Ernst Langthaler Das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte des ländlichen Raumes als Dokumentations-, Forschungs- und Kommunikationsort Die agrarhistorische Forschung und Lehre in Österreich hatte, trotz mancher Anläufe, bis vor kurzen keinen zentralen Ort. Das mehrjährige Projekt einer Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert (Bruckmüller u.a. 2002; Bruckmüller/Hanisch/Sandgruber 2003) gab den Anstoß zur Gründung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes (LBIGLR). Das Institut unter der Leitung von Ernst Bruckmüller nahm mit Unterstützung des Landes Niederösterreich im Jahr 2002 in St. Pölten seine Tätigkeit auf. Das Label „Geschichte des ländlichen Raumes“ bringt die sukzessive Erweiterung des agrarhistorischen Gegenstandsbereichs, über „Bauerntum“ und „Agrargesellschaft“ hinaus, zum Ausdruck (Langthaler 2004). Empirische und theoretische Befunde sprechen dafür, anstelle des Singulars „ländlicher Raum“ – sofern „Land“ nicht ohnehin als unzulängliche Kategorie betrachtet wird (Becker 2005) – den Plural zu verwenden. Danach erscheint „Land“ vor allem als ein Fremdoder Selbstbild bestimmter Personen oder Gruppen, dem in der Praxis eine immense Vielfalt mehr oder weniger „ländlicher“ Gesellschaftsformationen (differentiated countryside) gegenüber steht (Murdoch u.a. 2003; Woods 2005). Das Erkenntnisinteresse des Instituts ist auf solche Konstrukte von „Land“ ebenso wie auf die zeit- und raumspezifischen Formationen ländlicher Gesellschaften gerichtet. Die ökologischen, ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Strukturen ländlicher Gesellschaften erscheinen zugleich als Bedingungen und Folgen menschlicher Praktiken (Giddens 1992). Diese ganzheitliche Perspektive erfordert den Dialog der Historie mit Soziologie, Ethnologie, Geographie, Ökologie, Ökonomie und anderen Wissenschaftsdisziplinen. Die Tätigkeit des LBIGLR gliedert sich in drei Arbeitsbereiche. Im Arbeitsbereich Dokumentation vermittelt das Institut zwischen Personen und Organisationen einerseits sowie Archiven und Bibliotheken andererseits die Übergabe und Übernahme historischer Schrift-, Ton- und Bilddokumente. Neben kleineren Dokumentations-Projekten bereitete das Institut in den vergangenen Jahren vor allem die Altakten der Bezirksbauernkammern in Niederösterreich für Forschungszwecke auf. Die auf der Ebene von Gerichtsbezirken eingerichteten Unterorganisationen der Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer hatten seit dem Jahr 1922, unterbrochen während der NS-Ära 1938 bis 1945, die Doppelrolle einer gesetzlichen Interessenvertretung der Bauernschaft und eines verlängerten Arms der Agrarbürokratie inne. Daher agierte die Bezirksbauernkammer als eine zentrale Schnittstelle zwischen den bäuerlichen Lebenswelten und dem Agrarsystem. Der Aktenbestand dokumentiert bäuerliche Forderungskataloge, Darlehen und Zuschüsse für Maschinenkäufe, Um- und Neubauten, Betriebsaufstockungen und andere Investitionen, agrarstatistische Erhebungen auf Betriebs- und Gemeindeebene, Aus- und Fortbildungsmaßnahmen und andere Aktivitäten. Die nunmehr im Niederösterreichischen Landesarchiv zugänglichen Altakten der Bezirksbauernkammern stellen einen in quantitativer und qualitativer Hinsicht herausragenden Quellenbestand zur lokalen und regionalen Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und punktuell auch in davor liegenden Perioden dar. Im Arbeitsbereich Forschung bilden die Entwicklungspfade lokaler und regionaler Agrargesellschaften in Niederösterreich im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert den Schwerpunkt. Erste Forschungsergebnisse liegen bereits vor (Bruckmüller 2002; Langthaler 2003a, 2003b, 2005, 2006; Redl 2005). Derzeit befindet sich das Forschungsprojekt „Agrarland Niederösterreich zwischen Habsburg und Brüssel“ in Planung. Gegenstand dieses Projektes ist die agrargesellschaftliche Entwicklung Niederösterreichs zwischen der Desintegration aus der Habsburgermonarchie 1918 und der Integration in die Europäische Union 1995. Die Forschungen bauen auf einer breiten Materialbasis aus gedruckten und archivalischen Schriftquellen (Agrarpresse, Agrarstatistik, Bezirksbauernkammerakten usw.) sowie mündlichen und bildlichen Quellen (lebensgeschichtlichen Erzählungen, Privatfotografien, Bauernkalendern usw.) auf. Damit im engen theoretischen, methodischen und thematischen Zusammenhang steht das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften finanzierte und am LBIGLR 2005 bis 2008 laufende APART-Projekt „Hof-Wirtschaft zwischen agrarischer Lebenswelt und NS-System 1938-1945“. