Dariusz Gawin - Kultura Pamięci

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QUELLE: INTER FINITIMOS, NR. 4 (2006): 31-60
DARIUSZ GAWIN
ÜBER DEN NUTZEN UND SCHADEN DES GESCHICHTSREVISIONISMUS
Seit zwanzig Jahren steigt weltweit die Anzahl von Büchern und Texten, die bisher gültige
Geschichtsbilder revidieren. Jacek Żakowski beschrieb dies in seinem Buch „Die Rache der
Erinnerung“ (Rewanż pamięci) bildhaft: „Ein Zug von Skeletten zieht durch Europa. Von Istanbul
über Madrid, Vancouver und Tokio ist das Knarren von Schranktüren zu hören, die jahrzehntelang
nicht geöffnet wurden und in denen fein säuberlich die unterschiedlichsten Skelette aufbewahrt
worden sind. Ereignisse, die 50, 100 oder 200 Jahre zurückliegen, gerieten zur Verwunderung von
Asiaten, Europäern und Amerikanern wieder in die Schlagzeilen der Medien, wurden in Zeitungen,
Presseagenturen
und
den
Fernsehnachrichten
ebenso
thematisiert
wie
in
stürmischen
Parlamentsdebatten und ließen Bücher mit dieser Thematik zu Bestsellern werden.“1 An der kritischen
Analyse der Vergangenheit selbst ist noch nichts zu beanstanden, zumal dies von Anbeginn an im
Wesen der Geschichtsschreibung lag. Die spürbare Welle eines allgemeinen historischen
Revisionismus scheint aber eine besondere Erscheinung zu sein, denn sie führt nicht nur zu einer
grundlegenden Umwertung innerhalb der Geisteswissenschaften, sondern auch in der Politik. Dies
resultiert aus der Tatsache, dass diese Welle nicht nur allgemein verbreitete Vorstellungen oder
Stereotypen angreift, sondern auch die Grundlagen der Legitimation bisher verbindlicher Formen
kollektiver Erinnerung, die zur Aufrechterhaltung jeder politischen Ordnung wichtig sind, in Frage
stellt.
Auch in Polen hatten wir – etwa bei der Diskussion darüber, in welchem Maße Polen in den
Holocaust verwickelt waren, oder bei den Auseinandersetzungen um das geplante „Zentrum gegen
Vertreibungen“ in Berlin – die Gelegenheit, uns davon zu überzeugen, von welcher Bedeutung die
zunehmende Welle der Revision bisher gültiger Formen historischer Erinnerung für das öffentliche
Leben in Polen war. Als zu Beginn der 1990er Jahre die Auseinandersetzung um die Auflösung des
kommunistischen Systems und die Bewertung der Volksrepublik Polen in vollem Gange war, hörte
man des Öfteren die Meinung „überlassen wir diese Dinge den Historikern, die Streitigkeiten um die
Geschichte sind Stellvertreterkämpfe“. Das klang mehr oder weniger so, als sei die Geschichte bereits
tot und die Untersuchung dessen, was sie beinhalte, könne höchstens in Form einer Obduktion
erfolgen. Zehn Jahre danach ist jedoch deutlich geworden, dass die Geschichte nicht allein dem
akademischen Seziertisch gehört. Es ist auch zu sehen, dass immer mehr Staaten eine mehr oder
weniger bewusste Geschichtspolitik betreiben und durch ihre Autorität sowie ihre materiellen Mittel
konkrete Interpretationen von Geschichte unterstützen, die in gleichem Maße dazu dienen, die
Wahrheit herauszufinden wie die eigenen Interessen zu berücksichtigen. Sicherlich, das war schon
immer so – die Grenze zwischen Geschichte und politischer Propaganda ist unscharf. Aber heute
1
müssen die Staaten diese Aufgabe in der Situation eines stetig wachsenden historischen Revisionismus
wahrnehmen. Dies bedeutet, dass obwohl das Spiel nationaler Interessen weiterhin gespielt wird, sich
die Spielregeln geändert haben. Eine der neuen Regeln ist nota bene die offizielle Negierung der
Kategorie des nationalen Interesses – entweder als Anachronismus, oder als etwas Unmoralisches,
geradezu Unanständiges – bei gleichzeitig bewussten und fortgesetzten Berechnungen der Einsätze um
die Gestaltung von Erinnerung.
Wie sieht in diesem Kontext die Bilanz der polnischen Aktiva und Passiva aus? Leider
schlecht. Nicht nur ist der polnische Staat bisher nicht in der Lage, eine kohärente Geschichtspolitik zu
betreiben – auch im polnischen Establishment (diese Bezeichnung ziehe ich vor, weil sie mir neutraler
erscheint, als der normativ belastete Begriff der Elite), das heißt unter Intellektuellen, Publizisten,
Journalisten und Geschäftsleuten – ist ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Geschichtspolitik
äußerst gering. Wir leben im schnöden Hier und Jetzt, ohne Vergangenheit und auch ohne etwas
weiter als ein, zwei Jahre in die Zukunft zu schauen. Wenn wir uns schon dazu aufraffen, die
staatlichen Strukturen oder die öffentliche Meinung stärker zu mobilisieren, dann eher als Reaktion
auf Impulse von außen.
DIE URSACHEN UNSERER SCHWÄCHE
An dieser Stelle drängt sich mit großer Intensität die Frage auf, worin die Gründe unserer Schwäche
liegen. So wie die Dinge liegen, gibt es dafür sicherlich viele. Einer, der besonders wichtig scheint, ist
das spezifisch polnische Modell eines kritischen Patriotismus, der sich durch seine ständige
Bereitschaft auszeichnet, nationale Mythen anzufechten, gegen Stereotype zu kämpfen, grundsätzlich
Vorbehalte gegen die, wie es scheint von Natur aus potenziell gefährliche, nationale Idee hegt und der
Überzeugung ist, die historische Erinnerung müsse einer ständigen Revision unterzogen werden. Um
zu den Wurzeln dieser Haltung zu gelangen, muss man weit in die Vergangenheit zurückgehen, in die
1970er und 1980er Jahre, das heißt, bis zu dem Punkt, an dem die demokratische Opposition und die
erste Solidarność-Generation die historische Bühne betraten. Eine Gruppe, die nicht nur den
Kommunismus bezwungen und die Grundlagen für die Dritte Republik geschaffen, sondern auch in
der darauf folgenden Dekade den öffentlichen und politischen Diskurs in Polen vorgegeben hat. Ihr
Erfolg kann daran gemessen werden, dass auf diesem Gebiet, trotz all ihrer politischen Niederlagen –
die ehemaligen Oppositionellen sind mehrheitlich bereits von der politischen Bühne verschwunden
oder sind im Gehen begriffen – ihre früheren Gegner diesen Diskurs akzeptiert haben. Die
Grundstruktur des Denkens in Kategorien eines kritischen Patriotismus übernahmen die
Postkommunisten; vor allem Aleksander Kwaśniewski hat mit einem für ihn typischen Stil an eine
Geschichtspolitik angeknüpft, die aus der demokratischen Opposition, vor allem aus deren linkem
oder auch liberalem Flügel (selbstverständlich im alten, weiten Sinne dieses Wortes) erwachsen ist.
1 JACEK ŻAKOWSKI,
Rewanż pamięci, Warszawa 2002, S. 2.
2
Unter den polnischen Verhältnissen sind die revisionistischen Einstellungen gegenüber der
Geschichte in geringerem Maße als im Westen in den postmodernistischen Geisteswissenschaften
verwurzelt. Der Feminismus und andere Strömungen, wie sie in der westlichen Kultur deutlich
vertreten sind, tauchen in unserem intellektuellen Leben erst seit den 1990er Jahren auf. Dagegen
gehen die Anfänge eines kritischen Patriotismus auf die Wende von den 1950er zu den 1960er Jahren
zurück. In den 1970er Jahren, als sich die demokratische Opposition herausbildete, kristallisierte er
sich schließlich heraus und wurde zu einem dauerhaften Phänomen. Wenn das Wesen dieses kritischen
Patriotismus in der Überzeugung besteht, gegen Stereotype und Mythen, die in unserer Kultur
verbreitet sind, zu kämpfen, dann hat diese Haltung natürlich viele Entsprechungen in weiter
zurückliegenden Zeiten. Es genügt zu sagen, dass die romantischen nationalen Mythen, die Legende
der Aufstände und die sarmatische Tradition sowohl von den Warschauer Positivisten, den Krakauer
Realpolitikern und den Nationaldemokraten bekämpft wurden. Gegen die Stereotype und nationalen
Mythen kämpfte ebenso Brzozowski2 zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Boy-Żeleński3 zur Zeit der
Zweiten Republik.
Der gegenwärtige Evolutionszyklus einer revisionistischen Haltung begann sich jedoch seit
den Auseinandersetzungen um die „Polnische Schule“ im Filmwesen gegen Ende der 1950er und zu
Beginn der 1960er Jahre herauszubilden: Zu diesem Zeitpunkt hatten Oberst Załuski 4 und andere
offizielle Autoren nicht nur Wajda und Munk den Krieg erklärt, sondern auch Mrożek, Gombrowicz
und allen übrigen Autoren, die traditionelle, im polnischen Bewusstsein fest verankerte Mythen
infrage stellten. Dies äußerte sich zur selben Zeit aber auch auf andere Weise, zum Beispiel in der
Auseinandersetzung Erzbischof Wyszyńskis mit dem Umfeld von „Znak“ über dessen Verhältnis zu
den Begriffen Nation und Tradition. Ein wesentliches Element dieser Kontroverse war die empörte
Reaktion des Erzbischofs auf eine von Stanisław Stomma zum 100. Jahrestag des Januaraufstandes
veröffentlichte Schrift. Man kann den Eindruck gewinnen, dass für viele Beteiligte bestimmte
Ergebnisse und Argumente, die damals erarbeitet wurden, ein für alle Mal gewisse Diskussionen
beendet haben – die Hausaufgaben waren erledigt, Sentenzen auswendig gelernt. Als zum Beispiel
aufgrund der Verteidigung der Bestimmungen des Vertrags von Nizza durch Polen ein Sturm losbrach,
quittierten einige Publizisten die Verteidigung nationaler Interessen mit den Bemerkungen, Polen
verfalle wieder in eine unverantwortliche Haltung, zu hören sei „Säbelrasseln“ und „der Lärm
schwerer Reiterei“.
