Von Nizza über Laeken zum Reform-Konvent: Die Rolle der Länder

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Von Nizza über Laeken zum Reform-Konvent: Die Rolle der Länder
und Regionen in der Debatte zur Zukunft der Europäischen Union
Rudolf Hrbek / Martin Große Hüttmann
1. Einleitung
Als im deutschen Bundesrat die Ergebnisse des Europäischen Rates von Nizza
diskutiert wurden, brachte ein Ländervertreter, der an den Verhandlungen beteiligt war,
die Haltung der Länder zum Ausgang des europäischen Gipfelmarathons anschaulich so
zum Ausdruck:
„Wir wussten schon beim Kofferpacken in Nizza: Der Post-Nizza-Prozess ist eingeläutet.
Jetzt geht es im Grunde genommen darum, dass wir, die Länder, daran beteiligt werden
und unsere Interessen auch mit vollem Engagement einbringen“.1
Der Staatssekretär Willi Stächele (Baden-Württemberg) illustrierte mit diesem Bild,
dass die deutschen Länder zum einen die von den Staats- und Regierungschefs
verabschiedete „Erklärung zur Zukunft der Union“ und die darin festgeschriebene
Folgekonferenz als ihren Erfolg werteten, und dass sie zum anderen jetzt aufgefordert
waren, konkrete Vorschläge im Rahmen dieses „Post-Nizza-Prozesses“ vorzulegen.
Neben der Klärung des Status der Grundrechtecharta, der Bestimmung der Rolle der
nationalen Parlamente und der Vereinfachung der Verträge ging es den Ländern vor
allem um einen Aspekt, der in der „Erklärung zur Zukunft der Union“ an erster Stelle
aufgeführt war – die „Frage, wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip
entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und
den Mitgliedstaaten geschaffen und ihre Einhaltung überwacht werden“2 könne. Damit
war es den Ländern gelungen, eine, wie der bayerische Europaminister Bocklet
hervorhob, „langjährige zentrale Forderung nicht nur des Freistaates Bayern, sondern
aller Länder endlich auf der europäischen Tagesordnung“3 zu verankern. Die Länder
hatten damit – nicht zum ersten Mal – demonstriert, dass sie eigenständige Mitspieler
und Ideengeber im europäischen Kontext sind.4 Der vorliegende Beitrag will die
1 Bundesrat, Stenographischer Bericht, 758. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 21. Dezember 2000;
Plenarprotokoll 758, S. 591.
2 Vgl. „23. Erklärung zur Zukunft der Union“ (abgedruckt in: Deutscher Bundestag, Gesetzentwurf der
Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001, Drucksache
14/6146, S. 40).
3 Bundesrat, Stenographischer Bericht, 769. Sitzung, Berlin, Freitag, den 9. November 2001;
Plenarprotokoll 769, S. 604.
4 Vgl. dazu u.a. Hrbek, Rudolf 2002: Deutscher Föderalismus als Hemmschuh für die europäische
Integration? Die Länder und die deutsche Europapolitik, in: Schneider, Heinrich/Jopp, Mathias/
Schmalz, Uwe (Hrsg.): Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder –
Optionen, Bonn, S. 267-298 und Knodt, Michèle/Große Hüttmann, Martin 2002: „Framing the
Debate“: Institutionen, Ideen und Interessen der deutschen Länder im europäisierten Bundesstaat, in:
Conzelmann, Thomas/ Knodt, Michèle (Hrsg.): Regionales Europa – Europäisierte Regionen, Band 6
des Mannheimer Jahrbuches für Europäische Sozialforschung, Frankfurt/M. (im Erscheinen).
Interessen,
die
Leitbilder
und
Ideen der Länder und Regionen zur Zukunft und Reform der Europäischen Union sowie
die Kanäle und Ebenen der Repräsentation ihrer Interessen aufzeigen. Im Mittelpunkt
steht dabei die Rolle der deutschen Länder im europäischen „Verfassungsprozess“, der
in den Monaten nach den überaus schwierigen und zähen Verhandlungen der
Regierungskonferenz 2000 wieder an Dynamik gewonnen hat. Es geht also darum zu
zeigen, welche Forderungen die deutschen Länder allein und im Verbund mit anderen,
vor
allem „konstitutionellen“ Regionen, das sind subnationale Einheiten mit
Gesetzgebungskompetenzen, aufgestellt haben, welche Prioritäten sie gesetzt haben, mit
welcher Geschlossenheit und auf welchen Wegen sie diese Positionen und Konzepte zur
Weiterentwicklung der Europäischen Union national wie europaweit zu Gehör gebracht
haben.
Die Europäische Union befindet sich zum Jahresbeginn 2002 in einem Geflecht
unterschiedlicher, sich zum Teil überlagernder „Verfassungsdebatten“, die durch
verschiedene Dimensionen und Ebenen gekennzeichnet ist. Dazu gehören die Debatte,
die durch die „Föderations-Rede“ von Joschka Fischer im Mai 2000 angestoßen wurde,
die Vorschläge und Reaktionen im Umfeld des Weißbuches der Kommission zu
„Governance“, das im Juli 2001 vorgelegt wurde, und schließlich der gewissermaßen
offizielle, durch den Europäischen Gipfel vom Dezember 2000 eingeläutete „PostNizza-Prozess“, der wiederum mit dem Rat von Laeken ein Jahr später und die dort
beschlossene Einsetzung des Konvents zur Reform der EU eine neue Stufe der
Konstitutionalisierung markiert.5 Dabei zeigt sich, dass Regionen und Länder seit Nizza
(wie auch schon in der Vergangenheit) es geschafft haben, die Problemdefinition und
die Agenda-Gestaltung des europäischen Reformprozesses entscheidend mit zu
bestimmen und damit den Alleinvertretungsanspruch der Zentralregierungen der EUMitgliedstaaten auf europäische Verfassungspolitik – zumindest in diesem Sinne –
deutlich relativieren konnten.6
2. Die deutschen Länder und die Regierungskonferenz 2000 (Vertrag von Nizza):
Beteiligung und Bewertung7
5 Vgl. dazu stellvertretend die Beiträge in Jopp, Mathias/Lippert, Barbara/Schneider, Heinrich (Hrsg.)
2001: Das Vertragswerk von Nizza und die Zukunft der Europäischen Union, Bonn.
6 Vgl. zur Thematik „Europa und Regionen“ allgemein und aus jüngerer Zeit u.a. Conzelmann, Thomas/
Knodt, Michèle (Hrsg.) 2002: Regionales Europa – Europäisierte Regionen, Band 6 des Mannheimer
Jahrbuches für Europäische Sozialforschung, Frankfurt/M. (im Erscheinen); Jeffery, Charlie 2000:
Sub-National Mobilization and European Integration: Does it Make Any Difference?, in: Journal of
Common Market Studies, Nr. 1, 38. Jg., S. 1-33; Kohler-Koch, Beate 2002: European Networks and
Ideas: Changing National Policies?; European Integration online Papers (EIoP) Vol. 6 (2002), No. 6
<http://eiop.or.at/eiop/texte/2002-006a.htm>.
7 Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf den Beitrag von Hrbek, Rudolf 2001: Die deutschen
Länder und das Vertragswerk von Nizza, in: integration, Nr. 2, 2001, S. 102-113.
Im Zusammenhang mit der Regierungskonferenz 1996/97, die im Jahre 1997 mit dem
Vertrag von Amsterdam abgeschlossen wurde, war offenbar geworden, dass die Länder
mit sehr viel weniger Entschlossenheit und Geschlossenheit ihre Forderungen an die
Reformkonferenz richten konnten als im Vorfeld des Vertrags von Maastricht. Kleinere
und die ostdeutschen Länder (mit Ausnahme Sachsens) hatten den Forderungskatalog
des Bundesrates8 zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, zum Kompetenzkatalog, zur
Aufwertung des Ausschusses der Regionen (AdR) und zur Einrichtung eines
Klagerechtes für den AdR und einzelne Regionen vor dem Europäischen Gerichtshofes
mit sehr viel weniger Nachdruck unterstützt als die anderen Länder. Eine Erklärung
kann darin gesehen werden, dass viele Länder die Auffassung vertraten, sie seien durch
das bislang Erreichte – im Bereich föderaler Kernanliegen – saturiert und hätten bereits
Mühe, die vorhandenen Mitwirkungsmöglichkeiten angemessen auszuschöpfen und zu
nutzen. Die Folge dieser fehlenden Geschlossenheit der deutschen Länder wirkte sich
auf der Regierungskonferenz aus: Die Bundesregierung setzte sich erst gar nicht für die
Verabschiedung eines Kompetenzkataloges ein.
