Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss NAT/615 Mehr Ausgewogenheit bei der Entwicklung der Regionen in der EU Brüssel, den 8. November 2013 VORENTWURF EINER STELLUNGNAHME der Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz zum Thema Mehr Ausgewogenheit bei der Entwicklung der Regionen in der EU (Initiativstellungnahme) _____________ Berichterstatter: Staffan NILSSON _____________ Mitglieder der Studiengruppe "Mehr Ausgewogenheit bei der Entwicklung der Regionen in der EU" der Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz NB: Dieses Dokument wird in der Sitzung am 14. November 2013 um 9.00 Uhr erörtert. Weitergabe an die Übersetzung: 5. November 2013 Verwaltungsrat: Herr INIGUEZ NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd Rue Belliard/Belliardstraat 99 — 1040 Bruxelles/Brussel — BELGIQUE/BELGIË Tel. +32 25469011 — Fax +32 25134893 — Internet: http://www.eesc.europa.eu DE -1Studiengruppe: Mehr Ausgewogenheit bei der Entwicklung der Regionen in der EU Vorsitzender Dimitris KITTENIS (CY-II) Berichterstatter: Staffan NILSSON (SE-III) Mitglieder: die Damen und Herren CAÑO AGUILAR (ES-II) MALLIA (MT-I) (für MASCIA - Art. 62 GO) MIRA (PT-I) NARRO (ES-III) NURM (EE-III) OSTROWSKI (PL-I) (für ZBOŘIL - Art. 62 GO) POLICA (IT-II) ŠARMÍR (SK-I) WILLEMS (LU-III) WILMS (DE-II) Sachverständiger: Jan OLSSON (für den Berichterstatter) NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -2- Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 9. Juli 2013, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: Mehr Ausgewogenheit bei der Entwicklung der Regionen in der EU. Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am ... an. Der Ausschuss verabschiedete auf seiner ... Plenartagung am ... (Sitzung vom ... ) mit ... gegen ... Stimmen bei ... Enthaltungen folgende Stellungnahme: * * * 1. Vorschlag für Schlussfolgerungen 1.1 Die territorialen Ungleichgewichte innerhalb der Länder und Regionen nehmen zu. In dieser Initiativstellungnahme wird eine ausgewogenere Entwicklung empfohlen, damit alle Gebiete in der EU zu dem im Vertrag von Lissabon verankerten Ziel des territorialen Zusammenhalts beitragen können. Die ländlichen Gebiete – von denen es vielen nicht gut geht – müssen in der Lage sein, einen Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung und zum sozialen Zusammenhalt zu leisten, indem sie die Menschen, die hier leben, und die hier vorhandenen Ressourcen sowie die zivilgesellschaftlichen Akteure über auf allen Ebenen (EU, Mitgliedstaat, regional und lokal) integrierte Maßnahmen mobilisieren. Jeder politische Beschluss mit einer raumbezogenen Dimension sollte hinsichtlich seiner absehbaren territorialen Folgen bewertet werden. 1.2 Der EWSA unterstützt nachdrücklich: die Ausrichtung der Maßnahmen für die lokale und regionale Entwicklung auf eine bessere Nutzung des regionalen Potenzials und Kapitals, nämlich Europas territoriale und kulturelle Vielfalt; die bessere Positionierung der Regionen in Europa, sowohl durch eine Stärkung ihres Profils als auch durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Förderung ihrer Erreichbarkeit und räumlichen Integration; die Förderung der horizontalen und vertikalen Stimmigkeit europäischer Maßnahmen, die sich auf die Raumplanung auswirken, zur Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung auf nationaler und regionaler Ebene. In dieser Hinsicht verfolgt die organisierte Zivilgesellschaft das Ziel der Entwicklung eines ausgewogenen und polyzentrischen Städtesystems und einer neuen Beziehung zwischen Stadt NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -3und Land, der Sicherung eines gleichwertigen Zugangs zu Infrastruktur und Wissen und der nachhaltigen Entwicklung, eines intelligenten Managements sowie des Schutzes von Natur und Kulturerbe. 