Der Kampf gegen die offizielle Heroisierung, wie ihn in den sechziger Jahren die „Spötter“
führten, bewegte sich im offiziellen, von der Zensur in einen bestimmten Rahmen gezwängten Raum.
Dies ist der Grund für die Zweideutigkeit der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen
Nationalismus in der Version der sogenannten „Partisanen“: Die Aneignung der patriotischen Rhetorik
durch die Gefolgsleute Moczars führte zu einer eigenartigen Situation, in der die effektivste Form des
2
3
Stanisław Brzozowski (1878-1911), polnischer Philosoph.
Tadeusz Boy-Żeleński (1874-1941), polnischer Literaturkritiker und Schriftsteller.
3
Antikommunismus im Kampf gegen die nationale Tradition zu liegen schien. Natürlich waren hier
auch linke Traditionen bei der Mehrheit der Kreise, die die „Spötter“ und die marxistischen
Revisionisten unterstützten, von Bedeutung. Charakteristisch hierfür ist die Tatsache, dass die völlige
und endgültige Lossagung vom Kommunismus in diesem Umfeld erst nach 1968 erfolgte, als der
ideelle Angriff auf alle Vertreter des Revisionismus sich in einen brutalen, physischen Zusammenstoß
mit Feinden verwandelte, der weniger mit nationalistischen als mit rassistischen Parolen geführt
wurde. Erst unter diesen Bedingungen war es für linksintellektuelle Gruppen möglich geworden, sich
über die Gleichsetzung mit dem Faschismus endgültig vom Kommunismus loszusagen. Die Idee des
Kommunismus an sich erschien nicht als etwas Schlechtes, der Kommunismus in seiner praktischen
Ausprägung war aber schlecht, weil er sich in Wirklichkeit faschistischer Methoden bediente. Erst zu
jenem Zeitpunkt war es möglich geworden, den Begriff „Totalitarismus“, der bis dahin wegen der
Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus als „reaktionär“ galt, in seiner Gesamtheit
zu akzeptieren sowie das Ideal der Revolution zugunsten der Demokratie und Bürgergesellschaft
aufzugeben. Ein wesentliches Element dieser Entwicklung war der Verzicht auf den traditionellen
politischen Diskurs der Linken, der durch die Dichotomie Fortschritt – Reaktion und den
Revolutionsmythos bestimmt war, zugunsten eines als „antipolitische Politik“ festgelegten,
ungewöhnlich ethisch verdichteten Diskurses. Die Oppositionellen hatten in Wahrheit und Würde zu
leben, um auf diese Weise das auf Lügen basierende System zu sprengen. Dies bedeutete zumindest
auf der theoretischen Ebene einen absoluten Primat der Ethik gegenüber der Politik. Diese Idee hat
Václav Havel in „Von der Macht der Ohnmächtigen“5 noch besser als die polnischen Oppositionellen
zum Ausdruck gebracht, als er den Beweis führte, dass der Kampf mit dem System nur dort gelingt,
wo er die Form einer existentiellen Revolution annimmt und zu geistigem Wandel führt.
Eine genaue Rekonstruktion des ideellen Wandels der oppositionellen linksliberalen Kreise ist
zu kompliziert, um sie an dieser Stelle leisten zu können. Es ist jedoch möglich, bestimmte
Grundelemente der Denkweise dieser Kreise und ihre Einstellungen gegenüber der nationalen
Vergangenheit am Beispiel ausgewählter, bedeutender Texte von Jan Józef Lipski, Jan Błoński und
Jerzy Jedlicki aufzuzeigen.
WELCHER PATRIOTISMUS?
Das Gebot der ständigen Überprüfung der eigenen Vergangenheit als Grundlage des neuen kritischen
Patriotismus wurde von Jan Józef Lipski in seinem vieldiskutierten Text „Zwei Vaterländer – zwei
Patriotismen. Bemerkungen zu nationalem Größenwahn und Xenophobie der Polen“ aus dem Jahr
1981 mustergültig formuliert. Es erschien im Untergrundverlag „Nowa“ und wurde später mehrfach
wiederaufgelegt, nicht nur in Polen, sondern auch im Ausland, unter anderem in Deutschland, wo der
4
Roman Załuski (geb. 1936), polnischer Filmregisseur.
4
Text seinerzeit als bahnbrechend und klassisch galt.6 Alle Fäden, die für die spezifisch polnische Form
des historischen Revisionismus und die darauf basierende Geschichtspolitik maßgeblich sind, laufen
hier wie in einem Nadelöhr zusammen.
Lipski stellte dem auf christlicher Nächstenliebe basierenden Patriotismus den Chauvinismus,
den nationalen Größenwahn, einen nationalen Egoismus und die Fremdenfeindlichkeit gegenüber. Er
hat jedoch diese Begriffe inhaltlich erstaunlich weit gefasst, weil er implizit in seinen Ausführungen
davon ausging, dass sie auch von gewöhnlichen nationalen Stereotypen unterstützt werden, die
scheinbar nur wenig mit ihnen gemeinsam haben. Lipski schrieb: „’Liebe zu allem was polnisch ist’,
das ist eine oft wiederholte Formel der nationalen, ‚patriotischen’ Stupidität. Denn ‚polnisch’ waren
doch auch die ONR und die Pogrome in Lemberg, Przytyk und Kielce, das ‚Bänkeghetto’ und die
‚Befriedung’ ukrainischer Dörfer, polnisch waren Brest, Bereza und das Lager in Jabłonna im Jahre
1920, um uns nur auf zwanzig Jahre unserer Geschichte zu beschränken. Patriotismus bedeutet nicht
nur Achtung vor der und Liebe zur Tradition, sondern auch eine schonungslose Selektion der
Elemente dieser Tradition, die Verpflichtung zu intellektueller Arbeit in diesem Bereich. Die Schuld
für eine falsche Einschätzung der Vergangenheit, für eine Verewigung nationaler Mythen, für ein dem
nationalen Größenwahn dienendes Verschweigen dunkler Flecken der eigenen Geschichte ist vom
moralischen Standpunkt aus gewiss kleiner als die Schuld, die man auf sich lädt, wenn man dem
Nächsten Böses zufügt, aber sie ist die Voraussetzung für das gegenwärtige und eine Vorbereitung für
das künftige Übel.“7 Wahrer Patriotismus, der, der sich auf die christliche Nächstenliebe beruft, ist
also vor allem ein kritischer Nationalismus, ständig bereit, das eigene Wissen auf Richtigkeit zu
überprüfen und die Verantwortung auch für längst vergangene, moralisch als falsch erkannte
Geschehnisse zu übernehmen. Die Grundlage eines wahren Patriotismus ist, wenn man dies so sagen
kann, die ewig schlechte nationale Gemütsverfassung – Jan Błoński schrieb in einem Text, in dem er
das Werk von Zofia Kossak-Szczucka8 einer kritischen Analyse unterzog, man müsse gegen seine
eigene psychische Bequemlichkeit denken.
Unklar in der Auslegung Lipskis ist aber der Punkt, an dem er nationalen Größenwahn mit dem Bösen
vergleicht; er gibt zu, dass – obwohl die Schuld nationale Mythen zu verfestigen, moralisch weniger
wiege als etwas Unrechtes zu tun – dies dennoch eine Quelle des Bösen sei; er schreibt auch:
Fremdenfeindlichkeit und nationaler Größenwahn bedingen und stützen sich gegenseitig. Weiter
gedacht bedeutet dies, dass jeder, der über eine zu gute nationale Gemütsverfassung verfügt, der keine
Bereitschaft zeigt, diese Gemütsverfassung zu revidieren, der nicht in der Lage ist, unbequemen
5
VÁCLAV HAVEL, Moc bezmocných, Londýn 1979 (dt.: Versuch, in der Wahrheit zu leben: von der Macht der
Ohnmächtigen, Reinbek 1980).
6 Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war ganz offensichtlich kein Zufall, obwohl im Text selbst darauf nicht Bezug
genommen wird: die erste Solidarność konnte durch ihre Macht und Bedeutung, die sie in der Welt erlangt hatte, auch im
Zusammenhang mit dem gerade beginnenden Pontifikat von Johannes Paul II., den Boden für die Entwicklung des
„nationalen Größenwahns“ im Sinne Lipskis bereiten. Dem musste man sich konsequenterweise entgegenstellen.
7 JAN JÓZEF LIPSKI, Powiedzieć sobie wszystko... Eseje o sąsiedztwie polsko-niemieckim. Wir müssen uns alles sagen...
Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Gleiwitz; Warschau 1996, S. 187.
8
Zofia Kossak-Szczucka (1890-1968), polnische Schriftstellerin.
5
brutalen Wahrheiten in Auge zu sehen, dem Bösen, wenn auch nicht wissentlich, den Boden bereitet.
Zu Ende gedacht bedeutet dies: Nicht nur derjenige, der keine schmerzlichen Wahrheiten an sich
heranlassen möchte, sondern auch derjenige, der nicht ständig die schmerzliche Wahrheit, die Fakten
und die alten Mythen zu zerstören sucht, bereitet den Boden für die Entwicklung des nationalen
Größenwahns. Vorstellbar erscheint zum Beispiel ein Historiker, der sich nur mit den glorreichen
Seiten der polnischen Geschichte befasst und dies keineswegs im Geiste nationalen Größenwahns tut
und dem nur deswegen Fremdenfeindlichkeit vorgeworfen wird, weil er nie über von Polen begangene
Verbrechen schrieb.
Das Feld schwieriger Wahrheiten ist gemäß Lipski weit: von der Unterjochung der Jadwinger
über die Gräueltaten, die von Polen in der Ukraine begangen wurden, den Kampf an der Seite
Napoleons gegen die spanische Aufständischen bis hin zu den dunklen Seiten der Zwischenkriegszeit.
