Privatdozent Dr - Ruhr

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Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
Übersicht und ergänzende
Ausführungen zur Vorlesung
Strafrecht – Allgemeiner Teil
Erstes Kapitel: Einführung
A. Die Aufgaben des Strafrechts
–
–
–
–
Rechtsgüterschutz?
negative oder positive Generalprävention?
Spezialprävention?
Schuldvergeltung?
B. Die Unterscheidung von anderen Rechtsgebieten
Fall 1:
Nach einer Feier setzt A sich betrunken ans Steuer seines Autos, um nach Hause zu
fahren. Unterwegs gerät er infolge seiner Trunkenheit auf die Gegenfahrbahn und stößt
dort mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen. Dessen Fahrer wird schwer
verletzt. Später wird festgestellt, daß A zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von
1,5 ‰ hatte.
Zweites Kapitel: Methodik der Rechtsfindung
Fall 2: A schlägt auf der Straße mit einem Knüppel den Hund des B tot.
A. Das Aufsuchen der in Betracht kommenden Rechtsnormen
I.
Die Vorschriften im Besonderen Teil oder im Nebenstrafrecht
II. Bei Auswahl mehrerer Strafvorschriften: Festlegung der Prüfungsfolge
III. Ausfüllung und Begrenzung der Strafnormen durch allgemeine
Vorschriften, insbesondere des Allgemeinen Teils
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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B. Die Systematisierung der Strafvoraussetzungen
I.
Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
IV. Sonstige Strafvoraussetzungen
C. Auslegung und Subsumtion
I.
Der juristische Syllogismus
II. Die Auslegung:
Merkmale
Fallbezogene
Konkretisierung
der
gesetzlichen
1. Die Auslegungskriterien und ihre rechtliche Verbindlichkeit
a) Der allgemeine Sprachgebrauch („grammatische Auslegung“) und das verfassungsrechtliche
Bestimmtheitsgebot, insbesondere das des Art. 103 II GG
b) Die gesetzliche Systematik („systematische Auslegung“) und der Gleichheitssatz des Art. 3 I
GG
c) Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, der Wille des Gesetzgebers („historische
Auslegung“) und das Demokratieprinzip des Art. 20 I GG
d) Der Sinn und Zweck des Gesetzes („teleologische Auslegung“ als Sinngebung bei
Entscheidungsspielräumen innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben)
2. Zum Verhältnis der Auslegungskriterien
3. Definitionen, Meinungen und Theorien: mit Hilfe jener Kriterien gewonnene
Auslegungshypothesen
III. Die Gestaltung des Gutachtens: Gutachten- und Urteilsstil – Darstellung
von Auslegungsproblemen in der Fallösung
Von den meisten Prüfern (und erst recht von den Korrekturassistenten) wird großer Wert darauf
gelegt, daß die Verfasser von Fallösungen den sogenannten Gutachtenstil pflegen und den
sogenannten Urteilsstil vermeiden. Den Unterschied kann man sich am besten anhand eines
Falles klarmachen, dessen Lösung in einem Punkt begründungsbedürftig ist.
Fall 3: Die Geschwister B und S haben zu gleichen Teilen ihre Mutter beerbt. Zur Erbmasse
gehören Schmuckstücke, die die S in ihrer Wohnung verwahrt. Ihr Bruder B besucht S
und nimmt heimlich einen von mehreren Ringen an sich in der Erwartung, daß S der
Schwund nicht auffallen werde.
Hier muß man fragen, ob sich B wegen Diebstahls strafbar gemacht hat. Im Gutachtenstil
entwickelt, würde die Prüfung des Merkmals „fremd“ so zu formulieren sein:
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„Möglicherweise hat B einen Diebstahl begangen. Es fragt sich, ob der Ring für B eine
‘fremde’ bewegliche Sache war. Fremd ist eine Sache dann, wenn sie im Eigentum eines
anderen steht; dafür genügt auch Miteigentum. S könnte gemäß §§ 1922, 2032 I BGB
durch den Erbfall Eigentum an dem Ring erlangt haben. S hat – zusammen mit B – ihre
Mutter beerbt, und der Ring gehörte zur Erbmasse. Also ist S Miteigentümerin
geworden. Folglich war der Ring für B eine ‘fremde’ Sache.“
Das gleiche würde man im Urteilsstil wie folgt ausdrücken:
„B hat einen Diebstahl begangen. Denn der Ring war für ihn eine fremde bewegliche
Sache. Fremd ist eine Sache nämlich dann, wenn sie im Eigentum eines anderen steht;
dafür genügt auch Miteigentum. Diese Voraussetzung ist erfüllt. Denn S hat gemäß
§§ 1922, 2032 I BGB Miteigentum erworben, weil sie – zusammen mit B – ihre Mutter
beerbt hat und der Ring zur Erbmasse gehörte.“
Der Unterschied liegt also in Folgendem: Wer den Fall im Gutachtenstil löst, beginnt mit einer
Frage, nennt die Voraussetzungen, unter denen sie bejaht oder verneint werden muß, prüft das
Vorliegen dieser Voraussetzungen und endet mit der Antwort auf die gestellte Frage. Ist die
Lösung im Urteilsstil abgefaßt, so beginnt sie umgekehrt mit dem Ergebnis. Die Überlegungen,
die dazu geführt haben, erscheinen in der Form von Begründungen, die alle mit einem „Denn“
oder „Weil“ beginnen könnten.
Man sollte im Studium und Examen die Forderung, im Gutachtenstil zu schreiben, beachten und
wichtig nehmen, obwohl man für seine Vorzugswürdigkeit schwerlich Sachgründe nennen kann.
Die Fallösung könnte im Urteilsstil genauso vollständig und stringent begründet werden. Daraus
erklären sich auch die zahlreichen Ausnahmen von der Regel. Sie sind viel häufiger erlaubt, ja
geboten, als manche Belehrung (etwa von AG-Leitern) den Anschein erweckt. Man darf vor
allem dann, wenn etwas evident oder nahezu evident ist, Feststellungen ohne Begründungen oder
mit ganz kurzen Begründungen im Urteilsstil treffen. So kann man im Fall 3 einfach sagen: „Der
Ring ist eine bewegliche Sache“ (begründungslose Feststellung). Eine Kurzbegründung im
Urteilsstil ist etwa angebracht, wenn für einen betrunkenen Radfahrer § 316 geprüft wird. Zum
Merkmal „Fahrzeug“ könnte man dann schreiben: „Das Fahrrad war ein ‘Fahrzeug’ im Sinne
dieser Vorschrift, denn sie beschränkt sich nicht auf Kraftfahrzeuge, läßt also Fahrräder
genügen.“
Der knappe „Feststellungsstil“ eignet sich manchmal sogar, einen ganzen Tatbestand mit einem
einzigen Satz zu erledigen. Wenn z. B. im Aufgabentext steht, daß A den B erschießt, dann
erfüllt A das Merkmal „Wer“, B das Merkmal „einen Menschen“ und das Erschießen die
Merkmale „tötet“ i. S. d. § 212 I und „selbst begeht“ i. S. d. 25 I Alt. 1. Dies alles ist evident und
sollte darum mit einem Satz festgestellt werden, etwa so: „A hat B gemäß §§ 212 I, 25 I Alt. 1
getötet.“
Heißt es dagegen, A habe den Hund des B erschossen, so ist umgekehrt evident, daß der Hund
das Merkmal „einen Menschen“ nicht erfüllt. Festgestellt wird dies stillschweigend, indem man
§ 212 gar nicht erst erwähnt. Andererseits ist offensichtlich, daß der Hund ein „Wirbeltier“
i. S. d. § 17 TierSchG ist. Dies sollte man darum wieder nur beiläufig erwähnen, etwa in einer
Apposition: „A hat B’s Hund, also ein Wirbeltier, getötet.“
Problematisch ist im letzten Fall dagegen die Frage, ob der Hund dem Begriff „Sache“ in § 303 I
unterfällt. Darum muß man, wie schon zum Fall 2 vorgetragen, seine Entscheidung im Wege
einer fallbezogenen Auslegung begründen. Es versteht sich, daß Ausführungen dieses Sinnes in
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einer Hausarbeit eingehender sein können und sollen als in einer Klausur. Auch dort heißt es
allerdings Scheinbegründungen vermeiden.
Fall 4:
Im Zimmer des Hotelgastes A funktioniert das Fernsehgerät nicht. Um ein
Tennismatch zu sehen, geht er ohne zu fragen in das Zimmer des Gastes B, das zufällig
unverschlossen ist. B stellt Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs.
Die Frage ist hier, ob A in die „Wohnung“ des B eingedrungen ist und sich dadurch nach § 123 I
strafbar gemacht hat. Im Rahmen einer Hausarbeit fanden sich dazu Ausführungen wie diese:
„Es müßte sich bei dem Hotelzimmer um eine Wohnung handeln. Wohnung ist der
Inbegriff von Räumlichkeiten, deren Hauptzweck darin besteht, Menschen zur ständigen
Benutzung zu dienen, ohne daß sie in erster Linie Arbeitsräume sind. Der Aufenthalt
braucht nicht auf längere Dauer berechnet zu sein. Also fällt auch ein Hotelzimmer
unter den Begriff der Wohnung i. S. des § 123.“
Die Schwäche dieser Deduktion liegt darin, daß lediglich Behauptungen aufgestellt werden, so
daß ihr die Überzeugungskraft fehlt. Die Sache wird auch kaum besser dadurch, daß man solche
Behauptungen mit Kommentarstellen als „allgemeine Meinung“ oder „herrschende Ansicht“
belegt. Denn der Leser spürt, daß die gebotene „Definition“ viel zu verschwommen ist, als daß
man guten Gewissens aus ihr ableiten könnte, ein Hotelzimmer sei eine „Wohnung“; ihr zufolge
wären ja auch Sporthallen, Kinosäle und Büchereien „Wohnungen“. – Eine an den
Auslegungskriterien orientierte Erörterung könnte dagegen etwa so lauten:
„Das Hotelzimmer könnte eine Wohnung des B sein. Daß Hotelgäste in ihren Zimmern
‘wohnen’, sagt man ohne weiteres. Andererseits ist ein bewohntes Hotelzimmer kein
typischer Fall dessen, was man alltagssprachlich als ‘Wohnung’ bezeichnet. Der
Wortsinn schafft also noch keine Klarheit. Diese gewinnt man erst durch einen
Vergleich mit dem eindeutigen Fall einer ‘Wohnung’ i. S. des § 123 I. Was für sie die
Strafdrohung rechtfertigt, ist das Interesse an der Respektierung der häuslichen
Privatsphäre. Ein ganz ähnliches Interesse hat aber B hinsichtlich seines Hotelzimmers.
Hier wie dort will er sich in einen abgeschirmten Bereich zurückziehen und sich darin
entspannen können. Freilich gibt es auch Unterschiede. Das Hotelzimmer ist von
vornherein weniger abgeschirmt; so darf das Hotelpersonal das Zimmer ja grundsätzlich
bei Abwesenheit des B betreten. Jedoch geschieht das dann mit B’s Einverständnis und
schmälert deshalb nicht sein Interesse, daß niemand ohne seinen Willen das Zimmer
betritt. Weiter ließe sich vorbringen, daß für B das Hotelzimmer, anders als seine
eigentliche Wohnung, nur vorübergehend der räumliche Mittelpunkt seines Privatlebens
ist. Aber auch das ist kein Grund für eine Ungleichbehandlung. Bei der typischen
Wohnung differenziert man ebensowenig danach, wie lange ihr Inhaber darin wohnen
wird; und das zu Recht, denn auch bei nur kurzen Aufenthalten besteht ein Interesse an
der Respektierung der Privatsphäre. Das Hotelzimmer ist demnach eine Wohnung i. S.
des § 123 I.“
Als Klausurlösung kann das natürlich nicht vorbildlich sein. Bei ihr muß man sich mit einer
kürzeren Begründung der folgenden Art begnügen:
„Das Hotelzimmer könnte eine Wohnung des B sein. Einerseits nennt man ein einzelnes
Zimmer kaum schon ‘Wohnung’, andererseits sagt man aber immerhin, daß der
Hotelgast darin ‘wohnt’. Der Wortlaut ist also offen. Ein Hotelzimmer hat während der
Dauer des Aufenthaltes für den Gast dieselbe Funktion wie seine heimische Wohnung:
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Das Zimmer bietet ihm einen Ort der Abgeschiedenheit, den er abschließen kann. Es
sind keine Sachgründe ersichtlich, weshalb man sein Interesse an der Respektierung
dieser Privatsphäre nicht ebenso schützen sollte wie bei der heimischen Wohnung.“
Wenn sich Auslegungszweifel in Theorien und Meinungsstreitigkeiten ausdrücken, ist es
natürlich besonders wichtig, deren Sachargumente zu behandeln. Aber es gilt im Auge zu
behalten, daß solche Streite in der Fallösung etwas Sekundäres sind und eben nur im Rahmen der
Merkmalsauslegung Bedeutung gewinnen.
D. Die Analogie und das Analogieverbot der Art. 103 II GG, § 1
StGB
Fall 5: R hat einen Raub begangen. Seine Lebensgefährtin G bewahrt ihn vor einer Bestrafung,
indem sie ihm durch eine Falschaussage vor der Polizei absichtlich ein falsches Alibi
verschafft.
Fall 6: S macht ohne Wissen des E mit dessen Jolle einen einstündigen Segeltörn und bringt sie
dann wieder an ihren Anlegeplatz zurück.
E. Die Grenze zwischen Auslegung und Analogie
– Der mögliche allgemeinsprachliche Wortsinn als Grenze der Auslegung?
F.Ein jedes Mal auftauchendes Problem:
Merkmalsdefinitionen in der Fallösung?
Fall 7: O hat den Hund seines Nachbarn T tödlich vergiftet. T ist darüber so außer sich, daß er
O aufsucht und eine geladene Pistole offen auf ihn richtet. Mit den Worten „Jetzt soll es
Dir gehen wie meinem Troll!“ schießt er ihn tot. Mord, § 211?
In Betracht kommt hier allein das Merkmal „aus niedrigen Beweggründen“. Ist es zu bejahen?
Äußerst verbreitet ist die Belehrung, zur Beantwortung einer solchen Frage müsse man „zunächst
einmal das Merkmal definieren“. Will man die Forderung erfüllen, so könnte man sich hier
orientieren am Leitsatz des Urteils BGHSt 3, 132: „Niedrig ist ein Tötungsbeweggrund, der nach
allgemeiner sittlicher Wertung durch hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb
besonders verwerflich, ja verächtlich ist.“ Ist aber damit für die Lösung des Falles irgend etwas
gewonnen? Fällt einem die Antwort auf die Frage „niedrig oder nicht niedrig“ wenigstens
leichter, wenn man den Begriff durch seine Definition ersetzt?
Jedenfalls in der meist angenommenen Allgemeingültigkeit ist die Forderung, ein Merkmal zu
definieren, bevor man es im Hinblick auf den konkreten Fall auslegt oder ohne Umschweife
darunter subsumiert, unberechtigt. Oft nämlich ist die Definitionsformel nicht klarer als das
Merkmal selbst. Manchmal sogar wirkt sie verunklarend und irreführend (vgl. Fall 7: Muß der
Beweggrund nur „niedrig“, d.h. nicht „niedrigst“ sein, dann kann es nicht stimmen, daß er auf
„tiefster“ Stufe stehen muß). Man muß sich also fragen, ob die Definition, die man sich
eingeprägt hat oder die man ad hoc bildet, das Auslegungs- und Wertungsproblem nur vom
Ausgangsbegriff in andere Begriffe verschiebt oder ob sie wenigstens möglicherweise für den
Leser, als welchen man sich tunlichst eine juristisch unkundige Person vorstellen sollte, einen
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Erkenntnisgewinn bringt. Die Definition der körperlichen Mißhandlung (§ 223) als „üble und
unangemessene Behandlung“ verschiebt das Wertungsproblem, ob z.B. eine erzieherische
Ohrfeige von Mutters Hand „miß“lich ist, nur auf die Frage, ob sie „übel“ und „unangemessen“
ist; man tritt sozusagen auf der Stelle. Hingegen kann die anerkannte Definition bei Merkmalen
wie „Wegnahme“ (§ 242) oder „unecht“ (§ 267) Erkenntnis vermitteln.
Fall 8: A steckt mit Zueignungsabsicht eine wertvolle Sonnenbrille ein, die der Eigentümer E
im Wald verloren hat.
Fall 9: Vater V behauptet in einem Entschuldigungsschreiben für die Schule, daß sein Sohn S
krank sei. In Wahrheit ist S gesund und hilft seinem Vater im Betrieb.
Hier erleichtern die Definitionsformeln zu den Merkmalen „wegnimmt“ bzw. „unecht“ jedenfalls
dem Unkundigen die Erkenntnis, daß die unter Juristen anerkannte Deutung in casu zur
Verneinung der fraglichen Merkmale führt.
Die absolut richtige Belehrung, die aus diesen Überlegungen folgt, muß aber im Hinblick auf die
Prüfererwartung relativiert werden. Man sollte der – ein Versäumnis rügenden – Frage
„Definition des Merkmals?“, die man oft als Randbemerkung findet, auch dann vorbeugen, wenn
man sie im Gespräch mit dem Kritiker als unberechtigt zurückweisen könnte.
Im Folgenden zu diesem examenswichtigen methodischen Problem einige Hinweise, die für die
Qualität schriftlicher Arbeiten Bedeutung gewinnen können.
– Eine Definition ist nur dann verbindlich, d.h. mehr als ein von manchen oder vielen vertretener
Erklärungsvorschlag, wenn das Gesetz selbst sie liefert. So ergibt sich z.B. im Falle einer
Strafvereitelung, die ein Onkel seinem Neffen leistet, aus der Angehörigendefinition in § 11 I Nr.
1 zwingend , daß dem Onkel § 258 VI nicht zugute kommt.
– Definitionen im Kommentar sind selbst bei allgemeiner Anerkennung nicht bindend.
Fall 10: A, B und C klingeln um 1.30 Uhr bei dem erkrankten Kegelbruder K, um bei ihm weiter
zu zechen. K läßt sie mißmutig herein. Als er beim nächsten Kegelabend mit ihnen in
Streit gerät, stellt er Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs.
Die nahezu einhellige Definition des Merkmals „eindringt“ durch „Betreten gegen oder ohne den
Willen des Hausrechtsinhabers“ legt es hier nahe, wegen K’s mißmutigem Einverständnis schon
den Tatbestand des § 123 zu verneinen. Man sollte das unter Hinweis auf die Definition auch
tun, weil eine gleichbleibende Gesetzesanwendung wertvoll ist. Aber die Lösung ist nicht etwa
logisch zwingend. Denn die Definition ist nur ein Auslegungsvorschlag, den man annehmen oder
ablehnen kann. Man kann das Eindringen und damit den Tatbestand bejahen und K’s
Zustimmung erst als Rechtfertigungsgrund – ist das Eindringen auch „widerrechtlich“? – prüfen
(so LK-Schäfer, 10. Aufl., 1988, § 123 Rdnr. 24).
– Vielen Prüfern ist nicht klar, daß Definitionen, die das Auslegungsproblem nur verschieben, im
Grunde nutzlos sind und daß ihre Einsetzung bloß Wortemacherei ist und der jeweiligen
Wertung lediglich eine Scheinbegründung gibt. Sie haben aber sehr wohl ein Gespür, daß
Lösungen dieser Art schwach sind, und bewerten sie entsprechend. Darum empfiehlt es sich, in
der Lösung offenzulegen, daß die Definition die entscheidende Wertungsfrage nicht beantwortet,
sondern nur verschiebt.
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Fall 11: Dem S droht der wirtschaftliche Zusammenbruch. Um ihn abzuwenden, bringt er seinen
Hauptgläubiger G um in der Hoffnung, daß G’s Erben die Forderungen nicht kennen.
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Man könnte in einer Hausarbeit (bei Klausuren fehlt die Zeit) etwa sagen:
„’Habgier’ wird definiert als ungewöhnliche, ungesunde und sittlich anstößige
Steigerung des Erwerbssinns oder als ungezügeltes und rücksichtsloses Gewinnstreben
um jeden Preis oder auch kurz als verwerfliches Gewinnstreben. Das sind aber bloße
Umschreibungen des gesetzlichen Begriffes, welche die Beantwortung der
entscheidenden Wertungsfrage nicht im Mindesten erleichtern. Aufschlußreicher ist eine
systematische Auslegung in dem Sinne, daß man typische und anerkannte Fälle der
Habgier mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleicht. Solche klaren Fälle sind etwa der
des Raubmörders, der es auf die Brieftasche seines Opfers abgesehen hat, und der des
für Geld gedungenen Killers. Von solchen Fällen weicht der vorliegende darin ab, daß S
nur die Befreiung von Passiva verfolgt, daß er nur die Entziehung von
Vermögensbestandteilen verhindern will. Außerdem liegt ein Unterschied darin, daß S
um seiner wirtschaftlichen Existenz willen, also aus einer Notlage heraus, einen
Menschen tötet ...“
Damit ist das Wertungsproblem immerhin genauer beschrieben und eingegrenzt. Zu seiner
Lösung müßte man sich nun fragen, ob die dargelegten Unterschiede überhaupt Unrechts- oder
Schuldrelevanz haben – was u.E. zu bejahen ist – und ob sie so gewichtig sind, daß sie die
Rechtsfolge des § 211 unangemessen erscheinen lassen.
– Je vollständiger man der Gefahr vorbaut, daß das Fehlen von Definitionen gerügt wird, desto
mehr lauert das entgegengesetzte Unheil, daß der Prüfer Definitionen als unförderlich und
überflüssig moniert (z.B. bei der Subsumtion eines Schmuckstückes unter die Begriffe „Sache“
und „beweglich“). Zum Beleg ein reales Erlebnis aus der Prüferpraxis.
Fall 12: M will mit seiner Frau einkaufen und schließt von außen die Tür zum Zimmer seines
Schwiegervaters V ab, damit V im Haus keine Unordnung anrichtet.
Die Tat war im Rahmen einer Examensklausur u.a. an § 239 zu messen. Derselbe (!)
Erstgutachter hat in einer Arbeit die Definition zum Merkmal „einsperrt“ mit der Kritik
„überflüssig, weil evident“ versehen und in einer anderen rügend die Frage vermerkt:
„Definition“? Denn ihr Verfasser hatte das Merkmal als evident erfüllt bejaht, ohne die
„überflüssige“ Begriffserklärung hinzuschreiben.
Es ist unmöglich, eine Empfehlung zu formulieren, die garantiert vor beiden Kritiken schützt.
Am klügsten scheint uns noch der Rat, daß man mit Fingerspitzengefühl abwechselnd mal direkt
subsumiert und mal eine Definition vorschaltet.
Fall 13: A hat es auf B’s Portemonnaie abgesehen. Er schlägt mit beiden Fäusten so lange zu, bis
B zu Boden sinkt und sich nicht mehr wehrt, entreißt ihm die Geldbörse und läuft
davon.
An sich ist hier keine einzige Voraussetzung des § 249 zweifelhaft. Auch dem juristischen Laien
muß man nur die Vorschrift zu lesen geben, und er erkennt ohne Hilfe und Erklärung, daß A
wegen Raubes strafbar ist. Jede Begründung ist darum für den Leser langweilig und belästigend.
Aber die Merkmale nur aufzuzählen und als gegeben festzustellen, würde ich dennoch nicht
empfehlen. Vgl. Herzberg, JuS 1990, 728 ff. und 810 ff. (815): „Achte auf ein ausgewogenes
Verhältnis von nackten Subsumtionen und solchen, denen du eine Erklärung gibst, selbst wenn
sie keinem Zweifel unterliegen! Angewandt auf unser Beispiel: Wenn du ... ‘bewegliche Sache’
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ohne weiteres bejahen willst, dann erkläre dem Leser danach aber wenigstens die Fremdheit, und
wenn du Vorsatz und Absicht nur eben zu erwähnen vorhast, dann schaffe vorsorglich Ausgleich
bei der ‘Gewalt’ und der ‘Wegnahme’, indem du hier schulmäßige Ausführungen machst.“
– Oft hält man beim Lösen eines Falles eine Definition für ratsam, hat aber keine Fomulierung
im Kopf. Es ist dann höchst riskant, eine vollständige Definition ad hoc zu kreieren. Solche
Versuche scheitern fast immer, weil man vom Gemeinten ohnehin nur eine ungenaue
Vorstellung hat und schon gar nicht auf die Schnelle alle Grenzfälle bedenken kann, die man
noch einbeziehen oder schon aussondern will. Versuchen Sie nur einmal probehalber, Merkmale
wie „Betrieb“ (§ 14), „Verstrickung“ (§ 136), „Behörde“ (§ 156), „Geheimnis“ (§ 203), „Gewässer“ (§ 324) oder „Anlage“ (§ 325) zu definieren! Außerdem liegt es oft so, daß angesichts sehr
verschiedener Grenzziehungen und entsprechend verschiedener Definitionsvorschläge der von
Ihnen „erfundenen“ Definition von seiten des Prüfers die Ablehnung als „falsch“ oder
„fragwürdig“ droht. Wer sich, wie es viele tun, nach Wessels/Hettinger, BT 1, 22. Aufl. 1999,
Rdnr. 383 richtet, könnte z.B. für die „Gewalt“ folgende Definition fordern: „Gewalt ist der
körperlich wirkende Zwang durch die Entfaltung von Kraft oder durch eine physische
Einwirkung sonstiger Art, die als gegenwärtige Übelszufügung nach ihrer Zielrichtung, Intensität
und Wirkungsweise dazu bestimmt und geeignet ist, die Freiheit der Willensentschließung oder
Willensbetätigung eines anderen aufzuheben oder zu beeinträchtigen“. Abgesehen davon, daß
diese Definition angreifbar und m.E. falsch ist, erscheint es aussichtslos, sie und Dutzende
andere auswendig zu lernen.
