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ALTERSGERECHTER UNTERRICHT
IN DEN (NEUEN) KLASSEN 5 UND 6 AM GYMNASIUM
Vortrag von Siegfried Schmidt, Studiendirektor, Schulleiter der OS Schulzentrum, Celle, 29.04.2004,
vor Fachleiterinnen und Fachleitern des Staatlichen Studienseminars Celle
im Rahmen seminarinterner Fortbildung
Vorbemerkung: Der Vortrag ist für die Internetfassung gegenüber der Vortragsfassung geringfügig bearbeitet;
die Struktur als Grundlage für einen Vortrag ist beibehalten. Zur besseren Lesbarkeit stehen Literaturangaben
direkt im Text. Auf eingesetzte Folien wird im Text verwiesen; die Folien selber sind im Anhang zu finden.
--GLIEDERUNG
1
GRUNDPOSITIONEN: 3 ESSENTIALS UND 3 FOLGERUNGEN
2
DIE NEUEN SCHÜLER/INNEN AM GYMNASIUM
2.1
EINIGE ENTWICKLUNGSLINIEN
2.1.1 VERLUST AN EIGENSTÄNDIGKEIT
2.1.2 MEDIATISIERUNG DER ERFAHRUNG
2.1.3 EXPERTISIERUNG DES ALLTAGS
2.1.4 WERTEWANDEL
2.1.5 ERGÄNZENDE BEOBACHTUNGEN ZU DEN KINDERN
2.1.5.1 WIE KINDER DIE SCHULE UND DEN UNTERRICHT SEHEN
2.1.6 DIE RASANZ DER ENTWICKLUNG
2.2
ERSTE REAKTIONEN NACH PISA
2.3
„LAUE“ BEFUNDE
3
VERHALTENSMERKMALE DER NEUEN SCHÜLER/INNEN IN DER UNTERRICHTSPRAXIS
3.1
AUFBAUENDE MERKMALE
3.2
LIMITIERENDE FAKTOREN
3.3
ANSTRENGUNGSBEREITSCHAFT UND BASALE FÄHIGKEITEN
3.4
EINSTELLUNGEN UND VERHALTENSDISPOSITIONEN DIESER KINDER ZUR SCHULE
3.5
IMPRESSIONEN ZUM 6. JAHRGANG, AUCH IM BLICK AUF MÄDCHEN UND JUNGEN
3.5.1 NOTWENDIGER EXKURS ZU GESCHLECHTSSPEZIFISCHEN UNTERSCHIEDEN
3.6
PÄDAGOGISCHE KONSEQUENZEN FÜR DEN UNTERRICHT - VOR ALLEM FÜR
KLASSE 5
3.7
BEDEUTUNG VON KLASSEN- UND SCHULKLIMA FÜR ERFOLGREICHES LEHREN
UND LERNEN
4
4.1
4.2
4.3
4.4
PRINZIPIEN DES UNTERRICHTS
PRINZIPIEN ZEITGEMÄßEN GRUNDSCHULUNTERRICHTS
PÄDAGOGISCHE KONSEQUENZEN FÜR DIE ARBEIT DER SEK I
HILFREICHES PÄDAGOGISCHES HANDWERKSZEUG IM BLICK AUF 5 UND 6
ANREGUNGEN ZU REGELN UND RITUALEN
5
TEAM-ARBEIT ALS MOTOR ZUR ENTWICKLUNG VON KLASSEN UND SCHULE
ODER: WOHIN SOLLTE DIE SCHULISCHE REISE GEHEN?
TEAMARBEIT UND TEAMENTWICKLUNG
NEUE AUFGABEN UND CHANCEN FÜR DEN FRONTALUNTERRICHT
ERMUTIGUNG UND AUFFORDERUNG ZUM SCHLUSS
5.1
5.2
5.3
2
1
GRUNDPOSITI0ONEN: 3 ESSENTIALS UND 3 FOLGERUNGEN
1. „Das Problem des deutschen Unterrichts ist wahrscheinlich nicht die Tatsache, dass die
Lehrkraft im Mittelpunkt steht und das Heft in der Hand hält. Das gibt es in allen Ländern (...).
Problematisch ist die Logik des Unterrichtsskripts, also die dem Lehrerhandeln zugrunde
liegende Idee eines guten Unterrichts. In Deutschland dominiert das Muster des fragendentwickelnden Unterrichts. Diese Unterrichtsform findet man auch in anderen Ländern, aber
als ein Muster unter anderen, nicht als Monokultur." (Baumert, Jürgen, Lehrkräfte müssen
sich in ihren Unterricht schauen lassen!- In: Schulverwaltung, Dezember 2003, S. 324)
2. Die gegenwärtige Veränderungen der Schulstrukturen in Nds stellen in Verbindung mit den
Ergebnissen der internationalen und nationalen Studien zur Effizienz schulischen Lehrens
und Lernens eine historische Chance und Notwendigkeit dar, schulisches Handeln zu
reflektieren und angemessen bzw. neu zu gestalten. Dies bedarf konstitutiv des Dialogs und
der Verständigung aller am Lern- und Lehrprozess Beteiligten, vorrangig der schulischen
Lehrkräfte selber unter dem Aspekt einer TEAM- und SCHUL-ENTWICKLUNG. Unterricht ist
eine gemeinsame Angelegenheit aller, keine einzelkämpferische Solitärleistung.
3. Im Dreh-, Angel- und Bezugspunkt aller unserer unterrichtlichen und schulischen
Reflexionen, Planungen und Handlungen muss das lernende Subjekt selber stehen, also die
einzelne Schülerin bzw. der einzelne Schüler im sozialen Kontext und in individueller als
auch gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Jeder Mensch hat das Recht auf Förderung und
Forderung seines Leistungsvermögens und auf Entdeckung und Entwicklung seiner
Begabungen.
Meine Folgerungen:
1. Wir Lehrkräfte müssen die Effizienz unseres schulischen Handelns ausgeprägt
thematisieren, zentralisieren und auch schulintern evaluieren. „Unterricht ist bis jetzt zu
häufig vom Kriterium eines einigermaßen klappenden Ablaufs bestimmt“ (Bönsch,
Manfred, Methodik der Evaluation, S. 329).
2. Wir müssen dies als Gruppe, als fachliches Team, als eigenständige Schule leisten mit
regelmäßigen Feedback-Prozeduren. Wir benötigen ein schulisches Repertoire, mehr
über den Ist-Zustand schulischer Arbeit herauszubekommen und Zonen qualitativer
Weiterentwicklung zu markieren. (an Bönsch orientiert)
3. Wir müssen mehr vom Lernen selber und den Lern-Bedingungen für den Einzelnen
wissen. Lernmethoden und Lerndiagnostik sind heute noch in der unterrichtlichen AlltagsPraxis ein nahezu nicht existentes Feld. Es gilt eine Verbesserung der Professionalität
der Lehrertätigkeit zu erreichen, „insbesondere im Hinblick auf diagnostische und
methodische Kompetenz systematischer Schulentwicklung“ (Erste Konsequenzen aus
der PISA-Studie, KMK vom 5./6.12.2001).
[ Verdeutlichung der Notwendigkeit der Aktivierung beider Gehirnhälften für erfolgreiche
Lernprozesse mit Folie 1; gut geeignet auch als motivierender Problemeinstieg für Schüler/innen;
Hinweise zum Unterrichtseinsatz stehen auf S. 19, unten ]
2. DIE NEUEN SCHÜLER/INNEN
Die Schüler/innen selber müssen im Mittelpunkt unseres Lehrer-Handelns stehen oder anders
gesagt, primär werden Schüler/innen unterrichtet, nicht Fächer. Hier geht es zentral um die 10-12Jährigen. Diese Kinder haben eine 10-jährige Sozialisation hinter sich; unser Unterricht kann nur
Erfolg haben und effizient sein, wenn wir von diesen Kindern Wichtiges wissen und Relevantes für
die Planung und Gestaltung von Unterricht berücksichtigen, ebenso bei individueller Zuwendung.
Immer mehr Lehrkräfte, auch im Gymnasium, erleben zunehmend, dass „die Lebensprobleme der
Kinder ständig ihre Lernprobleme überwältigen, so H. von Hentig bereits 1976 in einem Vortrag der
Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin. HvH zog schon damals den Schluss: Wer den Kindern
nicht zuerst auf einer (...) elementaren Ebene hilft zu leben, verhindert, dass sie das Curriculum je
lernen wollen.“
3
Was wissen wir über diese Kinder heute?: Vieles, was dazu gesagt wird, wird im Tonfall negativer
Veränderungen formuliert, als gäbe es nur eine Verlustseite. Doch es gibt auch eine Gewinnseite für
die U-Bedingungen wie z. B. ein geringeres Stadt-Land-Gefälle, ein Mehr an partnerschaftlichen
Haltungen statt früherer Furcht vor autoritären Strukturen, die geschlechtsspezifischen Positionen
sind näher beieinander als früher und die Informationsbeschaffung hat inzwischen nie für möglich
gehaltene Ausmaße erreicht. Deswegen ist wichtig, nicht nur die problematische Seite der
Veränderungen zu sehen, sondern gleichsam mit Perspektivenwechsel auch die positiven Chancen,
die darin stecken.
Dennoch spreche ich jetzt vor allem die eher problematischen Aspekte an, da sie besonders
geeignet sind, notwendige Distanz zum möglichen eigenen geheimen Lehrplan zu entwickeln.
2.1 EINIGE ENTWICKLUNGSLINIEN
- Einschub: Inzwischen habe ich eine sehr informative Problemdarlegung bei Klippert (Klippert, Heinz,
Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen. Bausteine für den Fachunterricht. - Beltz 2002) gefunden, auf die
ich hier nicht zuletzt deswegen gern verweise, da der Autor im Anfangs-Kapitel „Lehren und Lernen im
Umbruch“ von dem Aspekt „Veränderte Kinder und Jugendliche“ ausgeht und von dort schließlich zum Thema
„Von der Belehrungskultur zur Lernkultur“ gelangt. Diese notwendige Veränderung zu einer Lernkultur deckt
sich mit meinen Erfahrungen und entspricht meinen Folgerungen. Die Lektüre dieses Kapitels empfehle ich
sehr.-
Hans-Günter Rolff nennt 4 Entwicklungslinien:
1.
2.
3.
4.
Verlust an Eigenständigkeit
Mediatisierung der Erfahrung
Expertisierung des Alltags
Wertewandel
Ähnlich formulieren auch andere. Gerold Becker nennt 5 „Stichworte“:
1. Der soziale Nahraum (Familie usw.) verändert sich
2. Die Gleichaltrigen
3. Zunehmende Forderung nach abstrakten Leistungen
4. Kindheit als Medienkindheit
5. Die drohenden Katastrophen [evtl. mehr aus HESSEN, S. 89]
Ich verdeutliche mit Rolff:
2.1.1 VERLUST AN EIGENSTÄNDIGKEIT
„Ich mache das klar am Beispiel des Drachenbaus: Kinder in der Nachkriegszeit haben den Drachen
(...) noch selbst gebastelt. Zu mehreren haben sie sich zusammen die Latten besorgt, Papier
eingeölt oder mit Margarine beschmiert, einen aufwändigen Schwanz angehängt, ihn gekürzt, ihn
verlängert. Wenn der Drachen flog, waren alle froh.“ Geprägt ist dieses eigenständige Wirken vom
Planen und Ausführen mit langer Ausdauer und mit geschicktem Improvisieren. Kompetenzgewinn
war auch dann eingetreten, wenn der Drachenflug fehl schlug. Wie viel weniger Eigenständigkeit ist
heute parallel dazu gegeben: der Drache wird geschenkt oder im Laden fertig gekauft.