Dabei erfolgt auch eine Stärkung der unvermeidlichen Verbindung von nationalem Größenwahn und
Chauvinismus; Lipski hebt den Unterschied in der moralischen Bewertung zwischen beiden
Erscheinungen schon nicht mehr hervor. Er nimmt einen strengen und befehlenden Ton an: „So dürfen
wir nicht handeln!“9 [d.h.: verschweigen, die dunklen Seiten der Geschichte ignorieren, D.G.] „Jedes
Verschweigen gießt Öl ins Feuer des nationalen Größenwahns, ist eine Krankheit; jedes Ausweichen
vor der Einsicht in die eigene Schuld bedeutet die Zerstörung des nationalen Ethos.“ Der Autor geht
sogar noch weiter: „Hüten wir uns davor, behandeln wir mit Misstrauen jede neue Offensive des
‚Patriotismus’, wenn sie auf einer unkritischen Vervielfältigung der beliebten Slogans des nationalen
Größenwahns beruht. Hinter der den meisten Polen so teuren Phraseologie und Requisitenkammer
verbergen sich nur allzu oft zynische Soziotechniker, die nur darauf warten, dass der Fisch auf das
Ulanentschako, auf die Panzerflügel der Husaren, auf die Militärjacken der Warschauer
Aufständischen anbeißt“10.
Obwohl es Lipski in erster Linie um Vorsicht in Bezug auf die patriotischen
Propagandakampagnen durch die Behörden der Volksrepublik ging, besitzt diese Zurückhaltung
sinnvollerweise Geltung gegenüber allen nationalen Symbolen. Ein kritischer Patriot darf sich ihrer
nicht unreflektiert bedienen; hier muss reflexartig ein instinktives, automatisches Misstrauen
aufkommen, es muss sofort die Frage nach der Reinheit der Absichten gestellt werden. Dass dies die
Intention Lipskis ist, bestätigt auch seine Anmerkung, dass Spuren von nationalem Größenwahn und
Fremdenhass auch in der außer Reichweite der Zensur herausgegebenen Presse zu finden seien. Dies
zeugt davon, dass das Modell eines nationalen Bewusstseins der Polen weiterhin eine selbstreflexive
Angelegenheit bleiben muss. Laut Lipski existiert zwischen dem patriotischen Model eines Słonimski,
einer Ossowska oder eines Jasienica11 und dem „Patriotismus“ nach Art der Filipskis, Gontarzs oder
9
Ebd., S. 188.
Ebd., S. 188-189.
11 Antoni Słonimski (1895-1976), Publizist und Schriftsteller; Maria Ossowska (1896-1974), Soziologin; Paweł Jasienica
(1909-1970), Historiker und Publizist.
10
6
Kąkols12 eine „breite gesellschaftliche Sphäre“, die sozusagen amorph ist, die in ihrer traditionellen
Ausformung durch ihren unreflektierten Größenwahn verdorben und daher auch anfällig für
chauvinistische und fremdenfeindliche Parolen ist, die ihr durch die kommunistischen Machthaber
untergeschoben werden. Diese in Wahrheit manichäische Dichotomie sollte näher betrachtet werden:
Słonimski und Kąkol sind Sinnbilder der hellen und der dunklen Mächte. Wie kann man jedoch
Personen wie Henryk Krzeczkowski, Paweł Hertz oder Andrzej Kijowski einordnen 13? Sie lassen sich
mit Sicherheit nicht in eine so grob geschnitzte Vorstellung von dem Verhältnis zur Nation
hineinpressen.
An dieser Stelle gelangen wir zum nächsten wesentlichen Punkt in der Beschreibung des
kritischen Patriotismus, zum Imperativ des Kampfes um die Bewusstseinsveränderung der Polen und
zur Infragestellung ihres bisher gültigen Modells der historischen Erinnerung. Lipski schreibt dazu:
„Der Kampf um die Gestalt des polnischen Patriotismus wird für das Schicksal unserer Nation
entscheidend sein – für ihr moralisches, kulturelles, politisches Schicksal“.14 Der kritische
Patriotismus soll missionarisch sein, eine Mission, die Aktivitäten vorgibt. Das zentrale Feld dieser
Anstrengungen sind für Lipski die komplizierten Beziehungen der Polen zu ihren nächsten Nachbarn,
vor allem zu den Deutschen und den Russen. Im Fall der Deutschen ist für Lipski, obwohl er die
Masse an Verbrechen, die von Deutschen an Polen verübt wurden, nicht negiert, die Tatsache
grundlegend, dass die Polen nicht bereit sind, ihre eigene Schuld in Bezug auf die Deutschen zu
akzeptieren, denn wir haben uns vor allem daran beteiligt „Millionen Menschen ihrer Heimat zu
berauben“.15 Dies kann keinesfalls als moralisch einwandfreie Handlung dargestellt werden, höchstens
als weniger schwer wiegendes Böses (das dadurch allerdings weiterhin Böses bleibt). Dazu tritt noch
etwas Weiteres hinzu – nach Lipski die Verfälschung unserer Erinnerung an die gegenseitigen
Beziehungen in der Vergangenheit: „Im polnischen Bewusstsein unserer geschichtlichen Beziehungen
zu den Deutschen sind eine Menge Mythen und falsche Bilder entstanden, die im Namen der Wahrheit
und zum Zwecke eigener Gesundung, einmal von Lügen gereinigt werden müssen: falsche
Vorstellungen von der eigenen Geschichte sind eine Krankheit der Seele der Nation, sie dienen
hauptsächlich der Fremdenfeindlichkeit und dem nationalen Größenwahn.“16
Lipski schreibt dann über den Mythos der angeblich urpolnischen wiedergewonnenen Gebiete,
die nun wieder zur „Mutter Polen“ zurückgelangt seien und unterstreicht deren authentischen,
eindeutig deutschen Charakter. Er spricht von einem verwischten Bewusstsein bezüglich der
Bedeutung der deutschen Kultur in diesen Gebieten und dem Unwillen der Polen, sich selbst bewusst
zu machen, wie viele Elemente von der deutschen Kultur in die polnische eingeflossen seien. Die
gleiche Prozedur wiederholt er im Falle Russlands, indem er sich über das unberechtigte
Ryszard Filipski (geb. 1934), Filmregisseur; Ryszard Gontarz, Publizist; Kazimierz Kąkol (geb. 1920), Publizist und
Politiker. Alle drei waren durch antisemitische Ausfälle bekannte Anhänger Mieczysław Moczars.
13 Henryk Krzeczkowski (1921-1985), Essayist; Paweł Hertz (1918-2002), Schriftsteller und Publizist; Andrzej Kijowski
(1928-1985), Publizist.
14 Ebd., S. 190.
15 Ebd., S. 192.
12
7
Überlegenheitsgefühl, das Polen gegenüber Russland pflege, auslässt, einer Nation, die im Gegensatz
zu uns eine authentische, universale Kultur besitze, und fährt danach ähnlich mit unseren übrigen
Nachbarn fort: den Weißrussen, Ukrainern, Litauern und Tschechen. Besondere Aufmerksamkeit
verdient laut Lipski die Frage nach den Beziehungen zwischen Polen und Juden und dem
Antisemitismus, der so tief in der polnischen Kultur verwurzelt sei. Der Autor beschließt den Text
erneut mit einer unmissverständlichen Aussage: „Ich bin davon überzeugt, dass die Überwindung des
nationalen Größenwahns und der Fremdenfeindlichkeit oder zumindest eine solche Entschärfung
beider, dass sie ein für das künftige Schicksal des polnischen Volkes ungefährliches Ausmaß
annehmen, eines der wichtigsten Probleme unserer Gegenwart und Zukunft darstellt. Gelingt uns dies
nicht, wird der erste beste Agent, der sich den Ulanentschako aufsetzt und den Halsharnisch an die
Brust hängt, unser Volk führen, wohin er will, wenn er die Trommel des ‚nationalen Stolzes’ rührt und
verschiedene Phobien manipuliert.“17
Dass er aus der christlichen Nächstenliebe eine wahre Form des Patriotismus entwickeln will,
zeugt von dem guten Willens des Autors dieser Konzeption und von dem ethischen Heldentum, das
ihn auszeichnet. Es wird jedoch kompliziert, wenn wir aus seiner Denkweise Schlussfolgerungen
ziehen, die möglicherweise über die ursprüngliche Intention hinausgehen. Dies geschieht jedoch in der
Praxis, denn allzu unpräzise oder verkürzt formulierte Auffassungen beginnen in der Öffentlichkeit ein
Eigenleben zu führen und können im Extremfall zu Ergebnissen führen, die den ursprünglichen
Intentionen entgegenstehen.
Vor allem sollte darauf hingewiesen werden, dass ein auf diese Weise definierter Patriotismus
sich mit Tugenden verbindet, die aus unterschiedlichen Ordnungssystemen herrühren. Die Liebe oder
auch die Barmherzigkeit – die christliche „Caritas“ – ist eine Tugend des Evangeliums, die sich aus
der Ordnung des Glaubens und der Religion ergibt. Der Patriotismus dagegen, selbst wenn wir ihn
vom Chauvinismus und dem Fremdenhass deutlich abgrenzen, ist eine Tugend, die aus einer völlig
anderen Ordnung erwächst, nämlich der Ordnung all dessen, was politisch ist. Es liegt aber im Wesen
der Politik, dass sie gezwungenermaßen Grenzen festlegt, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne,
denn ohne sie kann keine politische Gemeinschaft existieren. Schon deswegen ist es schwierig, die im
Grunde unvermeidlichen Spannungen aufzulösen, die zwischen dem radikal verstandenen
evangelischen Auftrag, seine Feinde zu lieben, entstehen und einer minimalen Loyalität, vor allem in
der Beziehung zur eigenen Gemeinschaft, zum eigenen Kollektiv, oder zur Loyalität, die jedes
politische Subjekt beanspruchen muss, wenn es überdauern will.