Aus allen diesen Gründen ist es oft ratsam, sich mit einer sog. Teildefinition zu begnügen. Vgl.
Puppe, JA 1989, 345 ff. (398). Im Fall 13 könnte man etwa sagen: „Gewalt gegen eine Person
liegt jedenfalls dann vor, wenn der Täter mit körperlicher Kraftentfaltung jemanden zu Boden
streckt.“ Eine solche Definition abstrahiert zwar etwas vom konkreten Fall, erhebt aber gar nicht
erst den Anspruch, für alle Zweifelsfälle eine Aussage zu machen.
Auch eine negative Teilausgrenzung ist möglich und oft empfehlenswert.
Fall 14: Die Studentin S übernachtet notgedrungen in ihrem VW-Golf. Der Kommilitone K will
mit ihr anbändeln und setzt sich trotz ihrem Protest auf den Rücksitz.
Angesichts solcher Problemobjekte wie Hotelzimmer, Campingzelt, Wohnwagen ist es
gefährlich, eine abschließende Definition des Begriffes „Wohnung“ zu formulieren. Das ist aber
auch nicht nötig. Vielmehr reicht es aus zu sagen: „Was man unter dem Begriff ‘Wohnung’
versteht, ist im einzelnen zweifelhaft. Einigkeit besteht aber darin, daß ein Pkw, auch wenn er
zum Schlafen dient, dem Begriff nicht unterfällt.“
– Unabhängig vom begrenzten Wert, den die Definitionen bei schriftlichen Arbeiten haben,
empfiehlt es sich auf jeden Fall im Hinblick auf die mündliche Prüfung, sich zu besonders
wichtigen Vorschriften gängige Begriffsbestimmungen einzuprägen. Manche Prüfer lieben es
nämlich, darauf zielende Wissensfragen bei einer Fallerörterung einzustreuen.
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Drittes Kapitel: Der Allgemeine Teil des Strafrechts
A. Das vorsätzliche vollendete Handlungsdelikt und die allgemeinen
Deliktsvoraussetzungen
I. Der Tatbestand
1. Der objektive Tatbestand
a) Das Handlungsmerkmal (Beispiele: töten [eines Menschen], § 212; wegnehmen [einer
fremden beweglichen Sache], § 242; beschädigen [einer fremden Sache], § 303) unterteilt sich
in:
aa) Handlung
Fall 15: Frau F steht vor einer Vitrine ihres Gastgebers G. Als sie von dessen Bernhardiner B
angesprungen wird, stürzt sie unter der Last in die Vitrine. Sie verletzt sich und es gehen
Gläser des G zu Bruch.
Fall 16: M nimmt ihren Säugling jeden Abend zu sich ins Bett in der Hoffnung, ihn eines Nachts
zu ersticken, wenn sie sich im Schlaf herumwälzt. So kommt es tatsächlich.
bb) tatbestandlicher Erfolg
Fall 17: A poltert erbost durch die Terassentür in das Haus seines Nachbarn B, beschimpft ihn
als „Drecksau“, gibt ihm eine Ohrfeige und zertrümmert eine Blumenvase.
Ausführlich zur Unterscheidung zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten: Viele Delikte setzen
einen Erfolg voraus, der als äußeres Faktum deutlich getrennt werden kann von der Handlung,
die ihn verursacht, und ebensogut durch ein Naturereignis ausgelöst werden kann; z. B. der Tod
eines Menschen (§ 212) oder eines Wirbeltieres (§ 17 TierSchG), der Brand eines Gebäudes
(§ 306), eine Überschwemmung (§ 313). Diese Delikte nennt man Erfolgsdelikte. Bei ihnen ist es
üblich und zweckmäßig, zwischen dem Erfolg und der ihn pflichtwidrig verursachenden
Handlung zu trennen.
Bei anderen Delikten ist der tatbestandliche Erfolg regelmäßig oder häufig mit der Handlung so
eng verbunden, daß sich die getrennte Prüfung nicht lohnt. So liegt der tatbestandliche Erfolg des
§ 173 schon in der Vollziehung des Beischlafs, fällt also in eins mit der tatbestandlichen
Handlung. Wegen dieser Eigentümlichkeit wird § 173 als Tätigkeitsdelikt bezeichnet.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß auch bei den Delikten, die gemeinhin zu den
Tätigkeitsdelikten gerechnet werden, Handlung und Erfolg getrennt sein können. Das gilt selbst
für § 153, der bei vielen das Paradebeispiel eines Tätigkeitsdeliktes bildet.
Fall 18: In der Hauptverhandlung behauptet Zeuge Z zu Unrecht, der Angeklagte sei zur Tatzeit
bei ihm zu Besuch gewesen. Richter R zweifelt die Aussage an und fragt mehrmals
nach. Z beharrt auf seiner falschen Bekundung. R meint, Z solle „die Sache noch mal
überschlafen“. Er kündigt an, die Vernehmung des Z am nächsten Morgen fortzusetzen,
und schließt die Sitzung.
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Es ist allgemein anerkannt, daß das Delikt des § 153 erst mit Abschluß der Vernehmung
vollendet ist (BGHSt 8, 301, 314). Obwohl Z vor Gericht die Unwahrheit bekundet hat, ist der
Tatbestand noch nicht verwirklicht. Man kann hier also gerade nicht sagen, „daß der bloße
Vollzug eines bestimmt gearteten Aktes als solcher bereits den Tatbestand erfüllt“ (Stratenwerth,
AT4, 8/8, 100).
Eine andere Straftat, die als Tätigkeitsdelikt angeführt wird, ist der Hausfriedensbruch, § 123
(Roxin, AT 16, 10/54, 103; Röhl, Allg. Rechtslehre2, 2001, 464). Daran ist richtig, daß dieses
Vergehen normalerweise so verübt wird, daß Handlung und Erfolg in eins fallen, z. B. wenn ein
Zeitschriftenwerber den Protest der Hausfrau mißachtet und sich durch die Etagentür drängt. Die
h. L. nimmt aber an, daß man das Delikt auch „durch einen anderen“ (§ 25 I Alt. 1), also in
mittelbarer Täterschaft, begehen kann (z.B. Schönke/Schröder-Lenckner26, § 123 Rdnr. 35).
Damit aber erfaßt sie auch Fälle, in denen die Handlung des Täters und der Erfolg
auseinanderfallen.
Fall 19: Die Nachbarn A und B sind zerstritten. Trotzdem gestattet A seiner dreizehnjährigen
Tochter T, über den Zaun zu klettern und B’s Swimmingpool zu benutzen.
Hier ist die Handlung des A, womit er den Hausfriedensbruch als mittelbarer Täter begeht, das
Aussprechen der Erlaubnis gegenüber T. Der Erfolg tritt davon gelöst ein, nämlich als T das
Grundstück des B betritt. Der Erfolg (der „Eindrang“ der T) ist also von A’s Handlung (der
Gestattung) genauso abtrennbar wie etwa die Todesfolge von der Handlung des Schießens.
Auch bei den sog. Tätigkeitsdelikten ist also die Abspaltung eines Erfolges immer möglich –
zumindest gedanklich, meist sogar zeitlich. Außerdem hat die These, daß die Tätigkeitsdelikte
keinen Erfolg voraussetzen, zur Konsequenz, daß man bei ihnen auf die Voraussetzung der „objektiven Zurechnung“ (also: der Pflichtwidrigkeit im Hinblick auf den eingetretenen Erfolg)
verzichten muß. Denn hier würde das Gesetz dann ja gerade keinen Erfolg fordern, so daß die
Frage der Zurechnung des Erfolges gegenstandslos wäre. Im Fall 19 müßte man also dem A das
Überklettern des Zaunes durch T auch dann anlasten, wenn er im Hinblick darauf nicht
pflichtwidrig gehandelt hätte, etwa wenn ihm der Sohn des B glaubhaft dessen Einverständnis
vorgetäuscht hätte. Das widerspräche aber der bei den anerkannten Erfolgsdelikten geltenden
Regel, daß dem Täter nur das angelastet werden darf, was er pflichtwidrig verursacht hat.
Die verbreitete Unterscheidung zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten wirkt also nicht
erhellend und verdeckt strukturelle Gemeinsamkeiten. Man sollte sie aufgeben. Eine andere,
pragmatische Frage ist, ob es sich lohnt, einen deliktsspezifischen Erfolg isoliert vorab zu
bejahen, oder ob man besser daran tut, ihn zusammen mit der Handlung festzustellen. Insoweit
kann man allerdings als Faustregel gelten lassen, den Erfolg bei den sog. Erfolgsdelikten vorab
festzustellen und es bei den sog. Tätigkeitsdelikten nicht zu tun. Daß es sich nur um eine
Faustregel handelt, zeigt Fall 19, wo die Handlung des A und der Erfolg getrennt sind, und Fall
18, wo man sogar trotz vollzogener Tätigkeit des Z das Ausbleiben des Erfolges feststellen muß.
cc) Kausalität
Fall 20: A will B totschießen, verletzt ihm aber nur durch einen Streifschuss den Arm, so dass B
zur Behandlung ins Krankenhaus muss, wo er bei einer Brandkatastrophe umkommt.
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Fall 21: Der Trunkenbold M tyrannisiert auf das Brutalste seine Frau F und die erwachsene
Tochter T. F und T spielen seit langem mit dem Gedanken, M zu vergiften, und haben,
wenngleich noch unschlüssig, „für alle Fälle“ Gift besorgt. Eines Tages versetzt T, ohne
Absprache mit F, Ms Schnaps mit dem Gift. Wenig später will F dasselbe tun, erkennt
aber an der geringfügigen Verfärbung und Geruchsveränderung, dass T schon gehandelt
hat, und fügt deshalb kein weiteres Gift hinzu. M trinkt vom Schnaps und stirbt an dem
Gift. Wegen Mordes angeklagt, verteidigt sich T, sie habe jedenfalls keinen vollendeten
Mord begangen, weil M auch dann, ganz genauso und im selben Zeitpunkt gestorben
wäre, wenn sie die Tat nicht begangen hätte.
Fall 22: Der Albaner A will illegal nach Deutschland und schwimmt nachts durch die Oder.
Einige Skinheads beobachten das zufällig. Als A einen Krampf erleidet und um Hilfe
ruft, will R, ein leidlicher Schwimmer, A helfen, wird aber von S solange festgehalten,
bis A untergeht.
dd) objektive Zurechnung (Voraussetzungen: 1. Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr =
Überschreitung des erlaubten Risikos = Pflichtwidrigkeit. – 2. Verwirklichung dieses Risikos im
Erfolg)
Dazu siehe Fall 21.
Fall 23: I ist HIV-positiv. Trotzdem verkehrt er mit seinem Partner P und steckt ihn dadurch an.
a) I hat P nicht aufgeklärt, aber ein Kondom benutzt.
b) I hat P aufgeklärt, aber ungeschützt mit ihm verkehrt.
c) I hat P nicht aufgeklärt und ungeschützt mit ihm verkehrt.
Zehn Jahre später stirbt P an den Folgen der Infektion. (Vgl. BGHSt 36, 1 ff.)
b) Andere Merkmale des objektiven Tatbestandes, insbesondere die objektiv-subjektiven Mischmerkmale (Beispiele für rein objektive Merkmale: ausdrückliches und ernstliches Verlangen,
§ 216; Amtsträger, § 340. Beispiele für objektiv-subjektive Merkmale: grausam, § 211; Gewalt,
§ 240; zueignen, § 246; dem Wilde nachstellen, § 292).
2.
Der subjektive Tatbestand
a) Der kongruente (zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes passende) Vorsatz
aa) Die bei Begehung der Tat vorhandene Kenntnis der Umstände, die zum gesetzlichen Tatbe stand gehören (Umkehrschluß aus § 16 Abs. 1 S. 1)
(1)Die sachliche Kongruenz von Vorsatz und Tat
(a)Die Kenntnis tatsächlicher Umstände
– Der Irrtum über außertatbestandliche Eigenschaften des Tatobjekts (error in obiecto)
Fall 24: Der gehörnte Ehemann erschießt den Begleiter seiner Frau in dem Glauben, ihren
Liebhaber vor sich zu haben. Tatsächlich ist es nur ein Arbeitskollege.
– Das Fehlgehen der Tat (aberratio ictus) und der abweichende Kausalverlauf
Fall 25: Attentäter A zielt auf den Präsidenten P, tötet aber den Leibwächter L, der sich
dazwischen wirft.
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Der – zunächst nur phänomenologische – Unterschied der Konstellation von Fall 25 zu der des
error in obiecto (Fall 24) liegt darin, daß A das anvisierte Objekt – den Präsidenten P – nicht
trifft; er trifft vielmehr ein anderes Objekt, den Leibwächter L.
Ganz überwiegend würde man A wegen versuchten Totschlags an P in Tateinheit mit fahrlässiger
Tötung des L bestrafen. Diese Lösung überzeugt: Vorsätzlich handelt nur, wer alle Umstände
kennt, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören (§ 16 I 1). Bei § 212 I sind das alle tatsächlichen
Umstände, die nötig sind, um die gesetzlichen Merkmale „Wer einen Menschen tötet“ zu
erfüllen. Das Handlungsmerkmal „tötet“ läßt sich aufgliedern in die Untermerkmale Handlung,
Erfolg, Kausalität und objektive Zurechnung. Zur objektiven Zurechnung wiederum gehören die
Merkmale „rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung“ und „Risikoverwirklichung“. Im Tod des L ist
die Gefahr zum Schaden geworden, daß L sich in die Schußlinie werfen würde. Dieses Risiko hat
A objektiv geschaffen, als er schoß. Aber diesen Umstand hat er sich subjektiv nicht vorgestellt.
Er kannte also einen Umstand nicht, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, nämlich den, für L
eine Gefahr zu schaffen. Deshalb hat er L unvorsätzlich getötet. – Hätte A sich hingegen
vorgestellt, vielleicht gerate L in die Schußlinie und werde tödlich getroffen, dann hätte er den
Umstand der Gefahrschaffung gekannt und also Vorsatz gehabt. Er wäre dann wegen Totschlags
an L in Tateinheit mit versuchter Tötung des P zu bestrafen (h.M.; z.B. Schönke/SchröderCramer/Sternberg-Lieben26, § 15 Rdnr. 90 f.; ausführlich Wessels/Beulke, AT, 30. Aufl. 2000,
Rdnr. 251).
Bedenken Sie bei der Lösung einschlägiger Fälle, daß Sachverhalte der aberratio ictus mitunter
schon im objektiven Tatbestand Probleme bereiten!
Fall 26:
T schickt an den alleinwohnenden X eine Briefbombe, die beim Öffnen des Briefes explodieren soll. X legt den Brief gegen seine Gewohnheiten auf den Schreibtisch, ohne
ihn zu öffnen, und geht abends in die Disco. Tief in der Nacht bricht Y bei X ein, sucht
nach Wertsachen, öffnet den Brief und wird von der explodierenden Bombe verletzt.
Hier ist nicht erst die subjektive, sondern schon die objektive Zurechnung fraglich. Denn in den
Verletzungen des Y realisierte sich eine bei Absendung der Bombe extrem geringe Gefahr. Mit
Blick auf den konkret eingetretenen Erfolg hat T also wohl keine rechtlich mißbilligte Gefahr
geschaffen.
Fall 27: A will den B „zusammenschlagen“. Dazu kommt es zwar nicht, weil B sich noch
rechtzeitig in seinen Wagen flüchtet. Aus Angst vor seinem Verfolger bekommt er aber
heftige Magenschmerzen (BGH, MDR 1975, 22).
Im Fall 27 irrt der Täter darüber, wie im einzelnen seine Handlung den Taterfolg verursacht. Man
trennt diese Fallgruppe üblicherweise streng von der aberratio ictus. Auch diese Trennung ist
zunächst rein phänomenologisch: Bei der aberratio ictus weicht der objektive Kausalverlauf vom
vorgestellten so stark ab, daß der Erfolg sogar am „falschen“ Objekt eintritt; als „Irrtum über den
Kausalverlauf“ behandelt man hingegen nur Fälle, in denen der Täter immerhin das anvisierte
Objekt trifft. Rechtlich kommt es in beiden Konstellationen auf dieselbe Frage an: Hat der Täter
den Umstand gekannt, daß er unerlaubt eine zum Schaden gewordene Gefahr geschaffen hat?
Dabei ist allerdings fraglich, wie konkret oder abstrakt diese Gefahr zu beschreiben ist. Darüber
sogleich!
Im Fall 27 ist zunächst zu erörtern, ob A den objektiven Tatbestand des § 223 verwirklicht hat.
Er hat bei B eine körperliche Mißhandlung verursacht. Aber A muß die zum Schaden gewordene
Gefahr auch pflichtwidrig geschaffen haben. Es kommt also darauf an, ob es objektiv
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„vorhersehbar“ ist, daß jemand, auf den man Faustschläge androhend zugeht, vor Angst heftige
Magenschmerzen bekommt. Verneint man das (z. B. wegen extremer Unwahrscheinlichkeit), so
hat T schon objektiv keine Körperverletzung begangen. – Beachten Sie also auch bei Fällen, die
sie mit dem Stichwort „Irrtum über den Kausalverlauf“ belegt finden, daß schon der objektive
Tatbestand unerfüllt sein kann! Das ist hier sogar häufiger als bei der behandelten aberratio ictus.
Bejaht man hingegen im Fall 27, daß A hinsichtlich der Magenschmerzen eine rechtlich
mißbilligte Gefahr für B geschaffen hat (was m.E. näher liegt), dann ist der objektive Tatbestand
gegeben. Aber der Vorsatz ist zu verneinen: Zu den Umständen des objektiven Tatbestandes
gehört auch der Umstand, daß der Täter unerlaubt eine zum Schaden gewordene Gefahr
geschaffen hat. Fraglich ist, wie diese Gefahr zu beschreiben ist: abstrakt als Gefahr einer
Körperverletzung oder konkret als Gefahr von Magenschmerzen. Die Lösung ergibt sich aus der
Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge: Die Erfüllung der abstrakten Tatbestandsmerkmale
zieht dem Richter nur den Strafrahmen. Um das konkrete Strafmaß festsetzen zu können, muß er
das Unrecht, also die Tatbestandsmerkmale und damit im Fall 27 auch das Erfolgsmerkmal,
konkretisieren, und zwar so weit, wie es für die Strafzumessung erforderlich ist. Weil es für diese
auf Art und Intensität der Körperverletzung ankommt, muß die Gefahr hier konkretisiert werden
als die Gefahr der Magenschmerzen (ausführlicher dazu Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung,
1996, S. 122 ff., v.a. 129 f.). Weil A diese Gefahr nicht kannte (sondern nur die von
Faustschlägen), ist der Vorsatz zu verneinen (vgl. zum konkreten Fall auch Jakobs, AT, 2. Aufl.
1991, 8/69, der ebenfalls – entgegen dem BGH – den Vorsatz verneint).
Die Rechtsprechung und viele in der Literatur sagen zu Konstellationen wie in Fall 27, der
Vorsatz müsse „den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Umrissen“ umfassen, und fügen hinzu,
Abweichungen zwischen dem vorgestellten und dem tatsächlichen Kausalverlauf seien dann
unwesentlich, wenn sie sich erstens „noch in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung
Voraussehbaren halten“ und zweitens „keine andere rechtliche Bewertung der Tat rechtfertigen“
(Näheres bei Wessels/Beulke, 30. Aufl. 2000, Rdnr. 258). Die „Vorhersehbarkeit“ ist jedoch ein
Maßstab, der in Wahrheit schon für die objektive Zurechnung gilt. Sie muß also hier, wo sich nur
noch die Frage nach dem kongruenten Vorsatz stellt, bereits bejaht sein und kann keine Rolle
mehr spielen. Die zweite Voraussetzung ist ein leerer Begriff, weil sie keine Kriterien benennt.
Darum sind die Wertungen, die man an dieser Stelle findet, auch stets unsicher und
verschwommen. Wir empfehlen, eine „andere rechtliche Bewertung der Tat“ (herrschende
Formel) immer dann für angebracht zu erklären, wenn der Täter – wie im Fall 27 – die Gefahr
nicht gekannt hat, die sich im nach Art und Intensität konkretisierten Erfolg verwirklicht hat
(Schlehofer, aaO., S. 129 f.). So läßt sich die vage Frage nach der „anderen rechtlichen
Bewertung der Tat“ etwas präziser fassen; außerdem bringt man so beide Lösungsansätze zur
Sprache und zur Übereinstimmung.
– Die Kumulation von Abweichungen
Fall 28: M geht mit ihrem 4jährigen Sohn S zum Sommerfest des Kindergartens, obwohl sie bei
S am Morgen die ersten Symptome der Windpocken entdeckt hat. Sie hält mit Recht für
wahrscheinlich, daß S andere Kinder anstecken wird, meint aber, daß die Krankheit für
Kinder nicht weiter schlimm sei. Tatsächlich überträgt S während des Festes die Viren
auf drei andere Kinder und außerdem, woran M überhaupt nicht gedacht hat, auf die
Erzieherin E. Später erkranken die angesteckten Kinder an Windpocken. Bei E führt die
Infizierung, wie häufig bei Erwachsenen, zu einer Gürtelrose, die viel schmerzhafter
und langwieriger ist als Windpocken im Kindesalter.
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(b) Die Kenntnis normativer Umstände (ausführlich und aktuell dazu Herzberg/Hardtung, Grundfälle zur Abgrenzung von Tatumstandsirrtum und Verbotsirrtum, JuS 1999, 1073 ff.)
Fall 29: Nachdem beim Patienten P der Herztod eingetreten ist, schaltet die Krankenschwester S
die Herz-Lungen-Maschine ab, weil sie P auch für hirntot hält..
Fall 30: A wirft die ihm und seiner Frau gehörenden Sektgläser an die Wand, wähnend, sie seien
für ihn nicht fremd.
(2) Die zeitliche Kongruenz von Vorsatz und Tat (Die Kenntnis „bei Begehung der Tat“, § 16
Abs. 1 S. 1)
Fall 31: Der Dieb D bietet dem Antiquitätenhändler A eines seiner Beutestücke an. A hat zwar
das Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben, schöpft aber keinen Verdacht und kauft.
Zwei Tage später fällt ihm ein, woher er es kannte: aus der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“, wo über den Diebstahl berichtet worden war.
Fall 32: E mischt ihrem tyrannischen Ehemann M am Mittag ein tödliches Gift in die Suppe, die
er sich am Abend aufwärmen soll. Danach besucht E ihre Freundin F.
a) E hat um die tödliche Wirkung gewußt. Als sie Skrupel bekommt, redet ihr F ein, daß
es nur ein harmloses Brechmittel sei.
b) E hat das Gift für ein harmloses Brechmittel gehalten. Als F sie aufklärt, ist ihr M’s
Tod auch recht.
Am Abend ißt M von der Suppe und stirbt.
bb) Das Wollen der Tatbestandsverwirklichung als Vorsatzelement?
(1)bei der Absicht
Fall 33: Um die Bestrafung des Terroristen B zu verhindern, verhilft ihm A mit falschen
Papieren zur Flucht nach Libyen.
(2) bei der Wissentlichkeit
Fall 34: S, fanatisches Mitglied einer Sekte, glaubt in ihrem Führer F den Mensch gewordenen
Erlöser zu erkennen. Um der ungläubigen Welt die Augen zu öffnen, faßt er folgenden
Plan: Während einer öffentlichen Predigt will er aus nächster Nähe auf den Kopf des F
schießen. Er weiß, daß F dadurch nach menschlichem Ermessen mit aller
Wahrscheinlichkeit zu Tode kommen würde. Sein Glaube sagt ihm aber, daß der
Allmächtige seine schützende Hand über F halten und die Kugel an dessen Kopf
abprallen lassen werde. Dann sei der Beweis für F’s Mission erbracht. Tatsächlich führt
der Kopfschuß jedoch zum sofortigen Tod des F.
(3) beim bedingten Vorsatz
Fall 35: K und J hatten beschlossen, ihren gemeinsamen Bekannten M zu berauben. Zu diesem
Zweck wollten sie M mit einem ledernen Hosenriemen würgen. Ihnen war klar, daß M
dadurch ums Leben kommen könnte. Dennoch führten sie den Plan aus. Durch die
Drosselung erstickte M. (BGHSt 7, 363).
Fall 36: Siehe Fall 23 c.
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Fall 37: Um eine verpaßte Ausfahrt zu erreichen, benutzt G die Autobahn bewußt entgegen der
vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Es kommt dadurch zu einem Unfall, der drei anderen
Menschen das Leben kostet.
Fall 38:
Der Sadist S fordert Frau F auf, seinen Revolver, in dessen Trommel eine einzige
Kugel steckt, an den Kopf ihres schlafenden Mannes zu halten und abzudrücken. Als
Belohnung für ihren Mut verspricht er ihr 10.000 €. F erfasst das Tötungsrisiko
zutreffend mit knapp 17 %. Um des Geldes willen riskiert sie die Tat. Das
Unwahrscheinlichere tritt ein, M stirbt.
Fall 39: E hetzt seinen Hund auf die Katze des Nachbarn, damit sie auf einen Baum fliehe und
dabei tödlich abstürze. E’s Wunsch erfüllt sich.
cc) Fortsetzung: Zur Problematik des Wollens als weiterer Vorsatzvoraussetzung und zur
Prüfung des Vorsatzes im Fallgutachten
(1)Oft kommt es nicht darauf an, ob der Vorsatz neben der Kenntnis ein „Wollen“ voraussetzt.