Auch im europapolitischen Alltag, also bei der Behandlung von Einzelfragen, konnte
– wie sich seit Mitte der neunziger Jahre deutlich zeigte – von Geschlossenheit der
deutschen Länder keine Rede mehr sein, die wohl unvermeidliche Folge
unterschiedlicher Interessenlagen der Länder, für die zum einen parteipolitische
Unterschiede und zum anderen strukturelle Gegebenheiten verantwortlich gemacht
werden können.9
Im Vorfeld der für das Jahr 2000 geplanten Regierungskonferenz hatte es allerdings
den Anschein, als ob die deutschen Länder in einer ganzen Reihe von für sie wichtigen
Fragen – also föderalen Kernanliegen – wieder Einvernehmen erzielt hätten und ihre
entsprechenden Forderungen geschlossen und mit Nachdruck vertreten würden. Der
Bundesrat befasste sich auf seiner Sitzung am 4. Februar 2000 mit der
Regierungskonferenz und verabschiedete einmütig eine Resolution.10 Die Positionen
der Länder, wie sie in der Entschließung sowie in den Redebeiträgen der
Ministerpräsidenten während der Debatte im Bundesrat vorgetragen wurden, bezogen
sich im Kern auf die folgenden Punkte:
8 Entschließung des Bundesrates vom 15. Dezember 1995 „Forderungen der Länder zur
Regierungskonferenz 1996“ (Bundesrats-Drucksache 667/95), Beschluss, abgedruckt in der vom
Sekretariat des Bundesrates herausgegebenen Dokumentation „Bundesrat und Europäische Union“,
Bonn
1997,
S. 402ff.
9 Das wird in zwei Beiträgen von Insidern und Praktikern sehr deutlich herausgearbeitet: Engel,
Christian 2000: Kooperation und Konflikt zwischen den Ländern: Zur Praxis innerstaatlicher
Mitwirkung an der deutschen Europapolitik aus der Sicht Nordrhein-Westfalens und Mentler, Michael
2000: Kooperation und Konflikt zwischen den Ländern: Zur Praxis innerstaatlicher Mitwirkung an der
deutschen Europapolitik aus der Sicht Bayerns, beide in: Hrbek, Rudolf 2000: Europapolitik und
Bundesstaatsprinzip. Die „Europafähigkeit“ Deutschlands und seiner Länder im Vergleich mit
anderen Föderalstaaten, Baden-Baden, S. 49-60 und S. 61-65.
10 Vgl. Bundesrat: Entschließung des Bundesrates zur Eröffnung der Regierungskonferenz zu
institutionellen Fragen, Drucksache 61/00 (Beschluss) vom 4. Februar 2000.
Die Länder forderten erstens für den AdR erneut ein Klagerecht vor dem
Europäischen Gerichtshof, ergänzt um ein Fragerecht des AdR gegenüber der
Kommission. Zweitens forderten die Länder, dass das Prinzip der kommunalen
Selbstverwaltung als ein tragender Pfeiler der demokratischen Ordnung zur Geltung zu
bringen und deshalb vertraglich zu verankern sei. Erneuert wurde drittens die Forderung
nach einem Kompetenzkatalog, also einer klaren Verteilung der Kompetenzen zwischen
der Europäischen Union, den Mitgliedstaaten und den territorialen Einheiten auf
subnationaler Ebene mit eigenständigen Gesetzgebungsbefugnissen, im deutschen Fall
also der Länder. Ein viertes Anliegen der deutschen Länder bezog sich auf
Einrichtungen der „Daseinsvorsorge“, die ins Visier der gemeinschaftlichen
Wettbewerbspolitik geraten waren.11 Dazu gehören beispielsweise Sparkassen,
Landesbanken,
die
öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten,
einzelne
Wohlfahrtsverbände, aber auch Einrichtungen des öffentlichen Personennahverkehrs.
Der Bürgermeister des Landes Bremen Scherf hatte dazu in der Sitzung des Bundesrates
ausgeführt: „Wir haben hier ein Stück bundesrepublikanischer Kernsubstanz zu
verteidigen und wenn wir nicht aufpassen, dann erodiert sie.“ Eine Delegation der
deutschen Ministerpräsidenten hatte zu Beginn des Jahres 2000 der Europäischen
Kommission in Brüssel ihre Vorstellungen dazu vorgetragen.
Ein fünftes und ganz neues Element in den Überlegungen der Ministerpräsidenten
zur Regierungskonferenz waren ihre Erwägungen zu einem der wichtigsten Punkte auf
der Tagesordnung dieser Regierungskonferenz, der sich auf die Abstimmungen im Rat
bezog. Einerseits hatte der Bundesrat dazu die Auffassung vertreten „dass im
Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union Mehrheitsentscheidungen
im Rat der EU zur Regel werden sollten.“ Zur Begründung war angeführt worden: „Der
Übergang zu Mehrheitsentscheidungen kann auch für die Länder Möglichkeiten für eine
wirksamere Durchsetzung ihrer Anliegen auf europäischer Ebene bedeuten.“ Auf der
anderen Seite hatte der Bundesrat aber gleichzeitig erklärt, dass „das Erfordernis der
Einstimmigkeit [...] im Einzelfall dazu geeignet sein (könne), die Rechte und
Zuständigkeiten der Länder in besonderem Maße zu schützen.“ Es hieß weiter: „Bei
dem
Übergang zu Mehrheitsentscheidungen ist im Einzelfall sicherzustellen, dass die
jeweiligen Kompetenzgrundlagen der EU klar sind. Dieser Übergang ist nur mit präzise
gefassten Kompetenznormen möglich. Die verfassungsmäßigen Länderzuständigkeiten
sind dabei zu wahren.“12
Mehrere Ministerpräsidenten hatten in der Aussprache im Bundesrat
übereinstimmend die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in Frage gestellt und
ihre Einwände mit Zweifeln daran begründet, ob Mehrheitsentscheidungen
grundsätzlich von Vorteil wären, ob Einstimmigkeit nicht sehr viel eher Vielfalt und
Systemwettbewerb ermöglichen könnte, weil Mehrheitsentscheidungen die Gefahr einer
11 Vgl. zum Thema „Daseinsvorsorge“ ausführlich Hrbek, Rudolf/ Nettesheim, Martin (Hrsg.) 2002:
Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, Baden-Baden.
12 Vgl. Bundesrat: Entschließung des Bundesrates zur Eröffnung der Regierungskonferenz zu
institutionellen Fragen, Drucksache 61/00 (Beschluss) vom 4. Februar 2000, S. 2.
Harmonisierung nach oben bedeuten würden.13 Für die Länder schien von essentieller
Bedeutung zu sein, dass vorab geklärt wird, für welche Materien
Mehrheitsentscheidungen gelten sollen. Mit anderen Worten: Sie wollten sicher sein,
dass in von ihnen als wichtig angesehenen Bereichen, wo sie also eigenständige
Gestaltungsmöglichkeiten haben, keinerlei Einschränkungen erfolgen, was mit einem
mehr oder weniger pauschalen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen – als Regelfall –
sicherlich der Fall sein könnte. In dieser Frage trafen sich föderale Grundanliegen der
Länder mit einem zentralen Aspekt des Entscheidungssystems der EU und die Länder
hatten im Vorfeld der Regierungskonferenz angekündigt, dass sie ihren ganzen Einfluss
geltend machen würden, um das Verhalten der Bundesregierung in dieser Frage zu
beeinflussen.
Blockade der EU-Reform durch die deutschen Länder?
Bei den drei zuletzt genannten Punkten handelte es sich unbezweifelbar um föderale
Kernanliegen der Länder. Was für die Länder dabei offensichtlich auf dem Spiel stand,
wurde an Reflexionen über ein mögliches Szenarium deutlich, wonach die Länder im
Falle eines für sie negativen und insofern inakzeptablen Konferenzergebnisses die
Ratifizierung des reformierten Vertrages in der Bundesrepublik Deutschland scheitern
lassen könnten.14 Auch wenn mit Blick auf das bisherige Verhalten der Länder kaum
vorstellbar schien, dass ein solches Szenarium Wirklichkeit werden könnte, dass also
der Fortgang des EU-Integrationsprozesses an einem Einspruch einer deutlichen
Mehrheit der Länder zunächst scheitern könnte, war die Debatte über ein solches
Szenarium ein deutliches Indiz für die Bedeutung der zu diesen Fragen zu treffenden
Entscheidungen in Nizza.