Lipski verabsolutiert den evangelischen Auftrag, indem er ihn auf die politische Ebene
überträgt, auch auf die Ebene der Geschichtspolitik. Dieser Auftrag lässt sich nämlich wortwörtlich
verstehen und zwar in der Bedeutung, in der es im religiösen Sinne der Aufruf zu Heiligkeit sein kann.
16
17
Ebd., S. 194.
Ebd., S. 228.
8
Die Tatsache, dass ein Christ diesen hohen Anforderungen nicht entsprechen kann, ist dennoch nicht
automatisch mit einer Sünde gleichzusetzten.
Übertragen wir diese Vorbehalte auf die politische Ebene, ist es nicht notwendig, dem als
Form rudimentärer, christlicher Nächstenliebe definierten Patriotismus für die Sphäre der Politik wie
bei Carl Schmitt eine Trennung in Freund und Feind entgegenzustellen. Gesunder Menschenverstand
ist ausreichend. Grundlegende Zweifel weckt eine Vorstellung von Patriotismus, die nach dem
Verständnis Lipskis durch ein selbstverständliches kategorisches Gebot zur Nächstenliebe definiert
sein soll. Eine solche Haltung unterscheidet sich in hohem Maße davon, wie der gesunde
Menschenverstand Patriotismus und Chauvinismus voneinander unterscheidet, wonach ersterer frei
von Hass und dem Wunsch sein muss, den Gegner zu vernichten, angefangen bei dessen symbolischer
bis hin zur physischen Vernichtung. Das Verbot, sich in Gewalt zu flüchten und das Verbot, Hass zu
empfinden, decken sich jedoch nicht eindeutig mit dem Gebot der Nächstenliebe. Genau zwischen
dem Verbot zu hassen (denn offener, sich deutlich zeigender Hass ist bereits gleichbedeutend mit
einem die Ordnung zerstörenden Krieg) und dem Gebot der Nächstenliebe (denn die bedingungslose
Bereitschaft zur Nächstenliebe ist etwas Heiliges, das jegliche menschliche Ordnung als entbehrlich
erträgt) liegt der politische Raum. Schon die amerikanischen Gründerväter wussten, dass – wenn die
Menschen Engel wären – eine Regierung überflüssig ist. Dass Lipski die ethischen Normen
verabsolutiert und sie zum Fundament politischer Tugend macht, bedeutet eine extreme Verengung
der Grenzen des Politischen in Richtung einer „engelgleichen“ Politik, in Form einer öffentlichpolitischen und weltlichen Heiligkeit.
Die Gründe für die Entstehung einer solche Auslegung der Dinge sind nachvollziehbar, wenn
man die Entwicklung der gegen das System gerichteten linken Kreise betrachtet, die eine Annäherung
mit der Kirche und dem Christentum in dem Jahrzehnt vor der Entstehung des Essays über die „Zwei
Patriotismen“ suchten. Die laizistische Linke18 näherte sich katholischen Kreisen an und schuf, wie
das aus den Bemühungen Kołakowskis, Michniks oder Kurońs deutlich wird, ein eigenes Modell eines
bekenntnislosen Christentums. Aus dieser Perspektive scheint die Leichtigkeit, mit der Lipski in
seinen Texten das Gebot der Nächstenliebe verabsolutiert und unerwartet auf politischen Boden
überträgt, eher nachvollziehbar. Ein bekenntnisloses Christentum konnte – aufgrund seiner
äußerlichen Verortung in Bezug auf das institutionalisierte Christentum, das heißt unter den
polnischen Gegebenheiten in Bezug auf Kirche und Katholizismus – die gesamte christliche Tradition
und einen gewissen Bestand traditioneller Möglichkeiten zur Lösung von im Christentum immer
wieder auftretenden Spannungen, in diesem Fall die seit Anbeginn des Christentums bestehende
Spannung zwischen Glauben und Politik, außer Kraft setzen. Die Tradition hat einem solchen
bekenntnislosen Christentum nicht nur deswegen nicht die Hände gebunden, weil es sich jenseits von
18
Diese Begriffsprägung ist, bei unvoreingenommener und nicht durch das Wissen um ihre Funktion verbogener Betrachtung
sehr merkwürdig, denn die Linke war in ihrem Wesen schließlich laizistisch, Laizismus und Agnostik, wenn nicht sogar
offener Atheismus, zählten zu den wesentlichen Elementen eines linken Bewusstseins; dieser Begriff, der durch Adam
9
ihr befand, sondern auch deswegen, weil es sie oft nicht kannte. Grundlegende, seit Beginn des
Christentums immer wiederkehrende Fragen beantwortete es folglich in einer Weise, die lediglich zur
Zeit des frühen Christentums während der ersten Synoden noch Beunruhigung hervorgerufen hatte.
Ganz zu schweigen von den heutigen allgemeinen Konzilen und den subtilen theologischen
Differenzierungen, wenn es sogar eine solch fundamentale Kategorie wie die des ordo caritatis, eine
Kategorie, die so viel für die Disziplinierung der Überlegungen zu dem Verhältnis von christlicher
Nächstenliebe und Patriotismus tun konnte, nicht anführte, weil Lipski und ihm gleich gesinnte
Autoren sie einfach nicht kannten.
GEMEINSCHAFT UND VERANTWORTUNG
Beschäftigen wir uns mit den Konsequenzen, die eine solche Vermischung von Ordnungskriterien für
die polnische Politik und Geschichtspolitik hatte. In den 1980er Jahren, sowohl zurzeit der ersten
Solidarność, wie auch während des Kriegsrechts und nach dessen Ende, erschienen viele Texte, die
Lipskis Ideen aufgriffen. Das Interesse an den Problemen der polnisch-jüdischen Beziehungen nahm
zu, es wuchs die Faszination für die einst multikulturellen ehemaligen polnischen Ostgebiete (Kresy),
es wurde modern, tschechische Literatur zu lesen, die oft im Sinne einer Revision eigener Stereotype
interpretiert wurde: als Beweis dafür, dass eine normale, bürgerliche, pragmatische slavische Kultur
möglich sei, ohne die Seuche des Messianismus, ohne überflüssige aufständische Eskapaden usw. Da
wiederum die oppositionelle öffentliche Meinung und die unabhängige Gesellschaft mit der im
Untergrund arbeitenden Solidarność verbunden waren und den Keim eines noch nicht existierenden
souveränen Staates darstellten, wurden die Themen, die nun während der Revision der polnischen
Geschichte aufgegriffen wurden, die Zerstörung von bisher gültigen nationalen Mythen und die
Gestaltung eines neuen kollektiven Bewusstseins in Fragen der Beziehungen Polens zu seinen
Nachbarn zu einem Surrogat künftiger polnischer Außenpolitik. Dass dem so war, zeigte sich 1989,
als die Menschen, die jene unabhängige Gesellschaft und auch die bürgerliche Gesellschaft der
Kriegsrechtzeit geschaffen hatten, in einem atemberaubenden Tempo damit begannen, souveräne
staatliche Strukturen und Strukturen einer organisierten öffentlichen Meinung aufzubauen.
Ein gutes Beispiel dafür, in welcher Weise die Ideen Lipskis Verbreitung fanden, sind zwei
breit diskutierte Texte aus dem Jahr 1987. Der erste, „Die armen Polen schauen auf das Getto“ (Biedni
Polacy patrzą na getto) von Jan Błoński, der im „Tygodnik Powszechny“ veröffentlicht und nach
kurzer Zeit ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt wurde, befasste sich mit der Haltung
der Polen gegenüber dem Holocaust.19 Der zweite, „Erbe und kollektive Verantwortung“ (Dziedzictwo
i odpowiedziałność zbiorowa) von Jerzy Jedlicki, erschien offiziell in der neu gestalteten Zeitschrift
Michnik geprägt wurde, war nur dort sinnvoll, wo die Existenz einer katholischen zwillingsgleichen Linken vorausgesetzt
wurde.
19 JAN BŁOŃSKI, Biedny Polacy patrzą na getto, in: Tygodnik Powszechny Nr. 2 vom 11.1.1987. Die englische Version
erschien unter dem Titel „The Poor Poles Look at the Ghetto“ in Polin 2 (1987), die deutsche in Via Regia (1995), Nr. 21/22.
10
„Res Publica“.20 Beide Texte konzentrierten sich auf die Problematik der moralischen Verantwortung
der menschlichen Gemeinschaft für Taten, die in ihrem Namen in der Vergangenheit begangen
wurden. Für die Herausbildung einer neuen Erinnerung, die das Ergebnis der politischen Versuche
war, die Welle der zahlreichen Arbeiten, die bisher gültige Modelle kollektiver Erinnerung infrage
stellten, auszunutzen, besaß das Bestreben grundlegende Bedeutung, die leidenschaftlichen Impulse zu
einer Entmythologisierung mit der Umwertung des Begriffes der Gemeinschaft und vor allem der
Nation zusammenzuspannen. Scheinbar erschien dieses Ziel widersprüchlich: das leidenschaftliche
Interesse an einer Entmythologisierung nährte sich in seiner ersten, reinen Form von dem ewigen
Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Gemeinschaft. Die Begriffe Nation, Nationalstolz,
nationales Interesse, alle Arten von Symbolik und Mythologie, die solche kollektiven Verbindungen
festigten, schienen verdächtig und potenziell gefährlich, falls sie nicht durch stete Vorsicht in Schach
gehalten wurden, wie dies Lipski in „Zwei Patriotismen“ deutlich gemacht hatte. Die logische
Konsequenz dieser Haltung war die Vermutung, dass Begriffe wie „Nation“ oder „Gemeinschaft“
reine Abstracta darstellten, die empirische Realität dagegen ausschließlich und allein dem Individuum
gebühre.
