Die soziale Konstruktion des Fahrrads - Edu-Uni-Klu - Alpen

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Alpen-Adria Universität Klagenfurt
Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft
Die Herausbildung des gängigen Fahrraddesigns
PS 816.008: Einführung in die Technik- und Wissenschaftsforschung
Dr. Oana Stefana Mitrea
Mag. Matthias Werner
Sommersemester 2011
Christina Steinkellner
Klagenfurt, 10. Juli 2011
0760257
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ....................................................................................................................... 1
I Ehrenwörtliche Erklärung ........................................................................................................ 2
II
Abbildungsverzeichnis ....................................................................................................... 3
1. Einleitung ............................................................................. Error! Bookmark not defined.
2. Techniksoziologie ................................................................ Error! Bookmark not defined.
3. SCOT – The Social Construction of Technology .................................................................. 6
4. Beispiel: Die soziale Konstruktion des Fahrrads ................................................................... 9
5. Kritik am SCOT-Ansatz ....................................................................................................... 13
6. Resumée ............................................................................................................................... 16
III
Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 17
1
I
Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende wissenschaftliche Arbeit selbstständig
angefertigt und die mit ihr unmittelbar verbundenen Tätigkeiten selbst erbracht habe. Ich
erkläre weiters, dass ich keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle aus
gedruckten, ungedruckten oder dem Internet im Wortlaut oder im wesentlichen Inhalt
übernommenen Formulierungen und Konzepte sind gemäß den Regeln für wissenschaftliche
Arbeiten zitiert und durch Fußnoten bzw. durch andere genaue Quellenangaben
gekennzeichnet.
Die während des Arbeitsvorganges gewährte Unterstützung einschließlich signifikanter
Betreuungshinweise ist vollständig angegeben.
Die wissenschaftliche Arbeit ist noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt worden.
Diese Arbeit wurde in gedruckter Form abgegeben.
Ich bin mir bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird.
Unterschrift:
Ort/Datum:
Klagenfurt, 30. September 2011
2
II Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Beispiel für ein 6-stufiges lineares Modell; Quelle: Bijker, Pinch, Hughes 1989:
23 ................................................................................................................................................ 6
Abbildung 2:
Multidirektionales Modell
der Entwicklung des
Fahrrads;
Quelle:
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 29 ................................................................................................... 9
Abbildung 3: Abbildung der relevanten sozialen Gruppen, Probleme und Lösungen im
Innovationsprozess des "Penny Farthing", Quelle: Bijker, Pinch, Hughes 1989: 37 ............... 10
Abbildung 4: Lawsons's Bicyclette 1879; Quelle: Bijker/Pinch/Hughes 1989: 39 ................. 11
3
1.
Einleitung
Das Thema dieser Arbeit im Rahmen der Lehrveranstaltung Einführung in die Technik- &
Wissenschaftsforschung ist die soziale Konstruktion von Technik am Beispiel des Fahrrads.
Zur Einführung in den Themenbereich wird zuerst auf die Techniksoziologie allgemein
eingegangen. Texte von Nina Degele und Werner Rammert helfen den Bereich genauer zu
beschreiben und zu konkretisieren.
Anschließend wird näher auf die konstruktivistische Perspektive der Techniksoziologie
eingegangen, und in diesem Sinne auch auf das SCOT-Modell (Social Construction Of
Technology), das dem darauffolgenden Beispiel der sozialen Konstruktion des Fahrrads nach
Bijker und Pich zugrunde liegt.
Daraufhin wird die Kritik am SCOT-Ansatz anhand von Aufsätzen von Langdon Winner und
Klein und Kleinmann besprochen. Beide haben berechtigte Kritik vorzubringen.
4
2. Techniksoziologie
Die Techniksoziologie ist eine junge sozialwissenschaftliche Disziplin, deren Profil ein
sozialwissenschaftlicher Zugang mit gleichzeitiger Abgrenzung zu den Geistes- und
Naturwissenschaften ist. Ihr Anspruch ist es, Soziales durch Soziales zu erklären. (Vgl.
Degele 2002: 7)
Wobei zu beachten ist, dass die Techniksoziologie „keine isolierte, aus sich zu begründende
Spezialisierung
einer
sich
professionalisierenden
Disziplin“
(Ebenda:
8)
ist.