Denn in vielen Fällen ist im Sachverhalt eine Einstellung des Täters vorgegeben, die allen
Ansichten als „voluntatives Element“ genügt. So z. B. dann, wenn der Täter Vorsatz in der Form
der „Absicht“ („dolus directus 1. Grades“) hat.
Fall 40: Der Jugendliche J hat sich über seinen Klassenlehrer K geärgert und wirft von der
Straße aus einen Stein in Richtung der Wohnzimmerfensterscheibe des K, um sie zu
zertrümmern. Er beurteilt es als unwahrscheinlich, daß der Stein trifft. Zu seiner Freude
erreicht und zerstört er aber die Scheibe.
J hat den objektiven Tatbestand des § 303 erfüllt. Die Vorsatzprüfung könnte man etwa so
formulieren: J müßte vorsätzlich gehandelt haben (§ 15). Wie aus der Umkehrung des § 16 I 1
folgt, ist für den Vorsatz zumindest erforderlich, daß der Täter bei Begehung der Tat alle
Umstände kennt, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. J kannte sie alle, denn er sah ja die
Möglichkeit, daß sein Wurf die fremde Scheibe zerstören werde. Ob der Vorsatz über die
Kenntnis der Tatbestandsverwirklichung hinaus auch deren „Wollen“ verlangt, kann hier
dahinstehen, weil J die Tatbestandsverwirklichung beabsichtigt, sie also im denkbar stärksten
Sinne gewollt hat.
Aber auch wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung nicht wünscht, kann der Fall so liegen,
daß sich die Problematisierung des „voluntativen Elementes“ verbietet. Gemeint sind die Fälle,
wo der Täter Vorsatz in Form der sog. „Wissentlichkeit“ hat.
Fall 41: Mutter M legt ihr Neugeborenes nachts in den Wald. Sie hätte lieber, wenn jemand es
dort fände, ist aber überzeugt, daß dies nicht geschehen und das Kind sterben werde. So
kommt es auch.
Es ist üblich, den Vorsatz der M als „Wissentlichkeit“ oder „dolus directus 2. Grades“ zu
bezeichnen. Ähnlich wie zu Fall 40 ließe sich an der fraglichen Stelle der Vorsatz so begründen:
Ob der Vorsatz über die Kenntnis der Tatbestandsverwirklichung hinaus auch deren „Wollen“
verlangt, kann hier dahinstehen. Denn die es verlangen, sehen es immer gegeben, wenn
„Wissentlichkeit“ vorliegt.
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Beachten Sie, daß ein Fall der Wissentlichkeit auch angenommen wird, wenn der Täter etwas
beabsichtigt, wovon er weiß, daß es – gegebenenfalls – mit Sicherheit die
Tatbestandsverwirklichung zur Folge hätte!
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Fall 42: Attentäter A will den Politiker P töten und montiert einen Sprengkörper in dessen
Privatjet. Er fürchtet die Entdeckung vor dem Start, ist aber überzeugt, daß, wenn es zur
Explosion kommt, sowohl P wie dessen Frau F, die mitfliegen wird, sterben müssen.
Dies tut ihm für F leid.
Hier liegt hinsichtlich der Tötung des P Vorsatz in der Form von Absicht vor. Bezüglich der F
wird allgemein Wissentlichkeit angenommen, obwohl A auch ihren Tod nicht als sicher
voraussah. Aber man läßt genügen, daß er die Explosion beabsichtigte und für den Fall ihres
Eintritts sicher war, daß F sterben würde.
(2)Dringend abzuraten ist von einem Verfahren, das dogmatische Formeln und Kürzel zum
Ausgangspunkt macht und das Gesetz in den Hintergrund drängt. So geht vor, wer Lehrbüchern
eine Vorsatzdefinition entnimmt, etwa „Vorsatz ist Wissen und Wollen der zum gesetzlichen
Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale“ (Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, S. 293),
und sie als ein Dogma hinstellt, wonach man sich zu richten hat. Prüfer mit Durchblick würden
das rügen, etwa mit der Randbemerkung: „Fragwürdig und umstritten; daß zum Vorsatz auch ein
‘Wollen’ gehört, wird von vielen verneint.“ Außerdem gerät man zumindest bei solchen Fällen in
Schwierigkeiten und in die Gefahr des Selbstwiderspruches, wo das „Wollen“ problematisch ist
und die Verneinung sich aufdrängt, aber viele den Vorsatz dennoch bejahen würden, weil dies in
der Sache geboten erscheint. So liegt es etwa im
Fall 43: (= Fall 38), wenn F ganz fest auf ihr Glück „vertraut“, die Todesgefahr „nicht ernstnimmt“ und einen schlimmen Ausgang ganz entschieden „mißbilligt“.
F kannte den Umstand, daß ihr Abdrücken die unerlaubt große Gefahr des Todes eines Menschen
schuf. Damit wollen sich aber die meisten zur Feststellung des Tötungsvorsatzes nicht begnügen.
Zum „kognitiven“ müsse eben das „voluntative Element“ kommen. Wann es gegeben ist,
versucht man durch verschiedene Formeln und Begriffe auszudrücken. In Kommentaren,
Lehrbüchern und Hausarbeiten ordnen die Autoren solchen Formeln und Begriffen
entsprechende „Theorien“ zu. Das bedeutet m.E. eine Überschätzung ihrer Aussagekraft und
Unterscheidbarkeit. In Examensarbeiten wirken die einschlägigen, oft sehr langen Passagen
selten vorteilhaft. Bei den meisten hängt das u.a. mit dem irrigen Glauben zusammen, man könne
jeder Theorie für den konkreten Fall ein bestimmtes Ergebnis schlüssig abgewinnen. In Wahrheit
wollen die Verfechter der jeweiligen Formel sich aber keineswegs „festnageln“ lassen. So ist Fall
43 ersichtlich mit Angaben versehen, die es ganz nahe legen, in Anwendung der zum
„voluntativen Element“ angebotenen Kriterien den Vorsatz zu verneinen. Denn der Sachverhalt
gibt ja vor, daß F den Tod gerade nicht „billigend in Kauf nimmt“, daß ihr der Tod nicht
„gleichgültig“ ist, daß sie die Todesgefahr nicht „ernstnimmt“, daß sie vielmehr auf einen
schadlosen Ausgang „fest vertraut“. Dennoch darf man vermuten, daß die meisten, die mit
solchen Formeln arbeiten, eher geneigt wären, den Tötungsvorsatz der F zu bejahen. Sie würden
an der für maßgeblich erklärten Formel zwar festhalten, sie aber so verstehen, daß sie mit den
Sachverhaltsangaben vereinbar wäre: „Im Rechtssinne“ habe F die Todesfolge sehr wohl
„gebilligt“ (vgl. Fall 35 und BGHSt 7, 363, 369, Lederriemenfall), ihre Gefahr „ernstgenommen“
und auf ihr Ausbleiben „nicht vertraut“. Bei dieser Sichtweise läuft es also, beispielhaft
gesprochen, darauf hinaus, daß der Täter regelmäßig dann, wenn er eine objektiv große und
darum ernstzunehmende Gefahr erkannt hat, sie auch subjektiv ernstgenommen hat. Solche
Manipulationen weisen nach meiner Überzeugung darauf hin, daß der richtige Ansatz zur Lösung
die Preisgabe des „Wollens“ als Vorsatzvoraussetzung ist. Dies ist der Ausgangspunkt der
Möglichkeits- und der Wahrscheinlichkeitstheorie, die allerdings eine fruchtbare Fortführung des
richtigen Ansatzes vermissen lassen. Ich sehe die Dinge – in geraffter Darstellung – wie folgt:
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Entscheidend ist allein, daß der Täter eine bestimmte Vorstellung hat. Welche voluntativ-emotionale Einstellung diese Vorstellung begleitet, kann dagegen für den Vorsatz keine Rolle spielen;
es wird erst bei der Strafzumessung wichtig. Genauer gesagt, kommt es darauf an, ob sich der
Täter eine nicht nur unerlaubte, sondern auch zugespitzte oder „unmittelbare“ (vgl. § 22!) Gefahr
vorgestellt hat. Wer darin ganz konsequent ist, wird diese nicht nur unerlaubte, sondern
zugespitzte Gefahr bereits im objektiven Tatbestand des vollendeten Vorsatzdeliktes fordern und
prüfen. Eine so angelegte Fallösung würde aber von den meisten Prüfern nicht verstanden und
fehlerhaft genannt werden. Daß erst im subjektiven Tatbestand die Würfel fallen, ob bedingter
Vorsatz oder bewußte Fahrlässigkeit vorliegt, gilt fast allen als gesichert und selbstverständlich.
Man sollte das als Prüfling in Rechnung stellen und sich auch beim vollendeten Vorsatzdelikt für
den objektiven Tatbestand mit der „objektiven Zurechnung“ (unerlaubte Schaffung einer Gefahr,
die sich im Erfolg realisiert) begnügen.
(3)Normalerweise begegnen einem die problematischen Fälle nicht mit Angaben, die über die
Vorstellung des Täters hinaus auch seine emotional-voluntative Einstellung schildern. Das
entspricht der Lebenswirklichkeit, weil auch der Richter einigermaßen zuverlässig allenfalls die
Vorstellung (Kenntnis) des Täters klären kann. Was die begleitende Einstellung anbetrifft, so
tappt er meistens im Dunklen und sieht sich auf „Indizien“ angewiesen. Was dabei herauskommt,
kann man etwa am Urteil BGHSt 36, 1, 10 zum Körperverletzungs- und Tötungsvorsatz bei
Sexualkontakten eines HIV-Infizierten studieren:
„Die Würdigung zum voluntativen Vorsatzelement muß sich mit ... (der) Persönlichkeit
des Täters auseinandersetzen und auch die zum Tatgeschehen bedeutsamen Umstände
mit in Betracht ziehen ... Geboten ist ... eine Gesamtschau aller objektiven und
subjektiven Tatumstände. Hierbei können je nach der Eigenart des Falles
unterschiedliche Wertungsgesichtspunkte im Vordergrund stehen. Aus dem Vorleben
des Täters sowie aus seinen Äußerungen vor, bei oder nach der Tat können sich
Hinweise auf seine Einstellung zu den geschützten Rechtsgütern ergeben. Für den
Nachweis bedingten Vorsatzes kann insbesondere an die vom Täter erkannte objektive
Größe und Nähe der Gefahr angeknüpft werden.“
Solche Aufforderung zur „Gesamtschau“ und zur Beachtung aller möglichen (unbegrenzt vieler)
„Wertungsgesichtspunkte“ bedeutet die totale Resignation vor der Aufgabe, die dem BGH und
der Rechtswissenschaft gestellt ist, nämlich das Kriterium zu finden, wonach sich einigermaßen
zuverlässig („rechtssicher“) entscheiden läßt, ob der Vorsatz vorliegt oder nicht vorliegt.
Für den folgenden Vorschlag einer Lösungsformulierung zu Fall 43 sei davon ausgegangen, daß
zur Einstellung der F nur gesagt ist: „Sie hofft beim Abdrücken inständig, daß es gutgehen
werde.“ Wir empfehlen, dann für die Lösung die Erkenntnis zu nutzen, daß auch die Verfechter
des voluntativen Elementes bei bewußter Schaffung einer derartig drastischen Todesgefahr,
ungeachtet entgegengesetzter Beteuerungen, das „Wollen“ in Wahrheit direkt aus dem „Wissen“
ableiten. Man könnte also seine Lösung wie folgt fassen:
F müßte vorsätzlich gehandelt haben (§ 15). Wie aus der Umkehrung des § 16 I 1 folgt,
ist für den Vorsatz zumindest erforderlich, daß der Täter bei Begehung der Tat alle
Umstände kennt, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. F hatte nicht das sichere
Wissen, daß sich eine Kugel lösen und M töten werde. Aber sie kannte die unerlaubte
Gefahr dieser Auswirkung. Fraglich ist, ob das für den Vorsatz genügt. Die Kenntnis
einer unerlaubten Gefahr der Tatbestandsverwirklichung hat auch, wer nur „bewußt
fahrlässig“ handelt. Für den Vorsatz ist also mehr erforderlich. Die zusätzliche
Voraussetzung
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könnte entweder die Vorstellung einer besonderen, nämlich zugespitzt-unmittelbaren
Gefahr sein oder ein „Wollen“ der Tatbestandsverwirklichung, verstanden etwa als
„Ernstnehmen“ oder „billigendes Inkaufnehmen“. Traditionell und immer noch
herrschend ist die Auffassung, die ein solches „Wollen“ fordert. Von diesem Standpunkt
aus liegt es nahe, den Vorsatz der F zu verneinen, weil sie inständig gehofft, vielleicht
sogar fest darauf vertraut hat, daß es gutgehen werde, und den Tod, jedenfalls im
üblichen Sprachsinne, keineswegs „gebilligt“ hat. Die h.M., vor allem die Rspr.,
begnügt sich aber mit einer „Billigung im Rechtssinne“ und tendiert zumindest stark
dahin, das „Wollen“ dem Täter zuzuschreiben, wenn er die Schaffung einer zugespitztunmittelbaren Gefahr gekannt hat. Das war hier der Fall. Es ist davon auszugehen, daß
beide Ansichten hier zum selben Ergebnis führen. Der Vorsatz des A ist also von beiden
Standpunkten aus zu bejahen.
(4)Zum voluntativen Moment Farbe bekennen muß man dagegen im folgenden
Fall 44:
Vater V befiehlt seinem 15jährigen Sohn S, mit dem Mofa zum Supermarkt zu fahren
und Schnaps zu kaufen. S weigert sich, weil er seinen Helm verliehen hat, gehorcht
aber, als V mit Prügeln droht. V weiß, daß der Helm vorgeschrieben ist, nimmt die
Verletzungsgefahr aber gleichgültig hin. Tatsächlich stürzt S und erleidet Prellungen am
Kopf, die der Helm verhindert hätte.
V hat die Verletzung des S verursacht. Das Erzwingen der Mofafahrt war im Hinblick auf die
Verletzungsfolge sorgfaltswidrig, weil die Gefahrschaffung unerlaubt war (vgl. § 21a II StVO).
In dieser Unerlaubtheit liegt der Unterschied zum Fall der beabsichtigten Todesverursachung
durch Erschrecken, wo der Täter ein (noch) erlaubtes Risiko setzt, so daß ihm der Erfolg schon
objektiv nicht zugerechnet werden kann. V hatte – wie F im Fall 43 – auch die Kenntnis einer
unerlaubten Gefahr der Tatbestandsverwirklichung. Verlangt man, wie es u.E. richtig ist, für den
Vorsatz zur Abgrenzung von der bewußten Fahrlässigkeit die Kenntnis einer besonderen
unerlaubten, nämlich zugespitzt-unmittelbaren Gefahr, so ist der Vorsatz hier zu verneinen. Denn
als V seine Tat beging (vgl. § 16 I 1), d. h. den S zu fahren nötigte, war das Verletzungsrisiko für
S keine derart qualifizierte, sondern eine sehr geringe, wenn auch schon unerlaubte Gefahr. Nach
der herrschenden Auffassung dagegen wäre das Wollen und damit der Vorsatz zu bejahen, weil
V die Verletzungsfolge gleichgültig hingenommen („billigend in Kauf genommen“) hat. Hier
müßte man sich also mit der Frage nach der Berechtigung des voluntativen Elementes
auseinandersetzen. Wie gesagt, halten wir es nicht für berechtigt, so daß V nur wegen
fahrlässiger und nicht wegen vorsätzlicher Körperverletzung bestraft werden kann.
(5)Bei unvoreingenommenem Studium von Urteilen, die das „Wollen“ fordern und prüfen,
gewinnt man den Eindruck, daß diese angeblich gültige zweite Vorsatzvoraussetzung bejaht oder
verneint wird, je nachdem, ob die Richter im Hinblick auf die Persönlichkeit des Täters die
Bestrafung wegen des Vorsatzdeliktes (meistens geht es um Mord und Totschlag!) für
angemessen oder für unangemessen halten. Aufschlußreich ist der vom BGH (JR 1988, 115)
beurteilte
Fall 45: Karatekämpfer K wohnt mit seiner Freundin und deren ein Jahr altem Kind S
zusammen. Aus Wut über dessen Schreien versetzt er ihm mit aller Kraft einen
Handkantenschlag gegen den Kopf. S stirbt.
Das Landgericht hatte K wegen Totschlags verurteilt. Der BGH hält dem LG entgegen, es habe
„weder bedacht, daß vor der Billigung des Todes eine erhöhte Hemmschwelle liegt“, noch habe
es „in seine Erwägungen die Persönlichkeit des A ... einbezogen. Von Bedeutung ist hierbei die
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Einstellung des A und sein Verhalten gegenüber Kindern, die er zu betreuen hat, daß es ... nie zu
irgendwelchen vergleichbaren Gewalthandlungen den Kindern gegenüber gekommen war und
daß er sich auch gegenüber S grundsätzlich fürsorglich verhalten hat“. – Spüren Sie die
Hilflosigkeit, die aus dem Fehlen eines echten Kriteriums erwächst? Die „Billigung“ ist kein
solches, sie ist in Fällen dieser Art nach Belieben zu bejahen oder zu verneinen. So fragt der
BGH denn nach A’s „Einstellung ... und ... Verhalten gegenüber Kindern ...“ Aber wenn man das
generalisiert, dann könnte man sagen: Der BGH macht bei der einzelnen Tat den Vorsatz davon
abhängig, ob der Angeklagte im allgemeinen ein anständiger Kerl ist! Überzeugender scheint uns
die hier favorisierte Sichtweise. Wenn K, wovon beide Urteile ausgehen, die Todesgefahr richtig
erkannt hat, dann muß man nur noch fragen, ob es sich bei der erkannten Gefahr über deren
Unerlaubtheit hinaus um eine zugespitzt-unmittelbare handelte. Das ist wohl eindeutig zu
bejahen. Also handelte K mit (bedingtem) Tötungsvorsatz.
b) Andere Voraussetzungen des subjektiven Tatbestandes (Beispiele: aus Habgier, § 211; in Zueignungsabsicht, § 242; zur Täuschung im Rechtsverkehr, § 267).
II. Die Rechtswidrigkeit
1. Die Rechtswidrigkeit als Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen
2. Das Verhältnis der Rechtswidrigkeit zum Tatbestand, insbesondere die Abgrenzung der
tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit („objektive Zurechnung“) von der Rechtswidrigkeit
Fall 46: A erschießt einen fremden Rottweiler, weil dieser ein Kind zu zerfleischen droht.
Fall 47: A muß auf einem Parkplatz mit seinem Mercedes S 600 rückwärts aus der Parklücke. Er
setzt zurück, ohne in den Spiegel zu blicken. Dadurch wird B, der gerade dazu ansetzte,
den Lack am Kofferraum zu zerkratzen, seitlich weggestoßen. Er stürzt schmerzhaft zu
Boden und kann sein Vorhaben nicht ausführen.
3. Einzelne Rechtfertigungsgründe
a) Einwilligung
Fall 48: F hat sich zur Durchführung einer Schönheitsoperation in die Privatklinik P begeben.
Als die Assistenzärztin A ihr bei einer Voruntersuchung Blut abnehmen will, erklärt
sich F nur unter der Bedingung einverstanden, daß ihr Blut nicht auf HI-Viren getestet
werde.
a) A sichert F das wahrheitswidrig zu. Tatsächlich wird der AIDS-Test später
versehentlich unterlassen.
b) A entgegnet, daß der Chefarzt sie ohne AIDS-Test nicht operieren werde. Daraufhin
läßt F sich widerwillig Blut abnehmen.
b) Mutmaßliche Einwilligung
Fall 49: N betritt den Garten des abwesenden E, um dessen Polsterliege vor einem Wolkenbruch
zu schützen.
c) Notwehr, § 32
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Fall 50: Bei einem Streit mit seiner Ehefrau E geht M auf E los, um sie zu verprügeln. E sieht
keinen anderen Ausweg, als zu einem Messer zu greifen und es M in die Brust zu
stoßen. Die Verletzung ist tödlich (vgl. BGH, NJW 1975, 62 f.).
d) Vorläufige Festnahme, § 127 StPO
Fall 51: Kaufhausdetektiv K sieht, wie der Rentner R einen Taschenrechner einsteckt. Als R es
ablehnt, sich auszuweisen, hält K ihn fest und führt ihn ab in das Büro des
Geschäftsführers. Dort stellt sich heraus, daß es sich um R’s Taschenrechner handelte.
e) Selbsthilfe, §§ 229, 230 BGB
Fall 52: A sieht auf der Straße den ihm unbekannten B im Besitz des Fahrrades, das ihm vor
zwei Wochen gestohlen worden ist. Als B die Herausgabe verweigert, hält A ihn
gewaltsam fest und entreißt ihm das Fahrrad.
f) Die Notstände; § 228 BGB, § 904 BGB; § 34 StGB
Fall 53: Der preisgekrönte Schäferhund des E droht A’s alte Katze zu töten. A kann sie nur
retten, indem er den Hund totschlägt.
Fall 54: Auf einer Wanderung erleidet M einen Herzinfarkt. Seine Frau F will Hilfe holen und
klingelt bei E. Als niemand öffnet, zerstört sie eine Scheibe, dringt ein und telefoniert
nach einem Krankenwagen.
g) Weitere Rechtfertigungsgründe Beispiele: § 193; das elterliche Züchtigungsrecht
4. Die Prinzipien der Rechtfertigung und ihre Bedeutung für Erweiterungen des
Rechtfertigungskatalogs
Fall 55: Bei einem Spaziergang im Park sieht A, wie B seinen Hund auf ein Eichhörnchen hetzt.
Um das Eichhörnchen zu retten, ergreift A einen Knüppel und wirft ihn nach dem Hund.
Schmerzhaft getroffen gibt dieser die Jagd nach dem Eichhörnchen auf.
5. Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen
a) Kumulation
Fall 56: Passant P beschädigt und öffnet das abgeschlossene Auto des E, um den darin liegenden
Säugling vor dem Hitzetod zu retten (vgl. § 904 BGB und „mutmaßliche
Einwilligung“).
b) Sperrwirkung
Fall 57: A und B erkennen auf dem Flughafen den steckbrieflich gesuchten Frauenmörder M.
Sie überrumpeln ihn und alarmieren die Polizei (vgl. § 127 StPO und § 34 StGB).
6. Partieller Unrechtsausschluß? (Fehlannahme und Verkennung rechtfertigender Umstände)
a) Kein Unrechtserfolg bei objektiver Rechtfertigungslage? (oft behandelt als Problem des Fehlens „subjektiver Rechtfertigungselemente“).
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 58: F lauert im Dunklen, mit einem Nudelholz bewaffnet, an der Haustür. Als sich die Tür
leise öffnet, glaubt sie, es sei ihr wieder einmal betrunken heimkehrender Mann.
Tatsächlich handelt es sich um den gefährlichen Einbrecher E. F schlägt ihn bewußtlos.
b) Kein Unrechtsvorsatz bei Vorstellung einer objektiven Rechtfertigungslage? (Problem des
„Er- laubnistatbestandsirrtums“)
Fall 59: Mieter M hört aus der benachbarten Mietwohnung des Rentners R lautes Stöhnen. Er ist
sofort überzeugt, R stöhne wegen eines lebensbedrohlichen Herzinfarktes um Hilfe und
sei nicht mehr in der Lage, ihm zu öffnen. Darum wirft er sich mit aller Kraft gegen die
Tür und zerstört sie. Drinnen erkennt er, was er leicht schon von außen hätte erkennen
können: Die Geräusche rühren her von einem Thriller im Fernsehen.
Fall 60: A läuft mit gezücktem Messer auf B zu und schreit: „Ich bring’ dich um!“ N fürchtet um
B’s Leben und stellt A ein Bein. A stürzt und verletzt sich. In Wahrheit handelte es sich
um einen Scheinangriff, verabredet von A und B, um Passanten zu erschrecken.
c) Ausführliche Problemdarstellung
Im Studium und Examen sind Strafrechtsfälle mit irrenden Tätern besonders beliebt.
Eingehend befaßt haben wir uns bisher mit dem sog. Tatbestandsirrtum (besser:
Tatumstandsirrtum), d.h. dem Kenntnismangel, der nach § 16 den Vorsatz entfallen läßt. Z.B.
fehlt die Kenntnis der zum gesetzlichen Tatbestand (§ 223) gehörenden Umstände, wenn jemand
im Kaufhaus einem starr dastehenden jungen Mann zum Spaß mit dem Regenschirm auf den
Kopf schlägt im Glauben, es handle sich um eine Modepuppe.
Gestreift wurde auch mehrfach der umgekehrte Fall des (untauglichen) Versuchs, wo der Täter
sich irrig die „Verwirklichung des Tatbestandes“ vorstellt (§ 22): Er schlägt einer Modepuppe
auf den Kopf im Glauben, es handle sich um einen Menschen.
Beide Irrtümer – Tatumstandsirrtum und umgekehrter Tatumstandsirrtum – begegnen uns auf der
Ebene der Rechtswidrigkeit wieder. So entspricht dem ersten der sog. Erlaubnistatbestandsirrtum
(obwohl gleichfalls unglücklich, soll es bei diesem Terminus bleiben), oben veranschaulicht
durch Fall 59. Und dem zweiten entspricht die Verkennung rechtfertigender Umstände (= Fehlen
des „subjektiven Rechtfertigungselementes“, auch umgekehrter ETI genannt), oben konkretisiert
durch Fall 58.