Eine grundlegende Schwierigkeit musste jedoch aufkommen. Denn eine Konsequenz der
bereits durch Lipski postulierten Grundlagen eines kritischen Patriotismus war, dass nicht nur die
fatalen Mythen des Hurrapatriotismus, der zu Größenwahn und nationalem Fremdenhass führte, in
jedem selbst besiegt werden müssen, sondern auch die Verantwortung für Taten übernommen werden
muss, die in der Vergangenheit durch die eigene Gemeinschaft im Glauben an eben diese fatalen
Mythen begangen wurden. Wie kann, mehr noch, soll sich jedoch eine Person, die persönlich in keiner
Weise für Taten, die 50, 100 oder gar 300 Jahre vor seiner Geburt begangen wurden, verantwortlich
fühlen, wenn die Kategorie Nation als reale Gemeinschaft, als Kette von Generationen, als Form eines
Organismus usw. ein falscher, schädlicher Mythos ist? Anders gesagt – und dies ist außerordentlich
wichtig für die Anstrengungen der ganzen linksliberalen Intelligenz –, wie kann die Überzeugung
gerettet werden, dass die traditionelle Idee der Nation als Verband, der bedingungslos die Individuen
miteinander verbindet, falsch ist (denn man ist nur für seine eigene Taten verantwortlich, das
Aufsichnehmen fremder Schuld kann jedoch nicht automatisch, sondern ausschließlich freiwillig
erfolgen) und dass wir gleichzeitig ausnahmslos, gewissermaßen substanziell belastet sind, mit einem
Gefühl der Verantwortung, für das durch unsere Gemeinschaft oder in ihrem Namen begangene Böse?
Für Błoński ist der Ausgangspunkt die Diagnose eines das polnische kollektive Bewusstsein
(oder vielleicht das kollektive Unterbewusstsein) quälende Gefühl der Schuld, das infolge der
verdrängten Erinnerung an das Verhalten von Polen im Angesicht der Judenvernichtung entstanden
ist. Haben wir es bei Lipski mit einer in Ethik verwandelten Politik zu tun, die auf einer von
christlichen Bekenntnissen losgelösten Interpretation christlicher, evangelischer Gebote basiert, so
wird bei Błoński der kritische Patriotismus und die revisionistische Haltung gegenüber der
20 JERZY JEDLICKI,
Dziedzictwo i odpowiedziałność zbiorowa, in: Res Publica (1987), Nr. 5.
11
Nationalgeschichte um eine eigene Form psychoanalytischer Therapie der kollektiven Erinnerung
(ähnlich wie bei Jedlicki) erweitert. Das Aufdecken von im Unterbewusstsein verborgenen
Schuldgefühlen erlaubt es, gleich zwei Probleme zu lösen: Zum einen wird die ganze Angelegenheit
zu einem persönlichen Problem. Die nicht vollständige Aufkündigung des Seinscharakters der Nation
führt bei Błoński zu einer Existenz der Nation im Bereich der Kultur, gemeinschaftlicher Rituale und
Reflexe, die real nur in der Psyche einzelner Individuen existieren. Zum zweiten erlaubt sie, im
Voraus jeglicher Kritik zu widersprechen. Was geschieht allerdings mit denjenigen, die diesen
Standpunkt nicht teilen? Man könnte annehmen, dass, wie es in der Psychotherapie heißt, sie dem
Mechanismus der Verdrängung zum Opfer fallen: es ist ihnen nicht bewusst, dass sie ein Problem
haben, mit dem man sich auseinandersetzen kann und sollte. Wenn sie jedoch versuchen, damit zu
polemisieren, eine solche Haltung zu kritisieren, kann dies als Beleg für die These angeführt werden,
dass Aggression, Unwille und das fehlende Verständnis für Andere Formen der Entladung eines
unterdrückten Schuldgefühls sind.
Wenn wir den Ausgangspunkt der Diagnose Błońskis akzeptieren und annehmen, dass die
Polen ein unterdrücktes Schuldgefühl infolge ihres Verhaltens gegenüber den Juden während des
Krieges quält, dann kann eine Auflösung nur durch Sühne und Läuterung erfolgen. Andernfalls würde
unser kollektives Bewusstsein mit Schuld belastet sein, unabhängig davon, dass die Mehrheit von uns
diese Anschuldigung nicht unmittelbar berührt. Dass es ein Schuldgefühl gebe, davon zeuge die große
Empfindlichkeit, mit der die Polen auf Anschuldigungen eines Antisemitismus und einer gewissen
Mitverantwortung an der Ermordung der Juden reagieren. Diese Anschuldigungen gäben uns Anstöße,
dieses Problem zu rationalisieren, erklärende Umstände aufzuzeigen, die jüdischen und eigenen
Leiden zu messen – dies alles berühre jedoch nicht den Kern des Problems, sondern versuche ihn nur
zu umgehen, zu verschleiern; es drohe eine Relativierung der moralischen Dimension jener Tragödie.
Błoński schlägt einen anderen Weg vor. Dort wo es Schuldgefühle gebe, solle die Tatsache der
Verfehlung anerkannt werden. Man habe nie ohne Grund ein schlechtes Gewissen. Die Schuld könne
jedoch nur durch Wahrheit und Ehrlichkeit gesühnt werden – eine Läuterung bedeutet, sein
tatsächliches Ich zu sehen. Und dies bedeutet nach Błoński, dass wir uns der Frage einer
Mitverantwortung am Holocaust stellen müssen. Dies sei die für uns schockierendste Forderung, das,
wogegen wir uns am meisten wehrten. Błoński führt aus, dass die Polen mit so großer Empfindsamkeit
auf alle Diskussionen über den polnischen Antisemitismus, die besonders gerne im Westen geführt
werden, reagieren, weil sie unterbewusst spüren, dass diese genau auf diese Anschuldigung abzielen.
Deshalb versuchen wir uns hinter einer Mauer von Erklärungen und Rationalisierungen zu verstecken,
um uns von dieser Möglichkeit abzugrenzen. Unterdessen schlägt Błoński eine Umkehrung der
Reihenfolge vor. Zuerst müsse man sagen: Ja, wir haben uns schuldig gemacht. Dafür müsse jedoch
schnellstmöglich unser geradezu ängstlich aufgebautes Stereotyp eigener Unschuld aufgegeben
werden. Der Moment im Angesicht der Wahrheit erfordere die Aufgabe für uns bequemer Mythen.
Unsere historische Erinnerung müsse nach den Erfordernissen der Wahrheit einer aufmerksamen,
12
genauen und bedingungslosen Revision unterzogen und ihr Gehalt überprüft werden, wobei man sich
vornehmlich auf die schwierigen, verschwiegenen und schmerzlichen Fakten konzentrieren solle.
Der Schlüssel zum Verständnis der Intention Błońskis ist das Wort „zuerst“ – er schrieb:
„Anstatt zu feilschen und uns zu rechtfertigen, sollten wir zuerst über uns nachdenken, über die eigene
Schuld oder Schwäche. Eine solche moralische Umkehr ist gegenüber unserer polnisch-jüdischen
Vergangenheit notwendig. Nur sie kann nach und nach die verseuchte Erde reinigen“. 21 Und weiter:
„Wir verlangen oftmals von den Juden (oder von ihren Freunden) eine vorsichtige, gerechte
Bewertung der gemeinsamen Geschichte. Wir sollten jedoch zuerst unsere eigene Schuld bekennen
und um Vergebung bitten. Im Grunde warten sie nur darauf – wenn sie warten.“ Indem wir unsere
Schuld bekennten, würden wir glaubwürdiger, wenn es an der Zeit für eine weitere Diskussion sei.
Denn dann könnten wir viel eher eine gerechte Beurteilung unserer Taten und unserer Versäumnisse
erwarten. Für Błoński ist es jedoch selbstverständlich, dass es eine nächste Phase geben muss, denn
das Schuldbekenntnis darf nicht unbegrenzt sein; selbst wenn sich die Polen schuldig gemacht haben,
so könne doch unsere Schuld nicht mit der der Henker – der Deutschen – verglichen werden. Denn
Mittäterschaft und Mitschuld sind nicht dasselbe – „man kann sich mitschuldig machen, ohne an
einem Verbrechen beteiligt zu sein“ – aber gleichzeitig: „kein vernünftiger Mensch kann behaupten,
dass die Polen – als Nation – am Völkermord Anteil hatten“; dagegen kann man „mitschuldig sein,
ohne an einem Verbrechen beteiligt zu sein.“ Gäbe es tatsächlich Stimmen, die die Schuld der Polen
und Deutschen miteinander verglichen, vor allem im Westen und in einigen jüdischen Kreisen, so
„sollten sie umsichtig erwogen werden ohne in Wut – ein Anzeichen von Panik – zu geraten.“ Die
Gelassenheit Błońskis resultiert aus seiner Überzeugung, dass Menschen, die solche Anklagen
erheben, einem Irrtum unterliegen, obwohl er zugleich schweigend voraussetzt, dass es nicht an uns
ist, darüber zu reden. Dieser Vorschlag ist deswegen problematisch, weil für viele Kritiker der
polnischen Haltung während des Zweiten Weltkrieges das Bekenntnis unserer Schuld der
Schlusspunkt, nicht der Ausgangspunkt für weitere Diskussionen bedeutet. Für solche Leute gibt es
kein „nach“, das dem „zuerst“ folgt.
Jedlicki vertritt in seinem Essay eine etwas andere Sichtweise. Er legt dar, dass die Existenz
von Schuldgefühlen auf der einen und das Gefühl von Unrecht auf der anderen Seite nicht nur ein
Beweis für ein gestörtes moralisches Gleichgewicht ist, sondern sich auch ungünstig auf die davon
betroffene Gesellschaft auswirkt. Ressentiments, Unwille und Entrüstung übertrügen sich auf
politische Auseinandersetzungen, wirkten sich störend im Verhältnis zu den Nachbarn sowie in der
Zusammenarbeit aus und könnten in Krisenmomenten zur Ursache weiteren Unglücks werden. Eine
Möglichkeit, sich von Schuld zu läutern, stelle die moralische, symbolische Wiedergutmachung dar.
Dies geschehe am wirkungsvollsten durch eine möglichst vollständige und redliche Aufdeckung der
Wahrheit. Spreche man die Wahrheit über das aus, was wir ins Unterbewusstsein verbannen wollen,
so besitze dies eine kathartische Wirkung. Auf diese Weise „verhindert die Wahrheit, dass sich
21 JAN
BŁOŃSKI, Biedny Polacy patrzą na getto, Kraków 1994.