Techniksoziologie entwickelte sich aus klassischen sozialtechnischen Überlegungen zu
Technik und Gesellschaft, formuliert unter anderem von Karl Marx, Max Weber und Émile
Durkheim. (Vgl. Ebenda) Die grundsätzliche These der Techniksoziologie lautet: Technik „ist
ein gesellschaftliches Produkt, das Sozialität entscheidend mitprägt.“ (Ebenda)
Daraus entwickelte sich die „harte“ Technikfolgenabschätzung. Sie ist ein politisch
eingerichtetes Verfahren, das versucht „mit einer neuen Technik zu erwartende
Folgeprobleme und Risiken mit wissenschaftlichen Methoden möglichst frühzeitig zu
ermitteln.“ (Rammert 1993: 23) Ihre Trägheit stellte aber einen großen Schwachpunkt dar und
ein Umdenken setzte ein.
Das Ergebnis war die Technikgeneseforschung. In diesem Bereich wird die Entstehung von
Technik behandelt. (Vgl. Ebenda: 19) Vor diesem Hintergrund haben sich daraufhin
verschiedene Sichtweisen herauskristallisiert. Hier wären beispielsweise „feministische,
konstruktivistische
und
postkonstruktivistische,
system-
und
evolutionstheoretische,
kulturtheoretische und realistische Ansätze“ (Degele 2002: 10) der Techniksoziologie der
Gegenwart zu nennen.
5
3. SCOT – The Social Construction of Technology
Die Social Construction of Technology, kurz SCOT, wurde von Pinch und Bijker eingeführt.
Es ist ein techiksoziologisches Programm, das aus einer Reihe von „case studies“ entwickelt
wurde. Das SCOT-Programm wurde in bewusster Anlehnung an das EPOR-Konzept der
„Bath-School“ formuliert. Den beiden Konzepten sind drei Grundannahmen gemein. Erstens
die interpretative Flexibilität, das Vorhandensein sozialer Mechanismen, die die Technik
beeinflussen und das Auftreten von Schließungsmechanismen. (Vgl. Bammé 2009: 135)
Die Funktion des SCOT-Ansatzes ist in erster Linie heuristisch und soll alle bis jetzt
relevanten Aspekte einer Erfindung abbilden. Das SCOT-Modell tut schon mehr als nur
technische Entwicklungen zu beschreiben. Es betont den multidirektionalen Charakter eines
Artefakts und zeigt seine interpretative Flexibilität auf. Weiters zeigt es die Rolle, die
verschiedene Schließmechanismen in der Stabilisierung eines Artefakts spielen können. (Vgl.
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 40)
Unter SCOT versteht man die Entwicklung eines technischen Artefakts, welche als Wechsel
von Änderungen und Selektion beschrieben wird. Es ist ein mulitdirektionales Modell, das
nach Pinch und Bijker essentiell für jeden sozialkonstruktivistischen Blick auf Technologie
ist.
Abbildung 1: Beispiel für ein 6-stufiges lineares Modell; Quelle: Bijker, Pinch, Hughes 1989: 23
Ein lineares Modell wäre wohl auch möglich, hier werden aber die nicht erfolgreichen
Erfindungen ausgeblendet. (Vgl. Bijker/Pinch/Hughes 1989: 28) Bammé bezeichnet das von
Bijker und Pinch verwendete multidirektionale Modell als empirisch gehaltvoller als ein
lineares Modell, das nur sechs aufeinanderfolgende Stufen beinhaltet. Nämlich zuerst die
Basisforschung, die angewandte Forschung, die technische Entwicklung, Produktentwicklung,
Produktion und schließlich Nutzung (Abb. 1) (Vgl. Bammé 2009: 138) Durch die
Verwendung eines multidirektionalen Modells ist es möglich das Versagen einiger
Erfindungen zu hinterfragen, und das Gelingen anderer auch. Dieser Schritt ist notwendig, um
die interpretative Flexibilität eines technischen Artefakts zu zeigen. (Vgl. Ebenda: 29)
6
Grundlegende Annahmen des SCOT-Ansatzes sind zuerst einmal die Verwendung eines
multidirektionalen Modells, wie schon beschrieben.