Der Erlaubnistatbestandsirrtum (ETI) ist in seiner Rechtsfolge ganz besonders umstritten. Es
wird im ersten Examen erwartet, daß der Prüfling den ETI präzise definieren, von anderen
Irrtümern, vor allem dem „Erlaubnisirrtum“ (= Verbotsirrtum, § 17) richtig unterscheiden und
die wichtigsten einschlägigen Theorien aufzählen kann. Wir empfehlen dringend, neben der hier
folgenden Darstellung auch die von Wessels/Beulke, AT31, Rdnr. 453 ff., oder – noch besser – die
von Roxin, AT3, § 14, Rdnr. 51-76, zu studieren.
„Als Erlaubnistatbestandsirrtum bezeichnet man den Irrtum über die sachlichen Voraussetzungen
eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes. Er liegt vor, wenn der Täter irrig Umstände für
gegeben hält, die im Falle ihres wirklichen Gegebenseins die Tat rechtfertigen würden“ (Wessels/Beulke, Rdnr. 457). Zum Streit der Theorien sollten Sie das Folgende wissen.
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– Die strenge Schuldtheorie sieht im ETI lediglich einen Verbotsirrtum und beurteilt ihn nach
§ 17. Sie setzt ihn also gleich mit Irrtümern, wie sie in unserem Fall 65 und Fall 66 vorliegen.
Der Vater im Fall 59 hat danach deliktischen Vorsatz und verwirklicht das volle Unrecht des
§ 223. Allenfalls die Schuld kann nach § 17 S. 1 zu verneinen sein. Ist auch sie zu bejahen,
weil der Irrtum vermeidbar war (Fall 59), wird der Täter, wenn auch vielleicht gemildert (§ 17
S. 2) aus dem Vorsatzdelikt bestraft. Näheres bei Wessels/Beulke, Rdnr. 469; Roxin, § 14,
Rdnr. 59, 63-69.
– Als rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie bezeichnet man eine Lehre, die der strengen
Schuldtheorie nicht in den Ergebnissen, aber im Begrifflichen nahekommt (Wessels/Beulke,
Rdnr. 478 f., 481, 484; Roxin, § 14, Rdnr. 56, 71-75). Nach ihr läßt der ETI den Vorsatz
unberührt. Es soll das komplette Unrecht des Vorsatzdelikts vorliegen. Doch wendet diese
Lehre auf der Schuldebene § 16 I 1 in dem Sinne analog an, daß sie die „Vorsatzschuld und
eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat“ ausschließt. „Der ETI wird somit lediglich in seinen
Rechtsfolgen dem in § 16 I 1 geregelten Tatbestandsirrtum gleichgestellt. Beruht die
Fehlvorstellung des Täters auf einem Sorgfaltsmangel, kommt analog § 16 I 2 eine Bestrafung
wegen
fahrlässiger
Tatbegehung
in
Betracht,
sofern
ein
diesbezüglicher
Fahrlässigkeitstatbestand im Gesetz existiert“ (Wessels/Beulke, Rdnr. 478). Im Fall 59 soll
also V „an sich“ eine vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 I rechtswidrig begangen
haben, aber doch nur nach § 229 strafbar sein. Wessels’ Satz von der Gleichstellung in den
Rechtsfolgen ist freilich ungenau. Denn die Rechtsfolge des § 16 I 1 und damit des
Tatumstandsirrtums lautet: „handelt nicht vorsätzlich“. Beim ETI soll der Vorsatz aber gerade
nicht verneint werden. Das Gemeinsame soll nur sein: keine Strafbarkeit aus dem
Vorsatzdelikt.
Die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie sieht gerade darin, daß sie den Vorsatz zwar
begrifflich bejaht, aber die Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt sperrt und auf die
Fahrlässigkeitsdelikte „verweist“, ihre Pointe und Überlegenheit. Denn sie hält es bei dieser
Differenzierung für konsequent, trotz des ETI eine „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“
i.S. der §§ 26, 27 anzunehmen und ggf. andere wegen Anstiftung oder Beihilfe (zur
Vorsatztat!) zu bestrafen. Wessels/Beulke legen das ausführlich dar in Rdnrn. 453, 481: A fällt
im Garten des E einen Baum in der irrigen Meinung, E habe ihm dies erlaubt. B hat ihm die
Motorsäge geliehen in der Annahme, A setze sich bewußt über E’s Willen hinweg. Nach
Wessels/Beulke keine Bestrafung des A, weil er im ETI handelt und fahrlässige
Sachbeschädigung nicht strafbedroht ist; wohl aber Strafbarkeit des B nach §§ 303, 27, weil er
Hilfe geleistet hat zu A’s „vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat“.
– Einen klareren Standpunkt beziehen die Anhänger einer Lehre, die meist eingeschränkte
Schuldtheorie genannt wird, u.E. aber besser Unrechtstheorie hieße. Gemeint sind alle
diejenigen, die im Falle des ETI den Vorsatz auch begrifflich und damit schon das Unrecht
des Vorsatzdelikts, also das Vorsatzunrecht und nicht erst die Vorsatzschuld, verneinen. Wir
wählen die Bezeichnung „Unrechtstheorie“, um den Gegensatz zu den Schuldtheorien zu
betonen, die beide dem ETI erst bei der Schuld Relevanz geben. Der Terminus hat sich aber
noch nicht durchgesetzt.
Die Verneinung schon des Vorsatzunrechtes im Falle des ETI wird von manchen als direkte
Anwendung des § 16 I 1 erklärt. Man bezeichnet diese Spielart der Unrechtstheorie als Lehre
von den negativen Tatbestandsmerkmalen. Für sie „ist die fälschliche Annahme
rechtfertigender Umstände ein Tatbestandsirrtum, der in unmittelbarer Anwendung des
§ 16 I 1 den Vorsatz ausschließt und ggf. zu einer Bestrafung wegen fahrlässiger Tat führt.
Zum ‘gesetzlichen Tatbestand’ i.S. des § 16 I 1 gehört nach dieser Lehre also auch das
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Nichtvorliegen rechtfertigender Umstände“ (Roxin, § 14, Rdnr. 53; ausführlicher und
ablehnend Wessels/Beulke, Rdnrn. 473-475).
Verbreiteter ist jedoch die Verneinung des Vorsatzunrechtes in lediglich analoger Anwendung
des § 16 I 1. Diese Variante der Unrechtstheorie (speziell sie wird meist als „eingeschränkte
Schuldtheorie“ bezeichnet) „geht also davon aus, daß der ‘gesetzliche Tatbestand’ in § 16 I 1
nur den in den Tatbeschreibungen des Besonderen Teils erfaßten Deliktstypus in Bezug
nimmt, will aber die irrtümliche Annahme einer rechtfertigenden Situation wie einen
Tatbestandsirrtum behandeln“ (Roxin, § 14, Rdnr. 54, der in Rdnr. 62 ff. dieser Lehre den
Vorzug gibt; ablehnend Wessels/Beulke, Rdnr. 476 f.).
In der Fallbearbeitung steht man vor zwei Problemen. Erstens: An welcher Stelle der
Deliktsprüfung ist der ETI zu behandeln? Zweitens: Welche Lehre verdient in sachlicher
Hinsicht den Vorzug?
Die erste Frage ist eine formale, eine Aufbaufrage, die sich u.E. klar beantworten läßt. Wählt
man den üblichen dreistufigen Aufbau – Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld –, dann ist der
ETI noch innerhalb der Rechtswidrigkeit zu erörtern, und zwar im Anschluß an die Feststellung,
daß objektiv kein Rechtfertigungsgrund eingreift. Diese Einordnung ist zwingend auch für den,
der in der Sache eine der beiden Schuldtheorien für richtig hält.
Begründung: Wie die Existenz der Unrechtstheorie zeigt, ist es zumindest diskutabel (und u.E.
sogar richtig), im Fall des ETI bereits den Vorsatz zu verneinen. Nach heute fast einhelliger, auch
hier zugrunde gelegter Ansicht ist der Vorsatz kein Element der Schuld, sondern des Unrechts.
Folgerichtig muß man den Vorsatz auch innerhalb des Unrechts prüfen. Unterteilt man das
Unrecht in „Tatbestand“ und „Rechtswidrigkeit“, so ergibt sich zwangsläufig auch eine
Zweiteilung der Vorsatzprüfung: Im „Tatbestand“ ist der Vorsatz im Hinblick auf die objektiven
Tatbestandsmerkmale, in der „Rechtswidrigkeit“ im Hinblick auf die Abwesenheit von
Rechtfertigungslagen zu prüfen. Deshalb mehren sich die Empfehlungen, den ETI schon bei der
Rechtswidrigkeit zur Sprache zu bringen; so z.B. Kühl, AT, § 13 Rdnr. 77; Schlehofer, JuS 1992,
572, 578; ähnlich Schlüchter, Strafrecht AT2, S. 79 ff.
Die immer noch verbreitete Empfehlung, den ETI erst in der „Schuld“ zu behandeln, ist demnach
verfehlt, und zwar auch für die, die den Vorsatz trotz des ETI bejahen und selber der Ansicht
sind, der ETI wirke sich erst auf der Ebene der Schuld aus. Auch sie müssen ja an
deliktssystematisch richtiger Stelle zumindest die Frage nach der Vorsatzverneinung stellen. Wer
den Vorsatz bejaht, tut allerdings recht daran, den ETI in der „Schuld“ weiterzubehandeln. Dort
muß er zunächst erwägen, ob i.S. der rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie analog § 16 I 1
wenigstens die „Vorsatzschuld“ (was immer das bedeuten mag) ausgeschlossen ist. Wer mit der
strengen Schuldtheorie auch das ablehnt, muß jedenfalls einen Verbotsirrtum i.S.d. § 17
annehmen und klären, ob er vermeidbar war.
Was die zweite Frage (welche Lehre ist vorzugswürdig?) betrifft, so entscheiden sich die
Studierenden erfahrungsgemäß meistens für die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie. Der
Grund ist wohl, daß sie als die „herrschende Lehre“ gilt und ihre bejahend-verneinende Lösung
(zwar Vorsatz, aber kein Vorsatzdelikt) bei oberflächlichem Hinsehen als goldener Mittelweg
erscheint, der bei der Teilnahme Strafbarkeitslücken verhindert. In Wahrheit herrscht diese Lehre
aber durchaus nicht. Die Unrechtstheorie hat mehr Anhänger, u.a. den BGH, und sogar viel mehr,
wenn man den Blick auf die kritischen Überprüfungen der neueren Zeit beschränkt. Und die
„goldene Mitte“ erweist sich, wenn man die Sache ernstlich bedenkt, als schlechter Kompromiß,
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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der in Teilnahmefällen zu Wertungswidersprüchen führt. Es gibt nämlich keine stichhaltigen
Gründe, dem ETI eine andere und geringere Relevanz zu geben als dem Tatumstandsirrtum. Im
einen wie im anderen Fall geht der Täter von Umständen aus, die, wenn sie vorlägen, das
deliktsspezifische Unrecht entfallen lassen würden. Wegen dieser Gleichwertigkeit ist es auch
falsch, im einen Fall eine teilnahmefähige, d.h. „vorsätzliche“ Tat i.S. der §§ 26, 27,
anzunehmen, obwohl sich das im anderen eindeutig verbietet. Zur Veranschaulichung
Fall 61: Frau F hat den Witwer W zum Freund gewonnen und ist zu ihm gezogen. Es kommt
zwischen ihnen zum Streit, weil sie die Wohnung entrümpeln will. Während W
spazieren geht, sortiert F eine riesige Ansammlung von Biergläsern aus. Selbst ohne
Führerschein, bittet sie den 18jährigen Nachbarn N, die Gläser mit W’s Pkw
wegzuschaffen und im Glascontainer zu zertrümmern. Dabei bemerkt sie lächelnd, er
solle sich ja nicht von W erwischen lassen. N hält das für einen Scherz und glaubt
leichtfertigerweise, daß die Benutzung des Autos und die Beseitigung der Gläser der
Wunsch auch des W sei. F ihrerseits ist überzeugt, N habe begriffen, daß er gegen den
Willen des W handle.
Ein Handeln „gegen den Willen des Berechtigten“ ist bei § 248b unstreitig
Tatbestandsvoraussetzung. Was dieses Delikt angeht, würden darum alle Irrtumslehren
übereinstimmend für N einen vorsatzausschließenden Irrtum i.S. von § 16 I 1 annehmen und die
Strafbarkeit verneinen. Bei § 303 dagegen wird das Fehlen der Eigentümerzustimmung von den
meisten erst bei Prüfung der Rechtswidrigkeit festgestellt. Auf dieser Basis würde also sowohl
die rechtsfolgenverweisende wie die strenge Schuldtheorie den Deliktsvorsatz bejahen und die
letztgenannte Lehre den N sogar – wegen Vermeidbarkeit des Irrtums – aus § 303 bestrafen. Für
diese verschiedene Beurteilung je nachdem, ob man den einen oder anderen Übergriff auf W’s
Eigentum (Auto/Biergläser) ins Auge faßt, kann man aber nichts Einleuchtendes anführen. Der
Gesetzgeber hätte die Voraussetzung „gegen den Willen“ genauso gut in den § 303
hineinschreiben oder umgekehrt in § 248b weglassen können. Außerdem kann man, wie es viele
tun, das Fehlen der Einwilligung generell als (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal auffassen
und damit den Schuldtheorien einfach die Grundlage entziehen: Der ETI wäre keiner mehr,
sondern wäre in einen Tatumstandsirrtum verwandelt, der zweifelsfrei nach § 16 den Vorsatz
entfallen ließe. Die hier verworfenen Irrtumslehren machen sich also abhängig von Zufälligkeiten
der Gesetzesfassung und von dogmatischen Einordnungen, die im Grunde beliebig sind. Darum
spricht es nicht für, sondern gegen sie, daß sie in unserem Beispiel eine Begründung bieten, F
wegen Anstiftung zur Sachzerstörung (§§ 303, 26) zu bestrafen. F hat N ja ebenso zu einer
Ingebrauchnahme des Autos gegen W’s Willen bestimmt (§ 248b). Der Gesetzgeber hat aber
entschieden, daß es insoweit wegen der Gutgläubigkeit des N an einer von ihm „vorsätzlich
begangenen ... Tat“ (§ 26) fehlt und deshalb F nicht als Anstifterin aus §§ 248b, 26 bestraft
werden kann. Dann bedeutet es einen Wertungswiderspruch, die F hinsichtlich der anderen
Eigentums- und Willensmißachtung aus §§ 303, 26 zu bestrafen. – Merken Sie sich Fall 61 und
die durch ihn veranschaulichte Argumentation! Sie zeigen auf, wie sehr man sich doch hüten
muß, dem zu trauen, was alle Welt anerkennt. Denn dem Argument der Strafbarkeitslücke, die in
Teilnahmefällen drohe und die die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie zu verhindern wisse,
geben alle Gewicht, auch die Gegner dieser Lehre. Denkt man tiefer nach, dann entpuppt sich das
Teilnahmeargument als Eigentor: Es ist von Übel, eine Strafbarkeit aus sich ableiten zu müssen,
die einen Wertungswiderspruch zu feststehender, vom Gesetz eindeutig gewollter Straflosigkeit
bedeutet.
Im Folgenden finden Sie eine Anleitung, wie man im Sinne der vorstehenden
Rechtsausführungen die Lösung zu Fall 59 formulieren kann, soweit sie die Rechtswidrigkeit bei
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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§ 303 betrifft. Die Zusätze in eckigen Klammern haben erläuternden Sinn; sie gehören nicht zur
eigentlichen Lösung.
1. Damit M nach § 34 gerechtfertigt ist, muss eine Gefahr für R bestanden haben. Dies bestimmt sich
nach einem Ex-ante-Urteil. Auch M hätte erkennen können, dass dem R kein Schaden drohte. Eine
Gefahr lag also nicht vor. R ist nicht wegen rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt.
[Orientiert man sich am konventionellen Aufbau – „objektiv vor subjektiv“ –, muss man hier
feststellen, dass der Täter auch im Hinblick auf das Fehlen der rechtfertigenden Umstände
sorgfaltspflichtwidrig gehandelt, also das erlaubte Risiko überschritten hat; siehe soeben zu Fall 59.
Im Fall 59 ist die Pflichtwidrigkeit mit der vorgenommenen Ex-ante-Gefahr-Beurteilung bejaht und
erledigt.) Weil die Notwendigkeit dieses Prüfungspunktes aber von kaum einem Korrektor erkannt
wird, empfiehlt es sich zur Zeit noch, bei einer – wie hier – gegebenen Sorgfaltspflichtverletzung den
Punkt zu überspringen und sich auf die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums zu beschränken.
Fehlt allerdings die Sorgfaltspflichtverletzung, wie im Fall 60, dann muss man Farbe bekennen und
richtigerweise auf eben dieses Defizit abstellen. Andernfalls droht ein Widerspruch: Das Unrecht des
schwereren Vorsatzdeliktes wäre gegeben, das des leichteren Fahrlässigkeitsdeliktes wäre es nicht.]
M ist also nicht objektiv gerechtfertigt.
2. Möglicherweise liegt das Unrecht des Vorsatzdeliktes § 303 nicht vor, weil M irrig Umstände
annimmt, welche ihm hier das Recht zur Zerstörung der Tür geben würden (sog.
Erlaubnistatbestandsirrtum).
[Wie schon oben nach Fall 60 gesagt, behandeln viele den Erlaubnistatbestandsirrtum erst bei der
Schuld; vgl. etwa Wessels/Beulke, AT31, Rdnr. 479 i.V.m. S. 325. Danach sollte man sich nicht
richten. Denn es ist zumindest diskutabel – und u.E. sogar richtig –, bei Erlaubnistatbestandsirrtümern
bereits das Unrecht des Vorsatzdeliktes zu verneinen; vgl. nur Schönke/Schröder-Lenckner26, Vor § 32
Rdnr. 21. Man übergeht also unzulässigerweise einen Zweifel, wenn man die Rechtswidrigkeit bejaht,
ohne sich mit diesem Standpunkt auseinanderzusetzen. Deshalb mehren sich die Empfehlungen, den
Erlaubnistatbestandsirrtum schon bei der Rechtswidrigkeit zur Sprache zu bringen; so z.B. Kühl, § 13
Rdnr. 77; Schlehofer, JuS 1992, 572, 578.]
M müsste sich die Voraussetzungen des § 34 vorgestellt haben. M hat geglaubt, ... Er hat sich also die
Umstände des § 34 vorgestellt, ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt mithin vor.
[Denken Sie im Gutachten unbedingt daran, den Erlaubnistatbestandsirrtum nachzuweisen! Bis in die
Examensarbeiten hinein ist die Neigung groß, voreilig zu den „Theorien“ über die Behandlung dieses
Irrtums Stellung zu nehmen; das ist ein grober methodischer Fehler.]
Vielleicht ist der Erlaubnistatbestandsirrtum als vorsatzausschließender Umstandsirrtum i.S.d. § 16 I 1
zu behandeln. Dann müsste M einen Umstand verkannt haben, der „zum gesetzlichen Tatbestand
gehört“. Verkannt hat M das Fehlen der rechtfertigenden Umstände. Es kommt also darauf an, ob
dieses Fehlen zu den Umständen gehört, die im „gesetzlichen Tatbestand“ beschrieben sind.
Manche Autoren bejahen das (Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen). Die wohl h.M. tut
das zwar nicht, sie wendet § 16 I 1 aber analog auf den Erlaubnistatbestandsirrtum an und verneint so
ebenfalls den Vorsatz (eingeschränkte Schuldtheorie [u.E. besser: Unrechtstheorie]). Beide Ansichten
verneinen also bereits das Unrecht des Vorsatzdeliktes. Andere Lehren dagegen bejahen das Unrecht
des Vorsatzdeliktes und verschieben das Problem in die Schuld. Dort verneinen sie dann entweder die
„Vorsatzschuld“ (rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie) oder wenden § 17 an
(strenge Schuldtheorie). Nur vom letzten Standpunkt aus kommt es hier darauf an, ob M’s Irrtum
vermeidbar war. M hätte die Sachlage leicht und schnell klären können. Dadurch hätte er seinen Irrtum
beseitigt. Dieser war somit vermeidbar. Nur nach der strengen Schuldtheorie ist M also nach § 303 zu
bestrafen.
Den Vorzug verdient jedoch die Verneinung des Vorsatzunrechtes, wobei offenbleiben kann, ob man
§ 16 I 1 direkt oder analog anwendet. Für die Gleichbehandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums mit
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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dem Tatbestandsirrtum i.e.S. spricht, dass beide Irrtümer den Täter Umstände verkennen lassen, die
sein Verhalten objektiv zum Unrecht machen. Wegen der Gleichartigkeit von Tatbestands- und
Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen gibt es auch keine sachlichen Unterschiede zwischen beiden,
anhand deren man dogmatisch sauber eine Grenze zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit ziehen
könnte.
[Das Problem und der Theorienstreit haben bekanntlich ein besonders großes Gewicht. Es bedarf also
in Hausarbeiten einer ausführlicheren Darstellung, vgl. zu Fall 61 Herzberg/Scheinfeld, Der
Erlaubnisttatbestandsirrtum – dargestellt in Form eines Seminarvortrages, demnächst in der JuS.]
Somit fehlt es am Vorsatzunrecht. M hat also § 303 nicht rechtswidrig verwirklicht und kann aus
dieser Vorschrift nicht bestraft werden.
[Auch wenn man nicht den Unrechtstheorien folgt, ist es richtig, sie in der Rechtswidrigkeit zu diskutieren. Hat man
sie verworfen – wofür es u.E. keine guten Gründe gibt! –, muß man die Rechtswidrigkeit bejahen und in der Schuld
zu den beiden restlichen Theorien – rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie, strenge Schuldtheorie –
Stellung nehmen.]
---------------Der ETI ist ein Lieblingskind der Dogmatik. Deshalb neigt man dazu, die Konstellation des ETI
zu bejahen und dann in ihm das Problem des Falles zu erblicken. Man übersieht dabei leicht, daß
manchmal nur scheinbar ein ETI vorliegt und das wirkliche Problem ein anderes ist, das sich –
an den üblichen Aufbauregeln gemessen – schon vorher stellt. Der Fall kann nämlich so liegen,
daß der Täter trotz seines Irrtums objektiv rechtmäßig gehandelt hat. Das ist immer dann der Fall,
wenn die Vorstellung rechtfertigender Umstände ohne Sorgfaltsverstoß entstanden ist, so im
schon oben unter II 6 b abgedruckten Fall 60:
A läuft mit gezücktem Messer auf B zu und schreit: „Ich bring dich um!“ N fürchtet um
B’s Leben und stellt A ein Bein. A stürzt und verletzt sich. In Wahrheit handelte es sich
um einen Scheinangriff, verabredet von A und B, um Passanten zu erschrecken.
Hier handelt N schon objektiv rechtens, weil seine Annahme oder auch nur sein zweifelndes Fürmöglich-Halten, A werde B erstechen, nicht sorgfaltswidrig war. Deshalb scheidet sowohl eine
vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 als auch eine fahrlässige nach § 229 aus.
Üblicherweise gelangt man zu diesem Befund erst auf dem Umweg über die Feststellung eines
ETI, und das auch nur dann, wenn – wie hier – ein Fahrlässigkeitsdelikt in Betracht kommt. Man
übergeht – bewußt oder unbewußt – die in den Rechtfertigungsgründen wiederkehrende Frage
des objektiv erlaubten Risikos und beruft sich sogleich auf ein rein subjektives Defizit, das nach
h. A. jedenfalls die Bestrafung wegen des Vorsatzdelikts verbietet. Strenggenommen ist das nicht
korrekt. Man müßte mindestens ausdrücken, daß offenbleibt, ob es auch auf der Ebene der
Rechtfertigungsgründe ein „erlaubtes Risiko“ gibt, und sich darauf berufen, daß jedenfalls das
Unrecht des Vorsatzdelikts entfalle, weil der Täter sich rechtfertigende Umstände vorgestellt
habe. Hier zeigt sich wieder die Vorzugswürdigkeit der Unrechtstheorie. Denn die
Schuldtheorien verleiten dazu, das Unrecht des Vorsatzdeliktes zu bejahen und erst die Schuld zu
verneinen, obwohl der irrende Täter nicht pflichtwidrig gehandelt hat. Wer aber keine
Sorgfaltspflicht verletzt, kann auch kein Unrecht tun. Handgreiflich wird der Widerspruch, wenn
man im Sinne der rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie beim Vorsatzdelikt (§ 223) die
Rechtswidrigkeit angenommen hat und nach dem Umstieg auf das Fahrlässigkeitsdelikt (§ 229)
dem Täter zubilligt, daß er sorgfaltspflichtgemäß und also rechtmäßig gehandelt hat.
Aber auch vom Standpunkt der Unrechtstheorie aus versagt die „Jedenfalls“-Begründung, wenn
sich der Täter nicht sicher war. So kann N in unserem Beispiel beides für möglich halten: daß der
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
Angriff echt und daß er gespielt ist. Als „Putativnotwehr“ kann man sein Vorgehen gegen A
dann nicht bezeichnen. N hält ja ernsthaft für möglich, keinen Angriff des A auf B abzuwehren
und A unnötigerweise zu verletzen. Also muß man Farbe bekennen und sagen: N’s Eingreifen
zur Abwehr des vielleicht echten, vielleicht gespielten Angriffs war in der Ungewißheit der Lage
das kleinere Übel, als wenn er untätig geblieben wäre; deshalb war sein Eingreifen
sorgfaltsgemäß, also objektiv rechtmäßig.