13
hasserfüllte Emotionen einnisten, und löscht das Recht auf Rache aus“. Jedlicki schreibt direkt: „Die
Kenntnis der Geschichte und ihre tapfere Annahme hat therapeutische Eigenschaften“.22
Es muss darauf hingewiesen werden, dass in diesem Falle die alleinige Kenntnis der
Geschichte nicht ausreichend ist – sie muss einem moralischen Akt gleichkommen, einem Akt der
Reue; Reue setzt wiederum das Verständnis der Schuld voraus und kann sich nicht nur auf das
Bekennen der eigenen Sünden begrenzen. Anders gesagt ist es erforderlich, sich moralisch zu
engagieren – eine dosierte Aneignung von Informationen ist nicht ausreichend, es muss eine
Verinnerlichung zu einer moralischen Vermittlung der Ereignisse bestehen. Einen zu nichts
verpflichteten, sich keine Verpflichtungen auferlegenden leichtfertigen Umgang mit der Geschichte
erachtet Jedlicki als grauenvoller und gefährlicher, als diese kaum zu schulternde Bürde auf sich zu
nehmen. Nur an welchem Punkt endet dieser Prozess? Im traditionellen religiösen Leben war die
Schuld etwas, was gesühnt werden konnte – dies geschah durch Pilgerfahrten an heilige Orte und
andere Formen von Buße. In einer liberalen Welt, in der ein Glaube an eine Sühne der Schuld schon
nicht mehr möglich ist, hat jede Form von Wiedergutmachung nur symbolischen Charakter. Früher
verbarg sich hinter dem Symbol eine tiefere Wirklichkeit, heute ist das Symbol ein Zeichen, hinter
dem sich nichts verbirgt. Aus diesem Grund kann Schuld nicht gesühnt werden – es bleiben die
dauerhafte Erinnerung an das Schuldgefühl und die Ritualisierung des Reueaktes. Einzig in einer
solchen Gestalt, in der Form einer Übernahme einer moralgeleiteten Verantwortung für die
Vergangenheit durch das Kollektiv, können Lipski und Jedlicki die Idee einer historischen
Gemeinschaft, oder anderes gesagt, die Idee der Nation akzeptieren.
Aus der Perspektive eines kritischen Patriotismus ist es einem Patriotismus des schmerzhaften
Nachdenkens wesenhaft unmöglich, sich der Kategorie des nationalen Interesses zu bedienen –
insbesondere im Bereich der Geschichtspolitik. Das kollektive Interesse ist seiner Anlage nach
zwangsweise egoistisch; die Notwendigkeit, der schmerzhaften Wahrheit Auge in Auge gegenüber zu
stehen, die Notwendigkeit, gegen die eigene psychische Bequemlichkeit zu denken, das ständige
Streben nach Entmythologisierung, der misstrauische Blick auf alle eigenen Stereotype – all diese
Dinge sollen bedingungslos akzeptiert werden. Man darf nicht kalkulieren, eine Abstufung der
Reaktionen vornehmen, oder gar seine eigenen Handlungen von dem Verhalten der anderen Seite
abhängig machen. Die Übernahme einer vollen Verantwortung muss auch in ihrer Maximalversion –
derjenigen, von der die andere Seite spricht – ohne Vorbehalte erfolgen, sie muss ein einmaliger,
heldenhafter und radikaler Akt sein. Nur auf diese Weise können wir schließlich das nötige moralische
Kapital erwerben, um auf die Anderen Einfluss zu nehmen. So, als berge unsere Reue ein solches
authentisches Potential in sich, dass sie nicht nur das Gewissen unserer Opfer zu bewegen vermag,
sondern auch das derjenigen, die mit ihren Forderungen böswillig zu weit gehen. Aus dieser Sicht
unterliegt die Geschichtspolitik vollkommen dem Primat der Ethik, sie wird zu einem Feld, in dem
JERZY JEDLICKI, Dziedzictwo i odpowiedziałność zbiorowa, in: DERS.; „Źle urodzeni czyli o doświadczeniu historycznym.
Scripta i postscripta“, Londyn; Warszawa 1993.
22
14
weniger ein kollektives Bewusstsein aufgebaut wird, als vielmehr im Zuge einer schmerzhaften
Selbstbeschwörung die Möglichkeit einer Schuld abgewehrt wird, die der Gemeinschaft und der
politischen Sphäre wesenhaft anhaftet. Erlaubte Formen gemeinschaftlicher Rituale und Symbole sind
solche, die das Potenzial des Bösen austreiben, das in der Vergangenheit immer wieder zum Tragen
kam und immer gegenwärtig ist, solange die Menschheit zu einem Leben im Rahmen bequemer
Gruppenidentitäten verurteilt ist.
Diese eigentümlich einseitige ethische Bindung im Bereich der Geschichtspolitik stellt in ihrer
Konsequenz eine spezifische Mischung aus Demut, Stolz und Naivität dar. Demut, weil sie
grundsätzlich über nichts reden möchte, was Anlass zu Stolz geben könnte – im Besonderen nicht über
Ereignisse, die heroischen Patriotismus oder heldenhafte Tugenden festigen könnten; sie will immer
über die eigene Schuld reden, die Warnungen und Sicherheitsmaßnahmen vervielfältigen, um das
zerstörerische Potenzial der kollektiven Identität zu begrenzen. Stolz, weil sie annimmt, dass sie durch
ihre Radikalität und durch eigene gut gemeinte Handlungen in der Lage ist, an Wunder grenzende
Wandlungen nicht nur der eigenen, sondern auch anderer Gemeinschaften zu bewirken. Naivität, denn
sie geht davon aus, dass mit Sicherheit eine solche Wandlung auf der anderen Seite erfolgen wird.
Damit verbunden ist die unausgesprochene Annahme, dass grundsätzlich die Haltung der
anderen Seite in Auseinandersetzungen um die Erinnerung akzeptiert werden muss. Bei Lipski und
Błonski besteht noch die Möglichkeit, dass zumindest in bestimmten Fällen extreme, an unsere
Adresse gerichtete Stimmen oder äußerst weitgehende Forderungen als übertrieben und ungerecht
beurteilt werden.23 Die dynamische Entwicklung des kritischen Patriotismus in den darauf folgenden
Jahren führte zu Haltungen, die mit bisher nicht gekannter Radikalität die Akzeptanz selbst der
unversöhnlichsten Kritik zur Voraussetzung für die Aufnahme eines Dialoges machten, der in
Anstrengungen zugunsten einer Sühne einmünden sollte. Das Opfer habe das Recht zu übertreiben,
weil ihm dies aufgrund seiner Leiden zustehe. Komme es mit ihm aufgrund von Einzelheiten, der
Bewertung des Kontextes usw. zu Auseinandersetzungen, so werde seine moralische Legitimation zur
Erhebung von Anschuldigungen und das Ausmaß seines Leidens infrage gestellt, was de facto
bedeute, dass man sich auf die Seite des Bösen stelle.
GESCHICHTSPOLITIK NACH AUßEN
Der bedingungslose Imperativ, die Haltung der anderen Seite bei Auseinandersetzungen um die
Vergangenheit zu akzeptieren, macht es unmöglich zu erkennen, dass wir oft dem Druck einer
In „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen“ setzte Lipski einem Fragment, das Argumente vorstellt, die eine tiefer gehende
Revision der polnischen Erinnerung in Bezug auf unser Verhalten als Nation gegenüber der Judenvernichtung fordern,
folgende Anmerkung voran: „Im Westen, besonders in jüdischen Kreisen, die durch die Tragödie der Untergangs von
Millionen Menschen tief erschüttert wurden, erhob man unverantwortliche und mit der Wirklichkeit fast nichts Gemeinsames
habende Anklagen gegen das polnische Volk, die es der Teilnahme an der Ausrottung der Juden bezichtigten. Es tauchten
sogar beleidigende Bezeichnungen wie ‚Volk der Szmalcowniki’ auf. Die Polenfeindlichkeit muss aber als eine Einstellung
behandelt werden, die nicht weniger schändlich ist als die Judenfeindlichkeit. Der Satz ‚alle Polen sind Antisemiten’ oder
‚alle Polen sind Säufer’ ist ebensoviel wert wie der Satz ‚alle Juden sind Betrüger’“.
23
15
bewussten Geschichtspolitik von Außen ausgesetzt sind. Die ethische Erzählung, die in ihrer
Radikalität vollkommen ist, muss notwendig eine identische Intention auf der anderen Seite
annehmen. Weil wir aus absolut reinen, ethischen und evangelischen Motiven handeln, dürfen wir
nichts anderes vermuten, als dass die andere Seite aus ebenso edlen Motiven handelt, dass sie das
Schuldbekenntnis nicht ausnutzt, um bei möglichen zukünftigen Bemühungen, zum Beispiel wenn es
um die materielle Wiedergutmachung unserer Sünden geht, eine moralische und rhetorische
Überlegenheit zu erlangen.
Ein gutes Beispiel eines unwillkürlichen Automatismus, der eigenen Hilflosigkeit der
polnischen öffentlichen Meinung gegenüber der Geschichtspolitik anderer, ist die im öffentlichen
polnischen Diskurs unbewusst erfolgte Akzeptanz der deutschen Bezeichnung „Vertriebene“. Aus
polnischer Sicht muss, selbst wenn wir die Einstellung Lipskis, dass der Mythos um die
„wiedergewonnenen Gebiete“ nur Propaganda war, teilen, das nicht automatisch die Anerkennung der
Aussiedlung als ein moralisches Unrecht bedeuten. Das Wort „Vertriebene“ ist schließlich nicht
neutral oder etwa eine Kategorie, die ein bestimmtes historisches Ereignis beschreibt, es beinhaltet
eine wertgebundene Beurteilung dieses Ereignisses als ein Unrecht, das Millionen von Menschen, die
ihre Heimat verloren haben, zugefügt wurde.