Weiters sprechen Pinch und Bijker von relevanten sozialen Gruppen. Das sind für sie
einerseits Institutionen und Organisationen wie beispielsweise das Militär oder industrielle
Firmen, und andererseits organisierte und unorganisierte Gruppen von Individuen. Die einzige
Voraussetzung für eine soziale Gruppe ist, dass alle Beteiligten gemeinsame Bedeutungen zu
einem bestimmten Artefakt haben. (Vgl. Bijker/Pinch/Hughes 1989: 30)
Pinch und Bijker definieren in ihren Ausführungen drei Stufen der sozialen Konstruktion von
technischem Wissen.
Erstens die interpretative Flexibilität. Damit ist gemeint, dass Technik keine inhärente
Bedeutung mit fest gezogenen Grenzen hat. Unterschiedliche soziale Gruppen sehen
verschiedene Dinge in einem Artefakt. (Vgl. Degele 2002: 101) Das zeigt, dass technische
Artefakte kulturell konstruiert und interpretiert werden. Hier ist es wichtig nicht davon
auszugehen, dass ein Weg der einzig richtige ist. Unterschiedliche soziale Gruppen können
radikal unterschiedliche Interpretationen eines technischen Artefakts haben. (Vgl.
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 41)
Es folgt die Einschränkung der interpretativen Flexibilität durch soziale Mechanismen. Sie
nennen diese Phase Schließung bzw. Stabilisierung. Daraus kann eine wissenschaftliche
Diskussion entstehen. Wobei sie zusätzlich zwischen dem Mechanismus der rhetorischen
Schließung und der Schließung durch Redefinition des Problems unterscheiden. (Vgl. Ebenda
entscheidenden Faktor in diesem Prozess nennen Bijker und Pinch den Einfluss der Werbung
auf die Meinung einer sozialen Gruppe über ein Artefakt.
7
Ersterer, der Mechanismus der rhetorischen Schließung, bezeichnet die Stabilisierung eines
Artefakts und das Verschwinden von Problemen. Um eine Diskussion zu schließen, müssen
bestehende Probleme nicht wirklich gelöst werden, die relevanten sozialen Gruppen müssen
das Problem lediglich als gelöst wahrnehmen. (Vgl. Ebenda: 44)
Die Schließung durch Redefinition eines Problems beschreiben sie am Beispiel des
luftgefüllten Fahrradreifens folgendermaßen: Für die meisten IngenieurInnen war der
Gummireifen eine theoretische und praktische Monstrosität. Für die Öffentlichkeit war es ein
hässliches Accessoire. Für die Produzenten war es eine Lösung für das unruhige
Fahrverhalten des Rads. Die Sportfahrer mit ihren „high-wheelern“ sahen das aber
keineswegs als Problem an. Bis der Gummireifen bei einem Radrennen verwendet wurde.
Zuerst nur belächelt, überzeugte der Reifen durch seine hohe Geschwindigkeit. So wurde der
luftgefüllte Fahrradreifen akzeptiert, aber nicht wegen seiner eigentlichen Bestimmung,
nämlich das Rütteln zu verringern, sondern wegen der hohen Geschwindigkeit, die mit ihm
erreicht werden konnte. (Vgl. Bijker/Pinch/Hughes 1989: 44ff)
Die dritte Phase stellt eine Verbindung von den Schließungsmechanismen zum weiteren
sozialen Kontext her. Die technischen Artefakte werden durch Bedeutungen beschrieben, die
ihnen relevante soziale Gruppen geben. Hier beeinflusst die soziokulturelle und politische
Situation der sozialen Gruppen die Bedeutung des Artefakts. So haben unterschiedliche
Bedeutungen Einfluss auf verschiedene Linien der Entwicklung. Das SCOT-Programm bietet
somit eine Grundlage für die Beziehung zwischen dem weiteren Umfeld und dem aktuellen
Inhalt von Technik, auf die im Text von Bijker und Pinch aber nicht explizit eingegangen
wird. (Vgl. Ebenda: 46)
8
4. Beispiel: Die soziale Konstruktion des Fahrrads
Bijker und Pinch demonstrierten ihre Theorie der Social Construction of Technology am
Beispiel des Fahrrads.