Ein deutliches Signal, dass die Länder die Option einer eventuellen Ablehnung des
Konferenzergebnisses von Nizza wohl doch nicht ernsthaft erwogen und stattdessen auf
eine andere Strategie zur Durchsetzung ihrer Kernanliegen gesetzt hatten, war die
Regierungserklärung des neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gabriel vom
21. Juni 2000, also etwa einen Monat, nachdem öffentlich über ein Scheitern der
Vertragsratifikation durch eine Mehrheit der Länder spekuliert worden war.15 Gabriel,
der die Europäisierung und Internationalisierung der Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung als eine der wichtigsten Herausforderungen, gerade auch für das
Land Niedersachsen, bezeichnete, plädierte für eine grundlegende Reform der EU. Er
stellte dem Europa des „Wettbewerbsföderalismus“ das Leitbild eines „kooperativen
13 Vgl. Bundesrat, Stenographischer Bericht, 747. Sitzung, Bonn, Freitag, den 4. Februar 2000;
Plenarprotokoll 747.
14 Vgl. dazu den Bericht „Länder drohen mit Blockade des EU-Vertrages“ in der FAZ vom 26. Mai
2000, S. 13 im Anschluss an ein Treffen der Ministerpräsidenten der deutschen Länder mit dem
Präsidenten der Europäischen Kommission Prodi am 25. Mai 2000 in Berlin.
15 Vgl. dazu Regierungserklärung des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel:
„Niedersachsen – Eine starke Region für Europa – Das neue Niedersachsen gestalten“ am 21.06.2000,
Redemanuskript und Handelsblatt vom 23./24.06.2000 („Kompromissvorschlag im Streit mit den
Ländern: Berlin plädiert für eine neue Regierungskonferenz“).
Föderalismus“ für Europa entgegen. Dabei würden gemeinsame Ziele (wie
Vollbeschäftigung, Mitbestimmung und soziale Sicherheit) den Wettbewerb nicht außer
Kraft setzen, aber begrenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste die europäische
Ebene Aufgaben erhalten, die bisher den Mitgliedstaaten vorbehalten seien; Gabriel
nannte ausdrücklich die Finanz- und Steuerpolitik, die gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik, aber auch „wirkliche Harmonisierungen in der Wirtschafts- und
Sozialpolitik.“ Eine solche Stärkung europäischer Kompetenzen würde seiner
Überzeugung nach gleichzeitig Freiräume für die Stärkung der regionalen Kompetenzen
schaffen. Durch ein Mehr an Europa wollte er zugleich auch mehr Föderalismus in
Deutschland gewährleisten.
Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen sprach er sich unzweideutig gegen eine
Strategie der Ablehnung der Ratifizierung des Ergebnisses der Regierungskonferenz
von Nizza aus. Stattdessen müssten Bund und Länder gemeinsam eine europapolitische
Perspektive formulieren, bei der die Kompetenzabgrenzung zwischen Gemeinschaft und
Mitgliedstaaten, unter maßgeblicher Berücksichtigung der föderalen Belange der
deutschen Länder, im Mittelpunkt steht. Außerdem sollten Bund und Länder erklären,
dass die gegenwärtige Regierungskonferenz die schwierige Frage der
Kompetenzabgrenzung nicht klären könne, dass stattdessen für etwa das Jahr 2004 eine
weitere Regierungskonferenz verbindlich vereinbart wird, auf deren Tagesordnung dann
die Frage der Kompetenzabgrenzung steht. Die bis dahin zur Verfügung stehende Zeit
sollte für eine breite Diskussion in Deutschland genutzt werden, bei der die Position der
Länder gebührend zur Geltung kommen müsste.
Kurz vor der Regierungskonferenz fassten die Länder ihre Erwartungen an das
Ergebnis von Nizza in einer Entschließung des Bundesrates vom 10. November 2000
wie folgt zusammen.16 Es sei wichtig, dass der Europäische Rat in Nizza die Abhaltung
einer weiteren Regierungskonferenz beschließt, die sich vorrangig mit der Frage der
Kompetenzverteilung und der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips befassen müsse.
Die Länder seien an dieser Regierungskonferenz zu beteiligen. Der Ausschuss der
Regionen sollte aufgewertet und gestärkt werden, in dem ihm der Status eines Organs
und das Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof eingeräumt werde. Ferner sprach
sich der Bundesrat gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in
Umweltfragen sowie in Angelegenheiten der Asyl- und Einwanderungspolitik aus.
Schließlich verlangte der Bundesrat, die öffentliche Daseinsvorsorge ausdrücklich im
Vertrag zu verankern.
Die Reaktion der deutschen Länder auf die Ergebnisse von Nizza
Die Länder waren an der Regierungskonferenz durch Staatssekretär Stächele (BadenWürttemberg) und Staatssekretär Klär (Rheinland-Pfalz) als Ländervertreter unmittelbar
beteiligt. Außenminister Fischer lobte im Anschluss an den Gipfel von Nizza vor dem
Bundesrat die gute Zusammenarbeit mit den Ländern und auch Staatssekretär Stächele
16 Vgl. Bundesrat: Entschließung des Bundesrates zu
Weiterentwicklung der EU; Drucksache 680/00 (Beschluss).
institutionellen
Reformen
und
der
äußerte sich dazu positiv: Das Mitwirkungsrecht der Länder sei bei dieser
Regierungskonferenz mit Leben erfüllt worden, eine Aussage, die er auch ausdrücklich
auf die Arbeitsgruppe aus Vertretern der Länder und des Auswärtigen Amtes bezog.17
Dieses positive Urteil bedeutet nicht das Vorhandensein identischer Auffassungen, wohl
aber einen gegenseitigen Umgang von Bund und Ländern im Sinne des Prinzips der
Bundestreue.
In seiner Sitzung am 21. Dezember 2000 befasste sich der Bundesrat mit dem
Europäischen Rat und dem Vertragswerk von Nizza.18 Die Debatte gibt einen guten
Überblick über die Einschätzung der Gipfelergebnisse seitens der deutschen Länder. Sie
zeigt überdies auf, welche Punkte die deutschen Länder im Post-Nizza-Prozess von
ihrem Standpunkt aus für vordringlich halten und welche inhaltlichen Akzente sie dabei
setzen wollen. Drei Bereiche standen dabei im Mittelpunkt: zum einen Fragen und
Probleme, die im Zusammenhang mit der Erweiterung gesehen werden. Dazu zählten
die Ministerpräsidenten Diepgen, Ringstorff und Stolpe die Sorgen und Ängste der
Menschen in grenznahen Gebieten. Sie sprachen sich für relativ lang bemessene
Übergangsfristen für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr aus, die, wenn es
die praktischen Erfahrungen erlaubten, dann verkürzt werden könnten. Sie forderten den
massiven Ausbau der grenzüberschreitenden Infrastruktur und begrüßten insofern die
Aufforderung des Europäischen Rates an die Kommission, ein Programm zur Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit der Grenzregionen aufzustellen.
Der zweite Komplex, der in der Debatte im Bundesrat breit diskutiert wurde, betraf
die Frage von Mehrheitsentscheidungen. Zunächst wurde von Seiten der Länder
grundsätzlich begrüßt, dass für eine Reihe von Fragen, denen die Länder besondere
Bedeutung zumessen, am Prinzip der Einstimmigkeit festgehalten wurde. Das bezieht
sich auf Kultur, Aspekte von Asylgewährung und Einwanderung, aber auch auf die
Handwerksordnung. Einen viel grundsätzlicheren Aspekt warf Stoiber zusätzlich mit
seinem Hinweis auf, dass die Einführung von Mehrheitsentscheidungen sowie deren
Ausweitung für sich allein genommen noch keinen proeuropäischen Erfolg darstellten.