1.3 Der EWSA ruft zu Folgendem auf: Stärkung der Netzwerke für die territoriale Entwicklung; Verbesserung der Zugänglichkeit und der territorialen Integration in der EU; Erhalt und Ausbau nachhaltiger Beziehungen zwischen Stadt und Land. 2. Einleitung 2.1 Unterschiedliche Kulturen, Sprachen und Geschichte – die Vielfalt der Europäischen Union ist groß, aber gleichzeitig verbinden uns gemeinsame Grundsätze und Ideale. Gleichheit, Zugang zu menschenwürdiger Arbeit und Gesundheitsversorgung, die Freizügigkeit in der EU, Leben in einer sauberen Umwelt und das Recht auf Bildung sind solche gemeinsamen Ideale. 2.2 Ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Beschäftigung sowie die soziale und ökologische Entwicklung sind wesentliche Ziele der Europäischen Union. Die Rahmenbedingungen innerhalb der EU sind jedoch nicht überall gleich. Die Regionen und Städte in Europa stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen, die eine entscheidende und prägende Rolle für unser Leben spielen. So wirkt sich der Klimawandel auf unsere Art zu arbeiten und zu leben aus, der demografische Wandel und Migration verändern die gesellschaftlichen Strukturen, und unausgewogene territoriale Strukturen haben einen negativen Einfluss auf die nachhaltige Entwicklung der Umwelt, in der wir leben. 2.3 Eine der größten territorialen Herausforderungen für Europa als Raum ist das Entwicklungsgefälle zwischen den europäischen Staaten, Regionen und ländlichen/städtischen Gemeinden, das im komplexen Phänomen der Ungleichheit zum Ausdruck kommt. Die regionale und lokale Entwicklung ist besonders für die mittel- und südosteuropäischen Länder interessant, die im Zuge des EU-Beitritts für ihre Regionen, Städte und Gemeinden die Rolle verantwortlicher lokaler und regionaler Akteure wiederentdeckt haben. Die nördlichen Regionen Europas stehen vor ähnlichen Problemen. Bei den Maßnahmen und in der Praxis der lokalen und regionalen Entwicklung muss dem wissenschaftstheoretischen Fortschritt in der Geografie Rechnung getragen werden. 2.4 In dieser Stellungnahme wird versucht aufzuzeigen, wie ländliche Gebiete zum Erreichen der gemeinsamen Ziele des territorialen und sozialen Zusammenhalts beitragen können, wie der Agrar- und Nahrungsmittelsektor zum Rettungsring für das Überleben einiger Regionen in der Wirtschaftskrise, für den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Schutz der Umwelt werden könnte. NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -42.5 In ganz Europa finden sich dünn besiedelte Gebiete. Von Nordeuropa bis zu den griechischen Inseln und Thrakien, in Zentralspanien, im portugiesischen Alentejo, in den baltischen Staaten, auf dem Balkan oder in den italienischen Regionen Kalabrien und Basilikata. Auch im französischen Lothringen, im österreichischen Burgenland, in Irland, in bzw. auf den schottischen Highlands und Inseln und sogar in den weniger abgelegenen Teilen Westbelgiens und der nördlichen Niederlande gibt es solche Gebiete. Hier geht es also um ein Thema, das alle betrifft. Hinzu kommt, dass einige Landstriche bereits völlig entvölkert sind. 2.6 All diese Gebiete haben eigene Charakteristika und Bedürfnisse. Dennoch stehen die dünn besiedelten Gebiete in Europa trotz ihrer Unterschiede vor mindestens vier gemeinsamen Problemen. Erstens sind sie alle geografisch isoliert: weit abgelegen von den Wirtschaftszentren, was mit hohen Transportkosten und Zugangsproblemen verbunden ist, die vor allem durch eine mangelhafte Infrastruktur bedingt sind. Zweitens ist da das demografische Problem: junge Menschen wandern ab, und die Menschen, die bleiben, sind alt und werden älter. Auch sind die Geburtenraten gering. Drittens ist die Wirtschaftstätigkeit gering: der größte Teil der Beschäftigung konzentriert sich im Primärsektor oder im öffentlichen Sektor, die industrielle Tätigkeit ist häufig im traditionellen Agrar- und Lebensmittelsektor angesiedelt, Dienstleistungen fehlen. Oft wird die Wettbewerbsfähigkeit durch das Klima beeinträchtigt. Viertens ist der Lebensstandard meist gering, mit einem im Vergleich zu anderen Landesteilen niedrigeren Durchschnittseinkommen und in einigen Fällen mit großer ländlicher Armut. 