Larissa Krainer - Thomas A. Bauer

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Larissa Krainer
Medienethik als angewandte Ethik: Zur Organisation ethischer
Entscheidungsprozesse
(aus: Matthias, Karmasin. Medien und Ethik. Reclam jun. Stuttgart: 2002.)
Abstract
Die Autorin diskutiert in o.a. Artikel die unterschiedlichen Anforderungen, die an
die Medienethik gestellt und an wen diese gerichtet werden können und sollen.
Angelehnt an die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Jürgen Habermas und
Peter Heintel entwirft Krainer für die Medienethik den Vorschlag zur Anwendung
einer Prozessethik. Medienethik soll so als mehrdimensionaler Prozess etabliert
werden. Die Wissenschaft müsste hinsichtlich der Medienethik einem
Perspektivenwechsel unterzogen werden und hinkünftig Entscheidungsprozesse
der in und mit Medien tätigen Akteure nur mehr begleitend zur Seite stehen.
Schlagwörter
Medienethik, Anforderungen, Widersprüche, Verantwortungswahrnehmung,
AdressatInnengruppen, Prozessethik, Komplexitätsanspruch,
Verantwortungsdelegation, Überprüfungsdelegation
Kathrin Lanz, 9900963
696511 VO Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur
Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik und
Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, WS 2004/2005
Larissa Krainer, seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am iff
(Interuniversitäres Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der
Universitäten Wien, Innsbruck, Klagenfurt und Graz) legt eine Untersuchung zu
ethischen Fragen in Bezug auf die Medien vor und stellt in ihrem Beitrag die
vielfältigen Ansprüche, die an die Medienethik im Allgemeinen gestellt werden in
Bezug zu den Gruppen an die diese adressiert werden. Speziell auf inhaltlicher
Ebene divergiert der Anspruch der formulierten Anforderungen an die
Medienethik, wobei nach Krainer auf allen Ebenen die Wahrnehmung von
Verantwortung eine zentrale Rolle spielt. Nicht nur stehen verschiedene
medienethische Anforderungen im Widerspruch zueinander, man betrachte nur
die entgegengesetzten Ansprüche des Rechts auf freie Meinungsäußerung in
Widerspruch zum Recht auf Privat- und Intimsphäre, sondern stehen auch im
Widerspruch zur inneren Logik des Mediensystems, wenn beispielsweise ethische
und ökonomische Bedürfnisse aufeinander stoßen. Weiters widersprechen die
Anforderungen der Medienethik der Arbeitsrealität von Medienpraktikern, wenn
beispielsweise der Anspruch einer umfassenden Recherche auf den
arbeitsbedingten Zeitdruck stößt. Auch individuelle Bedürfnisse widersprechen
sich. So steht der Wunsch nach banaler Unterhaltung dem Ziel einer kritischen
Urteilskraft in der Mediennutzung gegenüber.
Diese Widersprüchlichkeiten führen Krainer zu ihrer ersten Schlussfolgerung. Der
Erkenntnisgegenstand von Medienethik ist der Widerspruch selbst.1 Und weil
Widersprüche dieser Art aporetischen2 Charakter besitzen, das heißt durch
Ausweglosigkeit und Unvereinbarkeit gekennzeichnet sind, stellt Krainer eine
weitere Hypothese auf. Das Balancieren von Widersprüchen ist die zentrale
methodische Herausforderung der Medienethik.3 Krainer streubt sich der
Medienethik den Auftrag zur Herstellung und Verwendung von Idealen, wie
Wahrheit, Richtigkeit oder Objektivität zuzuschreiben. Solch abstrakte Begriffe
wären wissenschaftlich wohl kaum zu operationalisieren. In Anlehnung an
Noelle-Neumann4 wirft Krainer auf, dass auch in der Medienwissenschaft
1
Krainer 2001, S.317
griech.: von >poros<: >Weg, Brücke< und >a<: >nicht<; übersetzbar mit >Weglosigkeit,
Ausweglosigkeit<
3
Krainer 2001
4
Noelle-Neumann [u.a.], Hrsg., 1993, S.238
2
2
abstrakte Normen bloß Richtwerte sein können, an denen sich die journalistische
Praxis immer nur bestmöglich annähern kann, was wissenschaftlich am besten
durch geeignetes Vergleichsmaterial zu überprüfen ist. Diese Vergleichsdaten
werden aber wiederum auf ihren Objektivitätsgehalt hinterfragt und stellen
deshalb oft selbst nur eine bestmögliche Annäherung dar. In Krainers Beitrag
spielen wie schon eingangs erwähnt die vielschichtigen Adressatenebenen der
medienethischen Verantwortungszuschreibung eine ausschlaggebende Rolle.