Mehrheitsentscheidungen müssten vielmehr respektiert und akzeptiert werden. Sie
müssten also für die Betroffenen zumutbar sein. Das aber sei nur dann gewährleistet,
wenn eindeutig klar sei, in welchen genau beschriebenen Fällen mit Mehrheit
entschieden würde. Im Kern gehe es dabei um die Frage der Unterwerfung von
überstimmten
Minderheiten
unter ein Mehrheitsvotum und damit um die Frage, ob Mehrheitsentscheidungen als
Regel-Entscheidungen nicht eine Überforderung für einzelne Mitgliedstaaten bzw. für
von Einzelentscheidungen besonders Betroffene darstellen würden. Minister Samland
wies aufgrund seiner Erfahrungen19 mit dem Instrument der Mehrheitsentscheidungen
17 Vgl. Bundesrat, Stenographischer Bericht, 758. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 21. Dezember 2000;
Plenarprotokoll 758.
18 Vgl. ebd.
19 Detlev Samland war lange Mitglied des Europäischen Parlaments, zuletzt (bis Ende der Wahlperiode
1994-99) in der wichtigen und einflussreichen Position des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses.
darauf hin, dass diese letztlich nur ein Druckmittel seien, um Konsens zu erzielen, dass
es also nicht um die routinemäßige und quasi beliebige Majorisierung gehe.
Der dritte Bereich, dem die Länder überaus große Bedeutung zumessen, betrifft die
Einrichtungen öffentlicher Daseinsvorsorge. In diesem Zusammenhang verwies
Samland darauf, dass der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen eine Prüfung in
Auftrag gegeben habe, „wie bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts im
Zusammenhang mit Leistungen der Daseinsvorsorge für mehr Vorhersehbarkeit und
Rechtssicherheit Sorge getragen werden kann“.20 Damit seien zwar die Bedenken der
Länder aufgegriffen, da aber der Bericht dazu bis Ende 2001 vorliegen solle, sei für die
Länder aktueller Handlungsbedarf gegeben, um ihren Belangen zur Geltung zu
verhelfen. Ministerpräsident Beck wiederholte die Forderung, diese Frage vertraglich zu
regeln.
3. Der Post-Nizza-Prozess und der Gipfel von Laeken
Gemäß dem von Berlins Regierendem Bürgermeister Diepgen formulierten Motto, der
„erste Tag nach Nizza (ist) der erste Tag vor der nächsten Regierungskonferenz“21,
machten sich die Länder sehr frühzeitig daran, im „Post-Nizza-Prozess“ durch
entsprechende Vorschläge ihre „Bringschuld“ einzulösen. Schon eine Woche nach dem
Gipfel von Nizza im Dezember 2000 erteilte die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK)
dem Vorsitzland Niedersachsen den Auftrag, die „Post-Nizza“-Reformdebatte zu
begleiten. Aber nicht nur im Rahmen der Konferenz der Europaminister und auf Ebene
der Ministerpräsidenten wurde das Thema „Zukunft der EU“ und dabei vor allem die
Umsetzung der in der Erklärung von Nizza formulierten Aufgaben im Detail ausgiebig
und zum Teil recht kontrovers diskutiert. Im Kern ging es in dieser Debatte auf
Länderebene um die Frage, inwieweit eine von allen grundsätzlich unterstützte
Neuordnung der Kompetenz- und Aufgabenverteilung der Dynamik und dem
Prozesscharakter der europäischen Integration gerecht werden könne. So warnte etwa
die Europaministerin aus Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, davor, dass eine
Neuordnung der Kompetenzen „wie eine Zwangsjacke“ künftige Entwicklungen
unmöglich machen könnte.22 Ein weiterer Punkt, der im Kreis der Länder kontrovers
diskutiert wurde, war die konkrete Umsetzung einer solchen Neuordnung der
Kompetenzen; die Frage etwa, wie eine entsprechende Neuformulierung des
Gemeinschaftsvertrages im Detail auszusehen hätte, ob und welche Politik- und
Aufgabenbereiche expressis verbis der europäischen, der nationalen und der regionalen,
also der Länderebene zugeschrieben werden sollten. In diesem Sinne war auch ein
20 Kapitel E (Leistungen der Daseinsvorsorge) der Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat
(Nizza) vom 7., 8. und 9.12.2000, SN 400/40.
21 Bundesrat, Stenographischer Bericht, 758. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 21. Dezember 2000;
Plenarprotokoll 758, S. 587.
22 Bundesrat, Stenographischer Bericht, 769. Sitzung, Berlin, Freitag, den 9. November 2001;
Plenarprotokoll 769, S. 605.
Monate später an die Adresse seiner Kollegen gerichteter kritischer Hinweis des
bayerischen Europaministers, Reinhold Bocklet, zu verstehen:
„So eifrig die deutschen Länder dabei waren, die Forderung nach Kompetenzabgrenzung
auf die Tagesordnung der europäischen Politik zu bringen, so erkenne ich doch ein
gewisses Zögern und eine gewisse Zurückhaltung, sich in der Sache einzulassen.“23
Neben den Diskussionen auf Arbeits- und EMK-Ebene sowie den Bundesratsdebatten
waren es aber vor allem die öffentlich und mit breitem Medienecho begleiteten Reden
und Vorschläge einzelner Länderregierungen und ihrer Chefs, die im Laufe des Jahres
2001 die deutsche wie die europaweite Debatte prägten.
Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement,24 gehörte zu
den ersten, die schon zum Jahresbeginn 2001 einen – im Vergleich zu vielen im Vorfeld
von Nizza gehörten Europa-Reden – sehr detaillierten Vorschlag zur Reform der
europäischen Kompetenzordnung vorlegten. Im Rahmen des „Forum Constitutionis
Europae“ der Berliner Humboldt-Universität schlug Clement am 12. Februar 2001 eine
neue, dreistufige Kompetenzordnung für die EU vor, um der Union dadurch „neue
Leitplanken“ zu geben.25 Drei Punkte standen im Mittelpunkt seiner Berliner Rede:
erstens müssten „präzise Grundregeln der Kompetenzabgrenzung“ formuliert werden;
zweitens solle über „eine Neuverteilung der Zuständigkeiten – nach ‚oben‘, aber auch
nach ‚unten‘ – gesprochen“ werden und schließlich müsse sichergestellt werden, dass
„die neuen Kompetenzregeln auch im europäischen Entscheidungsverfahren
eingehalten“ würden. Neben einer Reihe von inhaltlichen, politikfeldspezifischen
Vorschlägen zur Wettbewerbs-, Agrar- und Strukturpolitik, ging es Clement im Kern
darum, ein Modell für „klare allgemeine Kompetenzregeln, verbunden mit bestimmten
Kompetenzkategorien, und zum anderen eine kleinteiligere und damit präzisere
Zuweisung von politischen Einzelmaterien“ vorzulegen. Die legislativen Kompetenzen
der EU sollen nach Clement in drei Kategorien unterteilt werden: (1) „ausschließliche
Kompetenzen“ (z.B. Binnenmarkt), (2) „Grundsatzkompetenzen der EU“ (als
Regelkompetenzen) und (3) „Ergänzungskompetenzen der EU“. Die Tatsache, dass
diese Vorschläge in die Entschließung des Bundesrates zur Kompetenzabgrenzung vom
Dezember 200126 und in die Eckpunkte des Ländervertreters im europäischen
Reformkonvent27 eingeflossen sind, zeigt die Bedeutung der Initiative aus NordrheinWestfalen.28 Auch der Vorschlag Clements, Vertragsänderungen in Zukunft
„gemeinsam von Vertretern der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente, des
Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission“ im Rahmen eines
„Verfassungskongresses“ erarbeiten zu lassen, zeigt, dass hier von Länderseite eine weit
23 Vgl. ebd., S. 603.
24 Vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Clement in diesem Band.
25 Vgl. Clement, Wolfgang 2001: „Europa gestalten – nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der
Europäischen Union nach Nizza“ <http://www.whi-berlin.de/clement.htm>.
26 Bundesrat: Entschließung des Bundesrates zur Kompetenzabgrenzung im Rahmen der
Reformdiskussion zur Zukunft der Europäischen Union; Drucksache 1081/01 (Beschluss).
27 „Ministerpräsident Erwin Teufel: Eckpunkte für den Konvent“ (o.J.).
28 Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Fischer in diesem Band.
reichende Idee lanciert und auf die europäische Agenda gesetzt werden konnte, die im
Zusammenhang mit anderen Vorschlägen im Jahre 2001 gesehen werden muss; allen
diesen Vorschlägen ging es um alternative oder ergänzende Formen zur klassischen
Regierungskonferenz, die in Nizza nach allgemeiner Auffassung an ihre Grenzen
gestoßen war.