3. Hintergrund 3.1 Herausforderungen für die politischen Entscheidungsträger in der EU 3.1.1 In den in Artikel 174 bis 178 des Vertrags von Lissabon enthaltenen Bestimmungen zum wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt ist eine harmonische Entwicklung der Union vorgesehen, es wird das Ziel verfolgt, Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen zu verringern, Gebieten mit natürlichen oder demografischen Beeinträchtigungen wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet und die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, ihre Wirtschaftspolitik so zu führen und zu koordinieren, dass die vorgenannten Ziele erreicht werden. 3.1.2 Den ländlichen Gebieten steht nicht nur die Gemeinsame Agrarpolitik als Quelle für EU-Mittel zur Verfügung. Ländliche Gebiete, die 90% der Landmasse der EU bilden, werden auch von den Regionalfonds recht gut bedacht. Im Zeitraum 2007-13 werden ca. 71 Mrd. EUR der Regionalfonds für ländliche Gebiete bereitgestellt, im vorangehenden mehrjährigen Haushalt war nur die Hälfte dieses Betrags vorgesehen. Im selben Zeitraum werden die NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -5ländlichen Gebiete weitere 87 Mrd. EUR aus den GAP-Mitteln für die Entwicklung des ländlichen Raums erhalten. 3.1.3 In den ersten Jahren dieses Jahrzehnts waren die Wachstumsraten höher und die Arbeitslosigkeit in den ländlichen Gebieten geringer als in den Städten. Dies mag auf den ersten Blick positiv erscheinen, tatsächlich jedoch wird so das besorgniserregende Bild unterdurchschnittlicher Einkommen und von Landflucht verschleiert. Der Durchschnittsverdienst in ländlichen Gebieten ist 25-30% geringer als in städtischen Gebieten, in Mittel- und Osteuropa kann er sogar um die Hälfte niedriger sein. 3.1.4 Die Bevölkerung ist in der EU sehr ungleich verteilt, was in erheblichen Unterschieden bei der durchschnittlichen Bevölkerungsdichte in verschiedenen Regionen und zwischen städtischen und ländlichen Gebieten zum Ausdruck kommt. Am bedenklichsten in der europäischen Demografie ist jedoch vielleicht die erschreckend geringe Bevölkerungsdichte in einigen Regionen im Vergleich zur Bevölkerungsdichte vor 50 oder 100 Jahren. Fast ausschließlich sind es ländliche Gebiete, die von der Entvölkerung betroffen sind, die zweifellos als eine der größten Bedrohungen für die lokale Wirtschaft angesehen werden kann, nicht nur, weil sie Wachstumschancen einschränkt, erhebliche Umweltprobleme erzeugt und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen erschwert, sondern weil sie sogar die Existenz von Kleinstädten und Dörfern als bewohnte Siedlungen bedrohen kann. 3.2 Motivation für diese Initiativstellungnahme 3.2.1 Mit dieser Initiative verfolgt der EWSA nicht das Ziel, eine neue EU-Politik ins Leben zu rufen, sondern vielmehr, einen allgegenwärtigen Grundsatz zu verankern, der für andere EU-Politiken gilt, nach dem Vorbild des Konzepts der Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung auf der Grundlage von Artikel 208 AEUV: "[...] Bei der Durchführung politischer Maßnahmen, die sich auf die Entwicklungsländer auswirken können, trägt die Union den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit Rechnung. [...]". 