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie ländliche Akteurs-Netzwerke im Kontext der „nazifizierten“ Gesellschaft mit ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen umgingen. Die am Beispiel des Reichsgaues Niederdonau gewonnenen Antworten dienen letztlich der Verortung der siebenjährigen NS-Ära in der österreichischen Agrarentwicklung des 20. Jahrhunderts. Im Arbeitsbereich Kommunikation beteiligen sich die Institutsmitarbeiter mittels schriftlicher und elektronischer Publikationen sowie universitärer und außeruniversitärer Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen am wissenschaftlichen Diskurs. Darüber hinaus bietet das LBIGLR Personen und Organisationen, die sich wissenschaftlich mit der Geschichte ländlicher Räume befassen, ein Kommunikationsforum. Das vom Institut herausgegebene Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes (JGLR) versteht sich als wissenschaftliches Forum für Umwelt-, Wirtschafts-, Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte ländlicher Gesellschaften. Der erste, im Jahr 2004 mit dem Titel Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich erschienenen Band versammelt Beiträge zur Agrargeschichtsschreibung in Mittel- und Osteuropa, Österreich, Deutschland, Italien, dem Alpenraum, der Schweiz, Frankreich, Nordwesteuropa, Spanien und den USA (Bruckmüller/Langthaler/Redl 2004). Das JGLR 2005 mit dem Titel Reguliertes Land. Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930-1960 dokumentiert ein im Jahr 2004 gemeinsam mit dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde durchgeführtes Symposion (Langthaler/Redl 2005). Die Veranstaltung setzte sich zum Ziel, die Arbeiten erfahrener und jüngerer Forscherinnen und Forscher zu diesem Thema international zu vernetzen, um Erträge und Desiderate der Forschung zu bestimmen. Demzufolge erscheinen die Jahre zwischen 1930 und 1960 im Rückblick auf das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) als agrarpolitische Wendezeit. Zwischen den protektionistischen Reaktionen auf die „große Depression“ der dreißiger Jahre, den Lenkungseingriffen in Kriegs- und Nachkriegszeit und der Formierung markt- und planwirtschaftlicher Systeme in West und Ost bis Ende der fünfziger Jahre gewann ein neues Konzept staatlicher Agrarpolitik Kontur: die Gesamtheit der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe wie einen Betrieb zu führen. Die Beiträge vermessen die Kräftefelder zwischen den Eliten an den Schalthebeln der Agrarpolitik und den Akteuren in den ländlichen Regionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Der Band enthält auch die Vorträge der im Jahr 2005 anläßlich des 60. Geburtstags von Ernst Bruckmüller veranstalteten Tagung „natur geschlecht vergleich kultur. Neue Wege der Agrargeschichte“. Das JGLR 2006 wird die europäische Agrarumweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert behandeln. Das LBIGLR nützt auch die elektronischen Kommunikationsmedien. Der seit dem Jahr 2003 in mehreren hundert Ausgaben erschienene Rural History Newsletter (RHN) informiert per E-Mail über Publikationen, InternetRessourcen, Veranstaltungen, Jobangebote und andere Neuigkeiten zur Geschichte ländlicher Räume. Interessierte können den RHN kostenlos abonnieren und Beiträge veröffentlichen. Das institutseigene Internetportal www.ruralhistory.at enthält neben dem RHN ein Verzeichnis einschlägiger Personen und Organisationen sowie eine Sammlung elektronischer Texte zur Geschichte ländlicher Räume. Auf diese Weise werden unpublizierte Texte und bereits vergriffene Publikationen, etwa der Sammelband Über die Dörfer. Ländliche Lebenswelten in der Moderne (Langthaler/Sieder 2000), kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Aktivitäten des LBIGLR sind in eine Reihe nationaler und internationaler Kooperationen eingebettet. Innerhalb Österreichs befindet sich derzeit das beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung beantragte Forschungsnetzwerk „Rural Societies in Austria: a Long-Term Comparative Perspective“ im Aufbau. Es umfaßt elf Forschungseinrichtungen aus den Bereichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Agrar- und Landsoziologie, Europäische Ethnologie, Agrarökonomie, Soziale Ökologie, Bodenforschung und Landschaftsplanung, die vom LBIGLR koordiniert werden sollen. Mit dem deutschen