Neben Clement meldeten sich aber auch andere zu Wort. Im Mai 2001 legte etwa der
Ministerpräsident von Niedersachsen, Sigmar Gabriel, Thesen zur Zukunft einer
erweiterten EU vor.29 Auch hier standen die Frage nach einer Präzisierung der
Kompetenzaufteilung und Reformvorschläge zu einigen für die Länder besonders
wichtigen Politikfelder (z.B. Binnenmarkt, Regionalpolitik) im Mittelpunkt.
Einer schon im Vorfeld des Nizzaer Gipfels von Flandern eingeleiteten Initiative30
zur Kooperation von „konstitutionellen Regionen“ hatten sich einige deutsche Länder
angeschlossen, um „Mitstreiter in ihrem Abwehrkampf gegen die Kommission“31 zu
haben. Diese multilaterale Kooperation wurde dann auch im Rahmen des Post-NizzaProzesses wieder aktiv. So legte eine Gruppe von sieben europäischen Regionen,
nämlich Bayern, Katalonien, Nordrhein-Westfalen, Salzburg, Schottland, Wallonien
und Flandern im Mai 2001 eine „Politische Erklärung“ vor.32 Darin bekundeten sie, ein
„spezifisches Interesse“ an der Debatte über die Zukunft der EU zu haben und forderten,
dass sie aufgrund ihrer konstitutionell herausgehobenen Stellung stärker als „normale“
Regionen an der Reformdiskussion beteiligt werden müssten:
„In diesem Zusammenhang verlangen die konstitutionellen Regionen ungeachtet der
Frage, welchen Ansatz man für die Struktur der Debatte bevorzugt (einen ‚Konvent‘ oder
eine andere geeignete Struktur), direkt an der Vorbereitungsarbeit für die
Regierungskonferenz 2004 teilzunehmen“.33
29 Thesen des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel für die politische und
verfassungsrechtliche Struktur einer künftigen erweiterten Europäischen Union (EU) vom 10. Mai
2001; Quelle: Europäisches Informations-Zentrum Niedersachsen <http://www.eiz-niedersachsen.de>
30 Dem ersten Treffen mit rund 50 Teilnehmern im September 2000, zu der Flandern eingeladen hatte,
schloss sich eine Folgekonferenz an, auf der sieben Regierungschefs von Regionen (Bayern,
Katalonien, NRW, Salzburg, Schottland, Wallonien und Flandern) vertreten waren. Mit diesen
Regionen, von deutscher Seite vor allem mit dem Nachbarn NRW, steht Flandern seit längerer Zeit
bei institutionellen Fragen in engerer Kooperation. Am 28.05.2001 trafen die Regierungschefs dieser
sieben Regionen mit dem belgischen Premierminister Guy Verhofstadt und dem für institutionelle
Fragen zuständigen Mitglied der Europäischen Kommission, Michel Barnier, zusammen und
übergaben eine „Politische Erklärung“ (s.u.); vgl. Stärkung der Europakompetenz des Landes
Salzburg – Europapolitischer Vorhabensbericht für die 12. Gesetzgebungsperiode (2000 bis 2004),
Fortschreibung bzw. Aktualisierung 2001, Zahl: 20091-1660/276-2001, Salzburg, S. 37-38.
31 Vgl. den Beitrag von Thomas Wiedmann in diesem Band.
32 Vgl. die Schlusserklärung der Konferenz von Präsidenten von Regionen mit Legislativkompetenz
vom 23./24. November 2000 in Barcelona; die Politische Erklärung der konstitutionellen Regionen
Bayern, Katalonien, Nordrhein-Westfalen, Salzburg, Schottland, Wallonien und Flandern vom 28.
Mai 2001 in Brüssel und die Schlusserklärung der Zweiten Konferenz von Präsidenten von Regionen
mit Legislativkompetenzen vom 15./16. November 2001 in Lüttich, CONF/LIEGE (2001) 8
(unterzeichnet von 52 Regionen).
33 Vgl. Politische Erklärung, S. 2.
Neben den vier in der Zukunftserklärung von Nizza genannten Aufgaben (s.o.) solle, so
ein weiterer Vorschlag der „Politischen Erklärung“, das Thema „Rolle und Stellung der
Regionen im europäischen Politikgestaltungsprozess und im institutionellen Gefüge“
aufgegriffen werden. Um ein „besseres System der Kompetenzabgrenzung“ zwischen
der EU und den Mitgliedstaaten bzw. den Regionen mit Gesetzgebungskompetenzen
errichten zu können, wurden auch die von Clement vorgeschlagenen KompetenzKategorien als „Option“, die geprüft werden solle, genannt.34 Offen wurde auch die
Unzufriedenheit mit dem bestehenden institutionellen Rahmen zur Repräsentation der
regionalen und lokalen Gebietskörperschaften angesprochen: „Die konstitutionellen
Regionen bezweifeln, dass der Ausschuss der Regionen in seiner derzeitigen Gestalt
und mit seinem derzeitigen institutionellen Status den Bedürfnissen und Wünschen der
Re-gionen gerecht werden kann“.35
Auch auf der Ebene der Europaminister der Länder und auf der dazu gehörenden
Bund-Länder-Arbeitsebene wurde das Thema „Zukunft der EU“ im Verlauf des Jahres
2001 auf der Grundlage des Fahrplans von Nizza begleitet. Nachdem auf der EMKSitzung im Februar der im Dezember 2000 von den Länderregierungschefs angeregte
Bericht Niedersachsens „zur Kenntnis“ genommen wurde, beauftragte die EMK eine
Ständige Arbeitsgruppe, zu den mit dem „Post-Nizza-Prozess“ zusammenhängenden
Fragen bis zum Mai 2001 einen ersten Zwischenbericht vorzulegen.36 Zwei Aspekte
wurden im EMK-Beschluss im Mai hervorgehoben: zum einen, dass eine breite
Beteiligung der Öffentlichkeit an der Zukunfts-Debatte nur mit einem „transparenten, in
sich kohärenten und effektiven Verfahren“ erreicht werden könne, und dass zum
zweiten die „Einbringung und Berücksichtigung der Länderforderungen für die nächste
Regierungskonferenz innerhalb der vorgesehenen Strukturen gewährleistet“ sein
müsse.37 Erste Präzisierungen legte die EMK in ihren „Eckpunkte(n) der Länder zu den
Verfahrensaspekten der ‚Erklärung zur Zukunft der Union‘“ vor. Eine vordringliche
Aufgabe sahen die Länder – zu Recht – zunächst darin, die eigenen Vorstellungen,
insbesondere
zur
häufig
als
„deutsches
Problem“
wahrgenommenen
Kompetenzabgrenzung, in der öffentlichen Debatte zu vermitteln und dann auch darin,
die „Akzeptanz und Unterstützung in den übrigen Mitgliedstaaten und Regionen und
den europäischen Institutionen“ zu gewinnen.38 Zu den eigentlichen Verfahrensfragen
und zum Prozess zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 machten die
Europaminister in ihrem Eckpunkte-Papier eine Reihe sehr profunder Vorschläge, wie
die öffentliche Debatte aus Ländersicht inhaltlich und institutionell zu organisieren sei.
So wurde etwa vorgeschlagen, dass zum Zwecke der „Rückkopplung an die
Meinungsbildung in den MS (Mitgliedstaaten; die Verf.) und die Gewährleistung von
34 Vgl. Politische Erklärung, S. 4.
35 Vgl. Politische Erklärung, S. 4.
36 Beschluss der 27. Europaministerkonferenz der Länder am 15. Februar 2001 in Berlin; TOP 2: PostNizza-Prozess.
37 Beschluss der 28. Europaministerkonferenz der Länder am 31. Mai 2001 in Berlin; TOP 2: PostNizza-Prozess.
38 Eckpunkte der Länder zu den Verfahrensaspekten der „Erklärung zur Zukunft der Union“ (Stand:
31.05.2001), S. 1; Anhang zu EMK-Beschluss vom 31. Mai 2001.