3.2.2 Politische Entscheidungsträger sollten sich immer die Frage stellen, welche Wirkung die jeweilige Maßnahme wahrscheinlich haben wird. Ist die Folge letztlich, dass mehr Menschen in die Städte ziehen oder dass sie auf dem Lande bleiben? Nur solche Maßnahmen, die generell eine stärkere Ausgewogenheit zwischen den Regionen zum Ziel haben bzw. sich zumindest nicht auf dieses ausgewogene Verhältnis auswirken, würden unmittelbar freigegeben; für Beschlüsse, die sich negativ auf diese Ausgewogenheit auswirken, weil sie die städtische Konzentration erhöhen, sollte eine Folgenabschätzung durchgeführt werden, die belegt, dass dieses Manko durch Vorteile an anderer Stelle ausgeglichen wird. NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -64. Allgemeine Bemerkungen 4.1 Entvölkerung 4.1.1 Der Begriff "Entvölkerung" bezeichnet einen Vorgang, bei dem die Bevölkerungsdichte eines Gebiets im Laufe der Zeit kontinuierlich abnimmt. Zwar stellt eine Bevölkerungszunahme sicherlich eine Bedrohung für die ökologische Nachhaltigkeit dar, aber auch lokale Entvölkerungstendenzen können als Bedrohung für die lokale ökologische Nachhaltigkeit angesehen werden. Diese Phänomene werden immer häufiger auftreten, wenn die Weltbevölkerungszahl gegen 2050 mit knapp 9 Mrd. Menschen (glücklicherweise) ihren Zenit erreichen wird. 4.1.2 Während der Industrialisierung dehnen sich Städte rasch aus, wobei sich als erstes die Industrie und dann die Dienstleistungen geballt ansiedeln. Diese Ausdehnung zieht Arbeitskräfte aus ländlichen Gebieten an, wo gleichzeitig die Mechanisierung der Landwirtschaft eine weitere Migration vom Land in die Stadt auslöst. Die Entvölkerung ländlicher Gebiete betrifft Regionen, in denen die Landflucht größer ist als das natürliche Wachstum, was die Einwohnerzahl auf ein problematisches Niveau schrumpfen lässt und eine Überalterung der demografischen Struktur verursacht. Entvölkerung kann jedoch auch durch Umsiedlungen aufgrund großer Infrastrukturprojekte verursacht werden. 4.1.3 Dieser Vorgang der Entvölkerung hat Folgen für die Umwelt. Er kann nämlich die Umweltbelastung und damit den Druck auf die Biodiversität in der landwirtschaftlichen Erzeugung erhöhen, durch eine stärkere Bodenerosion und die Zunahme von Schädlingen und Unkraut, was zu einem Rückgang der Biodiversität führt. Wenn die Menschen ein Gebiet verlassen, übernimmt ein dominantes Habitat das vielfältige Mosaik der vom Menschen bewirtschafteten Kulturlandschaften. Diese "ökologische Homogenisierung" kann zu einem Rückgang der Biodiversität auf der lokalen Ebene führen. Zu den weiteren Folgen für die Umwelt zählen die Bodendegradation, z.B. weil Terrassen in Berggebieten nicht ausreichend gepflegt werden, wie es in weiten Gebieten im Mittelmeerraum und in Südosteuropa der Fall ist. 4.1.4 Ein weiteres Phänomen, das mit der Entvölkerung in Verbindung gebracht werden könnte, ist die zunehmende Häufigkeit von Waldbränden. Die Entvölkerung ländlicher Gebiete verändert ferner das Gesicht einer Landschaft, wodurch gelegentlich wertvolle Kulturlandschaften verloren gehen. Die Verlagerung vom Land in die Stadt kann jedoch auch positive Folgen für die Verbrauchsgewohnheiten haben. Dicht besiedelte städtische Gebiete bieten eine relativ stärker integrierte Bereitstellung von Dienstleistungen, wie etwa die Müllabfuhr und der öffentliche Nahverkehr. NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -74.2 Zusammenhalt und Ungleichheiten 4.2.1 Eine der größten Herausforderungen für Europa als Raum ist zweifellos das Entwicklungsgefälle zwischen den europäischen Staaten, Regionen und ländlichen/städtischen Gemeinden, das im komplexen Phänomen der Ungleichheit zum Ausdruck kommt. Zu diesen Ungleichheiten können u.a. historische Unterschiede und ererbte kulturelle Strukturen zählen, unterschiedliche politische Systeme und Formen von Staatlichkeit, unterschiedliche sozioökonomische Entwicklungsmuster sowie die verschiedensten Beziehungen zwischen diesen Faktoren. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung widmet sich die EU neben der Bewältigung der Folgen von Ungleichheiten kontinuierlich einer weiteren Herausforderung: der Sicherung des Zusammenhalts auf europäischer Ebene. "Ziel des territorialen Zusammenhalts ist es, die harmonische Entwicklung aller Gebiete sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass die Bürger die jeweiligen Gegebenheiten dieser Gebiete optimal nutzen können. Es geht also darum, die Vielfalt als Vorteil zu begreifen, der zu einer nachhaltigen Entwicklung der gesamten EU beitragen kann." (Europäische Kommission, Generaldirektion Regionalpolitik, 2008). 