Schulpädagogisch folgert Rolff die Intensivierung der Eigentätigkeit der Schüler/innen.
2.1.2 MEDIATISIERUNG DER ERFAHRUNG
Mit der Entwicklung der audiovisuellen Medien seit den 60er Jahren ist jede Kindheit mehr und mehr
davon geprägt worden. „Sie verändern das Verhältnis von Kindern zur Erfahrung in grundlegender
Weise. Ein etwas oberflächlicher Satz (...) ist der, dass Kinder heute die Kuh früher im Fernsehen
sehen als in der Natur. Wenn sie in der Wirklichkeit eine Kuh erblicken, dann meinen sie ganz
erfreut, dass sie ja genauso aussieht wie im Fernsehen.“ (Rolff) Zwei Drittel der Jugendlichen sehen
4
täglich mehr als zwei Stunden fern... Wohin diese Entwicklung bereits geführt hat, zeigt eine
Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 06.04.2004. Dort heißt es unter der Überschrift „Früher
Fernsehkonsum führt zu Schulproblemen:
Je länger Kleinkinder in die Röhre schauen, desto häufiger fallen sie US-Forschern zufolge durch
Unruhe und Unaufmerksamkeit auf. Eine im Fachjournal für Kinderärzte, Pediatrics, veröffentlichte
Studie mit 1300 Grundschulkindern in den USA zeigt einen direkten Bezug zwischen den Stunden,
die Kleinkinder von 1 bis 3 Jahren fernsahen, und ihrem späteren Verhalten in der Schule. Der
Verband der US-Kinderärzte empfiehlt, Kinder unter zwei nicht vor den Fernseher zu lassen und die
Zeit vom dritten Jahr an auf zwei Stunden zu beschränken. Kinder mit dem häufigsten TV-Konsum
waren unter jenen 10 Prozent der Schulanfänger wiederzufinden, welche die meisten Probleme mit
Konzentration, Impulsivität und Unruhe hatten.“ (SZ, 06.April 2004, S. 6))
Fernsehzeit wird von Eigentätigkeit abgezogen. Probleme der Gewaltbilder lasse ich ausgespart.
Wichtiger ist die damit sichtbar werdende Entwicklung von einer „Wortkultur“ hin zu einer „Bildkultur“.
Die Fernsehkultur wurde somit zu einer generellen Kommunikationskultur hin bis zu den
Piktogrammen.
Otto Herz spricht von den Medien als Geschwistern für das Einzelkind mit dem Fernseher als Bruder
und dem Video als Schwester.
Sicherlich haben Bilder auch Vorzüge, doch schulpädagogisch ist darauf zu reagieren
(Medienpädagogik mit dem Ziel der Entwicklung von Medienkompetenz! – bildung + medien, Heft 1/2004
enthält im Blick auf die didacta 2004 interessante Hinweise; so z. B. zu LAN-Partys mit auch interessanten
Hinweisen zum Verhalten von Jungen und Mädchen).
In der Bilder-Konkurrenz liegen u.a. auch Ursachen für die Schwächen in der Lesekompetenz
unserer Schüler (PISA). Dies liege weitgehend an motivationalen Aspekten. „Die relative Schwäche
der Jungen (...) betrifft hauptsächlich das Verständnis von kontinuierlichen Texten (...) Demnach sind
Jungen weniger geneigt die Möglichkeiten zu nutzen, die Literatur eröffnet, in fiktive Umwelten
einzutreten und sich mit diesen auseinander zu setzen, und es bleiben ihnen damit vielfältige
Erfahrungen vorenthalten.“ (Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000, S. 266) Die Wirkung
dieses Medienkonsums ist nicht nur negativ zu sehen (für interessierte Kinder bietet es auch ein
erhebliches Faktenwissen); „gleichwohl ist das Hauptanliegen dieser Medien auf Zerstreuung und
Unterhaltung, auf Gedankenlosigkeit und Vergessen, auf Oberflächlichkeit und Sprunghaftigkeit
gerichtet. (...) Im Gegensatz zum Fernsehen mit seiner Schnitttechnik (im Mittel alle 3,5 Sekunden)
und seinen dramaturgischen Bearbeitungsmöglichkeiten müssen die Lehrkräfte live senden – und
das zudem in Verbindung mit relativ langweiligen, anstrengenden Lerngegenständen und verfahren.“ (Klippert, Eigenverantwortliches Lernen und Arbeiten. Beltz, S.18))
Bedeutsam und notwendig für die Effizienz unterrichtlichen Handelns ist also, sich die bilderstarke
Konkurrenzsituation bewusst zu machen, gegen die bzw. besser mit der unser unterrichtliches
Wirken zu planen und zu gestalten ist.
2.1.3 EXPERTISIERUNG DES ALLTAGS
Das Kunstwort signalisiere nach Rolff, dass dieser Entwicklungstrend noch nicht so richtig auf den
Begriff zu bringen sei. Es meine: „Die Lernqualität der Lebenswelt des Alltags von Kindern und
Jugendlichen nimmt möglicherweise ab. (...) Immer mehr Expertenwissen verdrängt schon in der
Kinderwelt und erst recht in der Welt der Jugendlichen das Alltagswissen.“ Dies führt Rolff am
Beispiel der Schulmedizin aus, die das vorhandene Wissen der Volksmedizin nahezu völlig
verdrängt hätten, indem sie das Wissen der Mütter um Krankheit und wie man sie behebt,
zunehmend entwertet und irgendwann fast überflüssig gemacht haben.
Der Alltag werde für die Kinder immer weniger selbst erklärend, immer weniger selbst verständlich.
Und dies gilt bereits auch weitgehend für die Eltern dieser Kinder.
Schulpädagogisch folgert Rolff deswegen einen größeren Bedarf an Orientierungswissen, an
Aufklärung über bisher selbstverständliche Alltagsangelegenheiten und an Kompetenz in Bereichen
wie Gesundheit, Ernährung oder Einkauf. Hier eröffnen sich in post-aufklärerischer Zeit
fächerspezifische Möglichkeiten und Aufgaben ganz im Sinne der alten, gleichwohl aktuellen
Aufforderung Kants.
5
2.1.4 WERTEWANDEL
Der Begriff des Wertewandels ist allenthalben anzutreffen. Hartmut von Hentig nennt folgende
Teilaspekte: „Die postmoderne Gleichgültigkeit und Indisziplin der jungen Leute, Individualismus und
Populismus, der rasche Konsum und die rasche Gewalt, eine Gesellschaft ohne Rückgrat, ohne
Scham, ohne Ziel und Zuversicht und darum opportunistisch, egoistisch, zynisch.“ Von Hentig lässt
diese Begriffe, die er einer Podiumsdiskussion entnommen hat, aber nicht so stehen; er sagt, die
Position sei falsch, dass dies alles neu sei. Nein, es habe diese Fehlwerte, dieses Fehlverhalten
schon immer gegeben; wären sie neu, wäre nach von Hentig dafür gar keine Begrifflichkeit gegeben.
(Hentig, Hartmut von, Die Schule neu denken, Beltz 2003, S. 134)
Im Blick auf die Kinder und für die Gestaltung von Unterricht ist das Folgende von Bedeutung:
Seit den 60er Jahren hat sich eine Liberalisierung des Erziehungsstils in den Familien vollzogen.
„Eine Erziehung, bei der Kinder sich nach dem Willen der Eltern zu richten haben, wird von
Jugendlichen 1962 noch zu 30% befürwortet, 1983 aber nur noch zu 3%. (...) Streng bzw. sehr
streng erzogen fühlten sich 1962 noch 45% aller Jugendlichen. 1983 nur noch 18%.“ – Geklagt wird
heute seitens der Lehrkräfte und des Handwerks und der Industrie über mangelhaft erzogene Kinder
und Jugendliche.
Für uns ist zudem von Bedeutung, dass heute die Schüler/innen viel weniger gern zur Schule gehen
als damals noch. 75% gingen damals gern bzw. sehr gern zur Schule, 1983 sagten dies nur noch
43%.
Hier könnten sich Beobachtungen zu der stark gewachsenen Bedeutung der „Peer Groups“ für
Jugendliche anschließen, die für die Jugendlichen wichtiger sind als Familie und Schule. Die
angestrebte Selbstverwirklichung sei mehr und mehr nach innen gerichtet und damit weniger auf
das, was die Schule an Anforderungen abverlange.
Die Powerpoint-Präsentation des Nds. Kultusministeriums zu den PISA-Ergebnissen verdeutlicht
diese Befunde mit den dortigen PP-Folien 81 und 82 [ im Anhang meine Folien 2 und 3 ]:
„FREUNDE, FREIZEIT, MEDIEN“
 „Es bestehen Zusammenhänge zwischen Freizeitaktivitäten von Freundesgruppen und den
erreichten Leistungen.
 Die Zugehörigkeit zu schuldistanzierten Gruppen und problematische Formen der
Mediennutzung sind in allen Schulformen mit schlechten Leistungen verknüpft.“
„SOZIALE UND KULTURELLE KOMMUNIKATION“
 „Die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule ist ein Schlüsselelement für den
Bildungserfolg der Kinder.“
In einem diesjährigen Schreiben an die Lehrkräfte des Freistaates Bayern formuliert - mit Dank an
die von diesen geleistete zusätzliche Nachmittagsarbeit (sic!) - Frau Hohlmeier: „Durch die
fortschreitende Relativierung eines allgemein akzeptierten Wertekanons erhält die Schule immer
mehr Verantwortung, ihren Schülerinnen und Schülern Wertmaßstäbe zu setzen.“ Sie fügt an: „Zwar
kann die Schule nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft sein, doch im Rahmen ihrer Möglichkeiten
muss sie sich diesem Anspruch stellen und zur Lösung der Probleme unserer Zeit beitragen Schule muss aber von dem gesellschaftlichen Handlungsdruck entlastet werden, der ihr die Aufgabe
zuschiebt, durch Bildung und Erziehung Probleme lösen zu sollen, welche die Politik erzeugt.“
2.1.5 ERGÄNZENDE BEOBACHTUNGEN ZU DEN KINDERN
Was ist zudem typisch für die heutigen10Jährigen?