Transparenz“ jeweils zum Ende der Ratspräsidentschaften „Zwischenergebnisse und
Optionen“39 vorgelegt werden sollten, die dann im Europäischen Parlament wie auch in
den nationalen Parlamenten diskutiert werden könnten. Die Ergebnisse dieser
parlamentarischen Beratungen sollten dann wiederum „im Fortgang der Arbeiten
eingebracht und berücksichtigt“ werden. Zudem wurde – dies richtete sich wohl vor
allem auch an die Bundesregierung – darauf hingewiesen, die Debatte in den
Mitgliedstaaten „unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Gegebenheiten“ zu führen
und „die daraus resultierenden Schlussfolgerungen in die Arbeit auf europäischer Ebene
einzubringen“.40
Zur folgenden EMK-Sitzung, die Ende August 2001 in Wilhelmshaven stattfand,
wurde unter Federführung der Länder Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und
Sachsen eine umfangreiche Diskussionsgrundlage für die Position der deutschen Länder
zur Kompetenzordnung in der Europäischen Union erarbeitet, um das Thema im
Rahmen der EMK ganz grundsätzlich erörtern zu können. Die Ergebnisse dieser
Debatte flossen in ein neunseitiges Papier („Erste Orientierungen zur
Kompetenzneuordnung“) ein, das auf der EMK im Oktober 2001 in Goslar
verabschiedet wurde. Dieses Orientierungspapier nennt folgende Ziele und Grundsätze
als zentrale Prämissen für die europäische „Verfassungsdebatte“: Erhöhung der
demokratischen Legitimation der EU; Stärkung der Handlungsfähigkeit und Effizienz
einer EU mit mehr als 20 Mitgliedstaaten; Sicherung der Entwicklungsfähigkeit der EU;
Sicherung der Finanzierbarkeit der EU mit einer gerechten Lastenverteilung für die
Mitgliedstaaten; Transparenz der Entscheidungsprozesse und Strukturen; klare
Verantwortlichkeit für politische Entscheidungen; Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit
und Bürgernähe und Rücksichtnahme auf nationale und regionale Besonderheiten.41
Eine Liste mit zwölf Politikbereichen (von Außen- und Sicherheitspolitik, Struktur- und
Regionalpolitik bis zu Medien und Tourismus sowie Katastrophenschutz) machte
deutlich, wo die Länder überall einen Bedarf der Überprüfung der Kompetenzverteilung
sehen.42 Diese lange Liste wurde in die Bundesratsentschließung vom Dezember 2001
nicht übernommen, weshalb Bayern einen Landesantrag einbrachte, der die
Wiederherstellung des ursprünglichen, von den Ministerpräsidenten gebilligten Textes
forderte.43 Ansonsten bildete aber das EMK-Papier und die Diskussion im Kreise der
Länderregierungschefs die Grundlage für den Bundesratsbeschluss. Dazu gehörten u.a.
die Forderungen, eine „verbesserte Zuständigkeitsordnung der EU“ zu errichten – die
Frage, ob das im Rahmen eines „Kompetenzkataloges“ geschehen solle, lässt der
Beschluss offen und beschließt, das einer „eingehenden Prüfung“ zu überlassen;
festgeschrieben
wurde
auch
die
Forderung,
den
Art.
308
EGV
39 Vgl. ebd., S. 3.
40 Vgl. ebd., S. 2.
41 „Erste Orientierungen zur Kompetenzneuordnung“; Anlage zu EMK-Beschluss vom 10./11. Oktober
2001 in Goslar, S. 1.
42 Vgl. ebd., S. 3.
43 Erklärung von Staatsminister Reinhold Bocklet (Bayern) zu Punkt 76 der Tagesordnung, Anlage 25,
in: Entschließung des Bundesrates zur Kompetenzabgrenzung im Rahmen der Reformdiskussion zur
Zukunft der Europäischen Union, 20. Dezember 2001, Drucksache 1081/01 (Beschluss), S. 787-788.
(„Vertragsabrundungsklausel“) abzuschaffen und dem Ausschuss der Regionen ein
Klagerecht einzuräumen sowie die Prüfung der Frage, ob zur „verfahrensmäßigen
Absicherung der Kompetenzordnung (...) in Ergänzung der bestehenden Gerichtsbarkeit
in besonderen Fällen eine gemeinsame Schieds- oder Entscheidungsinstanz angerufen
werden“ könne.44
Noch vor der entscheidenden, weil die Länderpositionen zusammenführenden
Bundesratsentschließung trug der bayerische Ministerpräsident, Edmund Stoiber,
Anfang November 2001, ebenfalls im Rahmen des Forum Constitutionis Europae der
Humboldt-Universität in Berlin, seine Vorstellungen zur Zukunft Europas vor. Im Kern
ging es Stoiber in dieser Rede darum, die EU auf „europäische Kernkompetenzen“
festzulegen; hier zeigt sich deutlich die – etwa im Vergleich von Clements Vorschlag
von „Kompetenzkategorien“ – andersgeartete Konzeption. Stoiber zählt zu den
„Kernkompetenzen“ die Außen- und Sicherheits- wie auch die Verteidigungspolitik,
eine einheitliche Außenvertretung, eine gemeinsame Währung, eine reformierte
Agrarpolitik und – „soweit grenzüberschreitende Dimensionen gegeben sind“ – die
Rechtspolitik,
innere
Sicherheit,
Verkehr,
Infrastruktur,
Umweltund
45
Gesundheitsschutz. Größere öffentliche Aufmerksamkeit erregte die Forderung des
bayerischen Ministerpräsidenten, die Ergebnisse der künftigen Regierungskonferenz
„einem Referendum zu unterziehen“. Denn ein solches Referendum führe, so Stoiber,
nicht nur „zu intensiver öffentlicher Debatte“, sondern habe „auch eine nicht zu
unterschätzende Legitimations- und Befriedungswirkung“.46
Im Dezember 2001 beschloss die Landesregierung von Baden-Württemberg ein 27seitiges Papier, in dem „Positionen zur Zukunft der Europäischen Union“47 festgelegt
wurden. Dieses umfangreiche Papier, das dem Landtag zur Diskussion übermittelt
wurde, setzt sich schwerpunktmäßig mit der Kompetenzaufteilung im europäischen
Vertragswerk auseinander. Das zentrale Ziel der anstehenden Reform, so das Papier, sei
ein „Verfassungsvertrag“, in dem neben der Verankerung der Grundrechtecharta und
der „Regelung von Institutionen und ihrer Zusammenarbeit“ vor allem eine „Ordnung
der Zuständigkeiten zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten“ festgeschrieben
werden solle. Eine solche Ordnung solle zusammengefasst werden „in einem
Kompetenzkatalog, in dem die Zuständigkeiten der Europäischen Union“ zu verankern
seien, gleichzeitig aber „auch die Kompetenzen der Mitgliedstaaten, in die die
Europäische Union nicht eingreifen“ dürfe.48
44 Bundesrat: Entschließung des Bundesrates zur Kompetenzabgrenzung im Rahmen der
Reformdiskussion zur Zukunft der Europäischen Union, 20. Dezember 2001, Drucksache 1081/01
(Beschluss).
45 Rede des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber am 8. November 2001 im Rahmen des
Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin – „Eckpunkte des europäischen
Reformprozesses“ (Manuskriptfassung), S. 7
46 Vgl. ebd., S. 13-14.
47 „Positionen zur Zukunft der Europäischen Union“; Beschluss der Landesregierung von BadenWürttemberg vom 11. Dezember 2001 (abgedruckt in: Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache
13/580 vom 13.12.2001).
48 Ebd., S. 2.
Parallel zu den Vorschlägen aus der EMK, der Konferenz der Ministerpräsidenten,
einzelner Länder und des Bundesrates wurde auch in Brüssel über die Zukunft der EU
diskutiert; auch diese Debatte wurde von den deutschen Ländern entscheidend mit
geprägt. Vor allem der Ausschuss der Regionen war das Forum, auf dem die Länder
nach Unterstützung für ihre Positionen gesucht und solche auch, vor allem bei den
„konstitutionellen Regionen“, gefunden haben. Dass die engere Zusammenarbeit
zwischen den Regionen mit eigenen Legislativkompetenzen aber gleichzeitig die
politische Rolle des AdR und sein einheitliches Auftreten zu gefährden droht,49 wird in
verschiedenen Papieren und Beschlüssen aus dem Jahre 2001 mehr als deutlich, wenn
etwa in einer entsprechenden Erklärung des Präsidiums des AdR zu lesen steht:
„Das Präsidium des Ausschusses der Regionen erinnert daran, dass der AdR durch den
Vertrag als einheitliches Vertretungsorgan der ‚regionalen und lokalen
Gebietskörperschaften‘ aller Mitgliedstaaten eingerichtet worden ist und so
notwendigerweise die ganze Vielfalt der territorialen Organisation der einzelnen
Mitgliedstaaten widerspiegelt.“
In diesem Rahmen, so die Erklärung weiter, hätten „auch die Regionen mit
Gesetzgebungsbefugnissen unterschiedlicher Ausprägung ihren Platz.“ Das Präsidium
fordert diese „zur Zusammenarbeit und Koordinierung ihrer Aktionen“ innerhalb des
AdR auf. Im Vorbereitungsgremium für die kommende Regierungskonferenz, also dem
jetzigen Konvent, könnten, so die Erklärung, „Vertreter der Regionen mit
Gesetzgebungsbefugnissen angemessen vertreten sein.“50 Dieser Erklärung des
Präsidiums lag ein Bericht bei, an dessen Erstellung u.a. der Erste Vizepräsident des
AdR und Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen, Manfred Dammeyer,
beteiligt war.