4.2.2 Der Drahtseilakt zwischen Politikkohärenz und territorialem Zusammenhalt scheint recht schwierig zu bewältigen zu sein, da die Regionen (als Raumordnungssysteme) das Ergebnis der Interferenz verschiedener Systeme von Diskontinuitäten und somit per definitionem heterogen sind. Somit umfassen Regionen sowohl dynamische als auch Problembereiche. Bei der Beschäftigung mit Fragen der regionalen Entwicklung dürfen weder staatsinterne noch internationale administrative Grenzen eine Rolle spielen. Daher sind eine grenzüberschreitende Perspektive und ein integrativer Ansatz auf der Grundlage der Beteiligung der Initiatoren und Akteure der Raumordnung erforderlich. Ferner ist das Subsidiaritätsprinzip ein unerlässlicher Bestandteil jedes regionalpolitischen Ansatzes, da es immer einen "Heimvorteil" bei der Behandlung bestimmter lokalspezifischer Probleme geben wird. Die Zusammenarbeit ist ein Katalysator für eine integrierte und nachhaltige positive regionale/lokale raumbezogene Dynamik. Die Europäische Kommission fügt diesbezüglich zwei weitere Richtungsvorgaben für die (Neu-)Ausrichtung der Regionalpolitik hinzu: Der territoriale Zusammenhalt wird durch eine nachhaltige Entwicklung und den Zugang zu Diensten und Infrastrukturen unterstützt, was die Bedeutung der Zusammenarbeit über administrative und internationale Grenzen hinweg unterstreicht (insbesondere mit den Nachbarländern und -regionen außerhalb der EU). Eine effiziente regionale Verwaltung erfordert einen integrierten und raumspezifischen Ansatz, bei dem einer besseren Koordinierung unterschiedlicher sektoraler Politiken und eine kontinuierliche Partnerschaft der beteiligten territorialen Akteure Rechnung getragen wird (Europäische Kommission, Generaldirektion Regionalpolitik, 2008). NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -84.3 Die Rolle der Zivilgesellschaft 4.3.1 Der territoriale Zusammenhalt muss sich auf einen neuen Vertrag mit den Bürgern und der organisierten Zivilgesellschaft stützen, der eine Interaktion zwischen partizipativen, von der Basis ausgehenden Verfahren wie dem zivilen Dialog und den EU-Initiativen ermöglicht. Der organisierten Zivilgesellschaft sollte auf regionaler und lokaler Ebene eine verantwortliche und transparente Beteiligung an der Ausarbeitung und Umsetzung der Politiken und Maßnahmen des territorialen Zusammenhalts ermöglicht werden. Der EWSA hat betont, dass "die partizipative Demokratie, die als eine Komponente der demokratischen Funktionsprinzipien der Union anerkannt ist, eine unverzichtbare Voraussetzung für eine bessere Ausgewogenheit zwischen den Regionen in der Europäischen Union darstellt"1. 4.4 Territoriale Folgenabschätzung 4.4.1 Damit bei der Aufstellung neuer EU-Rechtsvorschriften die territoriale Dimension der Folgenabschätzungen berücksichtigt wird, forderte der Ausschuss der Regionen, "dass bei der Bewertung sektoraler Politiken von Anfang an die raumbezogenen Folgen gleichrangig zu den ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen geprüft werden", und rief die Europäische Kommission auf, "die Zusammenarbeit mit den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften zu nutzen, um die Konsultationen Interessenträgern und betroffenen Akteuren zuzuleiten, damit sie soweit wie möglich auf deren Erfahrung aufbauen kann, im geeigneten Moment die richtigen Fragen zu stellen, und auf deren Fähigkeit, sich an die Interessenträger und Akteure in deren Muttersprache zu wenden"2. 