-
Sie wohnen häufig in belasteten und belastenden Familien (ein Drittel der Ehen werden
geschieden; viele Eltern trennen sich ohne formale Scheidung) ► Kinder sind sich heute
ihrer Eltern nicht mehr sicher. Selbst da, wo Trennungen in einem noch so großen
6
-
-
Einverständnis erfolgt, ist die Trennung für die Kinder ein biografischer Riss, weil sie es als
Schuldvorwurf an sich empfinden, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Eltern zusammen zu
halten. Vieles, was wir in der Schule als Zappeligkeit, als Konzentrationsmangel, als
Unfähigkeit, Widerstände zu überwinden, als Legasthenie und anderes wahrnehmen,
müssen wir auch in diesen Zusammenhängen sehen. In instabilen Familien wachsen selten
stabile Kinder heran. „Schule hat Aufgaben zu übernehmen, die früher selbstverständlich der
Familie zugeordnet waren.“ (Bayerische Kultusministerin)
Eingehen auf die Situation der 1-Kind-Familien: Eltern häufig von der Sorge getrieben, dass
nichts in der Schullaufbahn ihres einzigen Kindes schief gehen möge. Es gehe doch um den
Ruf der Familie! Dies ist mit Ursache für die Kritik an der in der Grundschule ausgefallenen
Mathematikstunde, denn diese gefährde doch nun das Abitur! – Dies geht einher mit gewaltig
aufgeblähten Nachmittagsstundenplänen der Kinder (Verinselung mit Elterntransport und
damit verbundenem Freizeitstress).
„Das Konstante ihrer Persönlichkeit sei die Flüchtigkeit“ formuliert Hensel (Hensel, H.,
Unterrichtsstörungen – na und?. In: Pädagogik 1/2000) und stellt zugleich eine
„Aristokratisierung“ des kindlichen Verhaltens fest. „Es sei gerade so, als habe man es bei
den ´neuen´ Kindern mit Prinzessinnen und Prinzen zu tun, die entweder verwahrlost, aber
sehr durchsetzungsfähig seien. Oder verhätschelt würden und an die Dienstleistungen
anderer höchste Ansprüche stellten.“
2.1.5.1 WIE KINDER DIE SCHULE UND DEN UNTERRICHT SEHEN
Eine entsprechende Studie hat Schulkinder im Alter von 6 – 13 Jahren hierzu befragt:
1. Die Beliebtheit der Schule nimmt mit zunehmendem Alter ab: Für die 6-7jährigen ist die
Schule noch ein Highlight; dennoch empfindet ein Viertel die Hausaufgaben als negativ;
knapp ein Fünftel beklagt, „still sitzen“ und „ruhig sein“ zu müssen.
2. 40% der 6-7Jährigen lieben geradezu ihre Lehrer/innen, während ein Drittel der 810jährigen und die Hälfte aller 11-13jährigen Kinder ihre Lehrer mehr oder weniger
"beschissen“ finden. (Institut für Jugendforschung, 1996, in: Pädagogik 7-8/96, S. 94)
3. Schüler/innen nennen FrontalU die am häufigsten angewandte Sozialform, mit Abstand
gefolgt von PartnerA und GruppenA. Dieses gängige Methodentriple findet keine
Präferenz bei den Schülern, wenn nach den von ihnen bevorzugten Methoden gefragt
wird. Sie bevorzugen solche Methoden, die „ihnen größere Freiräume für eine eigene
Gestaltung des Unterrichts und für das Einbringen eigener Meinungen und
Interessensgebiete bieten.“ (H. Meyer, Unterrichtsmethoden II: Praxisband.- Cornelsen
1996, S.54)
2.1.6 DIE RASANZ DER ENTWICKLUNG
Die turnusmäßigen Shell-Studien (ich beziehe mich auf die 14. aus dem Jahr 2003 formulieren
aktueller: „Nicht Rebellion oder Null-Bock sind angesagt, sondern pragmatische Orientierungen.
Konservative Geltungen wie Familie, Fleiß oder Sicherheit stehen so hoch im Kurs wie noch nie.
Gleichzeitig streben die Jugendlichen nach Freiheit, Unabhängigkeit, Kreativität und Lebensgenuss
(fun).“
Diese Studie macht deutlich - nicht zuletzt wegen der Änderungen gegenüber 1995 -, dass in
keinem Lebensabschnitt sich Orientierungen und Wertvorstellungen so schnell (und z. T. so radikal)
verändern wie in der Jugendphase. Um mit Schülern erfolgreich arbeiten zu können, ist es wichtig zu
wissen, was sie bewegt, wie sie ihre Welt sehen und was ihnen wichtig ist. Dieses ist im übrigen
noch wichtiger für die Arbeit mit schwierigen Schülern! Es ist immer wieder notwendig, die aktuellen
Einstellungen zu kennen, die der Klasse allgemein wie die des Einzelnen!
2.2 ERSTE REAKTIONEN NACH PISA
Insgesamt resultieren daraus vielfältige Problemfelder für die Schule. In NRW hat dies zur
Erkenntnis geführt: Die Schule „darf für die Kinder nicht allein Unterrichtsstätte sein, sondern muss
7
zugleich Lebens-, Lern- und Erfahrungsraum sein. In ihr sollen sich die Kinder glücklich und
geborgen fühlen und in einer freien und befreienden Atmosphäre lernen können.“ Mit Gerold Becker
wünsche ich mir dieses nicht nur für die GS, sondern für alle weiteren Schulen, auch für das
Gymnasium besonders in den Eingangsklassen. Die curricularen Vorgaben für die gymnasialen
Klassen 5 und 6 formulieren auch in Nds einen Unterricht, der als Lebens-, Lern- und
Erfahrungsraum zu verstehen ist. Ich halte dies für richtig!
2.3 „LAUE“ BEFUNDE
(Lau = Lernausgangslage und Lernentwicklung; Hamburg 12620 Schüler/innen; zunächst in 7., zwei Jahre
später in 9. Klassen – Längsschnittstudie in Deutsch, Mathematik, Englisch)
Die Hamburger Studie „LAU“ (DIE ZEIT, 27.12.2001) „stellt die wichtigste Frage nach dem Mehrwert
der Schule: Was lernen Kinder innerhalb eines Zeitraums hinzu, was bringt der Unterricht?
Besonders für viele Gymnasien lautet die Antwort: zu wenig. Am besten sieht es noch in Englisch
aus. In diesem Fach wird in allen Schulformen ein deutlicher Anstieg der Lernkurve registriert. Für
den Mathematikunterricht lautet das Urteil hingegen: ´Der mit Abstand geringste Lernzuwachs zeigt
sich in den Gymnasien.´ (...) Beim Beherrschen der deutschen Sprache zeigen Gymnasiasten in den
Klassen 7 und 8 kaum messbaren Fortschritt.“ Mädchen und leistungsschwächere Jungen
verbuchen noch leichte Gewinne, jedoch bei Jungen aus der oberen Leistungsgruppe stagniert die
Sprachentwicklung im Vergleich zum Test in Klasse 7. Der ZEIT-Artikel betont, dass durch LAU
auch das Gymnasium in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangt sei. Eine anonym bleiben wollende
Hamburger Oberschulrätin nennt es die Schule „mit dem langweiligsten Unterricht“ und „mit der
geringsten Kooperation unter den Lehrern“. Der Mathematik-Didaktiker Michael Neumann werde
„nun gehört, wenn er kritisiert, bei den meisten seiner Schulbesuche sehe er Unterricht, „der schlicht
und ergreifend langweilig ist und nicht herausfordernd.“ Darauf reimt sich die LAU-Erkenntnis, dass
im Gymnasium gerade die Leistungsspitze häufig daran scheitere, das einmal Gelernte auf neue
Situationen und ungewohnte Anwendungen zu übertragen.
Glücklicherweise sind diese Ergebnisse nicht ins allgemeine politische Hickhack geraten; seit PISA
scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass im Unterricht einiges schief läuft. Untersuchungen
belegen, dass in Japan eine Schulstunde tatsächlich zu 95% Unterricht bietet, in Deutschland sind
es nur 65%. Die restliche Zeit benötigt der Lehrer, um für Ruhe zu sorgen, organisatorische Fragen
abzuklären oder aufzuräumen.
3
VERHALTENSMERKMALE DER NEUEN SCHÜLER/INNEN IN DER UNTERRICHTSPRAXIS
3.1
AUFBAUENDE MERKMALE













3.2
lebhaftes Wissensinteresse
große Freude am Entdecken
ordentliche Motivation
natürliche Leistungsbereitschaft
kreative Spielfreude
Spontaneität
zeigen gern etwas / führen gern etwas vor
wetteifern engagiert
stellen sich unbekümmert dem Wettbewerb
anerkennen positiv die Leistung anderer
starker Bewegungsdrang und -freude
hohes Gerechtigkeitsempfinden
Regeln und Rituale werden anerkannt und angewandt
LIMITIERENDE FAKTOREN

begrenzte Ausdauer







8
geringere Konzentrationsfähigkeit
relativ schnell nachlassende Anspannung
frühes Ermüden
schwach ausgeprägte Anspruchshaltung gegenüber sich selbst
zurückhaltende Kritikbereitschaft, -fähigkeit gegenüber kognitiven Leistungen
(gegenüber sich selbst wie anderen; dies ist bei sozialen Leistungsaspekten nicht so)
Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit auf nahezu allen Handlungsfeldern
schnelle Zufriedenheit
3.3 ANSTRENGUNGSBEREITSCHAFT UND BASALE FÄHIGKEITEN
11-mal habe ich Kinder in der OS begrüßt. Zunehmend notwendiger erschien mir, bereits bei dieser
Gelegenheit etwas zur Anstrengungsbereitschaft sagen zu müssen. Diese Bereitschaft zum SichAnstrengen ist im Rückzug. Sehr offen wird sich gegensätzlich verhalten, auch unter dem kritischen
Blick des Lehrers. Mit Tricks und besonderen Motivationskniffen sind rudimentäre Anstrengungen
noch zu aktivieren. Doch tendenziell gilt die relativ frühe oder auch schnelle Zufriedenheit über das
einzeln, zu zweit oder in der Gruppe Ereichte. Viele glauben mit deutlich weniger Zeit auskommen
zu können, als zur Verfügung gestellt wird. Die vermeintlich gewonnene Zeit wird zur kurzweiligen
Unterhaltung gern genutzt. Das Bemühen um Überprüfung des Geleisteten, um Optimierung der
Lösung ist schwach entwickelt. Mit dem Schlusspunkt wird die Sache abgehakt. - Dieser Trend ist
inzwischen in der GS angelangt.
Basale Fähigkeiten wie vor allem das Lesen und Schreiben haben nicht mehr das Niveau von vor
15-20 Jahren (es wird stockend, fehlerhaft und wenig sinngestaltend gelesen, mitunter auch von
denen, die sich gern zum Lesen melden; Aspekt des Problems der Selbsteinschätzung oder der
kindlichen Unbekümmertheit?; Verweis auf PISA-Befunde auch mit geschlechtsspezifischen
Unterschieden)
Diktate haben nicht mehr den Schwierigkeitsgrad wie noch von vor einigen Jahren. Sie sind in ihren
Anforderungen in der Schwierigkeit wie auch im Umfang gemindert werden.
Die Schriftbilder sind sehr wenig funktional gestaltet/entwickelt (keine klare Formgenauigkeit;
ungenaue Beachtung von Linien oder Kästchen; kaum gleich bleibende Größe; wenig Fähigkeit, die
Schriftgröße vorgegebenen Schreibräumen anzupassen).
