Behinderung und sexueller Missbrauch

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Behinderung und sexueller Missbrauch
Abhängigkeit wird ausgenutzt
Mädchen und Jungen mit Behinderung, die sexuell
missbraucht werden, haben weniger Möglichkeiten der
Missbrauchssituation zu entkommen und sich Hilfe zu
holen. Beim Tabuthema Missbrauch sind auch Eltern
und Fachkräfte häufig überfordert. Was muss man
beim Eingreifen beachten?
Wer glaubt schon einem Mädchen mit geistiger
Behinderung? – Das Problem der Glaubwürdigkeit einer
(Zeugen-)Aussage steht am Anfang und am Ende einer
langen Kette von Risikofaktoren, die dazu führen, dass
Kinder mit Behinderung etwa doppelt so häufig
misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt werden wie
nichtbehinderte Kinder. Je nach Art der Behinderung
variieren die Zahlen: Kinder mit Körperbehinderung haben
ein zweifach erhöhtes Risiko Opfer von sexuellem
Missbrauch zu werden. Bei Kindern mit Lernschwierigkeiten
(geistiger Behinderung) ist die Quote viermal so hoch, bei
verhaltsauffälligen Kindern mehr als fünfmal so hoch!
Sinneseinschränkungen wie Gehörlosigkeit oder Probleme
beim Sprechen und der Kommunikation erhöhen die Rate
von Misshandlung und Vernachlässigung um das Drei- bis
Fünffache. Diese und weitere detaillierte Einblicke zum
Thema (sexuelle) Gewalt bei verschiedenen Arten von
Behinderung entstammen einer amerikanischen
Untersuchung, die im Jahr 2000 im internationalen
Fachjournal „Child Abuse And Neglect“ veröffentlicht
wurde. Sie basiert auf den Daten der rund 50.000 Kinder
der Stadt Ohama im US-Bundesstaat Nebraska. Bis heute
liegen im deutschsprachigen Raum keine vergleichbaren
repräsentativen Studien dazu vor. Allerdings weisen
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verschiedene kleinere Untersuchungen auf ähnliche
Tendenzen hin: Die selbst behinderte Schweizer
Therapeutin und Forscherin Dr. Aiha Zemp – eine Pionierin
zum Thema – legte bereits Anfang der 90er Jahre Zahlen
vor, wonach zwei Drittel der erwachsenen Frauen und die
Hälfte der Männer mit Behinderung über Missbrauch in der
Kindheit berichteten. Eine Befragung von Leiterinnen und
Leitern von Wohneinrichtungen Ende der 90er Jahre durch
den renommierten deutschen Kinder- und
Jugendpsychiater Prof. Jörg Fegert stellte fest, dass
mindestens ein Viertel der behinderten Bewohnerinnen von
sexueller Gewalt betroffen waren.
Warum haben Menschen mit Behinderung ein erhöhtes
Risiko missbraucht zu werden? „Die Täter und Täterinnen
nutzen gezielt die Hilflosigkeit und soziale Abhängigkeit von
Menschen mit Behinderung aus“, erklärt Adelheid
Unterstaller vom Münchner Präventionsinstitut AMYNA. Als
Beispiel nennt sie Pflegesituationen, Assistenz beim Anund Ausziehen, beim Windeln, beim Gang auf die Toilette,
bei der Beförderung, beim Essengeben. Nicht nur im Alltag
zuhause oder in Schule, Tagesstätte und Wohnheim, auch
bei den vielen Arztbesuchen, im Krankenhaus, in der
Therapie sind behinderte Menschen gezwungen,
Angehörigen und professionellen Helfern den eigenen
Körper mit all seinen Bedürfnissen „anzuvertrauen“. Oft ist
die Intimsphäre nur ungenügend gewahrt. Fortwährende
Erlebnisse von Fremdbestimmung führen bei vielen zu
angepasstem Verhalten und einem nur wenig entwickelten
Selbstbewusstsein mit erlernter Hilflosigkeit, dem Gefühl
sowieso nichts bewirken zu können. Der Mangel an
Informationen, geistige Einschränkungen und
Kommunikationsbarrieren machen es den Betroffenen noch
schwerer, die Absicht des Täters oder der Täterin zu
erkennen. Durch die häufig vorkommende soziale Isolation
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der Betroffenen und das Angewiesensein auf Betreuende,
die oftmals überlastet sind, ist es besonders schwer, Hilfe
zu holen oder sich jemandem anzuvertrauen. „Manche
Täter nutzen auch die große Sehnsucht nach körperlicher
Nähe oder den Wunsch nach einer Liebesbeziehung aus“,
erläutert Adelheid Unterstaller.