Auch die Entschließung des AdR zur Vorbereitung des Gipfels von Laeken,51 in der
u.a. eine Ausweitung der Agenda über die vier in Nizza vorgeschlagenen Themen
hinaus gefordert wurde, entstand unter einflussreicher deutscher Beteiligung. Die
Grundlage für die Entschließung vom November 2001 war ein von der Kommission
„Institutionelle Fragen“ des AdR formulierter und im Oktober 2001 einstimmig
angenommener Entwurf des Berichterstatters und bayerischen Ministerpräsidenten
Stoiber.52
Zu erwähnen ist auch noch eine andere Institution, die in den 1980er Jahren eine Art
von Anschubfunktion für die Bekanntmachung und Verbreitung von Fragen des
49 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Thomas Wiedmann in diesem Band.
50 Erklärung des Präsidiums des Ausschusses der Regionen vom 26. Oktober 2001 über „Die Rolle der
Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen im gemeinschaftlichen Beschlussfassungsprozess“, CdR
191/2001 fin., Brüssel, den 29. November 2001, S. 3-5.
51 Entschließung des Ausschusses der Regionen vom 14. November 2001 zur Vorbereitung des
Europäischen Rates von Laeken und zur Weiterentwicklung der Europäischen Union im Rahmen der
nächsten Regierungskonferenz 2004, CdR 104/2001 fin., Brüssel, den 20. November 2001.
52 Vorbereitung des Europäischen Rates von Laeken und zur Weiterentwicklung der Europäischen
Union im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz 2004 (Entschließung des Ausschusses der
Regionen) Kommission „Institutionelle Fragen“; CdR 104/2001 rev. COM-AAFF.INST/021,
Berichterstatter: Herr STOIBER (Ministerpräsident des Freistaates Bayern, D/PPE).
Regionalismus und der Regionen in Europa übernommen hatte und heute eine – aus
Sicht der deutschen Länder zumindest53 – eher marginale Rolle spielt, nämlich die
Versammlung der Regionen Europas (VRE).54 In der im ungarischen Sopron im
November 2001 verabschiedeten „Europäischen Grundordnung“55 tauchen eine Reihe
von Forderungen auf, die so oder ähnlich auch in entsprechenden Entschließungen des
Bundesrates oder des AdR zu lesen sind: eine „Kompetenzordnung zur Wahrung
mitgliedstaatlicher und regionaler Zuständigkeiten“56; die „Schaffung einer
unabhängigen Autorität, die über die Einhaltung der Kompetenzordnung“ wachen soll
und die „von den Mitgliedstaaten, dem Ausschuss der Regionen und von Regionen mit
eigenen Gesetzgebungsbefugnissen“ angerufen werden kann; eine „stärkere
Einbeziehung der Regionen in die europäischen Entscheidungen“ und schließlich wird
gefordert, dass „das Subsidiaritätsprinzip wirkungsvoller zur Geltung“ komme.
4. Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union
Ob der Europäische Rat von Laeken im Dezember 2001 und der dort beschlossene
Konvent zur Vorbereitung der kommenden Regierungskonferenz im Rückblick später
einmal als „Paradigmenwechsel“ europäischer Politik gesehen werden wird, wie auf
einer Tagung im Januar 2002 ein Vertreter der Bundesregierung fragend andeutete,
kann im Moment natürlich nicht mit Bestimmtheit gesagt werden.57 Die Tatsache aber,
dass in einem offiziellen Dokument des Europäischen Rates (nicht in den
Schlussfolgerungen, aber in der „Erklärung von Laeken“) der Begriff „Verfassung“
auftaucht, kann mindestens als „deutliche Schritte hin zu einer Konstitutionalisierung
der europäischen Verträge“58 gewertet werden. Die deutschen Länder und vor allem
auch die belgischen Regionen hatten, da sie in der EU-Präsidentschaft unter Guy
Verhofstadt einen direkten Ansprechpartner hatten, maßgeblichen Anteil an der
Formulierung der „Erklärung von Laeken“.59 In der langen Liste mit Fragen zum
„Regierungssystem“ der EU ist etwa auch eine „bessere Verteilung und Abgrenzung der
53 Die Tatsache, dass zum Jahresende 2001 nur noch die Länder Baden-Württemberg, Bayern,
Niedersachsen und Thüringen Mitglied der VRE waren, zeigt den Stellenwert, den die VRE als Forum
und Kanal zur Repräsentation von Interessen in der Sicht der großen Mehrzahl der deutschen Länder
hat (Quelle: http://www.are-regions-europe.org).
54 Vgl. dazu Hrbek, Rudolf/Weyand, Sabine 1994: betrifft: das Europa der Regionen. Fakten, Probleme,
Perspektiven, München.
55 Versammlung der Regionen Europas: „Europäische Grundordnung“, Text, der von der Plenarsitzung
der Kommission A in ihrer Sitzung am 22. November 2001 in Stuttgart und von der
Hauptversammlung der VRE am 30. November 2001 in Sopron (H) verabschiedet wurde.
56 Hervorhebung im Original.
57 Vgl. dazu den Tagungsbericht von Sebastian Barnutz und Martin Große Hüttmann in „integration“,
H. 2/2002 (i.E.).
58 Deubner, Christian/Maurer, Andreas 2002: Ein konstitutioneller Moment für die EU: Der Konvent
zur Zukunft Europas; Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, S. 2.
59 Zur Rolle der belgischen Ratspräsidentschaft vgl. Voss, Hendrik/Bailleul, Emilie 2002: The Belgian
Presidency and the post-Nice process after Laeken, ZEI-Discussion Paper C 102, Bonn.
Zuständigkeiten in der Europäischen Union“ wie auch eine Überprüfung des Art. 308
EGV aufgeführt.60 Damit gibt es, wie es der belgische Ministerpräsident und EURatspräsident Verhofstadt formulierte, „keine Tabus mehr“ und es können „alle Fragen“
gestellt werden, die „normalerweise verschwiegen“ werden.61 Entsprechend
zustimmend wurden die Ergebnisse von Laeken von Länderseite aufgenommen.62
Die sechs Vertreter, die im Namen des AdR als Beobachter an den
Konventssitzungen teilnehmen, kommen zum Teil aus „konstitutionellen Regionen“, so
dass hier eine starke Interessenrepräsentation zu erwarten ist.63
In seiner Sitzung am 01. Februar 2002 benannte der Bundesrat den
Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, als Mitglied für den
Konvent zur Zukunft der EU.64 Schon im Vorfeld der konstituierenden Sitzung des
Konvents am 28. Februar 2002 machte Teufel klar, welche Forderungen und Ziele er als
Ländervertreter vor dem Konvent zur Sprache bringen werde. Da die Bürger „Klarheit
und Verständlichkeit“ der europäischen Politik verlangten, müsse geregelt werden, „wer
für was in Europa verantwortlich“ sei: „Wir müssen darlegen, was die europäische
Ebene regeln soll und was wir selbst in unseren Regionen oder Mitgliedstaaten tun
können.“65 Auch bei einer gemeinsamen Sitzung der EU-Ausschüsse von Bundesrat
und Bundestag machte Teufel seine Position zur Kompetenzfrage klar: Um in Zukunft
verhindern zu können, dass auf europäischer Ebene „mit allgemeinen Zielen und
Generalermächtigungen Einzelermächtigungen unterlaufen“ werden können, könnte
man, so Teufel, sich vorstellen, „zu einem positiven und negativen Kompetenzkatalog,
also zu einem dualen Kompetenzkatalog“ zu kommen.66 In anderen öffentlichen
Äußerungen und auch im Rahmen der ersten Plenarversammlungen des Konventes
machte Teufel unmissverständlich klar, dass er sich sehr nachdrücklich für die
60 Die Zukunft der Europäischen Union – Erklärung von Laeken; Laeken, den 15. Dezember 2001;
SN 273/01, Brüssel.