Dies laste ich nicht klagend den Kindern an, dies ist nur eine Aussage zum Ist-Zustand. Mit
Leistungsvermögen hat dies auch nicht zu tun. Die Ursachen sind vielfältig und auch nicht ohne das
Handeln in der GS zu sehen. Aber auch in Klasse 5 kann/muss daran noch gearbeitet werden, sonst
lamentieren wir ermüdend bis zum Abitur... Um nicht missverstanden zu werden, hier geht es nicht
um die individuelle Handschrift, hier geht es um Voraussetzungen schriftlicher Kommunikation!
3.4 EINSTELLUNGEN UND VERHALTENSDISPOSITIONEN DIESER KINDER ZUR SCHULE
Der Institution Schule wie auch den Lehrkräften begegnen die 10-/11-Jährigen relativ gelassen,
abwartend, distanziert; in ihrer Sprache: „cool“. Sie freuen sich zwar auf die neue Schulsituation,
doch zugleich empfinden sie sich auch bereits als alte Hasen/Häsinnen. Die Erwartung geht
tendenziell dahin, dass die Schule zuerst einmal ihnen einiges bieten müsse. Nicht mehr gegeben
ist die von Beklemmung oder Respekt getragene Zurückhaltung den Lehrkräften gegenüber.
Nebenbei: Diese im Grunde positive Haltung der Kinder hängt wohl auch mit der Haltung der Eltern gegenüber
der Schule zusammen. Die Eltern wollen etwas von den Lehrkräften, von der Schule für ihr Kind, nämlich die
Berechtigung zum Hochschulzugang. Auch wenn es noch uns Lehrer/innen respektierende, zuweilen sogar
einige hofierende Eltern gibt, überwiegend wird das Ganze mehr als Zweckbündnis gesehen, bei dem die
Eltern den Dienstleistungsaspekt der Schule viel stärker erwarten, als diese selber es versteht. Kurz: Die
Erwartung an die Schule ist groß, die eigenen Leistungsbeiträge für das angestrebte Ziel sind überwiegend nur
maßvoll. „Hier habt ihr mein Kind, nun gebt ihm was, und zwar das Abitur!“ „Eltern haben gegenüber Schule
eine hohe Erwartungshaltung.“ (Bayerische Kultusministerin)
Für die Kinder gilt aber sicherlich auch, dass für sie die Schule bei weitem nicht den Stellenwert hat
wie die Freunde, wie die „Peer Group“, wie die Medien und damit der gesamte
9
Unterhaltungsbereich. Das Lehrerzimmer, der früher unbetretbare, gleichsam heilige Raum hat
seinen sakralen Charakter schon lange nicht mehr für die heutigen kids; selbstverständlich und
selbstbewusst betreten sie diesen. Die Begrüßung erfolgt ökonomisch im Unterrichtskontext im
Klassenraum, jedoch selten situativ beim individuellen Begegnen auf dem Schulhof oder den Fluren.
Diese von den Eltern stark unterstützte Einstellung von der Schule als Dienstleistungsunternehmen
wird an peripheren Kleinigkeiten sichtbar, wenn Eltern ihrem Kind Recht geben, das von ihm
weggeworfene Papier nicht aufheben zu müssen, dafür gebe es ja „Putzen“. Um deutlich zu sein:
Dem gilt es gegenzusteuern – bei den Kindern und bei den Eltern!
Dies alles lässt erkennen, dass Bildung wohl erwartet, dass aber der schulische Erziehungsauftrag
nicht wie selbstverständlich mitgetragen wird. Korrekturen an der falschen Addition werden geduldet,
Korrekturen am Verhalten viel weniger, obgleich die Kinder immer weniger erzogen zur Schule
kommen.
3.5 IMPRESSIONEN ZUM 6. JAHRGANG - AUCH IM BLICK AUF MÄDCHEN UND JUNGEN
Weitgehend gilt das Gesagte auch für den 6. Jahrgang. Auf den ersten Blick hin scheinen viele
Kinder in ihrer phänotypischen Erscheinung diesen Lebensabschnitt bereits hinter sich gelassen zu
haben - oder anders gesagt, die Kinder, die wir in die Sommerferien geschickt haben, sind nicht
mehr die, die wir anschließend wieder begrüßen. Doch der äußere Eindruck täuscht mehr vor als
eingetreten ist; haben die Kinder uns Lehrkräfte auch an Körpergröße erreicht oder überschritten, ist
ihre innere Entwicklung bei weitem nicht so sprunghaft. Die Größten unter ihnen unterscheiden sich
innerlich kaum von denen, die wir äußerlich auch noch als Grundschüler einordnen könnten. Beide
bedürfen noch elementarer Zuwendung. Dennoch müssen die Schüler/innen dieses Jahrgangs
schon ganz anders angesprochen werden als zuvor in Kl. 5: Sie kennen das System; sie wissen, wo
es lang geht; sie arbeiten durchaus bereits systemorientiert; sie wissen, wo sich Einsatz und Haltung
lohnen; sie differenzieren und arbeiten ökonomisch, in der Tendenz aber verlässlich eher weniger
als mehr. Rasant erfolgt die biologisch-psychische Entwicklung.
3.5.1 NOTWENDIGER EXKURS ZU GESCHLECHTSSPEZIFISCHEN UNTERSCHIEDEN
Ich verdeutliche das damit verbundene Problem ansatzweise mit der Erfahrung aus der OS-Statistik:
Neben den Schülern auf dem flachen Land (Ausgleich des Stadt-Land-Gefälles hinsichtlich des
Besuchs von Realschulen und vor allem dem Gymnasium) sind vor allem die Mädchen die Gewinner
der OS geworden. Ihr Anteil an der Anzahl gymnasialer Empfehlungen geht deutlich über den der
Jungen hinaus, während deren Anteil an Hauptschulempfehlungen in gleicher Weise signifikant
höher ist. Eigentlich sollte es diese Unterschiede nicht geben. Ursachen? Die Mädchen wissen
besser, nein, richtig ist, wissen eher als die Jungen, mit welchem Lern-Verhalten im System Schule
Erfolg zu erreichen ist. Sie sind den Jungen in dieser Altersphase in ihrer Entwicklung mitunter bis
zu zwei Jahre voraus. Die Entwicklungs-Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Klassen 6
und 7 sind zum Teil grotesk. Da sind die körper- und outfitbewussten Power-Girls und da die oft
noch kindlich-tapsig wirkenden Jungen. Während vielfach noch das Vorurteil gilt, Mädchen lernten
im Blick auf ihre/n Lieblingslehrer/in besonders gern, gilt dies in dieser Altersphase eher für so
manchen Jungen.
Zumindest anklingen soll, dass ein weiterer Faktor dies wohl begünstigen mag: Mädchen erfüllen mit
ihrem leiseren und zurückhaltenderen Verhalten eher unsere lehrerhaften Mittelschicht-Erwartungen
als die in ihrem Handeln weniger systemfunktional ausgerichteten Jungen, die uns häufig ganz viel
Aufmerksamkeit und Nerveneinsatz abverlangen.
Zwar müssen diese Jungen im Klassenraum zunächst auch schon mal herhalten als Objekte erster
Liebesträume, die unter den Mädchen zettelintensiv durch die Reihen im Klassenraum wandern, auf
dass es auch jedes mitbekomme. Doch was den Mädchen schon längst wichtig zu werden beginnt,
nämlich die Jungen in dieser Rolle wahrzunehmen und zu bewerten, erkennen diese erstmals, dass
Mädchen eine neue Bedeutung haben können, auch wenn sie nicht für die Klassenmannschaft im
10
Fußballspiel taugen... Diese geschlechtsspezifischen Aktionen in der Klasse 6 sind pubertär, die
vorpubertäre Phase ist mit Klasse 4 bereits aktiv geworden.
Die geschlechtsspezifische Problematik ist noch vielschichtiger und für unsere Arbeit gravierender:
„DIE ZEIT“ betitelte 2002 die Jungen als „Die neuen Prügelknaben“ und stellt sie als in Schule und
Elternhaus Benachteiligte heraus. Bei ihnen wird wesentlich häufiger ADS diagnostiziert. „Seelische
Krankheit als Folge einer Pädagogik, die eines nicht wahrnimmt: Jungen sind anders, folglich lernen
sie anders und brauchen einen anderen Unterricht. Vor allem brauchen sie Bewegungsfreiheit. Sie
leben stärker nach außen, körperlich wie seelisch. Sie lernen weniger durch Zuhören als durch
eigene Aktionen und durchs Experimentieren. Doch eine besondere Jungenpädagogik gibt es nicht
– ebenso wenig wie eine für Mädchen. Die Schule nimmt auf die Lernstile keine Rücksicht. Und es
wird so getan, als spielten sich Unterricht und Wissensvermittlung im geschlechtsfreien Raum ab;
man ignoriert, dass Erziehung überwiegend in weiblicher Hand liegt. Frauen dominieren in den
Kindergärten (95,4% und Grundschulen (84,7%). (...) Jungen sehnen sich nach ´guter´ Autorität (so
der Hannoveraner Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann), nach klaren Abmachungen und fairen
Sanktionen. Damit überfordern sie jedoch die ´modernen´ Väter und Lehrer, die gelernt haben, dass
Autorität Teufelswerk sei.“ (Sabine Etzold in „Die ZEIT“ vom 25. Juli 2002, S. 23/24, Wissen)
- In diesem Kontext wären weitere Differenzierungen im Blick auf koedukative Unterrichtsstrukturen notwendig,
z. B. im Fach Sport und in den naturwissenschaftlichen Fächern Physik und Chemie. Dies soll hier nicht geleistet werden. In der Praxis werden vorübergehende Abweichungen von diesem Grundprinzip als erfolgreich
eingestuft. Zumindest Nachdenklichkeit ist gefordert. -
Der 6. Jahrgang erfordert also ein deutlich differenzierteres Lehrerverhalten, das dieser sehr
heterogenen Schülerschaft (nicht nur zwischen Mädchen und Jungen, sondern auch zwischen
Mädchen und Mädchen und Jungen und Jungen) gerecht wird, d.h. wir müssen es auf noch relativ
junge Kinder abstimmen und zugleich die Mädchen und einige der Jungen in ihrer Vorentwicklung
berücksichtigen wie auch die geschlechterspezifischen Unterschiede. Dieser Prozess ist im Laufe
des 6. Schuljahres immer wieder neu zu justieren. Denn die über das Intervall der Sommerferien so
plötzlich sichtbar gewordene Veränderung setzt sich beschleunigend weiter fort.
Auch in dieser Phase müssen die Kinder spüren, Ernst genommen zu werden, auch in ihren uns
Lehrer mitunter belustigenden bzw. auch nervenden Entwicklungsschüben, die für sie mit viel
Entdeckung von Neuland verbunden sind und auf die wir allzu oft mit Ironie reagieren. Ironie im
Sprachgebrauch des Lehrers könnte ein weiteres Stichwort für einen Exkurs sein. Der sei hier fern:
Doch Ironie des Erwachsenen ist in dieser Altersgruppe, erst recht von einer Lehrkraft,
Fehlverhalten.