Einerseits divergiert die Zuschreibung von Verantwortung in Bezug an wen diese
gerichtet wird und demnach auch welche Anforderungen an die verschiedenen
Bezugsgruppen gestellt werden. Andererseits unterscheiden sich die jeweiligen
Anforderungen auch inhaltlich. Krainer unterscheidet drei Dimensionen auf
inhaltlicher Ebene. Da wäre zum einen der Anspruch auf die Grund- und
Freiheitsrechte, wo das Recht auf freie Meinungsäußerung und die
Gewährleistung durch den Staat zum tragen kommen. Zum zweiten wird das
Recht auf den Ausgleich verschiedener Meinungen, auf Meinungsvielfalt und auf
Medienpluralität in den Begriffen Pluralismus- und Vielfaltgebot vereint. Zum
dritten werden konkrete Handlungsanforderungen an Individuen im
Medienprozess laut. Durch eine Analyse dieser medienethischen Anforderungen
lassen sich für Krainer auf allen Ebenen wiederum Widersprüche erkennen und
zusätzlich lässt sich für die Autorin auf keiner Ebene eine Alleinverantwortung
für die Medienethik verankern. Eine dritte Hypothese, die sich für Krainer daraus
ergibt ist, dass die medienethischen Anforderungen entweder so allgemeinabstrakt […] bleiben, dass sie alle und zugleich niemanden betreffen, oder solche
Komplexität haben, dass mit der Verantwortungszuschreibung an Individuen nicht
auszukommen ist.5
Das aufklärerische Prinzip, dass Individuen alleinige Träger von Verantwortung
seien, bedarf nach Krainer einer Erweiterung. Zu streben sei nach einer
Verschränkung der Anforderungen und ihrer Bezugsebenen bis hin zu einer
kollektiven Verantwortungswahrnehmung.
Nach einem kurzen Exkurs zu den theoretischen Leitdifferenzen der
Wissenschaft, einerseits der normativ-ontologischen versus der empirisch5
Krainer 2001
3
analytischen Ansätze und der Individualethik versus der Sozialethik oder
Berufsethik6 , schlägt Krainer den prozessural-erkundenden7 Ansatz in Anlehnung
an die Diskursethik8 von Jürgen Habermas und die Prozessethik9 von Peter
Heintel vor. Beide Autoren schlagen die Überprüfung ethischer Normen durch
Mitbetroffene vor, wodurch eine Fremdbestimmung mittels normativer Werte
wegfallen würde. Dabei tritt die zentrale Kompetenz der Teilhabenden die
Anwendung einer Abstraktionsleistung bzw. eines Sich-in-Distanz-setzenKönnens zu beherrschen in den Vordergrund.
Da sich weder Heintel noch Habermas in ihren Ausführungen explizit auf die
Medienethik beziehen, versucht Krainer deren Forschungsergebnisse auf die
Medienethik umzulegen. Dies setzt allerdings einen Paradigmenwechsel voraus.
Es wäre der Verzicht auf die normative Vorgabe von Richtwerten von Nöten.
Nicht Werte zu setzten lautet das Prinzip, sondern Entscheidungsprozesse zu
organisieren,10 wie sich Krainer ausdrückt. Diese Prozesse sollen mittels
kollektiver Reflexion des eigenen Arbeits- und Lebensbereiches, des eigenen
Handlungsbereiches auf mehreren Ebenen zu Gunsten des
Komplexitätsanspruches vollzogen werden. Auf der ersten Ebene sollen die an der
Medienproduktion Beteiligten, wie auch Personen, die in Medien vorkommen
oder einfach nur Medien rezipieren, ihre Stellung in Bezug auf ethische
Handlungsverantwortung wahrnehmen können und so ihre Handlungsgrenzen
erkennen. Dadurch kann unter anderem eine Verantwortungsentlastung
herbeigeführt werden, indem die Mitwirkenden ihre eigenen Grenzen ihrer
Handlungsmöglichkeiten abstecken können. Auf zweiter Ebene soll eine
Vergemeinschaftung der Überlegungen und eine Widerspruchanalyse
durchgeführt werden. Gleichbetroffene sollen ihre Erkenntnisse reflektieren und
in gemeinsamer Auseinandersetzung könnten so Lösungsansätze gefunden
werden. Was auf dieser Ebene noch nicht oder nicht mehr bearbeitet werden kann,
muss an die jeweils höhere Ebene delegiert werden. Wie nun aber die höhere
Ebene die Verantwortung trifft, sich mit den formulierten Problemstellungen
6
Karmasin 1999b, S.368f.
Krainer 2001, S. 208
8
Habermas 1983
9
Heintel 1998
10
Krainer 2001
7
4
auseinander zu setzen, bedarf es einer Überprüfung der von oben kommenden
entwickelten Vorschläge von der jeweils unteren Ebene. Das heißt also es soll
eine Verantwortungsdelegation nach oben und eine Überprüfungsdelegation nach
unten erfolgen. Durch die Transparenz der geführten Diskussions- und
Entscheidungsprozesse wird eine Perspektivenerweiterung auf allen Ebenen
ermöglicht. Krainer schließt daraus, dass die Hoffnung also insgesamt in der
Aktivierung eines höheren Verständnisses für verschiedene Widersprüche auf
unterschiedlichen Ebenen der Macht11 liegt. Die Wissenschaft würde auf
inhaltliche Entscheidungen keinen Einfluss mehr nehmen und nur noch begleitend
fungieren. Ihr käme weiters eine beratende Funktion zu, um den Akteuren mit
Verbesserungsvorschlägen zur Seite zu stehen.
