlungsweisen entwickeln, auch wenn dabei zunächst neue Konflikte entstehen,
weil das – ev. fatal – eingespielte Gesprächssystem einer Schule durch einen solchen
Schulleiter irritiert wird.
Daher liefert mir zwar die Gesprächsforschung für die Arbeit in der Fortbildung in hohem
Ausmaß Sensibilisierung, Entdeckungsverfahren und Indikatoren für mögliche
Kommunikationsprobleme, ich identifiziere bzw. definiere Verhaltensweisen als Problem
aber nur mit erweiterten Ressourcen: durch institutionsdiagnostische Ressourcen, durch
Beratungsverfahrensfähigkeiten, durch Feldkompetenzen, durch viel Auseinandersetzung mit
den Fortbildungsteilnehmenden und ihrer Sicht (die nicht meine werden muss, so wie meine
nicht ihre werden muss).
Was ein gutes Gesprächsverhalten ist, entscheidet also nicht eine empirische
Gesprächsforschung, entscheidet nicht die Mehrheit der Teilnehmenden, entscheidet nicht die
Leiterin bzw. der Leiter der Fortbildung, entscheidet nicht das Ministerium, entscheiden nicht
die Lehrerinnen und Lehrer dieses Schulleiters.
Diese Instanzen bieten Orientierungen, juristische Vorgaben, interaktionelle
Verführungen, Plausibilisierungen und Beispiele an, zwischen denen sich die einzelne
Schulleitungsperson entscheiden muss.
Ich gehöre als Fortbildungsanbieter zu diesen Instanzen; ich stelle meine gemischten
Ressourcen zur Verfügung:
22
-
ich markiere z.B. ein Verhalten als aus meiner Sicht problematisch auch dann, wenn
niemand anderes es für problematisch hält,
ich zeige meine derzeitigen Empfehlungen vor; ich freue mich, wenn jemand ihnen
folgt, ich erlaube die Abgrenzung von meinen Vorstellungen.
D.h. ich nutze offen meine rollengegebenen Einflussmöglichkeiten und achte dabei die
Entscheidungsfreiheit der Teilnehmenden. (Vielleicht gelingt es, in dieser Weise den
Fortbildungsteilnehmenden ein Modell für rollengenaues Verhalten zu geben und auf diese
Weise nochmals in Rollenklärung zu verwickeln.)
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Resümee
Die Gesprächslinguistik bietet für die Fortbildenden (und ihre Teilnehmenden) eine sehr weit
gehende Sensibilisierung für die Wahrnehmung und das Verstehen von Gesprächsprozessen
an. Sie bietet den Teilnehmenden dabei mit ihrer rekonstruktiven Einstellung ein
hervorragendes Modell für eine nicht-moralisierende Selbstbegleitung im beruflichen
Gesprächsalltag. Sie bietet vieles an gesprächstypologischem Wissen zu Gesprächstypen und
ihren Phasenstrukturen.
Sie bietet keinen empirischen Zugriff bei der Entscheidung für bestimmte
Gesprächsnormen; sie kann aber helfen, durch Differenzierung der Geltungsbedingungen von
Gesprächs-Normen zu rigide Vorgaben bei den Lernenden zu lösen, und sie kann helfen, den
kommunikativen `Nutzen´ und die `Kosten´ bestimmter Norm-Entscheidungen im
empirischen Material einzuschätzen.
In der Gesprächsführungs-Fortbildung geht es um Gespräche mit spezifischem Zweck und im
konkreten institutionellen Rahmen, nicht um `Gespräch allgemein´; für eine funktionale
Analyse braucht sie daher über den einzelgesprächs-internen Blick auch diagnostische
Kompetenzen für die spezifischen institutionellen Rahmungen dieser jeweiligen Gespräche;
erst dadurch erhalten ihre Diagnosen die Tiefenschärfe, die für Veränderungs-Interventionen
notwendig sind. Dazu können Gesprächslinguisten/Gesprächslinguistinnen selber
feldspezifische Kompetenzen erwerben oder im Tandem arbeiten. Und wenn sie sich dabei
nicht den Zielen der Auftraggebenden verschreiben wollen, brauchen sie – über abstrakte
Kenntnisse dieser Institution hinaus – auch einen zugewandt fremden Blick auf dieses
institutionelle Feld und eine konturierte Stellungnahme zu deren Zielen und Praktiken.
Dies führt zu einer Erweiterung der klassischen konversationsanalytischen
Konzentration auf das „wie“ und das „lokale wozu“ um ein „warum“ in Nutzung der
Ressourcen von Disziplinen wie Institutionsanalyse und Sozialpsychologie.
Die Linguistik – als Grammatik-Analyse nach wie vor Kern des linguistischen Studiums –
kann einer solchen angewandten und interventiven Forschung entgegen kommen:
Sie tut dies z.B. dadurch, dass sie die klassische Kompetenz-Performanz-Hackordnung
aufgibt: mündliche Sprachverwendung – und d.h. gesprächsförmiges Vorkommen von
Sprache – ist nicht eine defiziente nachrangige Erscheinungsform von Sprache, sondern –
phylogenetisch wie ontogenetisch - ihre vorrangige Produktionsstätte.
Wenn Studierende grammatische Strukturen grundsätzlich unter der Perspektive interaktioneller Ressourcen für soziale Interaktion untersuchen, wenn sie dabei grammatische
Analysen anhand der realen Band-Breite von Äußerungen und Sätzen erwerben, erwerben sie
dabei gegenüber gesprochener Sprache statt einer hilflos-bewertenden Einstellung eine interessiert-rekonstruierende; eine solche Einstellung brauchen sie für die Arbeit in der
Gesprächsfortbildung, weil ihre Teilnehmenden ihrerseits in der Regel hilflos und normativ
streng die eigene Gesprächsproduktion anschauen.
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Das Linguistik-Studium bietet eine ca. 6-jährige kostenlose Projektphase, in der Studierende
mit
(interessierten)
Linguistiklehrenden
die
gemeinsamen
unterschiedlichen
Gesprächspraktiken untersuchen und dabei beeinflussen können; Studierende entwickeln
dabei hinsichtlich Kategorien, Verfahrenssicherheit und Orientierung die Fähigkeit zu
interventiver linguistischer Forschung.
Literatur
Boettcher, Wolfgang (²2003): Gesprächsführung.- Soest: Landesinstitut für Schule, 5 Bde.
Fiehler, Reinhard (2001): Gesprächsanalyse und Kommunikationstraining.- In: Klaus Brinker
(Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Bd. 2: Gesprächslinguistik. Berlin: de Gruyter,
1697-1710
Saul, Siegmar (1993): Führen durch Kommunikation. Gespräche mit Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern.- Weinheim/Basel: Beltz
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