3.6 PÄDAGOGISCHE KONSEQUENZEN FÜR DEN UNTERRICHT – VOR ALLEM FÜR KLASSE 5
In Klasse 5 es noch mit jungen Kindern zu tun zu haben, diese Einstellung muss die Lehrkraft ganz
entschieden vor Aufnahme des Unterrichts sich bewusst machen und sich darauf optimal einstellen.
Dies gilt generell, doch in der gegenwärtigen Situation ist dies systematisch anzustreben/zu
erarbeiten, nachdem Ihnen die OS diese Jahrgänge für gut zwei Jahrzehnte vorenthalten hat.
Hierzu zählt die Bewusstmachung dessen, was für die Kinder alles neu ist bzw. anders sein wird,
und die Kenntnis ihres bisherigen schulischen Erfahrungshorizontes. Der Sprung ist sehr viel größer,
als wir ihn uns vorstellen. Die OS hat bisher den krassen Unterschied gemindert, abgefedert. Allein
der Wechsel vom Klassenlehrerprinzip zum Fachlehrerprinzip macht sehr elementar das Ausmaß
der Veränderung deutlich. Dies erfordert mehr als die vom Erlass geforderten Konferenzen und
Dienstbesprechungen mit den Grundschulen. Schauen Sie sich die Arbeit in der GS an! Allein deren
pädagogisch und fachlich und individuell ausgerichteter Lehr- und Lernraum differiert um einen
Quantensprung gegenüber den entsprechenden gymnasialen Unterrichtsräumen, in denen Sie die
GS-Arbeit fortsetzen. Schauen Sie sich auch auf den Schulhöfen der Grundschulen um! Mindern Sie
dann durch geeignete organisatorische und pädagogische Maßnahmen das Erschrecken vor der
neuen Schulwelt. Ermöglichen Sie eine Schulbesichtigung vor den Sommerferien; begrüßen Sie die
Kinder im Rahmen einer schönen Feier mit starker aktiver Beteiligung älterer Schüler/innen (weniger
also durch eine noch so adressatengerechte Rede des Schulleiters/der Schulleiterin; zeigen Sie als
11
Klassen-, als Fachlehrer den Kindern, dass Sie sich auf diese Neuankömmlinge eingestellt haben;
der feste Klassenraum sollte von Ihnen nicht erstmals im Rahmen der Begrüßung aufgesucht
werden – er sollte bereits Ihre Handschrift haben (Anordnung der Tische; ansatzweise Bilder oder
Raumschmuck zur Anregung weiterer klasseninterner Ausgestaltung; ein bunter Blumenstrauß
vielleicht; ein anregender Willkommensgruß an der Tafel (sauberst geschrieben! – bei dieser
Gelegenheit: Kennen und können Sie selber die Schrift, die heute gelehrt wird, die vereinfachte
Ausgangsschrift?); nutzen Sie intensiv die erste volle Schulwoche für freie Unterrichts- und
Arbeitsformen; die werden ausdrücklich vom Grundsatzerlass vorgegeben (s. 3.7.2); entwickeln Sie
mit den Kindern Regeln und Rituale unter Einbindung des Klassenkollegiums (Absprachen dazu und
zu kurz- und langfristigen Unterrichtplanungen, aber auch zur Betreuung einzelner Schüler/innen
und die Gestaltung des Schullebens sind schulintern durchzuführen (s. 4.5 und 4.6 im Erlass).
3.7
BEDEUTUNG VON KLASSEN- UND SCHULKLIMA FÜR ERFOLGREICHES LEHREN UND
LERNEN
Schule ist mehr als die Summe aller fachlichen Einzelstunden. Daran mitzuwirken und dafür Sorge
zu tragen ist weitgehend die Aufgabe von uns Lehrkräften, dann auch die von Schülern und Eltern
und schulischen Mitarbeitern und den Institutionen und Behörden, die für und mit Schulen arbeiten.
Gefordert ist eine Schule, die sich als lernende Einheit versteht, deren Kollegium informiert,
kommuniziert, diskutiert, kooperiert, gemeinsam plant und entwickelt, das am Erfahrungsaustausch
interessiert ist, sich fortbildet und Teambildung praktiziert, das Unterrichtshandeln kritisch und
selbstkritisch reflektiert, Ziele und Erreichtes evaluiert, sich korrigierend erneut verständigt und
Fachliches und Überfachliches neu verabredet und am Bewährten festhält. Das Schlagwort vom
Öffnen des Unterrichts verliert erst dann seinen formelhaften Charakter, wenn wir Lehrkräfte uns
selber im Blick auf unser unterrichtliches Verständnis und Wirken anderen gegenüber öffnen. Hierzu
zählen im Blick auf Planung und Gestaltung von Unterricht vor allem die Kolleginnen und Kollegen
und die Binneninstitutionen einer Schule wie z. B. Klassen-, Fach- und Gesamtkonferenzen, hierzu
zählen auch die Schüler/innen und deren Eltern nicht nur im Rahmen von Information, sondern von
Beteiligung und Mitgestaltung. Dies verlagert Verantwortlichkeiten auf breitere Ebene. Dort, wo
Mitwirkungsmöglichkeiten bestehen, muss auch Verantwortung übernommen werden. Dies alles
meint neben der unterrichtsorientierten Einbindung außerschulischer Bildungsmöglichkeiten die
geforderte Öffnung von Schule und die offenen Unterrichtsformen.
Es geht um die institutionellen Bedingungen einerseits und auch zugleich andererseits um die
Kompetenzen und Haltungen der handelnden Personen. Dies macht der angelsächsische Begriff
der „openess“ deutlich: Die beiden Felder offenen Unterrichts schwingen mit: Die „Offenheit des
institutionellen Rahmens für eigenständiges Handeln der Personen und die persönliche Einstellung
als individuelles Offensein für (nicht in jedem Fall vorhersehbare) Einflüsse, die von außen auf das
didaktische Handeln einwirken.“ (Heursen, Gerd, Selbstorganisiertes Lernen; in: Pädagogik 7-8 1996, S.
77)
Die damit verbundenen Unterrichtsformen werden schon lange nicht zuletzt deswegen gefordert, da
die Qualifikationen, die durch Schule angestrebt werden, durch neue Arbeitsformen in der
Erwerbsarbeit wie in anderen Tätigkeitsfeldern das Folgende erfordern:






mehr Grundwissen und weniger Detailwissen
fachübergreifendes und praktisch-polytechnisches Wissen
lebenslange Lernbereitschaft und Lernkompetenz
Fähigkeit zur Kooperation und Verantwortungsbereitschaft
mehr Selbstständigkeit im Denken und Handeln
Fähigkeit, mit neuen Situationen umzugehen
(sehr aufschlussreiche Beiträge im Heft 6 aus dem Hessischen Institut für Bildungsplanung und
Schulentwicklung zum Thema: Schulentwicklung im Umbruch)
4
PRINZIPIEN DES UNTERRICHTS
4.1 PRINZIPIEN ZEITGEMÄßEN GRUNDSCHULUNTERRICHTS
12
Schauen wir zunächst in die Grundschule. In ihr gelten folgende Prinzipien als zeitgemäß für die
Grundschularbeit (nach Arbeitskreis Grundschule im Grundschulverband, Pädagogik, Mai 2003, S.
60f); an diesen hat der Unterricht in den neuen 5. Klassen des Gymnasiums sich zu orientieren:
1. Lernen als Selbstaneignung der Welt (Schule dient der Erweiterung der Selbst- und
Welterfahrung. Lernen bedeutet Selbst- und Neukonstruktion der Welt. Damit sich Bildung
ereignen kann, muss die Schule den Kindern die Gelegenheit eröffnen, ihren eigenen Fragen
zu dieser Welt möglichst selbstständig einer (vielleicht auch nur) vorläufigen Lösung
zuzuführen.)
2. Geborgenheit und Lebensfreude (Schule hat eine dem Leben und Lernen bekömmliche
Stätte zu sein in physischer wie psychischer Hinsicht. Wohlbefinden ist Voraussetzung für
Lernanstrengung und Lernerfolg.)
3. Grundschule als Leistungsschule (Die Kinder wollen etwas leisten, sie genießen ihre
Fortschritte, deswegen sind ihnen wichtige Aufgaben/Probleme zu stellen, an denen sie
wachsen können)
4. Lernen an bedeutsamen Inhalten (Für die Bildung der Kinder ist nicht die Menge des
vermittelten Wissens wichtig, sondern die Qualität der Aneignung und die unmittelbare
Sinnhaftigkeit der Lernaktivitäten.)
5. In Zusammenhängen lernen (Bildung verlangt die bewusste Durchdringung von
Zusammenhängen. Der Unterricht soll daher den Kindern die Zusammenhänge zwischen
den einzelnen Lernbereichen und Lerngegenständen erschließen und so weit und so oft wie
möglich Fühlen, Denken, Forschen und Handeln sowie kreatives Gestalten in der Arbeit an
lernbereichsübergreifenden Vorhaben miteinander verbinden.)
6. Lernen in der Gemeinschaft mit anderen (Bildung ist angewiesen auf Austausch und Dialog,
die Förderung von Prozessen des sozialen Lernens, die Stärkung der
Kooperationsbereitschaft, die Entwicklung von Kritikfähigkeit und einer angemessenen
Konflikt-/Streitkultur)
7. Gleichzeitigkeit von Differenzierung und Integration (Angesichts des zu erwartenden
Anmeldeverhaltens der Eltern, aber auch angesichts der nicht synchron ablaufenden
körperlich-seelisch-geistigen Entwicklung der Kinder gilt dieser Anspruch auch für die Arbeit
in der gymnasialen Grundstufe)
8. Chancengleichheit und Achtung vor dem Anderen (unser pluralistisches und multi-kulturelles
Gemeinwesen ist ethisch und moralisch auf diese Werteeinstellung angewiesen)
9. Grundschule als Lernfeld für Demokratie (Weiterentwicklung der Mitwirkung der Kinder an
der Gestaltung von Unterricht, ihrer Klassengemeinschaft und ihrer Schule insgesamt)
4.2 PÄDAGOGISCHE KONSEQUENZEN FÜR DIE ARBEIT DER SEK I
Unterricht muss so angelegt sein, dass sich die jungen Menschen für ihr Lernen und Leben in der
Schule mitverantwortlich fühlen können. Die klassische Vermittlungsdidaktik muss zu Gunsten einer
Didaktik des Lehrens und Lernens relativiert werden. Diese setzt auf vielfältige Formen der auch
selbstständigen Steuerung der Lernprozesse und ist pointiert auf Problemlösungs- und
Handlungskompetenz angelegt. Die Sektion Schulpsychologie im Bund Deutscher Psychologen
stützt diese Forderungen nachhaltig: „Der fragend-entwickelnde lehrerzentrierte Unterricht dominiert
in deutschen Schulen. Dieser Unterricht ignoriert wesentliche Befunde der Psychologie und bleibt
deshalb unter dem möglichen Leistungsniveau. Die deutsche Schule benötigt dringend einen
Paradigmen-Wechsel
der
Unterrichtskultur
gekennzeichnet
durch
die
Stichworte:
Eigenverantwortung und entdeckendes Lernen.“ (Presseerklärung auf dem Deutschen
Psychologentag, 02.10.2003)
Selbstreguliertes Lernen ist zugleich Ziel und Mittel schulischer Lernprozesse. Die Lernenden
entwickeln dabei eine Beziehung in der Ebene „Person- Sache“ wie auch „Person – Person“.