Die Deutschen haben ein Recht auf ihre eigene Interpretation der Geschichte, selbst wenn es
sich um historisch zweifelhafte und politisch riskante Interpretationen handelt. Aber eine kritische
Einstellung zur eigenen Geschichte zwingt uns nicht, eine solche Interpretation zu übernehmen. Das
Ausbleiben scharfer Reaktionen auf eine solche Interpretation bedeutet nicht, dass wir nun beginnen,
die Art der Geschichtsbetrachtung, auf der diese basiert, zu akzeptieren. Man kann doch nicht von
Unrecht reden, ohne gleichzeitig vorauszusetzen, dass es Urheber dieser Schuld gibt; andererseits gibt
es auch keine Schuld ohne Wiedergutmachung. Aus der Tatsache, dass heute noch nicht offen über die
logische Verbindung von Ursache und Wirkung gesprochen wird, folgt nicht, dass dies nicht in
Zukunft geschehen wird. Neben historischen und philosophischen Zweifeln, die eine solche
Interpretation weckt, besteht durchaus die Möglichkeit (und deren Wahrscheinlichkeit übersteigt nicht
die Grenzen unserer Vorstellungskraft), dass der Vertreibungsdiskurs und die ihm zugrunde liegende
historische Sichtweise zum rhetorischen Hilfsmittel für reale Besitzansprüche werden wird.
Wird dieser Diskurs vollkommen akzeptiert, macht dies eine mögliche Verteidigung der
polnischen Haltung schwieriger. Im Diskurs um die Vertriebenen – jenseits der Dramatik
menschlicher Schicksale und der oft mit besten Absichten engagierten Autoren von Büchern, die
diesen Begriff propagieren – ist die Sphäre von möglichen, letztlich nicht bewussten Implikationen
wesentlich, die jeweilige Interpretationen historischer Mechanismen aufzwingt. Wird über die
Aussiedlung als moralisches Übel, als große Ungerechtigkeit gesprochen und konzentriert man sich
auf die nackten Fakten einzelner Leiden, werden moralische Ebenen der Politik sowie ethische
Wertungen der Ereignisse einseitig herausgestellt. Indem auf die ursprüngliche, nicht reduzierbare
Bedeutung individueller Leiden verwiesen wird, löst man die Tatsache der Vertreibung und Millionen
16
einzelner menschlicher Interaktionen, die in ihrer Gesamtheit dieses große historische Ereignis
ausmachen, aus dem historischen Kontext. Mehr noch, die Geschichte wird als Folge von Ursache und
Wirkung, Taten und deren Konsequenzen zerrissen. Die Aussiedlung der Deutschen aus den
Westgebieten war ebenso eine Strafe für die Entfesselung eines Krieges durch das Dritte Reich und
damit verbunden auch für die Verbrechen am polnischen Volk, wie eine Entschädigung Polens für die
verlorenen Ostgebiete.
Die Verabsolutierung einzelnen Leidens als maßgebliches Moment der Geschichte macht
sogar aus Sicht des kritischen Patriotismus schon den Gedanken an eine gerechte Strafe unmöglich. Es
gibt doch keine kollektive Verantwortung in den politischen und historischen Kategorien der Realität.
Es ist unmöglich, einer Gemeinschaft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn sie in ihrer Ganzheit
angegriffen und ausgesiedelt sowie ihr Besitz konfisziert wird. Die wirkliche Verantwortung, die
physische Verantwortung kann immer nur Individuen, konkreten Tätern auferlegt werden.
Infolgedessen ist eine Strafe, die einer Gemeinschaft auferlegt wird, von ihrem Wesen her – in diesem
Konzept des Geschichtsverlaufs – ausschließlich ungerecht, da sie das Böse mit Bösem und Leiden
mit neuem Leid beantwortet. Eventuellen Verteidigern der polnischen Staatsraison, Verteidigern aus
der Haltung eines kritischen Patriotismus heraus, bleibt dann nur noch das Argument einer
Entschädigung. Damit wechseln sie jedoch von der Rechtsprechung im politischen Sinne – einer
solchen, in der politische Gemeinschaften Subjekte sind, die geschichtlich handeln und für ihr
Handeln Verantwortung übernehmen – auf die Seite der materiellen, objekthaften Behandlung der
Geschichte. Aus dieser Perspektive wird Gerechtigkeit in der Geschichte unmöglich, denn sie ist eine
Erzählung, die von den Siegern aus einer Position der Stärke heraus geschrieben wird. Entschädigung
ist aus Sicht der Ausgesiedelten ein gewöhnlicher Raub – sie interessiert nicht, dass die Polen diese
Gebiete als Schadensersatz für die Gebiete im Osten erhalten haben, weil es für sie bedeutet, dass sie
den durch die Russen verübten Raub entschädigen müssen. Sie interessiert nur ihre eigene, nicht
abzuschwächende Erfahrung, ihre persönliche Erinnerung, in der der Plünderer polnisch sprach und
ihre Heimat zu einem Teil Polens wurde. Die nackte Gewalt der ursprünglichen Opfer gegenüber
wirklichen und mutmaßlichen Tätern gestaltet aus dieser Sicht eine neue Ordnung, in der sich Täter in
Opfer verwandeln. Es gibt keine gerechten Kriege oder gerechte Kollektivstrafen, Geschichte lässt
sich hier in keine logische Kette von Ereignissen fassen. Es gibt stattdessen das Recht jedes Einzelnen,
sich verletzt zu fühlen und das Recht, ohne Vorbehalt über die eigenen Traumata reden zu dürfen. Wer
dieses Recht nicht zugesteht, verdoppelt die Leiden und fügt der alten physischen Gewalt eine
symbolische Gewalt hinzu, die den Opfern den Mund verschließt.
Selbstverständlich ist eine solche Haltung nicht gleichbedeutend mit der Aufforderung, die
alten Grenzen wieder herzustellen, mit dem Aufruf zur Vergeltung – denn der Status quo wird
akzeptiert; dies bedeutet jedoch nicht die Anerkennung einer historischen Strafe als gerecht, sondern
nur, dass der faktische Stand der Dinge akzeptiert wird. Die Polen müssen sich dagegen jedes Mal,
wenn sie Argumente über die Gerechtigkeit der Geschichte vorbringen, sagen lassen, dass sie in sich
17
noch nicht die alten, so verhängnisvollen Folgen ihres Verständnisses von Geschichte überwunden
haben. Die Deutschen, die den ethischen Mut aufbringen, über Vertriebene zu reden, sind modern; die
Polen sind anachronistisch und ringen mit dem Ballast ihrer eigenen Mythen und Stereotypen. (Sie
wollen zum Beispiel nicht anerkennen, dass der Mythos einer Opfernation schon mehrmals einer
historischen Falsifizierung unterzogen wurde – wie zuletzt, als anlässlich der Ereignisse in Jedwabne
die ganze Wahrheit über den bis dahin in die hintersten Winkel der historischen Erinnerung und des
Unterbewusstseins verbannten Anteil von Polen an der Vernichtung der Juden bekannt wurde.) In
Wirklichkeit sind die Deutschen jedoch nicht in der Lage zu verstehen, dass der polnische Widerstand,
die Konsequenzen der inneren Logik des Vertreibungsdiskurses zu akzeptieren, kein Zweifel an der
Tatsache des Leids der Ausgesiedelten ist, sondern die Form bestreitet, wie hier historischer Sinn
begründet wird – was man einfach auf die Legimitation der politischen Nachkriegsordnung übertragen
kann, in der die Oder-Neiße-Grenze das Ergebnis eines gerechten Urteils der Geschichte und nicht
eines Racheaktes der Opfer ist.
DIE ANDEREN UND DIE UNSRIGEN
Es gibt noch etwas, das die die ganze Zweideutigkeit der Tradition eines kritischen Patriotismus und
einer radikalen Revision der historischen Erinnerung zeigt, einer Tradition, die in den letzten 20
Jahren an Dynamik gewonnen hat: Es geht um die Bewertung der polnischen Präsenz in der
Geschichte Mitteleuropas. Machen wir ein intellektuelles Experiment, indem wir möglichst
weitgehende Schlüsse aus den Empfehlungen ziehen, wie sie für den kritischen Patriotismus
charakteristisch sind – akzeptieren wir rückhaltlos die kritischen Anmerkungen über die Anwesenheit
der Polen im Osten entsprechend der von Lipski vorgegebenen Haltung und werfen wir einen
vergleichenden Blick auf unsere Beziehung zu den Deutschen. Nehmen wir weiterhin an, dass Polen
nur aufgrund seines nationalen Größenwahns einst glauben konnte, zu irgendeiner Mission im Osten
berufen zu sein, dort eine höhere Zivilisation aufzubauen und in diese Gebiete ein Ideal (ich betone
„Ideal“, denn die Umsetzung dieses Projektes sah unterschiedlich aus) zu vermitteln, das mit der
englischen Magna Charta übereinstimmt. Nehmen wir an, dies seien Mythen und Stereotype, mit
denen wir die Herrschaft über andere Nationen verschleiert haben (besonders hinterlistig, da wir ihnen
scheinbar friedlich die Eliten entrissen). Der Verlust dieser Gebiete war demnach für einen Großteil
der Polen aus den „Kresy“ eine schmerzhafte und tragische Erfahrung und bedeutete auch die
Vernichtung eines gewissen kulturellen Erbes, stellte aber gleichzeitig einen Akt historischer
Gerechtigkeit innerhalb der Beziehung zu den Litauern, Ukrainern und Weißrussen dar.
Zugleich wurden die heutigen Westgebiete nur aufgrund kriegerischer Plünderung und auf
Kosten der Vertreibung Millionen Deutscher zu einem Teil Polens. Unser Anspruch auf diese Gebiete
resultiert nicht aus einem strengen, vielleicht gar rücksichtslosen, aber trotz allem gerechten Urteil der
Geschichte, sondern kann im besten Falle eine materielle Entschädigung darstellen. Was erhalten wir,
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wenn wir beide Teile des kritischen Räsonnierens zusammensetzen? Die Polen besitzen gegenüber
Gott und einem kritischen Geschichtsverständnis nur innerhalb der Grenzen des Herzogtuns Warschau
eine moralische Legitimation. Nur hier können wir auf die Landschaft blicken ohne unser kritisches
Räsonnement einschalten zu müssen, das uns anderswo zu dem Übermaß an Demut befähigt, das
unabdingbar ist, um nicht in nationalen Größenwahn zu verfallen.