Zu Beginn einer Untersuchung schlagen Bijker und Pinch folgende Schritte vor. Zuerst
müssen die sozialen Gruppen festgelegt bzw. identifiziert werden. Danach sollten sie im
Detail beschrieben werden. Hier ist unter Anderem wichtig warum sie das Artefakt
verwenden. In diesem Abschnitt kommt die
interpretative
Flexibilität
zum
Tragen.
Anschließend gilt es die Probleme, die die
einzelnen Gruppen mit der Erfindung haben
herauszufinden. Und als letzten Schritt fordern sie
den
Beweis
der
Stabilisierung.
(Vgl.
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 34-39)
Die Ausgangssituation beim Fahrrad war folgende:
es
existierten
am
Anfang,
ausgehend
vom
„Ordinary“ - später „Penny Farthing“-Modell
genannt
-
viele,
ziemlich
unterschiedliche
Abbildung 2: Multidirektionales Modell der
Entwicklung
des
Fahrrads;
Quelle:
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 29
Variationen des Fahrrads. Sie waren alle Rivalen. Die bisher vorherrschende lineare
Betrachtungsweise von Technik vernachlässigt diesen Aspekt indem sie nur von einer
„richtigen“ Entwicklung ausging. Wie oben bereits erwähnt ermöglicht die multidirektionale
Sichtweise des SCOT-Programms (siehe Abb. 2) einen genaueren Blick auf die einzelnen
technischen Artefakte zu einem bestimmten Zeitpunkt. So kann ihr Gelingen bzw. Versagen
hinterfragt werden. (Vgl. Bijker/Pinch/Hughes 1989: 28f)
Hierbei sind die sozialen Gruppen, die mit dem Artefakt zu tun haben bedeutend. Im Fall des
Fahrrads sind die relevanten sozialen Gruppen die Frauen, die Alten, die Sportler, die
Freizeitfahrer, die Produzenten und die Gegner. (Vgl. Ebenda: 36) Sie alle haben die
Entwicklung des Fahrrads maßgeblich beeinflusst.
9
Die folgende genauere Beschreibung der bedeutenden sozialen Gruppen beinhaltet
beispielsweise die Gruppe der sportlichen Radfahrer. Das waren meist junge, wagemutige
Männer. Zu ihren Berufen zählten Angestellte oder Lehrer. Sie fuhren überwiegend das
„high-wheeled Ordinary“. (Vgl. Ebenda: 34)
Anschließend identifizieren Bijker und
Pinch die Probleme, die die bedeutenden
sozialen Gruppen mit dem Artefakt haben.
Es existieren nur Probleme, wenn sie von
den
Benutzern
auch
als
solche
wahrgenommen werden. (Vgl. Ebenda: 30)
Für
jedes
Problem
gibt
es
einige
Lösungsansätze. (Vgl. Ebenda: 35) Es
spielen aber nicht nur die Benutzer und
Befürworter eines Artefakts eine Rolle,
sondern auch seine Gegner. Denn auch für
sie hat das Artefakt eine Bedeutung. (Vgl.
Ebenda: 32) Auf diese Art und Weise
können alle bestehenden Konflikte der
relevanten
sozialen
Gruppen
herausgefunden werden. (Vgl. Ebenda: 35)
Beispielsweise die Geschwindigkeits- und
Abbildung 3: Abbildung der relevanten sozialen Gruppen,
Probleme und Lösungen im Innovationsprozess des "Penny
Farthing", Quelle: Bijker, Pinch, Hughes 1989: 37
die Sicherheitsanforderungen an das Fahrrad. Oder rivalisierende Lösungsvorschläge für ein
und dasselbe Problem. Zum Beispiel die Erfindung der „safety low-wheeler“ und der „safety
ordinaries“. Oder sogar moralische Konflikte, die mit dem Artefakt verbunden sind. Hier
nennen Bijker und Pinch beispielsweise das Kleidungsproblem von Frauen auf „highwheelern“. (Vgl. Ebenda: 35) Für diese Kontroversen sehen die Autoren nicht nur technische,
sondern auch juristische und moralische Lösungsansätze. So könnte sich zum Beispiel die
allgemeine Haltungen der Öffentlichkeit zu Frauen, die beim Radfahren Hosen tragen,
ändern.
Diese Erkenntnisse stellten Bijker und Pinch wiederum in einem multidirektionalen Modell
dar, dass alle sozialen Gruppen, ihre Probleme mit dem Artefakt Fahrrad und verschiedene
Lösungsansätze abbildet (siehe Abb. 3).