Das Lernen ist leistungsorientiert.
13
Das wichtige Ziel, Schülern/Schülerinnen Methodenkompetenz zu vermitteln, wird besonders
dann erfolgreich sein, wenn diese Aufgabe als fachübergreifender Auftrag angenommen wird und
von Beginn an kontinuierlich und in schrittweise anspruchsvollerer Weise umgesetzt wird.
Die notwendige Förderung der Individualität schließt die Ausbildung der Fähigkeit ein, von der
eigenen Person zu Gunsten anderer Menschen absehen zu können. Selbstbestimmung und
Selbstbeschränkung gehören zusammen.
Lernprozesse und Aufgaben im Fachunterricht sind so zu gestalten, dass sie Erfolgszuversicht
unterstützen, Misserfolgsmöglichkeiten eingrenzen. Ermutigung ist ein fachübergreifendes
Erziehungsziel, das dem Einzelnen wie der Lerngruppe Zuversicht vermitteln kann, sich den
Belastungen und Widerständen einer wechselhaften Zeit zu stellen. Es fördert eine positive
Lebenseinstellung.
Im gymnasialen Schulleben sollte es ein ausgewogenes Klima geben, getragen von Geborgenheit
und Herausforderung.
4.3 HILFREICHES PÄDAGOGISCHES HANDWERKSZEUG VOR ALLEM FÜR DIE
KLASSEN 5 UND 6
Die folgende Auflistung versteht sich als Anregung. Zum Teil geht es um Setzungen von Lehrkräften,
überwiegend aber um gemeinsame Verabredungen im Klassenteam (Lehrkräfte und Schüler). Dies
basiert auf der Erkenntnis, dass es besser ist, Erwartungen und Zielvorstellungen so früh wie
möglich vorzugeben und abzusprechen, als auf eine sich von selbst einstellende Umsetzung warten
zu wollen; die ist ein seltener Glücksfall. Lehrerhandeln und Lehreranregung sind gefordert,
andernfalls sind Enttäuschungen unvermeidbar. Im Prinzip aber setze ich auf die dialogische
Verständigung. Die Literatur gibt eine Fülle von Anregungen zum Methodenrepertoire für die
praktische Durchführung.



klare Veraredungen zum geregelten Verhalten im Klassenraum außerhalb und innerhalb des
Unterrichts (freundlicher Umgang miteinander; sachgerechte und schonende Nutzung des
Raumes und des Mobiliars; rücksichtsvoller Umgang mit allem, was anderen gehört..)
gemeinsame Anstrengungen zur Ausgestaltung des U-Raumes
o vielfältig funktional und mit Platz für handlungsorientierte Sequenzen [ Folie 4: flexible
Tischanordnung, die mit leichter Umstellung methodisch vielfältiges Arbeiten
ermöglicht ]
Unterrichtsgestaltung
o pünktlicher Beginn; die Stunde effizient ausnutzen
o kein „Durchnudeln“ (Schüleraussage) des Stoffes, sondern anspruchsvolle und
herausfordernde Aufgabenstellungen
o statt Wiederholung gleicher Übungen, eine neue Perspektive, eine zweite und dritte
Lösung suchen lassen
o Vernetzungen entdecken lassen
o Interessen und motivationale Befindlichkeiten berücksichtigen; gerade leistungsstarke
Schüler verlieren als Erste die Lust an der Sache und das Interesse, ihre Fähigkeiten
zu steigern (ein Ergebnis durch LAU)
o klare, evtl. auch einfachere Strukturen schaffen
 informieren, wohin die Unterrichtsreise hingehen soll/kann
o Leistungserwartungen deutlich beschreiben
o viel Unterrichtszeit darauf verwenden, dass Schüler sich untereinander austauschen
können (Schülern gelingt es mitunter leichter, sich in Mitschüler hineinzuversetzen =
Schüler lernen von Schülern)
o regelmäßige Rückmeldungen der Lehrer an die Schüler/innen
o den Lern-/Arbeitsvorgang der Schüler/innen nicht stören – Beobachtungschance
nutzen!
o ein angenehmes Unterrichts- und Lernklima mit den Schülern/innen gemeinsam
entwickeln und pflegen – freundlich blicken!
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Setzen von Lernzielen durch jeden Schüler (Kontrolle nicht nur durch Lehrer, auch
durch Schüler selber)
Lerntagebücher oder ein Portfolio zur Dokumentation der Lernergebnisse
Es geschieht nichts, was nicht zu sichtbaren Lernerfolgen führt
bewusste Nutzung der Heterogenität (neben der Homogenität)
umfassend lehren und lernen, also nicht nur Wissen und Können, sondern auch
soziale Kompetenzen erwerben und Charakter entwickeln
mit vielfältigen Methoden arbeiten – doch dies im funktionalen Bezug, jedoch kein
buntes Potpourri!
auf tragfähige Spannungsbogen achten: wichtig sind kürzere Unterrichtsschritte mit
Wechsel der Sozial- oder auch Arbeitsformen oder auch des Lernortes
generell: U-Einheiten quantitativ und qualitativ gut portionieren - nicht zu langfristige
und nicht zu umfangreiche Zielsetzungen (an kumulative und vernetzende
Lernmöglichkeiten denken - Mut zur Lücke! Es gibt Folgejahre!)
Schüler/innen dürfen Lernstoff selbst mitentscheiden nach Angeboten durch
Lehrkräfte; die meisten davon sind verpflichtend, andere Themen dürfen abgelehnt
werden
Lernen im Lebensbezug
Lernen mit Bewegen ermöglichen – Bewegungen sind nicht als isolierte
Unterbrechungen des Lernprozesses zu verstehen, vielmehr verbessern sie objektiv
die Lerneffizienz
Berücksichtigung des Stundenplans der Klasse; Kenntnis der Themen anderer
Fächer; fachübergreifende Verabredungen zur Gewinnung additiver Lerngelegenheiten
Schüler/innen lernen, das Lernen zu lernen (Lerntypanalyse; Lerntechniken; Arbeitsund Präsentationstechniken; Kommunikationsverfahren...)
Übungen zum Lerntyp sind gut möglich ab 5. Klasse (Diephold, Siga, Die Fundgrube
für den Klassenlehrer, Cornelsen)
Entwicklung des Sozialen Lernens [ ein mögliches Programm zum sozialen Lernen in
den Klassen 5 und 6 illustriert die Folie 5 ]
Als Korrektiv, zum Vergleich, zur Bestätigung bzw. Erweiterung liste ich hier die „10 Merkmale guten
Unterrichts“ auf, die ich erst im Nachgang bei Hilbert Meyer gefunden habe (in Pädagogik, 10/2003
mit dem Hauptthema Problemschüler):
1. Klare Strukturierung des Lehr-Lernprozesses
2. intensive Nutzung der Lernzeit
3. Stimmigkeit der Ziel-, Inhalts und Methodenentscheidungen
4. Methodenvielfalt
5. intelligentes Üben
6. individuelles Fördern
7. lernförderliches Unterrichtsklima
8. sinnstiftende Unterrichtsgespräche
9. regelmäßige Nutzung von Schüler-Feedback
10. klare Leistungserwartungen und -kontrollen
4.4 ANREGUNGEN ZU REGELN UND RITUALEN
[ Folie 6: Rituale oder: Die Kultur des Zusammenlebens ]
Rituale/Regeln sind gut geeignet zur Entwicklung der Lernatmosphäre und zur Steuerung des
Unterrichtsgeschehens. Rituale leisten „einen wertvollen Beitrag für die Kultur des Zusammenlebens
in der Schule.“ (Miller, a.a.O., S. 17; Pädagogik, 12/2001 hat Literatur jüngeren Datums zu diesem
Thema ausgewertet).
15
Aus: Riegel, Enja, Rituale oder: Die Kultur des Zusammenlebens.- In: Pädagogik 01/1994, S. 6ff:
„Im Verlauf der letzten 10 Jahre führte die rapide Veränderung der Lebenswelt der Schüler
außerhalb der Schule zur Vereinzelung, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, was sich zum Teil
auch in der Schule in destruktivem und aggressivem Verhalten äußerte. Wir reagierten darauf,
indem wir bewusst und überlegt Rituale setzen, um
 die Arbeit im Unterricht zu strukturieren,
 dem Zusammenleben eine verlässliche Orientierung zu geben,
 die Schulzeit zu gliedern und mit Spannung zu erfüllen und
 jedem/jeder Einzelnen psychischen Halt zu geben.“
Der letzte Punkt hat auch durch PISA nachhaltige Aufmerksamkeit erbracht: Die Betonung der
Bedeutung des Einzelnen, in seiner Einzigartigkeit auch in gesellschaftlicher Bedeutung - niemand
dürfe fallen gelassen werden! – hat bei uns Defizite. Da sind uns die Siegerländer voraus. „Kinder
(und Jugendliche) brauchen heute erheblich mehr individuelle Zuwendung“, schreibt Frau Hohlmeier
ihren Lehrkräften. Schulen, die diese Grundhaltung ihre Schüler/innen erfahren lassen, erfüllen ein
wichtiges Qualitätsmerkmal einer guten Schule. Und diese Schule steht zunehmend im kritischen
Blick der Öffentlichkeit, ihre Arbeit wird von der Elternschaft hinterfragt, denn man möchte für sein
Kind die beste Schule. Aus Bayern heißt es dazu: „Die Öffentlichkeit verlangt vor dem Hintergrund
nationaler und internationaler Vergleichsstudien Aufschluss darüber, welche Leistung die einzelne
Schule erbringt und wie sie sich im Feld vergleichbarer Schulen positioniert.“ Neben den besonderen
fachlichen Profilen der Gymnasien wird zunehmend ihre innere Arbeit fokussiert. Wenn wir da
bestehen wollen, geht dies nicht ohne schulische Qualitätsentwicklung. Diese bedarf des
Zusammenwirkens aller in Schule. Doch dazu im Schlusspunkt.
Enja Riegel (sie ist die langjährige Oberstudiendirektorin der Helene-Lange-Schule, der bekannten
Reformschule in Wiesbaden mit PISA-Ergebnissen oberhalb der „Leseweltmeister in Finnland und der
Mathematikchampions aus Asien“ (Süddeutsche Zeitung) ; gerade ist ihre sehr anregende Veröffentlichung
„Schule kann gelingen“ im S. Fischer Verlag erschienen) spricht folgende Rituale an:
- Aufnahmefeier für den neuen Schülerjahrgang – Weihnachtsfeier – Sommerfest - Verabschiedung
eines Schülerjahrgangs - den Montag-Morgen-Kreis - freie Vorstellungen von Texten, Büchern,
Experimenten, Vorträgen - besondere Formen des Projektbeginns und –endes - Schülertreffflure mit
Ausstellungsmöglichkeiten - Jahreszeitliches. Sie unterstreicht die Wichtigkeit, im Lehrerteam immer
wieder über diese Rituale zu sprechen und sie durch Modifizierung bzw. auch ganz andere, neue
Rituale den jeweiligen Lebensstufen der Schüler/innen anzupassen.