4.4.2 Eine erste Auflistung "ortsbasierter"3 sektoraler Politikbereiche könnte Folgendes umfassen: 1 2 3 Der Bereich Verkehr hat natürlich Einfluss auf den territorialen Zusammenhalt, da er ein Faktor für die Ansiedlung von Wirtschaftstätigkeiten und Siedlungsstrukturen ist. Erneuerbare Energien können langfristige Lösungen für abgelegene Gebiete bieten. Die Sicherstellung des Breitbandinternetzugangs wird zunehmend wichtiger für die Wettbewerbsfähigkeit. Umweltspezifische Anforderungen können eine raumbezogene Dimension haben und die Raumplanung beeinflussen. Die Wettbewerbspolitik kann die räumliche Verteilung der Wirtschaftstätigkeit beeinflussen, indem staatliche Beihilfen insbesondere in die am stärksten benachteiligten Gebiete geleitet werden und indem die Höhe der zulässigen Beihilfen an die Art und das Ausmaß der Probleme angepasst wird. EWSA-Stellungnahme CESE 636/2009 (Berichterstatter: Jan OLSSON). AdR-Stellungnahme CdR 29/2013 (Berichterstatter: Michael Schneider). EWSA-Stellungnahme CESE 1388/2011 (Berichterstatter: Roman HAKEN). NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… -9 Handelsabkommen wirken sich zwar allgemein positiv auf das BIP aus, können aber auch negative Folgen für landwirtschaftliche Erzeuger haben, deren Absatzmärkte durch eine plötzliche Importschwemme wegbrechen. 4.4.3 Es müssen spezifische Indikatoren entwickelt werden, um die territorialen Auswirkungen solcher Maßnahmen abzuschätzen, und zwar nicht nur hinsichtlich der sozialen und ökonomischen sowie ökologischen Folgen, sondern auch im Hinblick auf schwerer messbare Auswirkungen wie den Verlust traditioneller Kompetenzen. 5. Besondere Bemerkungen 5.1 Wohlstand hängt von der Fähigkeit ab, alle vor Ort vorhandenen Ressourcen bestmöglich zu nutzen. Eine ausgewogene Entwicklung der Regionen bedeutet eine gleichmäßigere und nachhaltigere Nutzung der natürlichen Ressourcen, wobei wirtschaftliche Vorteile durch weniger Staus und einen geringeren Kostendruck erzielt werden. Die Größennachteile bzw. negativen Effekte von Ballungsräumen und der für die Ausdehnung der Städte typische hohe Energieverbrauch stehen der Aussicht auf eine gute Lebensqualität für alle im Wege. 5.2 Viele ländliche Gebiete, die neben übermäßig intensiv genutzten städtischen und stadtnahen Räumen existieren, verfügen über ein noch unerschlossenes Entwicklungspotenzial. In abgelegenen Gebieten, weit entfernt von Großstädten, spielen Klein- und Mittelstädte eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung des Zugangs zu Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung und sorgen so dafür, dass diese Gebiete attraktiv und lebenswert bleiben. 5.3 Junge Frauen ziehen eher vom Lande in die Städte als Männer, was zu einem Rückgang des weiblichen Bevölkerungsanteils führt und als ein Element zum Bevölkerungsrückgang und zur Bevölkerungsalterung beiträgt. Für Frauen in ländlichen Gebieten gibt es derzeit nur wenige Möglichkeiten für eine Ganzjahresbeschäftigung, die aber zweifellos die Voraussetzung dafür ist, dass der Verstädterungsprozess aufgehalten werden kann. 5.4 Dies setzt einen Teufelskreis in Gang: Wenn weniger Familien in einem Dorf leben, wird die örtliche Schule, Bankfiliale oder Gesundheitseinrichtung geschlossen, was wiederum mehr Menschen veranlasst, mangels solcher Dienste abzuwandern. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, zahlt sich für die Gesellschaft eindeutig aus. Dafür müssen Beschäftigungsmöglichkeiten im ländlichen Raum geschaffen werden, damit junge Familien naturnah auf dem Lande wohnen und ihre Kinder in diesem Umfeld aufziehen können. 5.5 Der Markt allein kann nicht die erforderlichen Anreize bieten, um den gegenwärtigen Trend umzukehren (ein handfester Beweis dafür ist die Tatsache, dass internationale Einzelhandelsketten ihre Waren kaum von lokalen Erzeugern beziehen, selbst dann nicht, wenn die Angebotsseite gut organisiert ist und einen zuverlässigen Produktionsfluss garantieren kann). Wenn es darum geht, Arbeitsplätze auf dem Lande zu schaffen, dann NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… - 10 müssen die öffentlichen Behörden auf allen territorialen Ebenen (auf der kommunalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebene) in irgendeiner Form dafür tätig werden. 