10
Die Stabilisierung des Artefakts ist in allen
sozialen
Gruppen
unterschiedlich
stark
ausgeprägt. (Vgl. Ebenda: 39) Am Beispiel des
Fahrrads zeigen Bijker und Pinch, dass die
Erfindung des „safety bicycle“ kein isoliertes
Ereignis war, sondern ein, von 1879-98, 19
Jahre andauernder Prozess. Zu Beginn dieser
Abbildung 4: Lawsons's Bicyclette
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 39
1879;
Quelle:
Zeit nahmen die bedeutenden Gruppen das
„safety bicycle“ gar nicht wahr. Lediglich mehrere Zwei- und Dreiräder, darunter das
Lawson’s Bicyclette. Es zeichnete sich durch ein relativ niedriges Vorderrad und einen
kleinen Kettenantrieb aus (Abb. 4). Am Ende dieser Zeitspanne bezeichnete der Ausdruck
„safety bicycle“ genau diese Art von Fahrrad. A „low-wheeled bicycle with rear chain drive,
diamond frame, and air tires.“ (Bijker/Pinch/Hughes 1989: 39) Durch die Stabilisierung des
Artefakts nach 1898 mussten diese Details nicht mehr speziell erwähnt werden, sie galten als
erprobt und akzeptiert. (Vgl. Ebenda: 39)
Die interpretative Flexibilität zeigt sich am Beispiel des „high-wheeler“. Er galt als
männliches, schnelles Fahrrad. Aber die sozialen Gruppen der Frauen und alten Männer
gaben ihm eine andere Bedeutung – nämlich die eines unsicheren Fortbewegungsmittels. So
ging die Entwicklung in zwei Richtungen: einerseits entstanden sicherere Modellen wie das
„Lawson’s Bicyclette“ und das „Xtraordinary“. Und andererseits wurden noch höhere „highwheeler“ gebaut, die als Macho-Maschinen verschrien waren. (Vgl. Ebenda: 42ff)
Die rhetorische Schließung der Sicherheitsdebatte beim „high wheeler“ erfolgte dadurch, dass
in der Werbung einfach behauptet wurde, das Artefakt sei sicher. (Vgl. Ebenda: 44) Der Text
einer Werbeanzeige aus dem Jahr 1880 zeigt das: „Bicyclists! Why risk your limbs and lives
on high Machines when for road work a 40 inch or 42 inch „Facile“ gives all the advantages
of the other, together with almost absolute safety.“ (Illustrated London News, 1880; in:
Bijker/Pinch/Hughes 1989: 44)
Die Schließung durch Redefinition des Problems kann anhand der Erfindung des luftgefüllten
Fahrradreifens verdeutlicht werden. Grundsätzlich war das Artefakt als Lösung für das
Rütteln entwickelt worden. Für die meisten IngenieurInnen war es eine theoretische und
praktische Monstrosität, für die Öffentlichkeit ein hässliches Accessoire und für die
Produzenten die Antwort auf das unsichere Fahrverhalten. Das Rütteln war nur für die Fahrer
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von niedrigen Rädern ein Problem, nicht für die sportlichen Hochradfahrer. Aber sobald der
luftgefüllte Reifen an „low-wheelern“ auf der Rennstrecke verwendet wurde und viel
schnellere Zeiten vorweisen konnte als die Hochräder, wurde er auch von der Öffentlichketi
akzeptiert. Zwar nicht als Lösung für das Rüttelproblem, sondern um sich so schnell wie
möglich fortzubewegen. So wurde das eigentliche Kernproblem einfach durch ein anderes
ersetzt und so als gelöst betrachtet. (Vgl. Ebenda: 45f)
12
5. Kritik am SCOT-Ansatz
Am Ansatz der Social Construction of Technology wurde auch Kritik geübt. So
beispielsweise von Langdon Winner, der bereits 1993 einen Aufsatz über die Schwachstellen
des SCOT-Ansatzes verfasste. Seine Kritik bestand aus vier Hauptpunkten.