Da die Kinder infolge ihrer Lebensbedingungen außerhalb der Schule kaum Rituale kennen und da
sie von sehr verschieden arbeitenden GSn (Lehrkräften) kommen können, müssen sie zunächst
Erfahrungen mit Ritualen und deren Auswirkungen machen. Deswegen müssen diese Rituale zu
Beginn der Klasse 5 von den Lehrkräften klar und eindeutig eingeführt werden, bevor die Kinder
Gelegenheit erhalten, über Veränderungen und Neuregelungen mitzubestimmen. Viele Kinder
allerdings verfügen heute durch die Arbeit der GS bereits über eine Reihe schulischer Rituale. In
Klasse 5 würden wir etwas versäumen und Unterrichtseinstellungen und Arbeitsverhalten
verunsichern, wenn wir daran nicht anknüpfen würden. In diesem Sinne ist Informationsfluss
zwischen den Schulformen zwingend geboten. Es besteht meiner Annahme nach eine gymnasiale
Nachholpflicht.
Für die tägliche Unterrichtspraxis möchte ich aus meinen Erfahrungen hierzu noch folgende
Anregungen geben, die nach meiner Wahrnehmung im gymnasialen Bereich weniger bedacht
werden a) hinsichtlich der Bedeutung für die jungen Schüler/innen und b) auch zur eigenen
Entlastung des unterrichtlichen Krafteinsatzes. Regeln und Rituale ermöglichen ausgeprägte
Entlastungen für die Lehrkraft.


Form der Begrüßung zur Vermittlung von Wir-Gefühl, zum Konzentrationsgewinn
(Beruhigung), zur Erreichung von Aufmerksamkeit, zur Verdeutlichung des Übergangs von
Frei- zur Arbeitszeit
Was wird zu Stundenanfang bereit gehalten?
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16
feste Zeichen/Signale für Arbeitsformen und deren Wechsel
Verabredungen über Arbeitsmaterialien (fine-liner, Markierstifte, Hefte und Hefter etc.)
Organisation von Helferaufgaben
Wer bewegt was wie wohin bei Wechsel der Sozialform?
Merk-/Regelhefte: Die Notation klären (die Kinder haben noch nicht das Vermögen, klar
strukturiert Wichtiges zu Papier zu bringen)
klare Meldeverabredungen (eine Hand = Beitrag gehört direkt zum Gesprächsinhalt, er führt
den Gedanken fort; eine Faust = der Beitrag spricht gegen den Gesprächsinhalt, er ist eine
Entgegnung; beide Hände = der Beitrag will einen neuen Gedanken ansprechen etc.)
Mitschriften klären (Tafelabschriften besser auf Hinweis; dafür aber Zeit geben; die
Übernahme eines gut strukturierten Tafelbildes muss eingeübt werden)
Aufteilung von Wand-Info-Bereichen (Tafeln, Pinnwände)
Lob- und Meckerecke bzw. -kasten
Verhalten während der Arbeits- und Lernprozesse: ausreden lassen, zuhören, aufeinander
eingehen, alle arbeiten mit, Moderator, Zeitnehmer, Protokollant, Schülerketten
Freiraum für Situatives
Formen der Klärung von Störungen
gezieltes Setzen des Stundenschlusses (in der Praxis läuft es auf ein Auseinanderlaufen
hinaus; es könnte aber auch vorab zur Metakommunikation der geleisteten Stundenarbeit
genutzt werden und einen gemeinsamen Schlusspunkt haben)
Hausaufgaben
(interessante Beiträge in Pädagogik, 2/2000)
o Klärung von Aufgabenanforderungen: Was ist gemeint mit: „Erläutere ...“ oder
„Prüfe...“ oder „Untersuche...“?
o Verabredung qualitativer Aspekte (auch zur äußeren Form), zu best. Heften und zum
Zeitumfang
o Funktion von Hausaufgaben thematisieren (auch für die Eltern)
o Hausaufgaben mit Anschrieb, möglichst am festen Info-Platz (ausreichend Zeit - mit
Nachfragemöglichkeit - evtl. schon früher platziert als erst beim Gedrängel am
Stundenende)
o Hausaufgabenauswertung und -beachtung sachlich und ökonomisch (hat zu tun mit
Verlässlichkeit und Wertschätzung)
o nicht gemachte HA werden konsequent eingefordert
o regelmäßige, systematische Durchsicht von HA
o Hausaufgabenheft möglichst als Terminplaner
o beispielhafte Gestaltung eines idealen häuslichen Arbeitsplatzes in der Schule
Doch es gibt nicht nur Rituale für Schüler/innen. Zum Ritual für die Lehrkräfte, ganz besonders für
die in einer Klasse, sollte gehören, gezielt und regelmäßig, also nicht nur zufällig situativ, über ihren
Unterricht und ihre gemeinsamen Schüler/innen zu sprechen. Auch dies ist ein Element der
besseren Steuerung von Unterricht und dessen Qualitätssteigerung. Rituale erweitern also auch das
 Lehrer-Lehrer-Verhalten als Element einer dialogischen Schulkultur
o Lehrkräfte der Klasse, Fachkolleginnen und -kollegen reden miteinander über
Unterricht (zwar auch, aber nicht nur über das unmögliche Verhalten des Schülers
XY, sondern über hilfreiche Beobachtungen im Sinne positiver bzw. misslungener
Unterrichtserfahrungen)
o Lehrkräfte beobachten sich gegenseitig (Hospitationskultur an Schule; Öffnung des
Klassenraums im wörtlichen Sinn)
o Lehrkräfte lernen, selbstkritisch den eigenen Unterricht zu thematisieren, auch einmal
Fehler einzugestehen und sind offen für Erfahrungen anderer
5
TEAM-ARBEIT ALS MOTOR ZUR ENTWICKLUNG VON KLASSEN UND SCHULE ODER:
WOHIN SOLLTE DIE SCHULISCHE REISE GEHEN? [ Folie 7: Teamgeist ]
17
Mehrfach ist bereits deutlich geworden, dass die unterrichtliche Arbeit nicht mehr verstanden werden
kann als ausschließliche Leistung der einzelnen Lehrkraft in freier pädagogischer Verantwortlichkeit.
Auflagen externer Leistungsevaluation und die Vorbereitung von Schülern/Schülerinnen auf die
Erfordernisse der modernen Arbeitswelt verlangen auch in der Schule ein ergebnisorientiertes
Handeln, an dem alle Lehrkräfte und alle Fächer ihren Leistungsanteil haben. Das zielgerichtete
Zusammenwirken aller Faktoren erfordert nicht nur Absprachen, sondern Zusammenarbeit im Team.
Die Schüler/innen in 5 und 6 sind nicht ohne Vorerfahrung: Die Grundschule hat zumeist mit
Tagesplan und Wochenplanarbeit vorrangig in Einzel- und gelegentlich in Partnerarbeit den
Unterricht strukturiert. TA ist jedoch mehr als das Austeilen, Bearbeiten von Arbeitsblättern und
deren Kontrolle; TE erfolgt weitgehend in Gruppenarbeit, während in der GS die Bearbeitung
zumeist von den Schülern einzeln geleistet wird.
5.1 TEAMARBEIT (TA) UND TEAMENTWICKLUNG (TE)
„TE bedeutet, dass sensibel und regelgebunden zusammengearbeitet und die jeweilige Aufgabe in
konzertierter Weise gelöst wird. TE heißt, dass die SchülerInnen im besten Sinne des Wortes
aufeinander angewiesen sind und sich bei der anstehenden Lernarbeit wechselseitig unterstützen
und bestärken. TE verlangt(...), dass in den Gruppen zielstrebig und konstruktiv gearbeitet wird und
unnötige Störungen und/oder Trödeleien gruppenintern unterbunden werden. (...) TE braucht (...) vor
allem eingespielte Regeln, Abläufe und Interaktionsroutinen.“ Klippert, Heinz, Teamentwicklung im
Klassenraum; Beltz, S. 15)
Das Repertoire für TE stellt sich nicht von selbst ein, es muss systematisch eingeübt werden. Das
gelegentliche Anwenden dieser Methode im Fachunterricht fördert die notwendigen Kompetenzen
nicht. Es bedarf einer Übungs- und Klärungsarbeit in möglichst vielen Fächern. Doch wer fühlt sich
verantwortlich? Im Prinzip sind zwar alle ein bisschen verantwortlich, faktisch nehmen sich nur
wenige Lehrkräfte die erforderliche Zeit. Kein Wunder, dass die gängige GA recht unbefriedigend
und ineffektiv verläuft und den Lehrkräften Grund zum Klagen gibt. Die meisten Schüler/innen sind
schlicht überfordert und verlieren sich in Streitereien, Pseudoaktivitäten und/oder
Arbeitsvermeidungsstrategien. Sie müssen GA erst lernen und sich als Team entwickeln!
Hierzu zählt ein erweiterter Lernbegriff, der Lernen in einer inhaltlich-fachlichen, in einer methodischstrategischen, in einer sozial-kommunikativen und in einer affektiven Dimension umfasst. (Klippert,
TE im Klassenraum, S. 16) In weiterer Konsequenz ist dies ein wesentlicher Baustein für Klipperts
„Das neue Haus des Lernens“ um den Zentralbegriff des eigenverantwortlichen Arbeitens und
Lernens (EVA) (s. hierzu S. 21), das auf Methodentraining, Kommunikationstraining und
Teamentwicklung basiert. [ Folie 8: Das neue Haus des Lernens ]
Zum Gruppenunterricht (GU) mit Bezug auf Hilbert Meyer:
Im GU können sich mehr Schüler/innen aktiv am Unterrichtsprozess beteiligen als im
Frontalunterricht.
Sie
können
sich
(...)
ohne
Scheu
äußern,
entwickeln
ein
Zusammengehörigkeitsgefühl, können relativ selbstständig arbeiten, können Lernumwege und
Seitenpfade betreten, die im Frontalunterricht aus Zeit- und Kompetenzgründen zumeist blockiert
werden, können ihre Neugierde ausleben (von der Lehrkraft nicht vorhergesehene Aspekte des
Themas einbringen und bearbeiten), erlaubt es der Lehrkraft, die Schüler/innen mit mehr Muße und
in anderen Rollen als im Frontalunterricht zu beobachten, erfordert kurzfristig gesehen zumeist mehr
Zeit als Frontalunterricht; dieser Nachteil zahlt sich durch wachsende Methodenkompetenz aus. [
Folie 9: Veränderte Lehrer- u. Schülerrolle ]
Und ich stütze mich nachhaltig und erneut auf Klippert (Klippert, TE im Klassenraum, S. 35): GA ...