Arbeitskreis für Agrargeschichte (www.agrargeschichte.de) sowie dem schweizerischen Arbeitskreis Umwelt- und Agrargeschichte und dem Archiv für Agrargeschichte (www.agrararchiv.ch) besteht eine enge trilaterale Kooperation, die auf eine umfassende Darstellung der Geschichte ländlicher Gesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz vom Mittelalter bis zur Gegenwart abzielt. Auf internationaler Ebene vertritt ein Mitarbeiter des LBIGLR Österreich innerhalb des europäischen Forschungsnetzwerks PROGRESSORE (Program for the Study of European Rural Societies). Diese Aktion im Rahmen von COST (European Cooperation in the Field of Scientific and Technical Research) dient der Vernetzung einzelner Forschungsprojekte in den Teilnehmerstaaten durch eine Serie gemeinsamer Tagungen. Trotz der zahlreichen Aktivitäten des LBIGLR, die in Fachkreisen durchwegs Anerkennung gefunden haben (Kluge 2005, S. 68), war es bislang nicht möglich, eine Basisfinanzierung sicherzustellen; das Institut wird – noch – zur Gänze aus Projektaufträgen und Spenden finanziert. Postadresse: Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, Kulturbezirk 4, A-3109 St. Pölten, Tel. +43-(0)2742-9005-12987, Fax +43-(0)2742-9005-16275, E-Mail [email protected], Internet www.ruralhistory.at Zitierte Literatur: Becker, Heinrich 2005, „Land“: Von der Unzulänglichkeit einer Kategorie, in: LandBerichte, Jg. 8, H. 1, Nr. 14, S. 22-29. Bruckmüller, Ernst 2002, Vom „Bauernstand“ zur „Gesellschaft des ländlichen Raumes“. Sozialer Wandel in der bäuerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, in: Ders. u.a., Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 1: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien, S. 409-591. Bruckmüller, Ernst u.a. 2002, Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 1: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien. Bruckmüller, Ernst/Hanisch, Ernst/Sandgruber, Roman 2003 (Hg.), Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Regionen, Betriebe, Menschen, Wien. Bruckmüller, Ernst/Langthaler, Ernst/Redl, Josef 2004 (Hg.), Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 1), Innsbruck. Giddens, Anthony 1992, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main/New York. Kluge, Ulrich 2005, Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 73), München. Langthaler, Ernst 2003a, Agrarwende in den Bergen. Eine Region in den niederösterreichischen Voralpen (1880-2000), in: Ernst Bruckmüller/Ernst Hanisch/Roman Sandgruber (Hg.), Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Regionen, Betriebe, Menschen, Wien, S. 563-650. Langthaler, Ernst 2003b, Agrarwende in der Ebene. Eine Region im niederösterreichischen Flach- und Hügelland (1880-2000), in: Ernst Bruckmüller/Ernst Hanisch/Roman Sandgruber (Hg.), Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Regionen, Betriebe, Menschen, Wien, S. 651-740. Langthaler, Ernst 2004, Gerahmte Landbilder. Agrargeschichtsschreibung in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Ernst Bruckmüller/Ders./Josef Redl (Hg.), Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 1), Innsbruck, S. 30-62. Langthaler, Ernst 2005, „Menschenökonomie“. Landwirtschaftlicher „Arbeitseinsatz“ im Reichsgau Niederdonau 1939-1945, in: Ders./Josef Redl (Hg.), Reguliertes Land. Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930-1960 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2), Innsbruck, S. 138-149. Langthaler, Ernst 2006, Agrarkulturen, in: Manfred Wagner (Hg.), Niederösterreich. Eine Kulturgeschichte 1861-2000, Bd. 3, Wien/Köln (in Vorbereitung). Langthaler, Ernst/Sieder, Reinhard 2000 (Hg.), Über die Dörfer. Ländliche Lebenswelten in der Moderne (Kultur als Praxis 4), Wien. Langthaler, Ernst/Redl, Josef 2005 (Hg.), Reguliertes Land. Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930-1960 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2), Innsbruck. Murdoch, Jonathan u.a. 2003, The Differentiated Countryside, London/New York. Redl, Josef 2005, Forderung und Förderung. Ein interessen- und förderungspolitischer Ansatz zur Nachkriegslandwirtschaft in Niederösterreich 1945-1952, in: Ernst Langthaler/Ders. (Hg.), Reguliertes Land. Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930-1960 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2), Innsbruck, S. 170-183. Woods, Michael 2005, Rural Geography. Processes, Responses and Experiences in Rural Restructuring, London/Thousand Oaks/New Delhi.