Dazu kommt, dass viele Jugendliche und Erwachsene mit
Behinderung gar nicht oder nur mangelhaft aufgeklärt
werden. Dabei wirken auch bestimmte Vorurteile und
Mythen mit: Mädchen und Frauen mit Behinderung seien
sowieso nicht sexuell attraktiv. Oder es besteht die
Einstellung – auch mancher Eltern – Menschen mit
Behinderung seien asexuell oder quasi geschlechtsneutrale
Wesen. Auch die umgekehrten Stereotype, Menschen mit
Behinderung seien besonders „triebhaft“, sind vorhanden.
Nicht zuletzt profitieren die Missbraucher auch immer
wieder davon, dass einem Kind mit Behinderung oftmals
nicht geglaubt wird und die Betroffenen überhaupt sehr
wenig Auswahl in ihren sozialen Kontakten haben –
geschweige denn Hilfsangebote kennen. In einer neuen
Studie weist Jörg Fegert zusätzlich darauf hin, dass es
bisher nur ganz vereinzelt Möglichkeiten der
Traumatherapie für Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt.
Selbst Mädchen/Frauen und Jungen/Männer, die „nur“
körperbehindert sind, haben aufgrund fehlender
Barrierefreiheit, Probleme eine angemessene Therapie zu
bekommen.
Was können Einrichtungen dagegen tun? Jede sexuelle
Handlung von älteren Jugendlichen und Erwachsenen an
oder vor Kindern und Jugendlichen ist sexueller
Missbrauch. Informieren Sie sich und qualifizieren Sie sich
zu diesem Thema! Reflektieren sie im Alltag den Umgang
mit Grenzen, mit Intimität, mit Nähe und Distanz und
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beugen Sie für den Notfall vor. Sie können Ihr Bekenntnis
zur Gewaltfreiheit im Leitbild ihrer Einrichtung verankern
und einen Ehrenkodex dazu erarbeiten. Erstellen Sie einen
Leitfaden, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem
konkreten Verdacht vorgehen sollen. Binden sie das
Vorgehen in die Gesamtstruktur ein und benennen sie
konkret zuständige Personen und/oder eine Beauftragte.
Wissen hilft Ihnen, schützt aber auch die Kinder und
befähigt sie dazu Worte zu finden um das Erfahrene
aussprechen zu können. Deshalb ist eine angemessene
und verbindliche Sexualpädagogik für Kinder und
Jugendliche jeder Altersstufe eine wichtige Grundlage um
die körperliche und besonders die sexuelle
Selbstbestimmung zu verbessern. Denken sie daran, dass
Missbrauch überwiegend im sozialen Nahraum stattfindet
und das Tabu des Missbrauchs durch Fachkräfte, Betreuer
oder Eltern besonders groß ist! Und auch Übergriffe von
Älteren auf jüngere Betreute oder BewohnerInnen kommen
vor. Geben sie den Betroffenen die Möglichkeit
Beschwerden vorzubringen. Richten sie z.B. eine
Beschwerdestelle ein und sorgen sie durch
Zusatzvereinbarungen im Arbeitsvertrag und indem sie
schon im Bewerbungsgespräch das Thema ansprechen
dafür, dass sich potentielle Täter in ihrer Einrichtung nicht
wohl fühlen. Sie können sich auch ein polizeiliches
Führungszeugnis alle 3 bis 5 Jahre vorlegen lassen, wie es
im Bereich Jugendhilfe schon allgemein üblich ist.
Elke Amberg, Wildwasser München e.V.
Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projektes "Talk about
it! Radio gegen sexuellen Missbrauch“ verfasst. Ziel des
Projekts ist es, das Thema sexuelle Gewalt zu
enttabuisieren und Betroffenen zu helfen, das Schweigen
und die Sprachlosigkeit zu überwinden. „Talk about it!“ ist
ein Kooperationsprojekt von Radiofabrik - Freier Rundfunk
Salzburg (Ö), Selbsthilfegruppe Überlebt (Ö), Radio Corax
(D) und Wildwasser München e.V. (D) mit finanzieller
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Unterstützung der Europäischen Union. Weitere Artikel,
Links und Radiosendungen zum Nachhören:
www.talkaboutit.eu
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