61 Bulletin Quotidien Europe, Sonderausgabe zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken; Nr. 8114,
16. Dezember 2001, Brüssel.
62 Vgl. dazu etwa die Pressemitteilung der Niedersächsischen Staatskanzlei vom 18.12.2001:
„Ergebnisse des EU-Gipfels von Laeken entspricht weitestgehend den Forderungen der Länder“ und
die Regierungserklärung von Ministerpräsident Wolfgang Clement „Nordrhein-Westfalen in
Deutschland und Europa – Transparenz schaffen, Handlungsfähigkeit erweitern, Länder stärken“ vom
23. Januar 2002.
63 Die AdR-Vertreter im Konvent sind: Jos Chabert (ehem. Präsident des AdR, Vizepräsident der Region
Brüssel-Hauptstadt), Manfred Dammeyer (ehem. Präsident des AdR, Vors. der Kommission
„Institutionelle Fragen“), Patrick Dawael (Ministerpräsident Flandern), Claude du Granrut (Mitglied
des Regionalrats der Picardie, stellv. Bürgermeisterin von Senlis), Claudio Martini (Präsident der
Region Toskana) und Eduardo Zaplana Hernandez-Soro (1. Vizepräsident des AdR und Präsident der
Regionalregierung Valencia).
64 Bundesrat: Benennung eines Mitglieds und eines Stellvertreters für den Konvent zur Zukunft der
Europäischen Union, Drucksache 67/02 (Beschluss).
65 Interview in FAZ.NET vom 26.02.2002 („Teufel: Ein vereintes Europa braucht eine Verfassung“).
66 Bundesrat: Ausschuss für Fragen der Europäischen Union, Teil 2 der Niederschrift der 500.
(Politischen) Ausschusssitzung am Mittwoch, den 13. März 2002, gemeinsam mit dem Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union des deutschen Bundestages; TOP 1: Berichterstattung
über die Arbeit des EU-Verfassungskonvents, Niederschrift.
Forderungen zur Reform und vor allem zur Neuordnung der Kompetenzen in der EU,
die die Länder in den vergangenen Jahren aufgestellt hatten, im Konvent einsetzen
wird.67 Die Aussprache im Konvent anlässlich der Sitzung am 15./16. April 2002
machte dagegen deutlich, dass die Forderungen nach einem dualen Kompetenzkatalog
und einem „Kompetenzgremium“, wie sie vom Vertreter des Bundesrates vorgetragen
wurden, von der Mehrzahl der anderen Mitglieder im Konvent, auch von einigen
Länderregierungen und der Bundesregierung, zunächst in der Form nicht unterstützt
wurden.68
5. Ausblick
Der Beitrag hat gezeigt, dass die deutschen Länder spätestens seit den Verhandlungen
im Rahmen der Regierungskonferenz 2000 – trotz unterschiedlicher Positionen und
Prioritäten im Grundsatz und vor allem in Detailfragen – die europäische Reformagenda
in entscheidendem Maße mitbestimmen konnten. Sie gehören damit zum engeren Kreis
der wichtigsten europapolitischen Ideengeber. Vor allem die „großen“ (west)deutschen
Länder können aufgrund ihrer besseren finanziellen und personellen Ressourcen
Einfluss nehmen auf die Agendagestaltung der seit Nizza intensiv geführten
„Verfassungsdebatte“ auf europäischer wie nationaler Ebene. Die deutschen Länder
haben dabei – mehr oder weniger intensiv –nach gleichgesinnten und gleichberechtigten
Bündnispartnern, die sie im Vorfeld von Nizza und jetzt im Rahmen des „Post-NizzaProzesses“ vor allem in den „konstitutionellen Regionen“ gefunden haben, gesucht.
Diese Art von „regionaler Avantgarde“, die sich zunächst außerhalb der traditionellen
europäischen Formen wie dem AdR bildet, birgt aber die Gefahr einer „Zerreißprobe“
der bisherigen regionalen Repräsentation in sich.69 Die Folge davon könnte sein, dass
sich die deutschen Länder noch weniger im Rahmen des Ausschusses der Regionen
engagieren und dem AdR – als nur mit konsultativen Funktionen betraute Institution –
durch den Rückzug der politisch einflussreichen Vertreter aus starken Regionen und
Ländern als Organ zur Repräsentation regionaler und lokaler Interessen eine zusätzliche
politische Marginalisierung droht. Gleichzeitig ist das Ausweichen der Regionen mit
Gesetzgebungsbefugnissen insofern plausibel, als es ihnen – etwa im Falle der
67 Vgl. Interview der „Brüssel-Rundschau“ mit Ministerpräsident Erwin Teufel (Ausgabe 15. März – 4.
April 2002); Ministerpräsident Erwin Teufel: „Eckpunkte für den Konvent“; Statement von Erwin
Teufel, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg (Mitglied des Konvents; Vertreter des
deutschen Bundesrates) in der Generaldebatte „Erwartungen an die Europäische Union“ bei der
Tagung des Konvents zur Zukunft Europas am 21./22. März 2002 in Brüssel und Statement von
Ministerpräsident Erwin Teufel in der Generaldebatte über die künftigen Aufgaben der Europäischen
Union bei der Tagung des Europäischen Konvents am 15./16. April 2002 in Brüssel.
68 Vgl. Die Welt vom 19.04.2002 („EU-Konvent lehnt Rückgabe von Kompetenzen ab“), Financial
Times Deutschland vom 17.04.2002 („Abfuhr für deutsche Pläne zu EU-Kompetenzen“) und
Pressemitteilung des Staatsministeriums vom 19.04.2002 („Palmer zur Diskussion um den
Kompetenzkatalog“).
69 Vgl. den Beitrag von Thomas Wiedmann in diesem Band.
deutschen Delegation im AdR – zwar immer wieder gelingt, „wesentliche Positionen
auf abstrakter Ebene durchzusetzen“, sie sich aber „auf der fachpolitischen Ebene
häufig in der Minderheit“ befinden.70
Ähnlich läßt sich auch die Konsenssuche in der Debatte zur „Zukunft der EU“
innerhalb der deutschen Länder beschreiben – auch hier gibt es in vielen Fragen und
Forderungen wie etwa der nach Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und nach einer
Neuordnung der Kompetenzen „auf abstrakter Ebene“ Einvernehmen, bei wichtigen
Detailfragen und der Umsetzung solcher Forderungen zum Teil jedoch deutliche
Unterschiede bzw. andere Prioritätensetzungen. Eine stärkere Koalitionsbildung und
Formen einer „regionalen Avantgarde“ scheinen zwar angesichts der strukturellen
Unterschiede der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in den EUMitgliedstaaten, die sich angesichts der bevorstehenden Erweiterung noch vergrößern
werden, nicht überraschend. Die seit dem Gipfel von Laeken forcierte europäische
„Verfassungsdebatte“ ist aber, wenn sie gelingen soll, darauf angewiesen, dass „die
relevanten Beiträge osmotisch aus den jeweils anderen Arenen aufgesogen werden.“71
Entsprechende Gruppen- und Koalitionsbildungen sollten nicht dazu führen, dass sich
nationale, regionale und kommunale Kommunikationskreisläufe auf die einzelnen
Ebenen im europäischen Verflechtungssystem beschränken. Der im Februar 2002
eingesetzte Konvent zur Zukunft der Europäischen Union bietet die Chance, aus diesem
Dilemma auszubrechen.
Quelle:
Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.): Jahrbuch des
Föderalismus 2002, Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, BadenBaden (Nomos) 2002, S. 577-594.
70 Ausschuss der Regionen: Bericht über die 2. Mandatsperiode (1998-2002) an die Mitglieder der
deutschen Delegation vorgelegt von U. Mientus, MdL (Niedersachsen) als derzeitiger Koordinator der
deutschen Delegation, 04.10.2001.
71 Habermas, Jürgen 2001: Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine
Politische Schriften IX, Frankfurt/M., S. 120.
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