---------------Auch die Verkennung rechtfertigender Umstände ist in ihrer Rechtsfolge umstritten. Blicken
wir auf Fall 58! Rein objektiv betrachtet hat F sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen
Angriff in erforderlicher und gebotener Weise verteidigt (§ 32). Sie war sich dessen nur nicht
bewußt; ihr fehlte allein das – fast allgemein geforderte – subjektive Rechtfertigungselement, bei
§ 32 oft ungenau als „Verteidigungswille“ bezeichnet. Herrschend ist inzwischen die
Auffassung, daß der Täter jedenfalls nicht aus dem vollendeten Vorsatzdelikt bestraft werden
darf. Vielmehr soll er nur wegen Versuchs, sofern strafbedroht, bestraft werden können.
Umstritten ist, ob es sich dabei um eine direkte oder um eine entsprechende Anwendung der
Versuchsregeln handelt. Dies zu entscheiden ist hier nicht der richtige Ort. Zutreffend ist
jedenfalls die Verneinung des vollendeten Vorsatzdeliktes: Der tatbestandliche Erfolgsunwert
der Körperverletzung wird durch den Erfolgswert der Verteidigung des Eigentums aufgewogen.
Also kann F auch nicht wegen Vollendung bestraft werden, weil sie keinen schlimmen Erfolg
vollendet hat. Höchstens ihre Handlung selbst kann noch Unrecht sein, und zwar deshalb, weil F
die Notwehrlage nicht erkannte und sich also vorstellte, einen schlimmen Erfolg anzurichten.
Dies ist allerdings nicht mehr im Rahmen des vollendeten Delikts zu prüfen, sondern selbständig
als Versuch.
7. Rechtfertigung bei rechtswidrigem Vorverhalten?
Fall 62: Dem Kind K ist sein Ball in einen hochumzäunten Garten geflogen, worin ein
Bullterrier herumläuft. A ermöglicht K das Hinüberklettern. Wie vorausgesehen, muß er
den Hund erschießen, weil dieser das Kind anfällt.
III. Die Schuld
1. Allgemeine Kennzeichnung
Schuld im strafrechtlichen Sinne setzt die Fähigkeit voraus, „das Unrecht der Tat einzusehen und
nach dieser Einsicht zu handeln“ (§ 3 JGG; vgl. auch §§ 20, 17 StGB). Deshalb eigentlich: ganz
individuelle Beurteilung durch den Richter. Aber: Wir können diese Fähigkeit niemals erkennen,
ja nicht einmal sicher sein, ob es sie überhaupt gibt (Determinismus-Streit: Ist der Mensch frei
darin, einen eigenen Willen zu bilden?); richterliche Feststellungen wären darum unberechenbar
und würden extrem divergieren. Darum: Unwiderlegliche Vermutungen und andere gesetzliche
Vorgaben.
2. Die einzelnen Schuldregeln
a) Zur „Schuldfähigkeit“ (defizitäre Beschaffenheit des Täters bei Tatbegehung?)
– Kindlichkeit (§ 19 StGB)
– Jugendliche Unreife (§ 3 JGG)
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Fall 63: Der 13jährige A und der 15jährige B verprügeln den C.
– Volljährigkeit (Umkehrschluß aus §§ 19 StGB, 3 JGG: die Schuldfähigkeit wird grundsätz lich vermutet)
– Psychisch abnorme Befindlichkeit (§ 20) – vgl. auch § 21 (Strafmilderung bei verminderter
Schuldfähigkeit)
Fall 64: Nach einer Zechtour fährt A betrunken mit seinem Auto nach Hause.
a) Seine Blutalkoholkonzentration beträgt 2 ‰.
.
b) Seine Blutalkoholkonzentration beträgt 3 ‰.
– Verbotsirrtum (§ 17)
Fall 65: Aus Dankbarkeit für das gute Erstvotum zu seiner Dissertation schenkt Assistent A
seinem Doktorvater, Prof. P, eine Kiste Wein. P nimmt das Geschenk ohne
Unrechtsbewußtsein dankend an (vgl. § 331).
Fall 66: Die Krankenschwester K gibt dem unheilbar kranken P auf dessen ernstliches Verlangen
hin eine tödliche Injektion, nachdem der Arzt A sie durch Vorlage eines gedruckten
Gesetzentwurfs überzeugt hat, in solchem Fall sei neuerdings auch aktive Sterbehilfe
erlaubt.
– Bejahung des Unrechtes trotz festgestellter Unfähigkeit?
§ 17 und § 20 StGB sowie – weniger deutlich – auch § 3 JGG verneinen die Schuld für den Fall
des Nichtvermeidenkönnens bzw. der Unfähigkeit. Diese Gesetzesentscheidung wirft eine Frage
auf, die selten gestellt wird. Lediglich die Schuld zu verneinen impliziert die Bejahung der
Rechtswidrigkeit und damit die Annahme, daß der schuldlose Täter sich pflichtwidrig verhalten
habe. Ist das vereinbar mit dem alten und anerkannten Rechtsgrundsatz „ultra posse nemo
obligatur“ (über sein Können hinaus kann niemand verpflichtet sein)? Beiläufig: Eine
Umformung des Rechtssatzes des Juristen P. Iuventius Celsus (um 100 n.Chr.): „Impossibilium
nulla obligatio est“ („Digesten“ L, 17, 185).
Fall 67: A zecht in einer Kneipe. Er gerät mit einem anderen Gast in Streit und schlägt ihm
wütend die Faust ins Gesicht. Seine Blutalkoholkonzentration beträgt 3,5 ‰.
Käme es zur Verhandlung vor dem Strafrichter, so würde dieser dem A attestieren, daß er beim
Zuschlagen sehr wohl eine rechtswidrige Körperverletzung (§ 223) begangen habe, also die
Rechtspflicht zur Unterlassung gehabt habe. Konzediert würde ihm lediglich die
Steuerungsunfähigkeit und deshalb ein Handeln ohne Schuld (§ 20). Die Feststellung der Rechtsund Pflichtwidrigkeit der Tat kann auch durchaus schon strafrechtliche Folgen haben, nämlich
unter den Voraussetzungen des § 64 die „Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“. Wie
verträgt sich das mit der genannten Regel, daß man immer nur im Rahmen seiner Fähigkeit zu
einem Handeln oder Unterlassen verpflichtet sein kann? So haben wir doch auch im Fall 15
durch Verneinung schon der Handlungsqualität Frau F zugestanden, daß sie durch ihren Sturz in
die Glasvitrine keineswegs das Unrecht einer Sachbeschädigung begangen hat. Ebenso würden
wir bei einem Säugling, der durch lautes Schreien während einer Bestattungsfeier störend wirkt
(vgl. § 167a), die Unfähigkeit, das Verbot zu vernehmen und sein Verhalten dem Verbot gemäß
zu steuern, schon ganz fundamental berücksichtigen, d.h. wiederum Handeln und Unrecht
verneinen.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Der Grund für die abweichende Beurteilung des A im Vergleich zu F und Säugling liegt in
folgendem: Die „Steuerungsunfähigkeit“ des A ist keine empirisch nachweisbare Unfähigkeit
wie die der hilflos stürzenden F und des Säuglings. Wir wissen zu wenig über das menschliche
Gehirn, um so sicher wie bei F und dem Säugling beurteilen zu können, ob A zum erwünschten
Nichtschlagen fähig oder unfähig war. Vielleicht war er trotz seiner Wut und Enthemmung
immer noch fähig, sich zurückzuhalten. Und vielleicht wäre er andererseits sogar im nüchternen
Zustand unfähig gewesen, sich zurückzuhalten. Diese Fähigkeit zur Selbstbeherrschung hängt
davon ab, daß der Mensch frei ist darin, einen eigenen Willen zu bilden. Ob aber der Mensch
einen solchen freien Willen hat oder nicht, ist ungeklärt; und es ist auch nicht zu sehen, wie diese
Frage geklärt werden könnte. Daß das Zuschlagen für einen Nüchternen vermeidbar und für
einen schwer Betrunkenen unvermeidbar war, beides kann man also nicht als sicher, sondern nur
als möglich annehmen. Wenn § 20 dennoch ein entschiedenes Urteil fordert, nämlich daß wir die
Fähigkeit entweder bejahen oder verneinen, dann kann diese Entscheidung nicht auf tatsächlicher
Erkenntnis beruhen. Vielmehr ist sie bloße Zuschreibung. So also auch die des Richters im Fall
67. Seine Entscheidung, dem A Steuerungsunfähigkeit zuzubilligen, ist verbunden mit der stillschweigenden Annahme, A sei zur Selbstbeherrschung vielleicht doch fähig gewesen. (Von
diesem immer bestehenden philosophischen Zweifel ist jener zu unterscheiden, der zur
Anwendung des § 20 „in dubio pro reo“ führt. Dazu kommt es, wenn die Voraussetzungen des
§ 20 nur möglicherweise erfüllt sind; so im Fall 67, wenn ungewiß bleibt, wieviel A getrunken
hat, und lediglich nicht auszuschließen ist, daß er infolge des Rausches schuldunfähig war.)
Wenn man sich dies klarmacht – nämlich daß A vielleicht doch sich zu beherrschen fähig war –,
dann wird deutlich, daß die Aufrechterhaltung des rechtlichen Verbotes auch gegenüber dem
schwer betrunkenen A im verfassungsrechtlichen Sinne „geeignet“ ist, ihn zum gewünschten
Nichtschlagen zu motivieren. Denn es ist immerhin möglich und man kann darauf hoffen, daß
auch beim schwer Betrunkenen das rechtliche Verbot hemmend wirkt. Auf diese Chance durch
die Verneinung des Unrechts zu verzichten wäre unzweckmäßig. Immerhin aber hat der
Gesetzgeber für die Fälle des § 20 vom Vorwurf der „Schuld“ und damit von der Strafandrohung
abgesehen, weil es gute Gründe gibt, zu vermuten, daß es ein Mensch in A’s Zustand jedenfalls
viel schwerer hat, sein Verhalten normgemäß zu steuern.
Daß es – entgegen dem ersten Anschein – bei der Schuldverneinung in Wahrheit nur um die
Zuschreibung und nicht um die Erkenntnis von Unvermeidbarkeit geht, wird noch deutlicher bei
der Einsichtsunfähigkeit. Diese wird dem Täter durch § 17 S. 1 sogar unabhängig von den in
§ 20 vorausgesetzten sog. „biologischen Ursachen“ als schuldausschließend zugestanden. Wie
aber gelangt man zu dem Urteil, daß der Täter die „Einsicht, Unrecht zu tun“, nicht erlangen
konnte, d.h. seinen Verbotsirrtum „nicht vermeiden konnte“? Ganz offensichtlich anders, als
man beim Säugling die Unfähigkeit feststellt, das Verbot überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Das zeigt
Fall 68: B lernt auf einem Fest seine Halbschwester S kennen, von der er seit der Kindheit
getrennt war. Sie verlieben sich und möchten miteinander auch sexuell verkehren. B
fragt Rechtsanwalt R, ob ihnen das erlaubt sei. R bejaht die Frage, weil er nicht gut
zugehört hat und irrig annimmt, B und S seien Stiefgeschwister. B teilt die Auskunft
seiner Schwester mit. In der Folge haben B und S miteinander Geschlechtsverkehr.
Beide verstoßen damit gegen § 173 II 2. Ihnen fehlte aber die „Einsicht, Unrecht zu tun“. Legt
man die Rechtsprechung des BGH zugrunde, so konnten sie diesen Irrtum nicht vermeiden. Denn
danach genügt für die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums in der Regel schon die (falsche)
„Rechtsauskunft einer verläßlichen Person“ (BGHSt 40, 257 [264]). Eine wirkliche Unfähigkeit,
die Unrechtseinsicht zu erlangen, kann damit nicht gemeint sein; die beiden hätten ja nur einen
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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zweiten Anwalt fragen müssen. Also handelt es sich in Wahrheit um nichts anderes als um das
Zugeständnis, sich mit der gebotenen Sorgfalt über die Rechtslage informiert zu haben: Seinen
Irrtum, kein „Unrecht zu tun“, kann schon derjenige „nicht vermeiden“, der sich sorgfaltsgemäß
erkundigt hat!
In anderen Schuldregeln taucht denn auch die Voraussetzung einer Unfähigkeit zur erwünschten
Aktivität oder Passivität gar nicht erst auf. So in § 19: Schon von seinem Wortlaut her kommt es
nicht darauf an, ob z.B. der Dreizehnjährige, der seinen Kameraden verprügelt, unfähig war, sein
Unrecht einzusehen und sich zu beherrschen. Sein kindliches Alter genügt dem Gesetz, die
Schuld zu verneinen.
b) Zur „Entschuldigung“ (stand der Täter bei Tatbegehung in einer äußeren Situation typischer
Bedrängnis?)
– Notwehrüberschreitung (§ 33)
Fall 69: Die extrem schreckhafte F hat sich zum Schutz vor Einbrechern mit einer Pistole
bewaffnet. Als sie nachts tatsächlich im Keller einem Dieb gegenübersteht, schreit sie
auf und schießt sofort. D wird schwer verletzt. F hätte auch durch bloße Drohung mit
der Waffe den Angriff auf ihr Eigentum abwehren können.
– Entschuldigender Notstand (§ 35)
Fall 70: M, ein ehemaliges Mafia-Mitglied, tötet auftragsgemäß einen Staatsanwalt unter dem
Druck der Drohung, daß sonst sein Kind K, das von anderen Mafiosi entführt worden
ist, ermordet werde.
– Übergesetzlicher entschuldigender Notstand
Fall 71: Der Arzt A liefert wenige Geisteskranke der Vernichtung von „lebensunwertem Leben“
aus, weil sonst statt seiner ein anderer Arzt kurze Zeit später viel mehr Kranke in den
Tod schicken würde (vgl. BGH, NJW 1953, 512 f.).
3. Irrtumsfälle
a) Erhebliche Irrtümer
Fall 72: Abwandlung von Fall 70: Das Kind ist bei der Drohung bereits tot.
b) Unerhebliche Irrtümer
Fall 73: Der 14jährige Tierquäler hält sich irrig für 13.
Fall 74: A war geistig erkrankt. Er ist wieder gesund, steht aber aufgrund der früheren
Erkrankung noch unter Betreuung (vgl. § 1896 BGB). Er glaubt deshalb, auch
schuldunfähig i.S. von § 20 zu sein.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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4. Schuldhaftes Vorverhalten und Schuldausschluß (actio libera in causa, sed non libera in
actione)
Fall 75: A fährt im eigenen Pkw zu seiner Stammkneipe. Dort trinkt er sich gezielt den Mut an,
seinen zänkischen Nachbarn N zu verprügeln. Wie von ihm vorausgesehen, fährt er
später volltrunken nach Hause (vgl. § 316) und verprügelt den N (vgl. § 223).
IV. Weitere Strafvoraussetzungen
1. Strafbarkeitsvoraussetzungen (noch materiellrechtlich!)
– objektive Bedingungen der Strafbarkeit (z.B. die Nichterweislichkeit bei § 186, die schwere
Folge bei § 231, die Zahlungseinstellung bei § 283 [VI], die rechtswidrige Tat im Rausch bei
§ 323a)
– Fehlen von Strafausschließungsgründen (Indemnität, § 36; jugendliches Alter bei § 173 [III])
– Fehlen von Strafaufhebungsgründen („Tätige Reue“, z.B. § 306e).
2. Strafverfolgungsvoraussetzungen (schon prozeßrechtlich!)
Z. B. Strafantrag, §§ 77 ff. StGB; Immunitätsaufhebung, Art. 46 II GG; keine Verjährung,
§§ 78 ff. StGB).
C. Das vorsätzliche vollendete Unterlassungsdelikt
I. Echte und unechte Unterlassungsdelikte
Fall 76: M, die Mutter eines kranken Kleinkindes, offenbart ihrem Freund F die feste Absicht,
am nächsten Wochenende für drei Tage zu verreisen und Gott über das Schicksal des
Kindes entscheiden zu lassen. F behält sein Wissen für sich. Am Samstag erkennt M’s
Nachbarin N, daß das Kind allein ist und der Hilfe bedarf. Sie leistet aber keine und läßt
das Kind sterben.
Die Straftat der M (§§ 212, 13) ist ein sog. unechtes Unterlassungsdelikt. F und N hingegen
begehen (nur) ein sog. echtes Unterlassungsdelikt (§ 138 I Nr. 6 bzw. § 323c).
II. Der Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts – die Voraussetzungen
des § 13 I StGB
1. Das Unterlassen der Erfolgsabwendung
Ein verbreitetes Mißverständnis ist die Annahme, das „unechte Unterlassungsdelikt“ sei im
Vergleich zum entsprechenden „Handlungsdelikt“ ein „aliud“; wer z.B. eine Sachbeschädigung
durch Handeln begehe, etwa durch Zerschmettern einer Vase, erfülle nur die Voraussetzungen
des § 303 und nicht auch die des § 13, weil er ja eben handle und nicht unterlasse. Das stimmt
nicht. Man muß das Verhalten des Vasenzertrümmerers nur nachdenklich Merkmal für Merkmal
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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an § 13 messen und man erkennt, daß in seinem Handlungs- das (unechte) Unterlassungsdelikt
als ein Minus enthalten ist. Das Unterlassen der Erfolgsabwendung insbesondere ist deshalb
gegeben, weil der Täter es unterläßt, sich zurückzuhalten, sich zu beherrschen, sich zu zügeln
(oder wie immer man das Nichtunterdrücken des Handlungsimpulses bezeichnen will), und es
infolgedessen zum Zerstörungserfolg kommt. Das Verhältnis zwischen dem Handlungs- und dem
entsprechenden (unechten) Unterlassungsdelikt ist das gleiche wie das zwischen vorsätzlicher
und fahrlässiger, zwischen vollendeter und versuchter Straftat oder auch wie das zwischen Raub
und Diebstahl: Alle Voraussetzungen des zweiten Delikts gelten genauso für das erste, welches
aber noch ein weiteres Merkmal aufweist (eingehende Darstellung bei Herzberg, JuS 1996, 377).
Das Beispiel der Vasenzerstörung wirft auch ein Licht auf die beliebte rechtstheoretische
Unterscheidung zwischen „Verbot“ und „Gebot“ (Leseempfehlung: Klaus F. Röhl, Praktische
Rechtstheorie: Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen und das fahrlässige
Unterlassungsdelikt, JA 1999, 895). Mir scheint es unergiebig und irreführend, den in einem
Straftatbestand jeweils enthaltenen Rechtsbefehl im Sinne eines Gegensatzes der einen oder der
anderen Kategorie zuzuordnen. Ist etwa in einem Kloster den Mönchen zeitweilig das Reden
verboten, so ist ihnen damit zugleich das Schweigen geboten. Ver- und Gebot sind nur
verschiedene Aspekte der Rechtsnorm, wie eine Münze uns mal die eine, mal die andere Seite
zeigt. § 303 lesend, hat man natürlich das aktive Tun und dessen Verbot vor Augen. Aber man
muß sich eben nur den inneren Vorgang der Motivierung und Entschlußbildung bewußt machen,
um die Unterlassung und das Gebot, sich von der Zerstörung zurückzuhalten, zu begreifen.
Umgekehrt denkt man bei § 323c („wer ... nicht Hilfe leistet“) primär gewiß an das
Untätigbleiben und das Gebot, aktiv zu helfen. Aber in der Mißachtung des Gebotes steckt die
Entschließung, nicht zu helfen, und diese ist durch § 323c genauso verboten wie alles äußere
Tun, das die Hilfe unmöglich macht, z.B. das Weglaufen vom Unglücksort.
Die Gefahr der Irreführung zeigt sich m.E. im genannten Aufsatz. Nach Röhl ist „jede
Fahrlässigkeit eine Unterlassung pflichtmäßigen Handelns“ (S. 900). Er lehrt, „daß das
fahrlässige Erfolgsdelikt immer in einer Unterlassung besteht“ (S. 901). Betrachtet man die
§§ 222, 229, so rückt allerdings, das ist zuzugeben, der Unterlassungs- und Gebotsaspekt stärker
in den Vordergrund. Das verrät schon der Terminus „fahrlässig“. Man läßt „die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt außer acht“ (§ 276 I 1 BGB), also gewissermaßen den Dingen ihren Lauf.
Aber bei Lichte besehen ist das ja keine Besonderheit des Fahrlässigkeitsdeliktes. Die
Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist als „objektive Zurechnung“ genauso
Tatbestandsvoraussetzung des entsprechenden Vorsatzdeliktes (s.o., S. 11). Wenn man nun, wie
Röhl, für das Fahrlässigkeitsdelikt eine Sonderbetrachtung fordert, verwickelt man sich in
Widersprüche.
Fall 77: A will einen abgebrochenen Ast loswerden und wirft ihn über die Hecke in Nachbars
Garten. Der Ast trifft ein dort spielendes Kind und verletzt es am Auge.
A hat ein Körperverletzungsdelikt begangen. Es wäre nun nicht einleuchtend, wollte man den
Gegensatz bilden, daß er im Falle des Vorsatzes durch Handeln gegen ein Verbot (§ 223)
verstoßen, hingegen im Falle der Fahrlässigkeit durch Unterlassen ein Gebot (§ 229) mißachtet
habe. Denn beide Tatbestände stimmen, vom Vorsatz abgesehen, in ihren Voraussetzungen
vollkommen überein. Dann müssen beide Vorschriften auch darin übereinstimmen, daß sie
sowohl die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gebieten wie deren Mißachtung
durch Werfen verbieten. Vor allem aber führt Röhls Sicht zu einem falschen, vom Gesetzgeber
nicht gewollten Ergebnis: Bei fahrlässigem Werfen des A hätte der Richter die Möglichkeit der
Strafmilderung nach § 13 II. Es ist offensichtlich, daß der Gesetzgeber auch für fahrlässige
Straftaten differenzieren wollte zwischen Handlungs- und Unterlassungsdelikten (im Beispiel
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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etwa zwischen dem eigenen Werfen und dem Nichteinschreiten gegen das eigene Kind, wenn
dieses den Ast wirft). Nach Röhl bestünde in sämtlichen Anwendungsfällen der §§ 222, 229 die
Strafmilderungsmöglichkeit, die § 13 II ersichtlich nur für bestimmte Fälle einräumen wollte.
2. Die zusätzliche Voraussetzung des tatbestandlichen Handelns („Abgrenzung von Tun
und Unterlassen“)
Nach allem geht es bei der bekannten Problematik der „Abgrenzung“ genau genommen um das
Kriterium, womit man erkennt, wann in Fällen des § 13 die zusätzliche Voraussetzung des
Handlungsdeliktes vorliegt, so daß sich die Strafmilderung nach § 13 II verbietet und das unechte
Unterlassungsdelikt im maius des Handlungsdelikts aufgeht.
Fall 78: A verspürt während eines Trauergottesdienstes einen unwiderstehlichen Lachreiz. Er
weiß, daß sein Lachen eine skandalöse Störung wäre und er sie nur durch schnelles
Hinausgehen vermeiden könnte. Das ist ihm zu lästig. Er bleibt und kann so nicht
verhindern, daß er in schallendes Gelächter ausbricht.
A hat hier den zum Tatbestand des § 167a gehörenden Erfolg zumindest „nicht abgewendet“
(§ 13). Es fragt sich aber, ob sein Verhalten über ein bloßes Unterlassen hinausgeht und schon als
Handeln zu bewerten ist. Wenn ja, scheidet die fakultative Strafmilderung des § 13 II aus, wenn
nein, steht sie dem A zu.
Zur Bestimmung des qualifizierenden Kriteriums findet sich in Rechtsprechung und Literatur
keine überzeugende Lösung. Der folgende Entwurf, gemeinsam verfaßt von Hardtung, Herzberg
und Schlehofer, versucht dem Mangel abzuhelfen und den Studierenden für ihre schriftlichen
Arbeiten etwas Praktikables an die Hand zu geben. Das geht allerdings nur, indem man – „systematische“ Auslegung! – viele Fälle miteinander vergleicht und dabei vom Gesicherten und
Evidenten zur Lösung der zweifelhaften Fälle fortschreitet. Darum sind die folgenden
Ausführungen verhältnismäßig lang.
a) Nach allgemeinsprachlichem Verständnis zeichnet sich die Handlung gegenüber der
Unterlassung durch eine willkürliche Körperbewegung oder Muskelanspannung aus. Es ist auch
sehr verbreitet, diese Kennzeichnung des Handelns als Kriterium für die Abgrenzung zu
verwenden. Damit erzielt man in den meisten Fällen richtige Ergebnisse. Allerdings sind es nur
unproblematische Fälle, deren Einordnung man gar nicht begründen müßte: das Totschießen
eines Menschen, das Wegnehmen einer Sache, das Aussprechen einer Beleidigung. Außerdem
bewältigt es nicht alle unproblematischen Fälle.
Fall 79: Der Medizinstudent A will beweisen, daß man „durch Gedanken töten kann“. Er richtet
ein Gerät zur Messung des Hautwiderstandes so her, daß die Schreibnadel bei einem
bestimmten Ausschlag einen elektrischen Kontakt herstellt und so durch Stromschlag
eine Labormaus tötet. An dieses Gerät schließt er den noch ahnungslosen B an. Dann
klärt er ihn auf und bittet ihn, sich etwas Aufregendes vorzustellen, um so den nötigen
Ausschlag zu verursachen. Tatsächlich gelingt das dem B, indem er sich ein sexuelles
Abenteuer ausmalt.