Der Beleg für die allgemeine Akzeptanz dieser Position ist die Tatsache, dass in Polen nie der
Terminus „Vertriebene“ in Bezug auf die Polen der polnischen Ostgebiete auftauchte, es entstanden
keine Landsmannschaften, die eine Revision der Grenzen anstrebten oder wenigstens materielle
Wiedergutmachungsforderungen gen Osten artikulierten. Natürlich wären solche Dinge in der
Volksrepublik Polen undenkbar gewesen. Es ist aber hervorstechend, dass sich auch nach dem
Erlangen der Unabhängigkeit solche Haltungen nicht gezeigt haben. Zunächst hat ein erheblicher Teil
der öffentlichen Meinung den Begriff „Vertriebene“ in Bezug auf die ausgesiedelten Deutschen aus
den Westgebieten akzeptiert und erst später begann man zaghaft, ihn in Bezug auf die „Vertreibung“
aus dem Osten anzuwenden, allerdings erst durch die Analogie zu den Deutschen! Genauso wie die
Deutschen aus Schlesien, so wurden auch die Polen aus dem Osten Galiziens vertrieben. Wirklich
„genau so“? Das merkwürdige Wort „Repatrianten“ (ins Vaterland konnten höchstens Gefangene aus
Workuta oder Magadan zurückkehren, aber jemand, der in Wilna, Lemberg, Grodno oder Stanislau
lebte, verlor seine Heimat, die seit Jahrhunderten polnisch war), das in der Volksrepublik verbindlich
war, ist fast verschwunden, aber es hat sich kein neuer Begriff gebildet. Das Wort „Kresy“ lebt: es gibt
Folklorefestivals aus den „Kresy“ und Bildbände, aber das östliche Polentum ist nur das Emblem einer
ungefährlichen Sentimentalität. In Polen gibt es viele politische Entartungen und politische Folklore,
aber keinen Revanchismus. Eine Person des öffentlichen Lebens, die, sei es auch auf sehr versteckte
Art und Weise eine Revision der Grenzen suggerieren würde, müsste sich den Vorwurf gefallen
lassen, sie sei ein politischer Geisteskranker und Trottel. Es ist leichter einen Antisemiten zu finden als
jemanden, der eine Rückkehr in den Osten befürwortet.
Es ist ein Beleg für die wirkliche politische Reife der Polen, die ein größeres moralisches
Recht auf die verlorenen Gebiete im Osten als die Deutschen auf ihre östlichen „Kresy“ haben (denn
nicht wir haben den Weltkrieg ausgelöst, nicht wir haben eine Politik des Völkermords betrieben –
und unter den Verbrechen kann selbst die Pazifizierung in Galizien vor dem Krieg keine
Rechtfertigung für die Vernichtung des polnischen Erbes im Osten sein), dass sie niemals nach dem
Krieg auch nur moralische Forderungen an ihre östlichen Nachbarn gestellt haben. Erstaunlich ist
jedoch, dass selbst der Prozess der Aussiedlung der Polen aus dem Osten ein vollkommen weißer
Fleck ist – in jeder Warschauer Buchhandlung kann man Bücher kaufen, die die „Vertreibung“ der
Deutschen aus den Westgebieten dokumentieren, Sammelbände mit Erinnerungen der Opfer, Arbeiten
von Historikern, die auf Archivalien gestützt sind, oder solche, die dieses Problem aus der Perspektive
des zeitgenössischen Bewusstseins beleuchten. Über die „Repatriierung“ der Polen, darüber, wie das
Sterben und die historische Vernichtung des polnischen Lemberg, Wilna, Nowogródek, Tarnopol und
19
Dutzende anderer Städte und Städtchen, Dörfer und Gutshäuser aussah, gibt es nichts. Der kritische
Patriotismus erweist durch seine Abneigung gegenüber der Gemeinschaft letztlich Fremden mehr
Barmherzigkeit als den Seinen. Aus Angst, dass diese nicht den Sinn des Mitgefühls verstehen und
beginnen, Wiedergutmachung zu fordern? Aber selbst die, die jene Wiedergutmachung wollen,
verklagen für die verlorenen Güter den polnischen Staat und nicht Weißrussland oder die Ukraine.
Aus Angst, dass der Diskurs über ihr Leiden nationale Mythen verfestigen und den Fremdenhass
vergrößern kann? Aber es gab doch niemals, selbst in den letzten Jahren, auch nur annäherungsweise
ähnliche Gedanken zu dem, was gegenwärtig in Bezug auf die Vertriebenenfrage in Deutschland
veranstaltet wird, so etwas käme niemandem in den Sinn.
Dieses Fehlen von Verständnis für die Seinen und ein übermäßiges Verständnis für die
Anderen, wie es der kritische Patriotismus an den Tag legt, basiert nicht auf bösem Willen. Die
Haltung Jan Józef Lipskis kann zu einem Vorbild für Patriotismus und staatsbürgerliche
Anschauungen der zukünftigen Generationen von Polen werden. Über den eigenen Patriotismus, über
das, was ein Grund zum Stolz auf die Nationalgeschichte sein konnte, zog er es vor, diskret zu
schweigen. Für eine positive Gestaltung eines polnischen Patriotismus erschien es ihm wichtiger, sich
auf dessen Befreiung von alten Mythen und Stereotypen zu konzentrieren, die für das Unrecht, das
anderen im Namen Polens geschah, verantwortlich waren. Man entwickelte die These, offen über die
dunklen Seiten der polnischen Geschichte sprechen zu müssen, denn das, was gut war, spräche für sich
selbst und überdaure in der Erinnerung der Gesellschaft. Dies war eine ehrenvolle und ethisch radikale
Haltung. Anfangs ohne bedrohliche Konsequenzen, zunehmend jedoch immer folgenschwerer in
seinen Auswirkungen. In ihr lag nämlich ein gewisses Risiko. Die Haltung eines heroischen, ethisch
radikalen Kritizismus erzog immer größere Gruppen der Intelligenz zu einer automatisierten,
unbewussten Kritik. Der radikale Kritizismus wurde zu einem intellektuellen Übel, zu einer geistigen
Disposition, die allen Überlegungen vorausging. Man begann nicht nur damit, schädliche Mythen und
falsche Vorstellungen zu bekämpfen, sondern mit der Zeit richteten sich die Angriffe gegen jegliches
System von Überzeugungen, das als Mythos betrachtet wurde, gegen jede kollektive Idee. Immer
weniger pflegte man positive Handlungen im Bereich der kollektiven Erinnerung, immer öfter wurde
dies durch eine entmythologisierende Leidenschaft ersetzt. Aus den Feststellungen im Zuge dieser
Eingriffe konstruierte man ein Bindemittel neuer Art – die Gemeinschaft der Sicherheiten sollte in
eine Gemeinschaft des Zweifels und der Skepsis umgewandelt werden, die Gemeinschaft des Stolzes
in eine der Scham. Die Entmythologisierung und die Kritik an der nationalen Tradition und der
nationalen Erinnerung wurden in einem so leidenschaftlichen Maße und so gut betrieben, dass
gegenwärtig nicht mehr viel von dem alten Modell einer kollektiven Identität der Polen übrig
geblieben ist.
Heute wird deutlich, dass diese Dynamik nicht nur aufgehalten werden sollte, sondern
aufgehalten werden muss. Die Revanche der Erinnerung, die Art und Weise, wie neue, kritische
Interpretationen der Geschichte zu politischen Instrumenten werden, welche auf die Beziehungen
20
zwischen den Nationen Einfluss haben, belegt deutlich, dass alle Anstrengungen unternommen werden
müssen, um ein Modell für Geschichtspolitik in Polen auszuarbeiten. Dies ist jedoch nicht möglich,
ohne die Erträge einer Denkweise, wie sie Jan Józef Lipski vertritt, zu überwinden. Die künftige
Gestaltung der polnischen Geschichtspolitik muss zwingend von einem Überdenken dessen abhängig
gemacht werden, was sich in den Debatten über das kollektive Gedächtnis in den letzten 25 Jahren
ereignet hat. Der historische Revisionismus, wie er von den Anhängern eines kritischen Patriotismus
vertreten wird, hat uns – unabhängig von der Bewertung dieser Strömung des gegenwärtigen Denkens
– eine neue Beziehung zur Geschichte gelehrt. Es geht darum, die positiven Elemente dieser Haltung
zu verbinden und gleichzeitig die aus ihr resultierenden Fehler zu vermeiden. Auf eine andere Weise
können die Bande nicht entstehen, die die Polen wieder zu einer politischen Gemeinschaft werden
lassen sollen, die zu aktiven, geschichtsmächtigen Handlungen in der Lage ist. Andernfalls blieben wir
eine nur äußerlich verbundene Gemeinschaft, die dazu gezwungen sein wird, politische Kämpfe zu
einer Zeit, an einem Ort und unter Bedingungen auszufechten, die uns von außen aufgezwungen
werden.
Aus dem Polnischen von Isabella Such
Dr. Dariusz Gawin (*1964), Ideenhistoriker, Adjunkt im Institut für Philosophie und Soziologie der
Polnischen Akademie der Wissenschaften, stellvertretender Direktor des Museums des Warschauer
Aufstandes, Publikationen in „Res Publica Nowa“, „Znak“, „Twórczość“ und „Przegląd Politiyczny“.
Mitautor vieler Veröffentlichungen, u.a. in: „Erinnerung und Verantwortung“ (Red.: Robert Kostro,
Tomasz Merta, 2005), aus der der obige Essay stammt. 2005 erschien von ihm: „Polen, eine ewige
Romanze. Über das Verhältnis von Literatur und Politik im 20. Jahrhundert“ (Polska, wieczny romans.
O związkach literatury i polityki w XX wieku).
Der Text erschien ursprünglich im „Przegląd Polityczny” (2006), Nr. 75. Wir danken der Redaktion
und dem Verfasser für die Genehmigung zum Abdruck der Übersetzung. Ein Teil der Fußnoten
stammt von der IF-Redaktion.
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