In Krainers Untersuchung spielt die Meinungsäußerungsfreiheit eine zentrale
Rolle. Im Rahmen dieser agieren Journalistinnen und Journalisten, die in
Berufskodizes auf Wahrheit und Objektivität verpflichtet werden. In diesem
Rahmen agiert auch das Publikum als Bürger und als Rezipient von Botschaften.
Doch in wie weit machen die handelnden Personen im Privaten und Beruflichen
von dieser in Bezug zur Medienethik tatsächlich Gebrauch? Krainer vertritt
meiner Meinung nach mit ihrem Vorschlag zu einer Prozessethik für die
Medienethik einen durchwegs ideologischen Standpunkt. Wie die Autorin gegen
Ende ihres Artikels auch selbst sehr kurz anmerkt, könnte dieser Vorschlag auf
Grund mehrer Komponenten scheitern. „Möglich wäre natürlich auch, dass solche
medienethischen Entscheidungsverfahren an der mangelnden Diskussions-,
Auseinandersetzungs-, Kooperations- oder Konsensbereitschaft der zur Teilnahme
Aufgeforderten scheitern.“ Doch geht Krainer offensichtlich von einem
grundsätzlichen Interesse der Betroffenen für ethische Problemstellungen und
deren Lösungsmöglichkeiten aus. Auch wenn die Autorin eine mangelnde
Auseinandersetzungsbereitschaft der Betroffenen als Grund zum Scheitern ihrer
Theorie versteht, ist diese meiner Auffassung nach der Ansicht, dass die Materie
der Medienethik für Personen, die in verschiedensten Ausmaßen in Bezug zu
Medien stehen, in deren Bewusstsein in gewisser Weise verankert ist. Es wäre
natürlich durchaus wünschenswert, dass jede Person, die mit Medien in Kontakt
11
Krainer 2001
5
steht, ein solches Bewusstsein entwickeln würde und sich aktiv mit herrschenden
Problemen auseinander setzt. Mehr denn je wäre dies in einer Zeit, in der die
Grenzen der Berichterstattung zusehends mehr verschwimmen, wünschenswert.
Hier könnte sich meiner Meinung nach die Medienpädagogik als hilfreiches
Bindeglied einschalten, um den handelnden Akteuren die best möglichsten
Bedingungen für den kommunikativen Prozess auf den und zwischen den
verschiedenen Handlungsebenen zu schaffen, damit ein Austausch von
Erfahrungen und Lösungsvorschlägen überhaupt erst erfolgreich stattfinden kann.
Mit der Akzeptanz und Nutzung dieser optimierten Verhältnisse könnte die
Auseinandersetzungsbereitschaft auf jeden Fall gesteigert werden. Dies macht
auch Krainer insbesondere am Kernstück ihrer Überlegungen deutlich: Individuen
sind in den meisten Medienfragen überfordert, zumal sie in aller Regel in
Medieninstitutionen und -unternehmen agieren. Daher muss über die Organisation
medienethischer Entscheidungsprozesse gesprochen werden. Die Wissenschaft
könnte diesen Prozessen mittels eines kommunizierenden, statt eines
kommunizierten Modells auf der Beobachtungsebene der Betroffenen im Sinne
der Cultural Studies vermutlich am besten begleiten. Dieses Modell entspricht
vermutlich auch Krainers Vorstellungen.
Im Großen und Ganzen stellen genannte Überlegungen einen wichtigen Beitrag in
die Richtung der intervenierenden Wissenschaft dar und sind mit Hilfe von
medienpädagogischen Teilleistungen wie etwa in oben genannter Form meiner
Meinung nach durchaus umsetzbar.
6
Literatur:
Habermas, Jürgen: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In:
J.H.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M.:
1983
Heintel, Peter: Abendländische Rationalität – Welche Ethik für die
Wissenschaften? Klagenfurt: 1998. [Unveröffentl. Manuskr.] – In
gekürzter Fassung veröffentl. u.d.T.: Wissenschaftsethik als rationaler
Prozess. In: Perspektive Europa. Modelle für das 21. Jahrhundert. Hrsg.
von Konrad Paul Liessmann und Gerhard Weinberger. Wien: 1999. S. 57 81
Krainer, Larissa: Medien und Ethik. Zur Organisation medienethischer
Entscheidungsprozesse. München: 2001 [Zugl. Habil.-Schrift Klagenfurt
2000.]
Noelle-Neumann, Elisabeth [u.a.] (Hrsg.): Publizistik, Massenkommunikation.
Frankfurt a. M.: 1989
7
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