 „...reagiert auf den vorherrschenden Trend zur Einkind-Familie und gibt den SchülerInnen
Gelegenheit zum kompensatorischen sozialen Lernen in Gruppen;
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
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...trägt den elementaren Kommunikations- und Kooperationsbedürfnissen der
SchülerInnen Rechnung und vermittelt ihnen tendenziell mehr Sicherheit und Geborgenheit
im sozialen Miteinander;
...korrespondiert mit den veränderten Bedingungen und Anforderungen in der modernen
Berufs- und Arbeitswelt und bahnt den Erwerb zukunftsträchtiger Schlüsselqualifikationen an;
...erleichtert den LehrerInnen die alltägliche Differenzierungsarbeit durch den allmählichen
Aufbau funktionierender Helfersysteme und gewährleistet damit, dass die SchülerInnen in
leistungsheterogenen Gruppen an ein und derselben Aufgabe arbeiten können und nicht
mehrere Aufgabenniveaus (-pakete) zeitaufwendig vorbereitet werden müssen;
...reflektiert die demokratiefeindlichen Tendenzen in der modernen Jugendszene und ist ein
nicht zu unterschätzender Beitrag zur Gewaltprophylaxe in unserer Gesellschaft.“
Zu betonen ist aus meiner Sicht die hiermit verbundene gesteigerte Lerneffizienz im Blick auf den
erweiterten Lernbegriff, der in dieser Sozialform sich vierfach bemerkbar macht. Zudem profitieren
die schwächeren Schüler/innen von der Teamorientierung genauso wie die stärkeren, die in ihrer
Expertenrolle das vorhandene Wissen wirksam festigen und zugleich wichtige methodische,
kommunikative und affektive Fähigkeiten erwerben.
Die Steigerung von Motivation und Selbstwertgefühl: In einer Studie zu kooperativ lernenden
Schülern aus Mitte der 80er Jahre heißt es: „Das Gefühl, sich selbst etwas zuzutrauen und für
andere wichtig zu sein, ist in seiner Bedeutung für weite Erlebens- und Verhaltensbereiche kaum zu
überschätzen.“ Von signifikanten Steigerungen des Selbstwertgefühls der kooperativ lernenden
SchülerInnen im Gegensatz zu den Kontrollklassen ist die Rede.
Die Bedeutung des sozialen Lernens: Einander zu helfen und zu unterstützen wird durch
kooperative Arbeitsformen erwiesenermaßen ebenso gefördert wie das wechselseitige Verständnis
und Einfühlungsvermögen der Schüler/innen.
Die Vorbereitung auf die Berufswelt: Die Fähigkeit und Bereitschaft, im Team zu arbeiten und die
immer anspruchsvoller werdenden Aufgaben kooperativ zu bewältigen, ist eine der bedeutendsten
Schlüsselqualifikationen in Gegenwart und Zukunft.
Die Förderung der Demokratiekompetenz: Unser demokratisches Gemeinwesen steht und fällt mit
der Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen, sich in sozialen Gruppierungen engagiert und
konstruktiv zu betätigen, Verantwortung zu übernehmen, im Diskurs mit anderen Problemlösungen
zu suchen, Debatten und Diskussionen sensibel zu führen, Kritik anzunehmen und Kritik zu äußern,
Solidarität zu leben und die Würde der Mitmenschen zu respektieren.
Roland Bauer, Schulrat, vertritt engagiert Positionen ähnlicher Art und fordert „offene Arbeitsformen“.
Er formuliert diese explizit so, um sie von dem Begriff der óffenen Unterrichtsform´ (Perspektive der
Lehrkraft) und auch von dem Begriff der óffenen Lernform´ (Perspektive der Schüler) abzusetzen.
Sehr Anregendes hat er dazu in einem Artikel veröffentlicht (Pädagogik 1/2004, S. 16-20). Ich zeige
die offenen Arbeits- und Übungsformen per Folie und akzentuiere das Ziel von „Freiarbeit“: „Ziel der
Freiarbeit ist die Selbständigkeit beim Lernen, in der Höchstform die Studierfähigkeit.“ (Bauer,
a.a.O., S. 18) Dazu ist nur zu sagen: Ja, das wollen wir doch! [ Folie 10: offene Arbeitsformen – sie
sind nur schüleraktivierend, wenn sie schülergerecht sind ]
Die Entlastungsperspektiven für die Lehrkräfte in psychischer und physischer Hinsicht sind sehr
hoch einzuschätzen: im fragend-entwickelnden frontalen Unterrichtsgespräch sind die erforderlichen
vielfältigen aktiven und reaktiven Leistungen der Lehrkraft in der Steuerung der sachlich-fachlichen,
der sozialen und pädagogischen Interpunktionsschritte in kürzester Zeiteinheit höchst belastend,
Stunde für Stunde. In der TA gelangen die Schüler/innen in ihren Gruppen mehr und mehr zur
Selbstregulierung ihrer Arbeit und der dabei auftretenden Probleme und Friktionen – und ich füge
frech hinzu, solange sie vom Lehrer dabei nicht gestört werden... (H. Klippert, TE im Klassenraum, S.
45). [ Folie 11: 2 Karikaturen: Das übliche, aber falsche, gegenüber dem ungewöhnlichen, aber guten
Lehrerverhalten ]
Hierzu muss in die TE investiert werden; Renditechancen werden als günstig betrachtet: „Wer
frühzeitig und konsequent genug in den Aufbau der skizzierten Helfer- und Erziehungssysteme
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investiert, der kann über Jahre hinweg davon profitieren und den eigenen Kraft- und
Nervenaufwand wohltuend verringern.“
5.2 NEUE AUFGABEN UND CHANCEN FÜR DEN FRONTALUNTERRICHT
FrontalU ist keine Methode, sondern zählt zu den Sozialformen, die Kommunikationsabläufe,
Interaktionen und Beziehungsstrukturen festlegen. Herbert Gudjons nennt 2 Varianten:
a) traditioneller FrontalU
- er überwiegt zumindest nach Schüleraussagen
b) integrierter FrontalU
- ein neues Konzept, das auf dem Zusammenwirken frontalunterrichtlicher Phasen mit
eigentätigen,
selbstverantworteten,
selbstgesteuerten
und
kooperativen
Schülerarbeitsformen basiert
Besonders in dieser integrierten Variante ist ein Fortbestehen des FrontalUs ein wichtiges
Steuerelement, vor allem, wenn er zeitgemäß und professionell gestaltet ist.
5.3 ERMUTIGUNG UND AUFFORDERUNG ZUM SCHLUSS
Ich plädiere sehr dafür, die neue schulstrukturelle Veränderung unter diesen Aspekten individuell
und im Team wahrzunehmen und zu nutzen. Jetzt, da das Gymnasium wieder die Möglichkeit hat,
Schüler/innen nach den ersten vier Grundschuljahren zu unterrichten, sollte alles getan werden zur
Steigerung der Effizienz unterrichtlichen Handeln für eine ausgeprägte personale und fachliche
Leistungsentwicklung der Schüler/innen. Und dies erst recht, wenn wegen der angewandten
Methoden damit auch noch Entlastungen für die belasteten Lehrkräfte verbunden sind. Die Chancen
dafür sind günstig, da die Kinder noch nicht so viele pädagogische Fachhandschriften kennen
gelernt haben im Vergleich zu der OS-Zeit und da sie besonders in diesen Jahren noch auf
natürliche Weise lerninteressiert sind. Aus meiner Perspektive kommt hinzu: Das Gymnasium ist
zum Unterrichtserfolg verpflichtet, denn besonders gut hörbar war die Kritik an der Arbeit der OS aus
dem Gymnasium heraus wahrzunehmen. Es muss im Vergleich dazu bessere Arbeit leisten.
Die Chancen sind insgesamt günstig, da in den Kollegien allenthalben die curricularen Vorgaben in
den Gremien der Schulen zu klären und abzusprechen sind wie auch der schulformspezifische
Arbeitserlass überhaupt. Der Punkt „Organisation von Lernprozessen“ erfordert viele Absprachen
und enthält nicht nur dadurch eine Fülle an Chancen.
Wir Lehrkräfte sollten durch die Art unserer Unterrichtsgestaltung deutlich machen, dass uns die
Schüler/innen wichtig sind und dass wir sie auch für sie selber zu gut erkennbaren Kompetenzen
befähigen und ihnen zugleich Kenntnis und differenzierte Fachaspekte vermitteln wollen. Vielfach
wird von Schülern geäußert, wir gymnasialen Lehrkräfte seien nur interessiert unseren
Unterrichtsstoff durchzuziehen. Bei allen Forderungen und Ansprüchen, die wir zu Recht an
Schülerinnen und Schülern stellen, dieser Eindruck darf nicht das Ergebnis unseres unterrichtlichen
Bemühens sein, ob in Kursen des 12. Jahrgangs, ob in 5. oder in 6. Klassen. Vor uns liegt eine
schöne Aufgabe. Sie ist aber kein Selbstläufer, wir Lehrkräfte in unseren Schulen und Ihre
Referendarinnen und Referendare haben einiges zu tun. Im Team wird es uns gelingen!
Dem Germanisten sei gestattet, mit einem Wort Johann Wolfgang Goethes zu schließen:
„Überhaupt lernt niemand etwas durch bloßes Anhören, und wer sich in gewissen Dingen nicht
selbst tätig bemühet, weiß die Sachen nur oberflächlich und halb.“
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Anhang: 11 Folienbilder
Hinweis zum möglichen experimentellen Unterrichtseinsatz der 1. Folie: Das Experiment zur unterschiedlichen
Leistung der beiden Gehirnhälften kann mit folgenden Worten vorgestellt werden: Wir werden gemeinsam ein
Experiment durchführen zur Frage: Wie arbeitet unser Gehirn? Wichtig ist, sich nicht miteinander zu beraten.
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Jeder arbeitet für sich. Zu sehen ist ein Bild, auf dem etwas verborgen ist. Schaut euch das Bild genau an.
Wer etwas erkennt, schreibt den Namen dafür auf. Nach ein bis zwei Minuten Ausschaltung des Projektors.
Ergebnis an Tafel festhalten. Erneutes Zeigen des Bildes mit dem genaueren Hinweis: Seht euch das Bild
noch einmal an. Diejenigen, die jetzt auf dem Bild eine Kuh erkennen, melden sich bitte. Zahlen festhalten.
Erklärung: In der 1. Phase ist auf einen bildhaften Impuls zu reagieren. Dadurch wird die rechte Gehirnhälfte
aktiviert (zuständig für die Verarbeitung visueller Informationen). Einige erkennen die Kuh. Die Mehrzahl kann
die Beobachtungen jedoch nicht zu einem Ergebnis zusammenbauen. In der 2. Phase wird neben der rechten
auch noch die linke Gehirnhälfte (arbeitet u.a. analytisch und in Begriffen) aktiviert, indem neben dem Bild eine
sprachlich-begriffliche Information gegeben wird. Über den Corpus callosum kommt es zum Austausch
zwischen beiden Gehirnhälften. Daraus folgt die lerntheoretische Konsequenz, so zu lehren und zu lernen,
dass beide Gehirnhälften aktiviert, vernetzt werden.
Die weiteren Folienbilder (2-11) sprechen für sich.
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