B hat weder seinen Körper bewegt noch einen Muskel angespannt. Aber er begeht die
Sachbeschädigung (§ 303) und die Wirbeltiertötung (§ 17 TierSchG) gleichwohl nicht durch
bloßes Unterlassen. Solche Fälle werden nirgends bedacht; man darf aber davon ausgehen, daß
alle hier eine Deliktsbegehung durch Handeln bejahen würden. Also sind Körperbewegung und
Muskelanspannung als Kriterien zu eng.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Man könnte an eine Erweiterung denken, indem man auf eine Anstrengung oder auf den Einsatz
von (physischer oder psychischer) Energie abstellt. Denn Denken ist anstrengend und kostet
Energie. Aber auch dieses Kriterium hat Konsequenzen, die wohl niemand akzeptieren würde.
Fall 80: Frau F hört das Kind K ihrer Nachbarin N vor Hunger erbärmlich schreien. Sie könnte
ohne weiteres in die Wohnung der N und K versorgen und empfindet einen starken
Antrieb, dies zu tun. Weil sie aber andererseits N nicht entlasten will, unterdrückt sie die
ganze Zeit über ihren Drang. Wie von F befürchtet, stirbt K.
Hier darf man davon ausgehen, daß alle – umgekehrt – ein bloßes Unterlassen annehmen
würden. Mit dem erwogenen Kriterium wäre das aber nicht vereinbar. Denn auch das
Unterdrücken des Rettungsdranges ist Anstrengung.
Unseres Erachtens verschwinden die Ungereimtheiten, wenn man für das tatbestandliche
Handeln ein Verhalten im strafrechtlichen Sinne voraussetzt, durch das der Körper die
Außenwelt verändert. Diese Voraussetzung ist erfüllt in so gut wie allen Fällen einer
willkürlichen Körperbewegung oder Muskelanspannung. Sie ist aber auch erfüllt im Fall 79,
denn von B’s Gehirn geht ja der schädliche Impuls aus, der die Schreibnadel in die Höhe treibt.
Hingegen ist sie nicht erfüllt im Fall 80. F’s Gehirn verändert – bei aller Anstrengung – die
Außenwelt nicht: Das Geschehen verläuft genauso, wie es verliefe, wenn es F gar nicht gäbe.
(Natürlich verändert F die Außenwelt durch viele Tätigkeiten wie Herumgehen, Essenkochen
usw. Aber mit diesen Akten erfüllt sie offensichtlich keinen Tötungstatbestand. Denn sie sind mit
Blick auf den Tod des K weder kausal noch pflichtwidrig). Hingegen ist im Fall 78 wiederum ein
Handeln anzunehmen: Der Körpervorgang des Lachens erzeugt Schallwellen und verändert so
die Außenwelt.
Die Konsequenz dieses Kriteriums ist, daß man auch in vollkommener körperlicher
Bewegungslosigkeit „handeln“ kann.
Fall 81: Der schwergewichtige G ist bei E zu Gast und sitzt ganz entspannt in einem Sessel. Als
ihn ein anderer Besucher darauf hinweist, daß der Stahlrohrrahmen des Sessels der
starken Belastung nicht lange standhalten könne, läßt G es darauf ankommen und bleibt
ruhig sitzen. Zwei Minuten später knickt der Rahmen ein und G sinkt nach hinten.
Der Körper des G verändert durch Druck auf den Sessel die Außenwelt, nämlich die
Materialstruktur des Stahlrohrrahmens. G beschädigt den Sessel also durch ein Handeln.
Fall 82: Assistent Dr. D hat sich über seinen Chef, Professor P, geärgert. Als P am Morgen D’s
Dienstzimmer betritt und freundlich grüßt, läßt D demonstrativ die Beine auf dem
Schreibtisch, bleibt bewegungslos und erwidert den Gruß nicht.
Auch von D geht eine Außenweltveränderung aus: Sein Körper gibt eine Erklärung ab. Denn seit
P das Zimmer betreten hat, drückt die körperliche Haltung des D aus, daß er P mißachtet. D
beleidigt (§ 185) P also durch ein Handeln.
b) Mit dem genannten Kriterium ist die Unterscheidung zwischen dem jeweils tatbestandlichen
Handeln und Unterlassen noch nicht vollständig geleistet. Zwar kann man negativ sagen: Wenn
eine Außenweltveränderung fehlt, scheidet ein Handeln aus. (Wenn demnach der Täter nicht
wegen eines Handlungs-, sondern „nur“ wegen eines Unterlassungsdeliktes bestraft wird, ist
damit allerdings noch nicht über eine Strafmilderung nach § 13 II entschieden. Man denke etwa
an den Fall der Mutter, die ihr Kind ermordet, indem sie es qualvoll verhungern läßt! Hier wäre
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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es wohl unangemessen, die Strafe zu mildern.) Hingegen kann man nicht umgekehrt sagen:
Wenn eine Außenweltveränderung stattfindet, liegt ein tatbestandliches Handeln vor. Denn für
die Annahme eines tatbestandlichen Handelns reicht nicht jede Außenweltveränderung aus. Wie
der systematische Zusammenhang zwischen dem Handlungsmerkmal und der Rechtsfolge ergibt,
muß die Außenweltveränderung so schwer wiegen, daß sich schon die Möglichkeit einer
Strafmilderung nach § 13 II verbietet.
Fall 83: Frau T pflegt seit Jahren ihren steinalten, bettlägerigen Vater V. Sie wünscht seinen Tod
und beschließt, ihn nicht länger zu versorgen. Ihr ist klar, daß sie nüchternen Sinnes die
tödliche Unterlassung nicht übers Herz brächte, wenn sie V in seiner Not nach ihr rufen
hört.
a) Sie verläßt darum das Haus. Als V nach ihr ruft, hört sie ihn nicht und läßt ihn
unversorgt. V stirbt.
b) Sie betrinkt sich. Als V nach ihr ruft, ist die volltrunkene, nach § 20 schuldunfähige
T so gleichgültig, daß sie ihn unversorgt läßt. V stirbt.
T verändert die Außenwelt: Einmal durch Veränderung ihres Aufenthaltsortes, das andere
Maldurch Leertrinken von Flaschen. Die Frage ist, ob das für ein tatbestandliches Handeln reicht.
Möglicherweise wiegt das Weggehen bzw. das Trinken nicht schwerer, als wenn T zu Hause im
nüchternen Zustand beim Rufen des V den inneren Rettungsimpuls unterdrückt und deshalb die
Versorgung unterlassen hätte; und das wäre zweifellos nur ein Unterlassen gewesen (siehe oben
zu Fall 80).
Für die Antwort kommt es nach dem Großen Senat (BGHSt 6, 46, 59) darauf an, wo der
„Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ liegt. Diese Formulierung ist zu weit geraten und deshalb
irreführend. Es geht ja um die Frage des Tatbestandes: Liegt ein tatbestandliches Handeln oder
Unterlassen vor? Das kann man nicht mit der „Vorwerfbarkeit“ entscheiden, weil zur
Vorwerfbarkeit auch die Schuld gehört, und die ist eben noch nicht an der Reihe. Das zeigt sich
deutlich im Fall 83 b: Weil das Unterlassen der T, für sich betrachtet, schuldlos war (§ 20), kann
hier überhaupt keine Vorwerfbarkeit und also auch nicht deren „Schwerpunkt“ liegen. Man
würde das tatbestandliche Unrecht des Unterlassungsdelikts wegen des Fehlens der Schuld
verneinen müssen und könnte nur noch ein Handlungsdelikt bejahen.
Dieser Kritik entgeht die im Schrifttum verbreitete Antwort, die Entscheidung hänge „davon ab,
bei welcher Verhaltensform der Schwerpunkt liegt“ (Schönke/Schröder-Stree, vor § 13 Rdnr.
158. Ähnlich Wessels/Beulke, Rdnr. 700). Aber diese Antwort ist in Wahrheit nur eine
Wiederholung der Frage. Will man etwa für Fall 83 wissen, ob das Weggehen bzw. das Trinken
der T so schwer wiegt, daß es als ein tatbestandliches Handeln anzusehen ist, dann kann man
diese Frage auch dahin stellen, wo der Schwerpunkt ihres Verhaltens liegt. Der Schwerpunkt ist
also Gegenstand der Frage; er kann nicht zugleich das sie beantwortende Kriterium sein. Darum
bietet die zuletzt genannte Schwerpunkt-Formel nur eine Scheinlösung. Es kommt darauf an, den
Schwerpunkt zu bestimmen, und statt dafür das Kriterium zu bieten, überläßt sie die
Bestimmung dem Rechtsgefühl.
Das richtige Kriterium erschließt sich über den Vergleich von zweifelhaften mit eindeutigen
Fällen. So kann man im Fall 83 fragen, ob das Weggehen bzw. Trinken so schwer wiegt wie ein
eindeutiges Handeln, etwa das Erwürgen des V, oder nur so schwer wie ein reines Unterlassen,
also das bloße Nichtversorgen des V (ohne vorheriges Weggehen oder Trinken). Ein eindeutiges
Unterlassen wäre es gewesen, wenn T, statt wegzugehen oder zu trinken, ihren Rettungsimpuls
rein innerlich niedergerungen hätte (vgl. Fall 80). Diesem Fall und dem Fall 83 ist gemeinsam,
daß die Täterin sich selbst als Rettungsfaktor ausschaltet. Der Unterschied liegt darin, daß das
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einmal durch Außenweltveränderung (Fall 83), das andere Mal durch rein innere Anstrengung
(Fall 80) geschieht. Würde man diesen Unterschied ausschlaggebend sein lassen, müßte man
auch bei geringfügigen äußeren Selbsteinwirkungen ein Handeln bejahen: Jemand hält sich die
Ohren zu oder wendet sein Gesicht ab, weil er sonst die ihm gebotene Rettungshandlung zu
unterlassen nicht über das Herz brächte. Intuitiv neigt man aber wohl dahin, hier ein bloßes
Unterlassen anzunehmen. Dafür gibt es auch einen rationalen Grund. Das Gewicht des
Weggehens bzw. Trinkens hängt nämlich ab vom Gewicht der Gefahr, die es schafft. Diese
Gefahr ist im Fall 83 die, daß T beim Rufen des V untätig bleibt. Also wiegt die
Selbstausschaltung nicht schwerer als die dadurch verursachte eigene Unterlassung. T hat, indem
sie sich ausschaltete, einen Totschlag (oder gar Mord) nur durch Unterlassen begangen; eine
Strafmilderung nach § 13 II ist möglich.
Ähnlich verhält es sich mit der Konstellation, die oft mit „Abbruch eigener
Rettungsbemühungen“ (vgl. dazu den Fall bei Wessels/Beulke, AT, Rdnr. 702) gekennzeichnet
wird.
Fall 84: Vater V erleidet beim Schwimmen im offenen Meer einen Herzanfall. Er kann sich aus
eigener Kraft nicht mehr retten. Seine Tochter T eilt ihm mit dem Motorboot zur Hilfe,
ergreift V an den Händen und zieht ihn ein Stück hoch. Plötzlich kommt ihr der
Gedanke, V sterben zu lassen, um den Erbfall zu beschleunigen. Darum läßt sie ihn
wieder los. V gleitet zurück in das Wasser und ertrinkt.
Hier hat T durch Außenweltveränderung sich selbst als Rettungsfaktor ausgeschaltet, indem sie
den V los ließ. Das kann aber nicht schwerer wiegen, als wenn sie es unterlassen hätte, einen
anderen Retter, der keine Lust mehr hat, beim Hochziehen abzulösen. Auch T hat also nicht
durch Handeln getötet. – Anders z.B. Wessels/Beulke, AT, Rdnr. 702, die hier eine „vorsätzliche
Tötung durch aktives Tun“ bejahen würden, weil T dem V „eine realisierbare
Rettungsmöglichkeit eröffnet hat“. Daß es darauf ankommen soll, wird aber nicht begründet und
leuchtet nach dem Fallvergleich im Text auch nicht ein. T hat „nur“ einen Habgiermord durch
Unterlassen begangen (§§ 211, 13), weil sie V retten konnte und dafür rechtlich einstehen mußte.
Ein Gegenbeispiel bildet
Fall 85: S will den Tod seines bettlägerigen Schwiegervaters V. Darum entführt er seine Frau T
gegen ihren Willen. V bleibt infolgedessen unversorgt und stirbt.
Die Ausschaltung eines Rettungsfaktors außerhalb der eigenen Person ist nicht anders zu
bewerten als die direkte Herbeiführung eines tatbestandlichen Erfolges. Das zeigen
Vergleichsfälle: Wer einem Zuckerkranken das Insulin entzieht und dadurch den Tod verursacht,
hat zweifellos durch Handeln getötet. Von diesem Fall unterscheidet sich der Fall 85 nicht
wesentlich. Ob Leben durch bereitliegendes Insulin oder einen bereitstehenden Menschen
gerettet würde, ist für das Gewicht der ausschaltenden Außenweltveränderung ohne Bedeutung.
Stark umstritten ist die Konstellation, daß der Außenfaktor gleichsam als „verlängerter Arm“ des
Ausschaltenden betrachtet werden kann.
Fall 86: Chefarzt C hat angeordnet, daß der komatöse Patient P mit der Herz-Lungen-Maschine
am Leben erhalten werden soll. Nach einigen Tagen schaltet er eigenhändig die
Maschine ab, weil er erhebliche Gehirnschäden befürchtet. Diese Entscheidung
entspricht nach Lage der Dinge nicht den medizinrechtlichen Regeln. C hätte vielmehr
den P weiterhin am Leben halten müssen.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Wohl herrschend ist hier die Einstufung als bloßes Unterlassen. Man argumentiert damit, daß der
Fall nicht wesentlich anders liege, als wenn etwa jemand die mit dem eigenen Körper betriebene
künstliche Beatmung eines Verunglückten abbricht und so den Tod nicht länger abwendet.
Allerdings ist auch diese Konstellation nicht so unstreitig, wie das Argument sie erscheinen läßt.
So soll nach Wessels/Beulke, AT, Rdnr. 702, das tödliche Loslassen eines Seiles, womit man das
Opfer aus einem Brunnen herauszuziehen begonnen hat, als Handeln zu bewerten sein. Die
Unterschiede sind aber in Wahrheit beträchtlich. Man darf das Wirken des Außenfaktors „Maschine“ nicht ebenso zurechnen wie eigenkörperliches Wirken. Das zeigt sich deutlich, wenn es
nicht um nützliche, sondern um schädliche Wirkungen geht, wie im
Fall 87: Der unheilbar kranke K wird wegen einer Stoffwechselentgleisung zur Erhaltung seines
Lebens vom Internisten I durch einen Perfusor mit Insulin versorgt. I erkennt, daß die
Dosis überhöht ist, unternimmt aber nichts dagegen, weil er K von seinen Leiden
erlösen will. Nach einiger Zeit fällt P in ein hypoglykämisches Koma und stirbt.
Betrachtet man im Fall 86 die Maschine als „verlängerten Arm“ des C, dann muß man
folgerichtig hier den Perfusor als „verlängerten Arm“ des I betrachten. Die Konsequenz wäre,
daß man das Wirken des Perfusors dem I als dessen Handeln zurechnen müßte, so daß I – nach
Fassung des Tötungsvorsatzes – ein Handlungsdelikt (§ 212) begangen hätte. Dazu würde sich
aber wohl niemand versteigen. Dann muß die Prämisse falsch sein: Das Wirken eines
Außenfaktors steht eben strafrechtlich unter keinen Umständen dem eigenkörperlichen Wirken
gleich. Also auch nicht im Fall 86: C hat den P nicht durch bloßes Unterlassen (Aufhören mit
eigener Tätigkeit) getötet, sondern durch Handeln (aktives Abschalten der selbsttätigen
Maschine).
c) Der Ertrag der vorstehenden Fallvergleiche ist die folgende Formel: Wer den tatbestandlichen
Erfolg, den er vermeiden könnte, nicht vermeidet, verursacht ihn durch Handeln, wenn während
des fraglichen Verhaltens sein Körper nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg
entfiele. In dieser Fassung ist das Kriterium so abstrakt, daß viele damit nichts anfangen können.
Man muß es darum ausführlicher und anschaulicher formulieren: Wer den tatbestandlichen
Erfolg, den er vermeiden könnte, nicht vermeidet, verursacht ihn jedenfalls durch Unterlassen,
aber vielleicht sogar durch Handeln. Es kommt darauf an, ob der Erfolg von seinem Körper
abhängt. Man denke sich also den Körper für den Zeitpunkt des fraglichen Verhaltens weg, löse
ihn sozusagen in Luft auf für den Augenblick, da er sich anschickt, etwa das Opfer im Wasser
wieder loszulassen (Fall 84) oder die Herz-Lungen-Maschine abzuschalten (Fall 86)! Wäre der
Erfolg dann genauso eingetreten? Wenn ja (wie im Fall 84), liegt nur ein Unterlassen vor, und
zwar auch bei aktiver Verursachung, z.B. durch Weglaufen zur Vermeidung von Mitleid (Fall 83
a). Wenn nein (wie im Fall 86), ist selbst bei passiver Verursachung, z.B. durch Verharren im
überlasteten Sessel (Fall 81), ein Handeln anzunehmen.
2. Der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehörende Erfolg – nur bei den sog.
Erfolgsdelikten?
Fall 88: Ein Vater läßt es aus Bosheit geschehen, daß sein Kind in eine fremde Wohnung stürmt
und einen verhaßten Schulkameraden verprügelt (vgl. §§ 123, 223).
3. Das rechtliche Einstehenmüssen (= Garantenpflicht)
Die Garantenpflicht als Element der objektiven Zurechnung. Sie ist Sorgfaltspflicht, also Pflicht
zur Wahrung der Grenzen des erlaubten Risikos
a) Garantenpflichtbegründende Umstände (= Garantenstellung)
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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aa) Beschützergaranten
– Familiäre Verbundenheit
Fall 89: Eine Mutter läßt ihr Kleinkind, der erwachsene Sohn seine sieche Mutter verhungern.
Fall 90: Eine Frau läßt ihren volltrunkenen Mann in der Badewanne ertrinken.
Fall 91: Herr M feiert mit Freunden ein Gartenfest und fürchtet, daß sein alter Schwiegervater S
sich störend dazugesellt. Darum schließt er S in dessen Dachstübchen ein. Frau F hört
ihren Vater rufen, befreit ihn aber nicht.
– Obhutsübernahme
Fall 92: Babysitterin B ärgert sich über den frechen Schützling und läßt es absichtlich
geschehen, daß er sich am Herd verbrennt.
Fall 93: Bei einer Südpolexpedition lassen fünf Teilnehmer den sechsten sterben, als dieser in
eine Gletscherspalte stürzt.
bb) Überwachergaranten
– Sachen als Gefahrquellen
Fall 94: Der sadistische Hauseigentümer E beobachtet mit Vergnügen, wie auf seinem vereisten
Bürgersteig Passanten stürzen.
– Personen als Gefahrquellen
Fall 95: M besucht mit seiner schizophrenen Frau F eine Wahlveranstaltung und läßt es zu, daß
F aufs Podium stürmt und den Wahlredner ohrfeigt.
– Die eigene Person als Gefahrquelle; insbesondere: vorangegangenes gefährliches Tun („Ingerenz“)
Hier ordnet sich genau genommen das Handlungsdelikt ein, das aber als spezieller (und von
vielen unerkannter) Fall des Unterlassens der Erfolgsabwendung ohne Heranziehung des § 13
direkt dem jeweiligen Deliktstyp des BT subsumiert wird.
Fall 96: Der freche Schüler S provoziert seinen Lehrer L so lange, bis L schließlich die
Beherrschung verliert und ihm „die Hand ausrutscht“.
Als Handlungsdelikte eingeordnet hat unser Kriterium auch das Täterverhalten in Fall 78 (störendes Lachen, § 167a), Fall 81 (beschädigendes Sitzen, § 303) und Fall 82 (beleidigendes
Verharren, § 185). Anders liegt es in den folgenden Beispielen.
Fall 97: M fährt nachts mit seinem Motorrad auf einer einsamen Kreisstraße den betrunkenen
Fußgänger F an. F verliert durch den Sturz das Bewußtsein und droht an seiner Zunge
zu ersticken. M flüchtet, ohne vorher zu tun, was er als notwendig erkennt, nämlich F in
die stabile Seitenlage zu bringen. F erstickt.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 98: Der Arzt A ertappt in seinem Haus den Einbrecher E. E greift A so gefährlich an, daß A
ihn nur durch einen Pistolenschuß abwehren kann. A läßt E verbluten, obwohl er richtig
erkennt, daß E durch sofortige Hilfe gerettet würde.
b) Garantenpflichtbegrenzende Umstände (erlaubtes Risiko)
Fall 99: Mutter M läßt ihre siebenjährige Tochter auf einer Spielstraße Rollschuh laufen und
nimmt übliche Sturzverletzungen in Kauf. Tatsächlich kommt das Kind mit blutigen
Knien weinend nach Hause.
3. Die Entsprechungsklausel (§ 13 I a. E.)
Fall 100:
M will an der Hafenmole seine Frau F knipsen. Um auch den Leuchtturm ins Bild zu
bekommen, geht er langsam ein paar Schritte rückwärts und fällt ins Wasser. F hat das
kommen sehen.
III. Die Rechtswidrigkeit
Die Besonderheit der rechtfertigenden Pflichtenkollision
Fall 101: Vater V kann aus dem brennenden Haus nur den Sohn oder die Tochter retten. Er
entscheidet sich für die Tochter.
IV. Die Schuld
Problem der „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“.
Fall 102: Polizist P sieht, daß sein Sohn S bei einer Demonstration eine Schaufensterscheibe
einwirft. Aus Rücksicht auf S unternimmt er nichts. Dadurch entgeht S der
Strafverfolgung.
Bei der „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ geht es um ein Prinzip, auf das letztlich alle
Schuldausschließungsgründe zurückgeführt werden können. Es ist vergleichbar dem Grundsatz
des überwiegenden Interesses, auf dem fast alle Rechtfertigungsgründe beruhen. Ähnlich nun wie
man speziellere Rechtfertigungsregeln nicht über § 34 entwerten darf (s.o. Fall 57), dürfen auch
auf der Schuldebene die gesetzlich vertypten Regeln nicht durch Rückgriff auf das allgemeine
Prinzip unterlaufen werden. Dieses Verbot kann aber wiederum nur als Grundsatz gelten. Das
heißt in erster Linie für vorsätzliche Handlungsdelikte, denn auf sie sind die Schuldregeln vor
allem gemünzt. So sieht es auch die heute wohl allgemeine Ansicht, die deshalb den
Grundgedanken der Unzumutbarkeit als Korrektiv nur für Fahrlässigkeits- und
Unterlassungsdelikte heranzieht. Denn hier wirkt der Normappell von vornherein grundsätzlich
schwächer als dort, wo ggf. der Rechtsbruch in einem sowohl aktiven wie vorsätzlichen
Verhalten läge. Bei Unterlassungsdelikten wird der Gedanke der Unzumutbarkeit vielfach schon
im Tatbestand berücksichtigt (vgl. etwa § 323c StGB: „obwohl ... den Umständen nach
zuzumuten“).
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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D. Der Versuch (das vorsätzliche nicht vollendete Delikt)
I. Die sog. Vorprüfung und die Frage ihrer Berechtigung
1.
Die Nichtvollendung des Delikts
Fall 103: S will in einer Skinhead-Gruppe Mitglied werden und sich gleich bewähren, indem er
einen Punk mit einem Baseballschläger verprügelt. Als er den Schläger ergreift,
befiehlt ihm der Gruppenführer genau diese Tat und bedroht ihn mit körperlicher
Züchtigung, wenn er nicht gehorche. In dieser Weise doppelt motiviert, schlägt S zu.
2. Die Strafbarkeit des Versuchs, § 23 Abs. 1
Fall 104:
A will im Treppenhaus seinem Nachbarn B eine Ohrfeige geben. B duckt sich, A
schlägt ins Leere. Danach läuft B, von A verfolgt, in seine Wohnung. Es gelingt ihm
gerade noch, sich in Sicherheit zu bringen, indem er A die Tür vor der Nase zuschlägt.
3. Ergebnis
Der Interessierte sei verwiesen auf Hardtungs Aufsatz „Gegen die Vorprüfung beim Versuch“ in
Jura 1996, 293 ff. Hinreichend ist aber schon die „Zusammenfassung“ auf S. 301:
„Zum Tatbestand des Versuches gehört nicht, daß die Vollendung ausgeblieben ist (I. 1., 2.). Deshalb ist
auch der erfolgreiche Versuch einer Straftat ein Versuch. Nur wird seinetwegen nicht bestraft, sobald das
Delikt zur bestrafbaren Vollendung gelangt, denn dann tritt der Versuch hinter der Vollendung zurück
(I. 3.). ‘Ausbleiben der Vollendung’ bedeutet folglich ‘Ausbleiben einer vollendeten Straftat’ (I. 4.). Die
Vorprüfung ‘Nichtvollendung’ ist nichts weiter als eine nach vorne gezogene Prüfung der
Gesetzeskonkurrenz. Bei offensichtlicher Nichtvollendung ist sie überflüssig; bei zweifelhafter
Nichtvollendung ist sie deplaziert, weil dann vor dem Versuch Vollendung zu prüfen ist; immer also ist
sie unangebracht (I. 5.).
Dem Leser eines Strafrechtsgutachtens muß zu Beginn einer jeden Deliktsprüfung mitgeteilt werden, daß
die untersuchte Norm die Rechtsfolge ‘Strafbarkeit’ ausspricht. Das gilt auch bei einer Versuchsprüfung.