5.6 Teilzeitbeschäftigung im Kunsthandwerk oder Agrotourismus ist zwar durchaus begrüßenswert4, bietet aber nicht mehr als einen Zuverdienst für einige wenige Menschen und kann daher für sich allein genommen nicht als realistische Lösung für das Problem der Entvölkerung angesehen werden. In abgelegenen Gebieten kann nur ein bestimmter (dank der modernen IKT möglicher) Grad der Dezentralisierung stark zentralisierter Wirtschaftstätigkeiten im Tertiärsektor Beschäftigungsmöglichkeiten in ausreichender Zahl schaffen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das neue Datenverarbeitungszentrum der portugiesischen Telefongesellschaft Portugal Telecom bei Covilhã im Serra-da-EstrelaGebirge. 5.7 Damit sich dieser Wandel vollziehen kann, sind angemessene steuerliche Anreize nötig, wozu Nachlässe oder Befreiungen von der Lohn- und Einkommensteuer zählen. Das Wettbewerbsrecht muss entsprechend angepasst werden, um die erforderlichen Ausnahmen zuzulassen. 5.8 Eine effiziente Anbindung an das Verkehrs-, Kommunikations- und Energienetz ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Entwicklung abgelegener Gebiete; ebenso wichtig ist eine berufliche Bildung, die "die Arbeitskräfte auf die Erfordernisse des neuen Produktionsmodells einstellt" 5 . Zuallererst bedarf es jedoch eines kompletten und ausgewogenen Pakets von Anreizen, damit sich Unternehmen nach rationalen Kriterien für einen Standort in ländlichen Gebieten entscheiden können. Fehlt diese Attraktivität, kann es zu einer Situation wie in Estland kommen, wo Menschen mit guten Computerkenntnisse in großer Zahl aus ihren in ländlichen Gebieten gelegenen und mit Breitband-Internetanschluss ausgestatteten Heimatorten abwandern müssen. 5.9 Hochwertige Arbeitsplätze in modernen Branchen und in der Kreativwirtschaft könnten eine positive Entwicklung in Gang setzen: Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch kulturelle Initiativen und andere Dienstleistungen werden angezogen, die das Leben auf dem Lande für junge Arbeitnehmer interessanter machen und sie von der Abwanderung abhalten. 5.10 Besteht in abgelegenen Gebieten die begründete Aussicht darauf, mit seinem Verdienst ein menschenwürdiges Leben führen zu können, dann könnte sich der derzeitige Trend der Bevölkerungsabwanderung umkehrten. So haben sich zum Beispiel einige junge niederländische Landwirte in Rumänien angesiedelt, bewirtschaften dort erneut das Land, das viele Jahre brach lag, und integrieren sich in das soziale Gefüge vor Ort. Dies steht im krassen Widerspruch zu den derzeitigen Versuchen, in stark entvölkerten Gebieten große Landflächen 4 5 EWSA-Stellungnahme CESE 483/2012 (Berichterstatter: Adalbert KIENLE). EWSA-Stellungnahme CESE 262/2010 (Berichterstatter: Pedro NARRO). NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd …/… - 11 zusammenzukaufen, um dort einen Landbau in Monokultur durchzusetzen und die übrig gebliebenen Kleinbauern zu vertreiben oder in eine abhängige Beschäftigung zu drängen. 5.11 Im weiteren Sinne könnte die Integration von Migranten aus Drittstaaten auch eine Chance sein, um diese in den landwirtschaftlichen Regionen sesshaft zu machen, in denen sie oft ihre erste Beschäftigung finden, aus denen sie aber später in die Städte abwandern. Sie würden nur dann bleiben, wenn die Integration tatsächlich eine ethnische Trennung der Bevölkerung verhindert. Auf jeden Fall müssen nach dem Grundsatz der Politikkohärenz auch die negativen Auswirkungen der Abwanderung in den Herkunftsländern berücksichtigt werden. 5.12 Eine weitere negative Folge der Entvölkerung ländlicher Gebiete ist ein potenzielles Sicherheitsproblem in den Gebieten entlang der EU-Außengrenzen, da die Menschen, die früher die Streitkräfte über die aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten haben, nicht mehr dort leben. _____________ NAT/615 – CES5160-2013_00_00_TRA_APA (EN) MD/BT/jd