Erstens bemängelte er die fehlende Auseinandersetzung des SCOT-Ansatzes mit den Folgen
der Entwicklung neuer Artefakte. Welche Auswirkungen hat eine neue Erfindung auf die
Zusammensetzung menschlicher Gemeinschaften oder auf das tägliche Leben eines jeden
Einzelnen? Grund für dieses Manquo war die Annahme, dass die Konsequenzen bereist genug
untersucht wurden. Deshalb richteten die sozialen Konstruktivisten ihr Augenmerk Wurzeln
und Dynamiken technischer Innovationen. (Vgl. Winner 1993: 368)
Ein zweiter Kritikpunkt liegt für Winner im Elitarismus des sozialen Konstruktivismus.
Zustande kommt dieses Phänomen durch die Auswahl von relevanten sozialen Gruppen. Als
solche bezeichnen Bijker und Pinch Personen, die am Prozess der Definition technischer
Probleme, der Suche nach deren Lösungen und der Übernahme der gefundenen Lösungen ins
Alltagsleben beteiligt sind. Für Winner stellt sich hier aber die Frage wer bestimmen kann
welche sozialen Gruppen relevant sind und welche nicht. Er denkt hier vor Allem an
Gruppen, die unterdrückt oder ausgeschlossen werden, aber trotzdem von technischen
Veränderungen beeinflusst werden. Seiner Meinung nach muss nicht nur beachtet werden,
welche Entscheidungen gefällt werden, sondern auch welche Entscheidungen nicht in der
Öffentlichkeit diskutiert werden. (Vgl. Ebenda: 369f)
Winners dritter Kritikpunkt ist die Verbindung von sozialen Aktivitäten und technischen
Veränderungen. Diese beiden Phänomene sind bei den sozialen Konstruktivisten unweigerlich
miteinander verbunden. Winner besteht aber darauf, dass auch noch kulturelle, intellektuelle
oder wirtschaftliche Interessen hinter sozialen Entscheidungen verbergen. Seiner Meinung
nach wird diese Tatsache von den Vertretern des sozialen Konstruktivismus jedoch
ausgeklammert. Die Auffassung einer autonomen Technik lehnen sie vehement ab und
bestehen auf ihr Modell der sozialen Selektion. (Vgl. Ebenda: 370f.)
Der vierte und letzte Kritikpunkt nach Winner wäre die interpretative Flexibilität. Er hält
dieses Phänomen besonders leicht zu erreichen wenn sich alle, oder zumindest die meisten,
sozialen Gruppen mit einem Ergebnis zufrieden geben können. Schwierig wird es aber wenn
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keine Einigung über das Aussehen oder die Verwendung eines Artefakts erreicht werden
kann. Wie werten Vertreter des sozialen Konstruktivismus diese Uneinigkeit? (Vgl. Ebenda:
371.)
Weitere Kritiker, darunter beispielsweise Klein und Kleinmann, gehen auf die fehlenden
Strukturen im SCOT-Ansatz ein. Sie fordern eine Ergänzung des SCOT-Ansatzes. Vor allem
in den Bereichen der sozialen Gruppen, der Interpretation, der Schließung, dem technischen
Rahmen und dem weiteren sozialen Kontext.
Bezüglich der relevanten sozialen Gruppen werfen sie, ähnlich wie Winner, Fragen auf wie
beispielsweise wie relevante soziale Gruppen überhaupt zustande kommen, wie Personen in
so eine Gruppe kommen und wie eine relevante soziale Gruppe Einfluss auf den
Entwicklungsprozess eines Artefakts hat. Das Problem des SCOT-Ansatzes ist aus ihrer Sicht,
dass die Existenz dieser Gruppen als gegeben hingenommen wird. Sie fordern eine genauere
Erklärung der einzelnen relevanten sozialen Gruppen. Weiters erachten auch sie, wie bereits
Winner, eine Betrachtung der ausgeschlossenen Personen als aufschlussreich. (Vgl. Klein &
Kleinmann: 36f)
Mehr Struktur im Bereich Interpretation könnte ihrer Meinung nach die Möglichkeit sein, die
Rolle von Bedeutung in Bezug auf die Gestaltung von Artefakten näher zu betrachten, als
SCOT das tut. Sie sind davon überzeugt, dass Bedeutungssysteme ausführlichere erklärungen
verdienen und das wiederum Gruppen in ihrer Fähigkeit verändern könnte, Bedeutung zu
benutzen, um die Entwicklung eines Artefakts zu beeinflussen. (Vgl. Ebenda: 38.)