Dazu bedarf es aber so gut wie nie einer besonderen Vorprüfung. Vielmehr reicht bei Vergehen immer
und bei Verbrechen meistens eine präzise Fassung der Überschrift, nämlich beispielsweise ‘§§ 242 I, II,
22’ und ‘§§ 212 I, 22, 23 I, 12 I’; bei der Prüfung vollendeter Delikte begnügt man sich damit ja auch (II.
1.). Nur in seltenen komplizierteren Konstellationen muß genauer belegt werden, daß die versuchte
Straftat ein Verbrechen darstellt (II. 2).
Die Vorprüfung beim Versuch stellt nach alldem nur scheinbar eine Besonderheit dar. Sie hat zur Hälfte
keine Existenzberechtigung (Nichtvollendung), zur anderen Hälfte (Strafbarkeit) müssen wir dem Leser
des Gutachtens nicht mehr und nicht weniger mitteilen als bei der Prüfung vollendeter Delikte.“
II. Der Tatbestand – die Voraussetzungen des § 22
1.
Die Vorstellung von der Verwirklichung des Tatbestandes und etwaige sonstige
subjektive Tatbestandsmerkmale (der sog. Tatentschluß)
a) Der Vorsatz
aa) Die Vorstellung von der strafrechtlich mißbilligten Gefahr der Tatbestandsverwirklichung
(üblicherweise bezeichnet als „Für-möglich-Halten der Tatbestandsverwirklichung“ bei
„Absicht“ und dolus eventualis und als „Für-sicher-Halten der Tatbestandsverwirklichung“ bei
der Wissentlichkeit).
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 105: M will ihr schwerbehindertes Kleinkind mit Barbituraten vergiften, gibt ihm aber
infolge einer Verwechslung harmlose Vitamintabletten ein.
Fall 106: A sticht auf eine Voodoo-Puppe in dem Glauben ein, dadurch den Menschen zu töten,
dem sie nachgebildet ist.
Fall 107: Um mit seiner Sportlichkeit zu prahlen, erhöht der Schüler S den Punktwert in seiner
„Sieger-Urkunde“ von den letzten Bundesjugendspielen. Er ist dabei überzeugt, sich
wegen Urkundenfälschung strafbar zu machen.
Fall 108: V hat sein Auto an K verkauft, aber noch nicht übereignet. Als ihm am nächsten Tag X
mehr Geld bietet, verkauft und übereignet er an diesen. Er nimmt an, dadurch eine
„fremde“ Sache zu unterschlagen.
Fall 109:
Sohn S will den Tod seines alten Vaters V. Bei einem Museumsbesuch ergreift er
eine dort ausgestellte alte Pistole, legt in gespieltem Scherz auf V an und drückt ab.
Seine ganz schwache Hoffnung, es werde sich ein tödlicher Schuß lösen, erfüllt sich
nicht.
bb) Die sog. Tatentschlossenheit als Vorsatzelement?
Fall 110: A findet in der Nähe eines VW-Golf einen VW-Autoschlüssel. A hält für gut möglich,
daß es der Schlüssel für den Golf ist. Ihm kommt der Gedanke, mit dem Auto eine
Spritztour zu machen.
a) A will den Schlüssel erst einmal ausprobieren, ist sich aber noch nicht schlüssig, ob
er das Auto gegebenenfalls auch benutzen wird.
b) A ist entschlossen, das Auto zu benutzen, falls der Schlüssel paßt.
c) A ist entschlossen, das Auto zu benutzen, macht sich aber bewußt, daß er sein Vorhaben im letzten Moment vielleicht doch noch aufgeben wird.
Der Schlüssel paßt nicht.
b) Sonstige subjektive Tatbestandsmerkmale (wie „aus Habgier“ in § 211, „um sich oder einen
Dritten zu Unrecht zu bereichern“ in § 253).
2. Das nach der Vorstellung des Täters gegebene unmittelbare Ansetzen zur
Tatbestandsverwirklichung
a) Das Ansetzen – ein strafrechtlich mißbilligtes? (Vgl. das Erfordernis der strafrechtlich
mißbilligten Gefahrschaffung bei der objektiven Zurechnung, oben Drittes Kapitel, B I 1 a
dd.)
Fall 111:
H, die Haushälterin des Industriellen I, will an seinem Wandsafe einmal ihr Glück
versuchen und stellt willkürlich eine Zahlenkombination ein. Wenn sich der Safe
öffnet, will sie mit einigen Hundertmarkscheinen ihr Gehalt aufbessern. H weiß, daß I
ihr kategorisch verboten hat, an den Geldschrank zu gehen, andererseits weiß sie aber
auch, daß ihre Chance nur 1:10000 ist. Es kommt, wie es zu erwarten war: Der Safe
bleibt geschlossen.
Fall 112: A geht im Thüringer Wald im Gebiet der ehemaligen Zonengrenze spazieren. Gegen
seinen Willen ist ihm der Neufundländer seines Nachbarn E gefolgt. Das Gelände war
früher schwer vermint, ist aber inzwischen durchsucht und der Öffentlichkeit
freigegeben. A hat gerade von zwei Fällen gelesen, wo trotz Freigabe unentdeckte
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Minen schwere Unfälle verusacht haben. In der vagen Hoffnung, den verhaßten Hund
zu Tode zu bringen, wirft er einen Ast weit ins Unterholz. Der Hund holt den Ast
zurück und bleibt unversehrt.
Fall 113:
Siehe Fall 105.
b) Die Unmittelbarkeit des Ansetzens
Fall 114:
M, die Mutter des von T sexuell mißbrauchten Kindes K, richtet im Gerichtssaal mit
Tötungsabsicht eine Pistole auf den angeklagten T und hat den Finger schon am
Abzug, als sie von einem geistesgegenwärtigen Wachtmeister noch im letzten Moment
am Schuß gehindert wird.
Fall 115:
E ruft aus Frankfurt/Oder den brandenburgischen Bundestagsabgeordneten A in
Bonn an und droht, dessen Stasi-Vergangenheit zu enthüllen, wenn A ihm nicht
10.000 € Schweigegeld zahle.
Fall 116:
Der Terrorist T will vom Rheinufer gegenüber dem Regierungsviertel den Politiker P
erschießen, wenn dieser wie gewohnt am Mittag die jenseitige Uferpromenade
entlangspaziert. Als T schon den Finger am Abzug hat, nimmt ihm ein Schiff die Sicht
auf P. Als es vorbei ist, ist P verschwunden.
Fall 117:
X und Y wollen nachts in eine Bank eindringen, um den Tresor aufzuschweißen und
zu leeren. Schon beim Betreten der Bank lösen sie aber Alarm aus und werden gefaßt.
Fall 118:
Der Landstreicher L entdeckt, daß das Ferienhaus des E unbewohnt und die Tür nicht
verschlossen ist. Er geht hinein, um sich dort für drei Monate einzuquartieren und
anschließend eines der Fahrräder mitzunehmen, die sich – wie er weiß – im Haus
befinden.
Fall 119:
Der Bankräuber B setzt der Geisel die Pistole an die Schläfe und ist entschlossen,
sofort abzudrücken, wenn der Kassierer die Herausgabe des Geldes verweigert.
c) Die Problematik beim Versuch, die Straftat durch einen anderen zu begehen (sog. mittelbare
Täterschaft)
Fall 120: Neffe N besucht seine Erbtante E und tauscht die Pille, die sie nach ärztlicher
Vorschrift am nächsten Morgen dem Röhrchen entnehmen und schlucken soll,
heimlich aus gegen eine täuschend ähnliche Gifttablette. Als er anderntags
wiederkehrt, findet er zu seiner Enttäuschung die Tante heiter und unversehrt, weil sie
ihre Medizin zu nehmen vergessen hat.
Fall 121: Die zwölfjährige K, deren Eltern geschieden sind, lebt bei ihrer Mutter M und
verbringt das Wochenende bei ihrem Vater V. K erzählt ihm am Samstag, daß ihre
Freundin neulich die schlechte Überwachung im Kaufhof genutzt habe, ein Parfüm zu
stehlen. V verspricht ihr daraufhin Geld, wenn sie ebendort am Montag für ihn eine
Flasche Joop-Rasierwasser stehle. K erklärt sich, nach anfänglichem Zögern, ernstlich
bereit. Danach sprechen sie von anderem. Auch als K sich am Sonntagabend
verabschiedet, kommt weder sie noch V auf die Sache zurück.
Um die richtige Lösung streiten im wesentlichen drei Theorien. Die erste stellt ab auf das letzte
eigene Handeln des mittelbaren Täters, die zweite auf sein Entlassen des Geschehens aus dem
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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eigenen Herrschaftsbereich, die dritte auf das unmittelbare Ansetzen seitens des Tatmittlers.
Nach meiner Überzeugung haben alle drei zum Teil recht, verfehlen aber auch alle drei die
richtige Lösung, weil sie gemeinsam von einer falschen Prämisse ausgehen, nämlich der
Annahme, daß der Anfang des Versuchs immer zugleich auch schon dessen Verwirklichung ist.
„Die Fehler der einen wie der anderen Seite werden m.E. vermieden, wenn man die Dinge so
sieht: Beim deliktischen Versuch ist zu unterscheiden zwischen Versuchshandlung und
Versuchserfolg. Jene bedeutet schon die Teilerfüllung des Versuchstatbestandes, dieser muß
hinzutreten, damit das Versuchsdelikt komplett zustande kommt. Dafür entscheidend ist in den
Fällen unseres Themas – genau wie sonst – die unmittelbare Gefahr der Verwirklichung des
Tatbestandes, gemessen an der Vorstellung des Täters beim eigenen Handeln. Der Versuch liegt
also jedenfalls dann vor, wenn der Tatmittler die Zuspitzungshandlung vornimmt, die der Täter
beim eigenen Handeln erwartet hat, die also im Rahmen seiner zu dieser Zeit gegebenen
Vorstellung liegt. Er liegt – mit schwächerem Gewicht – auch bereits dann vor, wenn der
Zeitpunkt erreicht ist, für den der Täter beim eigenen Handeln die Zuspitzungshandlung sich als
frühestens möglich vorgestellt hat. Weder so noch so kommt aber das Versuchsdelikt zustande,
wenn der Täter vor diesem Zeitpunkt erfährt, daß die Deliktsvollendung ausgeschlossen ist“
(Herzberg, FS für Roxin, 2001). Diese Zusammenfassung ist dermaßen dicht, daß man sie nur
mit großer Mühe verstehen kann. Der Interessierte sei verwiesen auf die Abhandlung, die dem
Resümee voraufgeht.
III. Rechtswidrigkeit und Schuld
Was ist die Beurteilungsgrundlage: die objektiven Umstände oder die, die der Täter sich
vorgestellt hat?
1. Bei der Rechtswidrigkeit
Fall 122: Die Ärztin A steht bei einem Hausbesuch vor der Etagentür ihres herzkranken
Patienten P. Da er auf ihr Klingeln nicht öffnet und sie ein Stöhnen aus der Wohnung
zu hören glaubt, nimmt sie an, P habe einen Herzanfall erlitten. A ruft vergeblich nach
anderen Hausbewohnern und wirft sich schließlich mit aller Kraft gegen die Tür, um
sie aufzubrechen. Die Tür ist aber so stabil, daß sie nicht den geringsten Schaden
erleidet.
a) A’s Annahme ist richtig. P stirbt. Wäre die Tür aufgesprungen, hätte A ihn retten
können.
b) A irrt. P ist nur vor dem laufenden Fernseher eingeschlafen und schnarcht.
2. Bei der Schuld
Fall 123: Der 14jährige K hält sich aufgrund falscher Datierung seines Geburtstags für 13. Im
Streit will er seinen Spielkameraden S mit einem Messer verletzen. S gelingt es aber
zu fliehen.
Fall 124:
Im Fall 72 überlebt der Staatsanwalt den Anschlag.
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IV. Der Rücktritt gem. § 24
1. Die Rechtsfolge: „Wegen Versuchs wird nicht bestraft“
Fall 125:
M bringt seiner unheilbar kranken Frau F mit Tötungsabsicht heimlich ein Gift bei.
Als F bewußtlos wird, erfaßt ihn Reue. Er ruft den Notarzt und rettet F dadurch das
Leben.
2. Die Voraussetzungen des § 24
a) Vorprüfungen und ungeschriebene Merkmale?
aa) nach der Tätervorstellung kein „Fehlschlag“ des Versuchs? Also: Unanwendbarkeit des § 24
auf den „fehlgeschlagenen Versuch“, „Vorprüfung“, ob vielleicht ein solcher vorliegt?
Fall 126:
Der Student S will das durch ein Zahlenschloß gesicherte Fahrrad seines
Kommilitonen K stehlen. S glaubt, die richtige Zahlenkombination zu kennen, weil er
K beim Einstellen der Zahlen beobachtet hat. Als S es mit der Kombination probiert,
öffnet sich das Schloß aber nicht. S nimmt an, daß es doch nicht die richtigen Zahlen
gewesen seien und läßt von dem Fahrrad ab, weil er auf andere Art den
Diebstahlsschutz nicht beseitigen kann. Tatsächlich stimmte die Kombination. Es war
nur die letzte Zahl nicht richtig eingerastet.
bb) Unbeendetheit oder Beendetheit des Versuchs?
Fall 127: A sticht in Tötungsabsicht mit dem Messer auf B ein, hört dann auf und rechnet
zunächst damit, daß B stirbt. Als B wütend mit der Polizei droht, läßt A ihn ziehen und
hält es jetzt für recht wahrscheinlich, daß B überleben werde (vgl. BGH, NStZ 1989,
525).
Resümee: Entgegen üblicher Subsumtions- und Fallösungspraxis sollte man bei § 24 weder
„Vorfragen“ stellen noch „ungeschriebene Merkmale“ annehmen, sondern streng die
Voraussetzungen der Vorschrift prüfen (näher Scheinfeld, JuS 2002, 250 ff.).
b) Die geschriebenen Voraussetzungen des § 24 Abs. 1
aa) Das freiwillige Aufgeben der weiteren Tatausführung, § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.
(1)Die „weitere Ausführung der Tat“
(a) Die „Tat“ als Tatbestandsverwirklichung
Fall 128: Theologiestudent T fühlt sich durch die laute Musik aus dem Nachbarzimmer des
Kommilitonen K gestört und beschließt, die Kabel der Lautsprecherboxen zu
zertrennen. Im letzten Augenblick zieht er aber die Kneifzange zurück, weil er K durch
den Diebstahl einer Bibel aus der Lutherzeit noch mehr zu treffen hofft. Als T gerade
mit dem Buch hinausgehen will, kommt K herein, stellt ihn zur Rede und entreißt ihm
das Buch.
(b) Die Eingrenzung der Tatbestandsverwirklichung: Einzelakt- oder Gesamtbetrachtung?
Hier geht es um besonders prüfungswichtige Fragen. Darum im folgenden eine ausführliche
Darstellung der typischen Klausurkonstellationen anhand der gesetzlichen Merkmale unter
Einbeziehung des Diskussionsstandes in Rechtsprechung und Literatur.
Fall 129:
Siehe Fall 127.
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Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 130: L verfolgte B. Als L ihn bereits erreicht und berührt hatte, stach B mit einem Messer
auf ihn ein, um L zu entkommen. Den Tod des L nahm er in Kauf. L konnte so weit
ausweichen, daß ihn nur ein Stich am Arm traf. Er wandte sich daraufhin von B ab. B
erkannte, daß er noch weiter auf L einstechen konnte, tat dies aber nicht (vgl. BGH,
NStZ 1994, 493).
Fall 131: C stieß M ein Messer tief in den Leib, um ihm einen „Denkzettel“ zu verpassen. C
nahm dabei den Tod des Opfers in Kauf. Er verließ nach dem Stich den Raum. M
verspürte zunächst keine Schmerzen und blieb stehen. Als er die Verletzung bemerkte,
fuhr er mit dem Fahrrad zur Polizeistation. Ohne ärztliche Hilfe hätte die erlittene
Verletzung spätestens nach 24 Stunden zum Tode geführt. Den Feststellungen war
„nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen, daß der Angeklagte nach dem
Messerstich den Eintritt des Todes des Verletzten für möglich gehalten habe“
(BGH[GS]St 39, 211).
A, B und C haben sich eines versuchten Totschlags schuldig gemacht. Sie werden gem. § 24 I 1,
1. Alt. wegen des versuchten Totschlags aber nicht bestraft, wenn sie freiwillig die weitere
Ausführung der Tat aufgegeben haben (Situation des sog. unbeendeten Versuchs [eine unnütze
Kennzeichnung, aber man sollte sie aus taktischen Gründen in Klammern hinzusetzen]).
Das ihnen mögliche weitere Zustechen müßte die „weitere Ausführung der Tat“ i.S.d. § 24 I 1, 1.
Alt. gewesen sein. Mit „Tat“ kann hier nach dem systematischen Zusammenhang nur die Tat
gemeint sein, die der Täter versucht hat. Sie ist zu sehen in der „Verwirklichung des
Tatbestandes“, wozu der Täter „nach seiner Vorstellung“ unmittelbar angesetzt hat (§ 22). Die
Frage ist also, ob man den zweiten Stich, wenn A, B und C ihn vorgenommen hätten, mit dem
ersten zu einer Tatbestandsverwirklichung verschmelzen würde; denn dann wäre der zweite Stich
die „weitere Ausführung der Tat“.
Diese Möglichkeit wird von den Vertretern der sog. Einzelakttheorie abgelehnt. Nach ihrer
Auffassung muß jede auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete und nach der
Tätervorstellung erfolgstaugliche Handlung als selbständiger Versuch gewertet werden
(Backmann, JuS 1981, 340 f.). Nach dieser Lehre scheidet ein Rücktritt für A, B und C aus.
Aber die Einzelakttheorie pauschaliert zu sehr und führt darum in manchen Fällen zu falschen
Lösungen. Es ist in der Konkurrenzlehre anerkannt, daß mehrere Handlungen im natürlichen
Sinne eine Gesetzesverletzung bilden können, so etwa eine Serie von Ohrfeigen (§ 223) oder
eine Kaskade von Schimpfworten (§ 185). ( Vgl. Sowada, Jura 1995, 247 ff.; Warda, FS f.
Oehler, S. 242 ff., beide mit weiteren Nachw. auch aus der Rspr.) Während in der Literatur viele
von einer „tatbestandlichen Handlungseinheit“ (Schönke/Schröder-Stree, 26. Aufl., Vor §§ 52 ff.
Rdnrn. 13 ff.) sprechen, bevorzugt die Rspr. den Begriff „natürliche Handlungseinheit“ (der
Begriff ist mißverständlich, weil die Rspr. damit nicht nur die Verbindung mehrerer Handlungen
zu einer Gesetzesverletzung, sondern auch die Verbindung mehrerer Gesetzesverletzungen zu
einer Handlung i.S.d. § 52 I bezeichnet; ausführlicher hierzu Sowada, Jura 1995, 247 ff.; Warda,
FS für Oehler, S. 242 ff.). Jenseits der begrifflichen Differenzen besteht aber Einigkeit darin, daß
man ein Strafgesetz nur durch die Verwirklichung seines Tatbestandes verletzen kann. Der
systematische Zusammenhang drängt deshalb dahin, die Begriffe Tat (§ 24), Verwirklichung des
Tatbestandes (§ 22) und eine Gesetzesverletzung (§ 52) zur Deckung zu bringen, wie es – ohne
deutliches Bewußtsein, aber der Sache nach – die sog. Gesamtbetrachtungslehre tut.
Voraussetzung der wertenden Zusammenfassung des ausgeführten mit dem hinzugedachten Akt
zu einer Tat (= Verwirklichung des Tatbestandes = Gesetzesverletzung) ist, daß die
einheitsstiftenden Momente die trennenden überwiegen. In diesem Sinne fragt die Rspr. danach,
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ob bei Weiterhandeln des Täters ein einheitlicher Lebenssachverhalt vorläge, der sich auch für
einen Dritten als zusammengehöriges Tun darstellen würde (BGH[GS]St 39, 221 [232]; BGH,
NStZ 1994, 493 mit Anm. Otto, JK 1995, § 24/22). Anhaltspunkte hierfür sind ein enger zeitlichräumlicher Zusammenhang, die Ähnlichkeit der Begehungsweise sowie eine einheitliche
Motivationslage.
Bei A hätte ein enger zeitlich-räumlicher Zusammenhang zwischen dem bereits geführten Stich
und weiteren Stichen bestanden. Beim Weiterhandeln hätten Begehungsweise (Messerstiche) und
Motivationslage (Tötungsabsicht) auf der Linie des ersten Zustechens gelegen, so daß sich
weiteres Zustechen auch aus der Perspektive eines Dritten als einheitlicher Lebenssachverhalt
dargeboten hätte. Das dem A mögliche weitere Zustechen wäre also die „weitere Ausführung der
Tat“ i.S.d. § 24 I 1, 1. Alt. gewesen. Weil er ferner freiwillig darauf verzichtete, hat er i.S. dieser
Vorschrift freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgegeben. Er darf nicht wegen versuchten
Totschlags bestraft werden.
Bei B sprechen zwar der enge zeitlich-räumliche Zusammenhang und die ähnliche
Begehungsweise dafür, den bereits geführten Stich mit weiteren Stichen zu einer Einheit zu
verbinden. B hatte aber das mit dem ersten Stich verfolgte Ziel, dem L zu entkommen, bereits
erreicht. Weitere Stiche hätten in dieser Situation eine Änderung der Motivation vorausgesetzt,
z.B. dahin, dem L nicht nur zu entkommen, sondern ihn nunmehr auch noch zu töten. Mangels
einheitlicher Motivation könnte man das mögliche weitere Zustechen mit dem ersten Stich nicht
zu einer Gesetzesverletzung und Tatbestandsverwirklichung verbinden. Es wäre deshalb auch
nicht die „weitere Ausführung der Tat“ i.S.d. § 24 I 1, 1. Alt. gewesen. Die Voraussetzungen
dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. B hat sich wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht.
Bei C wären ebenfalls ein enger zeitlich-räumlicher Zusammenhang und eine ähnliche
Begehungsweise gegeben. Trennend wirkt aber, daß C sein Ziel, dem M einen „Denkzettel“ zu
verpassen, erreicht hatte, so daß zusätzliche Stiche nicht mehr auf derselben Motivation beruht
hätten. Betont man diesen Gesichtspunkt, so wären die zusätzlichen Stiche nicht die weitere
Ausführung der Tat gewesen. Man mag aber auch darauf abstellen, daß einer solchen Situation
typischerweise eine Dynamik zum Weiterhandeln innewohnt und sich das Geschehen für den
Beobachter nicht etwa wie bei B als Wechsel von der Flucht zum Angriff darstellt, sondern
einheitlich als Angriff. Bei dieser Sichtweise wären zusätzliche Stiche zwar die weitere
Ausführung der Tat gewesen. C hat dann aber diese weitere Tatausführung nicht „aufgegeben“,
weil er sein Ziel (Denkzettel) schon erreicht hatte und deshalb sein Unterlassen weiterer Stiche
keine Verzichtsleistung war.
(2) Das Aufgeben
Fall 132:
Der Pyromane P hat sich in eine Scheune geschlichen und schon ein Streichholz
angezündet, um sie in Brand zu setzen. Da kommt ihm der Gedanke, daß die
Brandstiftung noch mehr Freude mache, wenn in 14 Tagen die Ernte eingebracht sei.
Er entschließt sich deshalb, die Tat zu verschieben und bläst das Streichholz aus.
Fall 133:
D will Trauben stehlen, die eine hohe Mauer überwachsen, kann sie aber bei allem
Recken und Springen nicht erreichen. Daraufhin sagt er sich: „Die Trauben sind mir
viel zu sauer“, und geht weiter.
Fall 134:
Die Haushälterin H sieht auf dem Schreibtisch des senilen Pfarrers P ein Bündel von
15 Zwanzigmarkscheinen, die P vor einigen Tagen von seinem Konto abgehoben hat.
H greift danach, um es einzustecken und für sich zu behalten. Während sie das Geld
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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noch in der Hand hält, erscheint ihr die Tat in diesem Ausmaß zu riskant. Sie behält
darum nur zwei Scheine in der Hand und legt die anderen zurück. Da kommt P herein.
Er erkennt, was H vorhat, und nimmt ihr das Geld ab.
(3) Die Freiwilligkeit
Wie der Straftäter für seine Straftat, so muß der Zurücktretende für sein Aufgeben verantwortlich
sein. Fehlt es daran, so kann jenem seine Tat nicht angelastet und diesem sein Aufgeben nicht
zugute
gehalten
werden.
Das
Merkmal
„freiwillig“
enthält
die
Verantwortlichkeitsvoraussetzungen, soweit diese nicht schon beim Aufgeben der weiteren
Tatausführung [Verzichtsleistung, soeben unter (2)] berücksichtigt sind.
(a)Die Exkulpationsregeln als Maßstab?
Danach bietet es sich zunächst an, hier die Exkulpationsregeln (Schuldausschließungsregeln) für
deliktisches Tun zum Vorbild zu nehmen.
Fall 135:
M hat schon mehrfach seine 13jährige Stieftochter T sexuell mißbraucht. Seine Frau
F ahnt das seit langem. Eines Tages ertappt sie ihn, wie er gerade erneut zum
Mißbrauch ansetzt. M fordert sie auf abzuhauen, weil er ungestört weitermachen will.
F erklärt kategorisch, auf der Stelle die Polizei anzurufen und ihn für immer zu
verlassen, wenn er nicht sofort aufhöre. M fürchtet beides gleichermaßen und wendet
sich von T ab.