Ein weiterer Kritikpunkt wäre hier der Einfluss von mehr Struktur auf das Phänomen der
Schließung. Sie fordern eine genauere Analyse der Schließung. Es reicht nicht zu wissen, dass
eine stattgefunden hat, sondern auch wie sie zustande gekommen ist. Durch Macht und
Abhängigkeit können Schließungen auch erzwungen werden. Aber auch verschiedene Regeln
können zu einer Schließung führen. Beispielsweise die Entscheidungsregeln beim Militär.
(Vgl. Ebenda: 39.)
Dem technischen Rahmen des SCOT-Ansatzes fehlt ebenfalls Struktur. Der Aspekt, wie
soziale Normen den technischen Rahmen beeinflussen können, fehlt völlig. (Vgl. Ebenda:
40.)
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Der weitere soziale Kontext wurde in Pinch und Bijkers Text nur kurz erwähnt und gibt
deshalb Anlass zu Kritik. Klein und Kleinmann sehen es als essentiell an, die Beziehungen
zwischen einzelnen relevanten sozialen Gruppen zu betrachten und über ihre strukturellen
Eigenheiten und ihre Ressourcen Bescheid zu wissen, mit denen sie Einfluss auf die
Entwicklung von Technik haben. (Vgl. Ebenda.)
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6. Resumée
Nach dem Verfassen dieser Arbeit und somit der gezielten Auseinandersetzung mit dem von
Bijker und Pinch entwickelten SCOT-Ansatz und auch der dazugehörigen Kritik, ist klar
geworden, dass dies auf jeden Fall ein interessanter Ansatz in der Technikforschung ist, der
aber bei weitem nicht ausgereift ist.
Positiv ist vor allem, dass die Gedanken von Bijker und Pinch in der Beschreibung der
Herausbildung des gängigen Fahrraddesigns auch für einen Laien gut verständlich und
nachvollziehbar sind. Aber schon bei der Auseinandersetzung mit ihrem Text bleibt ein
Gefühl der Unvollständigkeit zurück.
Nach dem Lesen der unterschiedlichen Kritiken wird auch klar, warum das so ist. Es wird zu
wenig auf die Details des Prozesses der sozialen Konstruktion von Technik eingegangen.
Weiters fehlt eine ergänzende empirische Analyse in den case studies.
Außerdem fällt auch sofort das Problem der Auswahl der relevanten sozialen Gruppen auf.
Dieser Sachverhalt wurde auch von anderen Wissenschaftlern häufig kritisiert.
Die Forderung von Klein und Kleinmann nach mehr Struktur im SCOT-Ansatz wurde auch
von Bijker angenommen und bestätigt, indem sie ein „technological framework“ zu ihrer
Theorie hinzufügte.
Somit kann man sagen, dass die Social Construction of Technology ein guter Ansatz für
weitere Forschung ist, jedoch in der Ausgangsform von Bijker und Pinch verwendet, nicht
aussagekräftig genug ist.
16
III Literaturverzeichnis
Bammé, Arno (2009): Science and Technology Studies. Ein Überblick. Marburg: Metropolis
Bijker, Wiebke E./Pinch, Trevor J./Hughes, Thomas P. (Hrsg.) (1989): The Social
Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of
Technology. Cambridge, MA: MIT Press, S. 17-50.
Degele, Nina (2002): Einführung in die Techniksoziologie. München: Wilhelm Fink Verlag.
Klein, Hans K./Kleinmann, Daniel Lee (2002): The Social Construction of Technology:
Structural Considerations. Science, Technology & Human Values, Winter 2002, Vol. 27
No.1, S. 28-52.
Rammert, Werner (1993): Technik aus soziologischer Perspektive. Forschungsstand –
Theorieansätze – Fallbeispiele. Ein Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Weyer, Johannes (2008): Soziologische Theorien der Technikgenese. in: Techniksoziologie.
Weinheim: Juventa.
Winner, Langdon (1993): Upon Opening the Black Box and Finding It Empty: Social
Constructivism and the Philosophy of Technology. Science, Technology & Human Values,
Summer 1993, Vol. 18 No. 3, S. 362-378.
17
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