Nimmt man § 35 zum Maßstab, so ist die Freiwilligkeit zu bejahen. Die Gefahr, von F verlassen
zu werden, genügt für § 35 nicht: Sie betrifft weder Leben noch Leib, noch Freiheit. Ebenso
wenig genügt für § 35 die Gefahr der Strafanzeige. Selbst wenn dem M ein Freiheitsverlust
drohen sollte, wäre diese Gefahr wohl kaum eine gegenwärtige; außerdem müßte M sie
hinnehmen, weil er sie „selbst verursacht hat“ (§ 35 I 2). Die Bejahung der Freiwilligkeit kann
aber schwerlich überzeugen. Die Gefahr, bei Vollendung des Deliktes von einem unerwarteten
Tatzeugen angezeigt zu werden, ist ein geradezu klassischer, allgemein anerkannter Grund für
die Verneinung der Freiwilligkeit. Auch die Gefahr, von F verlassen zu werden, muß schon für
sich allein genügen, die Freiwilligkeit auszuschließen. Denn sie motiviert genauso stark und
beruht ebenfalls auf der die Sachlage verändernden Androhung. Der Exkulpationsmaßstab führt
also zumindest in manchen Fällen irre und kann deshalb für die Interpretation des Merkmals
„freiwillig“ nicht richtig sein.
(b) Das „empfindliche Übel“ (§ 240 I) als Maßstab?
Auch bei § 240 geht es um die Freiheit der Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten. Der
Nötigungstäter nimmt sie dem Opfer in strafbarer Weise, indem er es unter den Druck eines
drohenden Übels setzt. Also könnte man auch hier den Maßstab suchen, den wir für § 24
brauchen. Und in der Tat ist der Druck eines empfindlichen Übels für die Freiwilligkeit von
Bedeutung. Im Fall 135 etwa verzichtet M auf den begehrten sexuellen Mißbrauch unter dem
Druck der Androhung zweier empfindlicher Übel. Jedes für sich würde man für die
Verwirklichung des Nötigungstatbestandes genügen lassen.
Umgekehrt ist die Freiwilligkeit zu bejahen, wenn der Druck unterhalb der Schwelle eines „empfindlichen“ Übels bleibt.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Fall 136: A steigt durchs Fenster in den Keller seines Nachbarn ein, um einige Flaschen teuren
Wein zu stehlen. Als er feststellt, daß der ganze Fußboden mit einer flachen
Wasserlache bedeckt ist, scheut er die nassen Schuhsohlen und kehrt um.
Wenn man nasse Schuhsohlen überhaupt als Übel bewertet, so doch sicher nicht als ein
empfindliches. Das Aufgeben ist also freiwillig, genau wie die Einwilligung ins Gefesseltwerden,
die ein Indianer spielendes Kind seinem Vater mit der Wasserpistole abpreßt.
Man kann aber auch das Kriterium des empfindlichen Übels nicht ohne weiteres zum Vorbild
nehmen; es bedarf der Abstriche und Ergänzungen.
Fall 137: R richtet auf einem Uferparkplatz durchs offene Seitenfenster seine Pistole auf die
Fahrerin F und fordert sie auf, ihm ihr Geld herauszureichen. Da hört er hinter sich
einen Menschen ins Wasser fallen und um Hilfe rufen. R, ein ausgezeichneter
Schwimmer, empfindet es als grauenhaft, daß jemand stirbt, den er leicht retten
könnte. Darum läßt er ab von F und rettet den Ertrinkenden. Wie von R
vorausgesehen, fährt F sofort los.
Die Rspr. und wohl auch die h.A. lassen es bei der Prüfung von Nötigungsdelikten (§§ 240, 253,
255) als ein für den Drohungsadressaten empfindliches Übel genügen, daß sein Untätigbleiben
den Tod eines Menschen zur Folge hat. Daß es sich auch noch um eine ihm nahestehende Person
(§ 35 I 1) handelt, wird nicht vorausgesetzt (deutlich BGH, NStZ 1987, 22 f.). Von diesem
Standpunkt aus entscheidet sich auch R unter dem Druck eines empfindlichen Übels und in
diesem Sinne unfrei. Darum aber einen „freiwilligen“ und strafaufhebenden Rücktritt zu
verneinen widerstreitet dem Rechtsgefühl. Der tiefere Grund dafür liegt m.E. in folgendem: R
handelt mit der Rettung des Ertrinkenden nicht egoistisch; er handelt auch nicht halb ego-, halb
altruistisch, wie es jemand täte, der sein eigenes Kind rettet. Vielmehr handelt er im reinen Sinne
altruistisch, weil er einen ihm Fernstehenden rettet. Das ist eine besonders anerkennenswerte
Haltung („Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“). Deshalb wohl neigen wir dazu, R’s gute
Entscheidung bei Prüfung des § 24 als freiwillig anzuerkennen.
(c) Die Kombination beider Maßstäbe
Vollkommen angemessen ist also weder der eine noch der andere Maßstab. Passend erscheint
aber eine Kombination der genannten Maßstäbe. Die Freiwilligkeit ist zu verneinen, wenn die
folgenden vier Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Der Täter gibt auf unter dem Druck eines empfindlichen Übels (vgl. § 240), welches nur
durch das Aufgeben abwendbar ist (vgl. § 35 I 1).
2. Das Übel ist eine Einbuße und nicht nur das Ausbleiben eines Vorteils (vgl. § 35 I 1).
3. Das Übel droht dem Täter selbst oder einem ihm nahestehenden Menschen (vgl. § 35 I 1).
4. Das Übel kann dem Täter nicht zugemutet werden (vgl. § 35 I 2).
Umgekehrt gilt, daß man die Freiwilligkeit bejahen muß, wenn auch nur eine dieser vier
Voraussetzungen nicht erfüllt ist.
Zur Veranschaulichung: Die erste Voraussetzung ist erfüllt in Fall 135 und Fall 137; dagegen ist
sie nicht erfüllt in Fall 136 (keine Empfindlichkeit des Übels). Ebenso wenig erfülllt ist sie in
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Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 138: Student S hat im Seminar ein Buch in die Hand genommen, das er sogleich in die
Tasche stecken und stehlen will. Da spricht ihn eine Kommilitonin K an und fragt ihn,
wo sie die Bundestagsdrucksachen finde. Das Gespräch zieht sich eine halbe Minute
hin. S kann vor ihren Augen das Buch nicht einstecken. Er stellt es zurück und gibt
sein Vorhaben auf.
Sich vor K als Dieb zu offenbaren ist riskant und zumindest mit dem empfindlichen Übel der
Ansehensminderung verbunden. Dieses Übel hätte S aber leicht abwenden können durch ein
kurzes Zuwarten; das etwas spätere Einstecken wäre die weitere Ausführung derselben Tat
gewesen.
Die zweite Voraussetzung ist erfüllt z.B. in Fall 135. Dagegen ist sie nicht erfüllt in
Fall 139: M steigt in Bochum-Hiltrop in den „Nacht-Expreß“, um schwarz nach Gerthe zu
fahren. Als er aus der anderen Tür ein junges Mädchen aussteigen sieht, verläßt er den
Bus schnell wieder, weil er dem Mädchen folgen und es sexuell mißbrauchen will.
M gibt den Versuch des § 265a nicht auf, weil er im Falle der Vollendung eine Einbuße erleiden
würde. Vielmehr würde ihm dann nur ein verlockender Vorteil entgehen. Daß dieser Umstand
seiner Entscheidung die Freiwilligkeit nicht nimmt, deutet sich schon in § 240 I („Übel“) und
noch stärker in § 35 I 1 („Gefahr“) an.
Die dritte Voraussetzung ist gegeben z.B. in Fall 135, fehlt in Fall 137 und ist wiederum erfüllt
in dessen Abwandlung (Aufgabe des Raubversuchs, um den eigenen Sohn aus dem Wasser zu
retten).
Die vierte Voraussetzung scheint uns in der Sache unstreitig; sie ist aber in der Begründung
schwer zu fassen. Es geht dabei um die Konstellation, daß der Täter wegen eines Übels aufgibt,
das er schon vor Versuchsbeginn vollen Umfangs antizipiert und hinzunehmen beschlossen hat.
Fall 140: Frau F hat eine Wahlversammlung in der Absicht aufgesucht, den Redner R zu
erstechen. Ihr ist klar, daß man sie sofort nach der Tat festnehmen wird. Sie geht zu R
und zückt schon das in einem Blumenstrauß verborgene Messer. Im letzten
Augenblick erscheint ihr der Preis einer langjährigen Gefängnisstrafe zu hoch. Sie
steckt das Messer in den Mantel und überreicht R die Blumen.
Fall 141: Voller Zorn stürzt sich T auf seinen kleinen Bruder O, um ihn mit einem
Baseballschläger brutal zu verprügeln. Als er zum ersten Schlag ausholt, tut ihm O so
leid, daß er den Schläger sinken läßt.
Motiv des Aufgebens ist hier für beide ein empfindliches Übel. F würde es selbst erleiden, bei T
bestünde es in der Verletzung des Angehörigen O. Dies macht sie an sich unfrei (s. dritte
Voraussetzung). Beide haben sich aber schon vor Versuchsbeginn klargemacht, daß sie nur um
den Preis dieses Übels ihre Tat vollenden können. Sie haben sich also das Übel selbst zugemutet.
Darum kann ihnen auch die Rechtsordnung zumuten, es zu ertragen. Das heißt: Nach rechtlichen
Maßstäben haben sie ihre Aufgebensentscheidungen, weil ohne den Druck eines unzumutbaren
Übels, freiwillig getroffen.
Anders liegt es im
Fall 142: Die Studentin S sieht den Assistenten A sein Zimmer verlassen. Sie beschließt,
hineinzugehen und das Portemonnaie des A einzustecken, plant aber, es doch sein zu
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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lassen, wenn jemand hereinkommt. Sie hält das für gut möglich und will ggf. ein
fachliches Anliegen vorschützen. Tatsächlich kommt Professor P herein, als S gerade
das Portemonnaie in A’s Jacke ertastet hat. Sie könnte es noch schnell vor P’s Augen
herausnehmen und einstecken. Wie geplant, läßt sie es aber und stellt P eine Frage zur
laufenden Hausarbeit.
S hätte den Diebstahl noch vollenden können (vollendete Wegnahme bei Bergung der Sache in
einer Tasche, sog. Enklaventheorie), hat also die weitere Tatausführung aufgegeben. Ihr aber
auch die Freiwilligkeit zu bescheinigen kommt niemandem in den Sinn. Offenbar genügt es dafür
nicht, daß der Täter sich sehenden Auges in die Situation begeben hat, worin er möglicherweise
die weitere Tatausführung aufgeben werde. Es muß eben, wie gesagt, hinzukommen, daß er sich
vor dem Versuch das Ertragen des Übels zugemutet hat. Hat er dies nicht getan, so genügt als
empfindliches Übel schon ein verhältnismäßig geringer Nachteil, seine Unzumutbarkeit und
damit die Unfreiwilligkeit des Aufgebens anzunehmen.
Hier zeigt sich bei gleichem Ansatz eine starke quantitative Abweichung von den Wertungen bei
§ 35. Zum Vergleich der folgende, an dieser Vorschrift zu messende
Fall 143: M befürchtet, daß er bei Aufnahme in eine neonazistische Bande sogleich durch
Drohung mit Prügeln gezwungen werden würde, seinerseits einen Ausländer zu
verprügeln. Er tritt dennoch der Gruppe bei. Als er wie erwartet genötigt wird, gibt er
dem Druck nach und verletzt unter den Augen des Bandenführers den Asylbewerber
A.
Obwohl hier das dem M drohende Übel an sich drängender wirkt als das im Fall 142 der S
drohende, wird dem M dennoch nach § 35 I 2 die Hinnahme des Übels zugemutet, d.h. seine
Entscheidung, den A zu verprügeln, als frei gewählt bewertet. Der Grund für diese auffällige
Differenz liegt im folgenden: Drängt das Übel den Bedrohten – wie im Fall 143 – zur Begehung
einer rechtswidrigen Tat, dann muß er aus der Erkenntnis, daß man kein Unrecht tun darf,
Widerstandskraft schöpfen. Diese Tathemmung wirkt gegen den Antrieb, durch Begehung der
Tat das drohende Übel zu vermeiden; und darum muß das Übel schon ein sehr großes sein, damit
das Gesetz dem Täter attestieren kann, er habe unfrei gehandelt. Ganz anders beim Aufgeben
(Fall 142). Hier drängen drohendes Übel und Normappell in dieselbe Richtung, nämlich weg von
der rechtswidrigen Tat. Es kommt also auch bei einem verhältnismäßig kleinen Übel insgesamt
ein starker Druck heraus; darum muß die Entscheidung des Täters, dem Druck durch Verzicht
auf die Vollendung nachzugeben, sehr viel öfter als unfreiwillig bewertet werden.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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(d) Die gängigen Kriterien zur Freiwilligkeit
Das bekannteste und in studentischen Arbeiten am liebsten eingesetzte Kriterium ist die
Unterscheidung zwischen autonomen und heteronomen Gründen für das Aufgeben. Eine seiner
Schwächen ist das gänzliche Fehlen der Anbindung an gesetzlich vorgegebene Wertungen. Im
übrigen scheint es uns die Sachfrage nur in neue Begriffe zu verschieben: Ob R im Fall 137 sich
„freiwillig“ oder „autonom“ entschieden hat – das eine ist nicht im mindesten leichter zu
beantworten als das andere.
Zu denselben Ergebnissen wie auf unserem Wege wird man häufig über das Kriterium der „Verbrechervernunft“ kommen (vgl. Roxin, Heinitz-FS, S. 251; SK-Rudolphi, § 24 Rdnr. 25: „Tritt
ein Täter nur deshalb zurück, weil ihm dies die ‘Verbrechervernunft’, d.h. seine rechtsfeindliche
Einstellung, gebietet, so zeigt er damit nur seine besondere Gefährlichkeit“). Aber dieses
Kriterium ist nicht zuverlässig und kann sogar die falsche Entscheidung ganz nahelegen.
Fall 144: A will ein Schulkind kidnappen, den Eltern die Tötung androhen und so zu Geld
kommen. Er wartet vor einer Grundschule und redet auf den 7jährigen K ein, daß er zu
ihm in den Wagen steige. Als K sich bereit erklärt, sieht A die 8jährige M, die er als
Tochter eines Multimillionärs erkennt. Um der reicheren Beute willen disponiert er
um. Er weist K ab, bewegt statt seiner die M einzusteigen und fährt mit ihr davon.
Die weitere Ausführung der im Angriff auf K liegenden Tat hat A aufgegeben; die
Höchstpersönlichkeit des Schutzgutes verbietet es, den Angriff auf K mit dem auf M zu einer Tat
zu verschmelzen. Gemessen an den leges artis der Verbrechervernunft geschah das aber
unfreiwillig, selbst wenn man diese nach dem konkreten Verbrechertyp spezifiziert, hier also
nach dem eines Kidnappers; solchen Verbrechern gebietet die Vernunft, ein möglichst lohnendes
Opfer zu wählen. Dementsprechend müßte A wegen Vollendung (M) und Versuch (K) bestraft
werden. Ein Ergebnis, das wohl auch die Vertreter dieser Lehre nicht wollen. Von unserem
Standpunkt aus wird es vermieden. Denn danach ist entscheidend, daß das Aufgeben ohne den
Druck des empfindlichen Übels, eine Einbuße zu erleiden, zustande kam. A hätte, um das Delikt
an K zu vollenden, nur auf einen Vorteil verzichten müssen, nämlich auf das lohnendere Opfer
[s.o. die zweite Voraussetzung unter (c)].
bb) Das freiwillige Verhindern der Vollendung, § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt.
(1)Verursachung der Nichtvollendung
Fall 145: Bei einem Streit hat X den Y mit Tötungsabsicht niedergestochen. Als X den Y schwer
verletzt am Boden liegen sieht, reut ihn die Tat und er ruft einen Notarztwagen. Als Y
mit diesem auf dem Weg zum Krankenhaus ist, kommt es zu einem Verkehrsunfall,
infolgedessen Y stirbt.
(2)Zurechnung der Nichtvollendung
(a)Erforderlichkeit eines pflichtgemäßen Verhaltens
Fall 146:
Im Fall 145 schleppt X den Y ins Auto und fährt bis auf 100 Meter an das
Krankenhaus heran. Dort legt er Y ins Gebüsch. Ein Passant findet Y dort und gibt im
Krankenhaus Bescheid. Dadurch wird Y gerettet. (Vgl. BGHSt 31, 46).
(b) Realisierung der durch pflichtgemäßes Verhalten geschaffenen Nichtvollendungschance
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Fall 147: Siehe Fall 145.
cc) Das freiwillige und ernsthafte Bemühen, die Vollendung zu verhindern, bei Nichtvollendung
ohne Zutun des Zurücktretenden, § 24 Abs. 1 S. 2
Fall 148:
Siehe Fall 145.
Fall 149: B hat im Keller eines Landgerichts eine Bombe mit Zeitzünder gelegt. Zwei Stunden
vor der erwarteten Explosion besinnt er sich um. Er ruft im Gericht an und nennt das
Versteck. B weiß dabei nicht, daß
a) die Bombe defekt war und deswegen ohnehin nicht explodiert wäre.
b) die Bombe bereits entdeckt und entschärft worden ist.
c) Die geschriebenen Voraussetzungen des § 24 Abs. 2
aa) Das freiwillige Verhindern der Vollendung bei Tatbeteiligung mehrerer, § 24 Abs. 2 S. 1
Fall 150: T will sich die Juwelen aus dem Safe des E verschaffen. Er überredet E’s Haushälterin
H, ihm die Kombination für den Safe zu beschaffen. H will sie T aber erst mitteilen,
wenn es ihm gelungen ist, unentdeckt in die Villa des E einzudringen. Sie will ihm
dann durchs Telefon die Kombination durchgeben. Als es soweit ist, bekommt H aber
Skrupel. Nachdem sie T die erste der sechs Zahlen genannt und er sie eingestellt hat,
hört H auf. Da T den Tresor allein nicht öffnen kann, muß er die Villa unverrichteter
Dinge verlassen.
bb) Die Merkmale des § 24 Abs. 2 S. 2
Fall 151: Im Fall 150 wähnt H nur, die richtige Kombination herausgefunden zu haben.
Tatsächlich sind die Zahlen falsch.
Fall 152: Nachdem H im Fall 150 die Nennung der weiteren fünf Zahlen verweigert und
aufgelegt hat, beschließt T, auf gut Glück eine Kombination einzustellen. Das
Unwahrscheinliche wird Wirklichkeit: Die Kombination stimmt. T öffnet den Tresor,
nimmt die Juwelen an sich und macht sich davon.
V. Die Möglichkeit des Absehens von Strafe oder der Strafmilderung beim
grob unverständigen Versuch, § 23 Abs. 3
Fall 153: Die schwangere S trinkt auf Anraten ihres Verlobten V Kamillentee in dem Glauben,
dadurch ihre Leibesfrucht abzutöten. (Vgl. dazu Fall 106)
VI. Der sog. „abergläubische“ oder „irreale Versuch“
Beim „abergläubischen“ oder „irrealen Versuch“ geht es um Fälle, in denen sich im
Vorstellungsbild des Täters schon keine Tatbestandsverwirklichung findet, so daß es bereits an
der Vorstellung von der Tat und damit natürlich auch an einem Versuch i.S.d. § 22 fehlt. Die
Redeweise vom „abergläubischen Versuch“ ist also strenggenommen nicht korrekt.
Fall 154: A will seinen Erzfeind F töten. Er ist überzeugt, ihn totbeten zu können. So betet er
denn.
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A stellt sich keine Verursachung des Erfolges auf naturgesetzlichem Wege vor. Nur eine solche
Verursachung wird aber vom Strafrecht erfaßt. Würde man auch metaphysische Kausalverläufe
anerkennen und ins Strafrecht einbeziehen, so würde man eine Verursachungsweise für möglich
erklären, die in der Praxis niemals als real geworden bewiesen werden könnte. Merkmale, deren
Erfülltsein nicht bewiesen werden kann, sind aber sinnlos, weil das Recht im Leben wirken soll.
Aus demselben Grund übrigens ist ein „Gesundbeten“ des Opfers keinesfalls eine
Vollendungsverhinderung i.S.d. § 24 I 1, 2. Alt. und nicht einmal ein „Bemühen“ i.S.d. § 24 I 2.
E. Das Fahrlässigkeitsdelikt
Gem. § 15 muß die Haftung für bloße Fahrlässigkeit ausdrücklich angeordnet sein (vgl. etwa
§§ 222, 229, aber auch § 18).
I. Die gesetzlichen Erscheinungsformen der Fahrlässigkeitstat
Es gibt reine Fahrlässigkeitsdelikte (§§ 222, 315c III Nr. 2), und es gibt Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen (§§ 315c III Nr. 1, 227). Letztere bezeichnet das Gesetz in § 11 II als
Vorsatzdelikte; das hat Bedeutung für die Teilnahme: Wer beispielsweise den Täter des § 315c
III Nr. 1 zur Tat „bestimmt“ oder ihm „Hilfe leistet“, ist strafbar wegen Anstiftung bzw. Beihilfe
(§§ 26, 27).
II. Der Tatbestand
1. Die objektive Fahrlässigkeit (objektive Sorgfaltspflichtverletzung, Überschreitung des
erlaubten Risikos): Das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (vgl. § 276
S. 2 BGB). Ermittelt wird sie durch eine Interessenabwägung, vergleichbar der bei § 34 StGB.
Diese kann allerdings durch eine geschriebene Sorgfaltsnorm praktisch entschieden sein
(Beispiele: Tempolimit, Unfallverhütungsvorschriften).
a) Die deliktssystematische Einordnung
Fall 155: S wirft sich in Selbstmordabsicht vor den Wagen des B. B hat keine Möglichkeit, den
Unfall zu vermeiden.
b) Der Inhalt
Fall 156: A fährt mit 40 km/h durch eine Spielstraße. Plötzlich taucht vor ihm ein Kind auf, das
hinter einem Fußball herläuft. A kann nicht mehr rechtzeitig bremsen, erfaßt das Kind
und fügt ihm erhebliche Verletzungen zu.
Fall 157: Vorstadtbewohner V fährt täglich zur Arbeit in die City und parkt dort seinen Pkw auf
offener Straße. Eines Nachts legen ihm Terroristen unbemerkt eine Bombe in den
Kofferraum.
a) V transportiert die Bombe unwissentlich in die Stadt.
b) Vor der Abfahrt erhält V einen warnenden anonymen Anruf, nimmt ihn aber nicht
ernst.
In der Stadt explodiert die Bombe. Ein Passant wird getötet.
Fall 158: C, Chefarzt einer Augenklinik, hat eine neue Operationsmethode entwickelt. Er
praktiziert sie aber nur bei Privatversicherten. Bei der Kassenpatientin K führt die nach
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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üblichem Standard durchgeführte Operation zur Erblindung. Mit C’s neuer Methode
wäre das vermieden worden.
Begründen Sie, warum Fahrlässigkeit vorliegt im Fall 156 und Fall 157 b, nicht aber im Fall 157
a und Fall 158!
2. „durch“ Fahrlässigkeit (der sog. Schutzzweck- und Pflichtwidrigkeitszusammenhang). Im
Erfolg muß sich gerade eines derjenigen Risiken verwirklichen, deretwegen das Verhalten
verboten ist.
a) Die Fallgruppe des Schutzzweckzusammenhangs
Fall 159:
Lkw-Fahrer L befährt die Universitätsstraße mit zulässiger Geschwindigkeit und
erfaßt mit seinem Fahrzeug unvermeidbar die verwirrte Rentnerin R und verletzt sie
schwer. Wäre L nicht zuvor auf der Landstraße zwischen Witten und Bochum zu
schnell gefahren, hätte R die Universitätsstraße längst überquert gehabt, als L dort
entlang fuhr.
Fall 160: A verursacht fahrlässig einen Arbeitsunfall. Das Opfer hat zunächst Glück: Es wird
nur leicht verletzt. Auf dem Weg ins Krankenhaus kommt es dann aber bei einem
Verkehrsunfall ums Leben.
Weder L noch A haben „durch Fahrlässigkeit“ einen Erfolg herbeigeführt. Die übliche
Begründung lautet: Das Gebot „verursache keine Arbeitsunfälle“ (§ 229) habe nicht den Sinn zu
verhindern, daß sich jemand im Krankenhaus aufhält, weil es dort brennen könnte; und das
Gebot „fahre nicht zu schnell“ (§ 222) habe nicht den Sinn zu verhindern, daß jemand zu späterer
Zeit die Universitätsstraße befährt, weil dann niemand auf die Fahrbahn läuft. Das ist richtig.
Denn die so verstandenen Gebote wären „ungeeignet“, Todes- und Körperverletzungserfolge zu
verhindern: Man weiß nicht, wann es wo brennt und wer zu welchem Zeitpunkt die
Universitätsstraße überquert; und umgekehrt: Wer zu Hause verbrennt, wäre verschont
geblieben, wäre er zuvor verletzt und ins Krankenhaus gebracht worden.
Fall 161: Aus Ärger über die undurchsichtige Buchführung des Kaufmanns K bekommt
Betriebs-prüfer P einen heftigen Magenkrampf.
b) Die Fallgruppe des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs
Fall 162: A fährt mit 60 km/h, wo nur 50 erlaubt sind. Völlig überraschend betritt der zerstreute
Professor P die Fahrbahn. Er wird trotz Vollbremsung erfaßt und erheblich verletzt.
Wäre A zur selben Sekunde an der Unglücksstelle mit 50 km/h gefahren, hätte P die
gleichen Verletzungen erlitten.
Beruht der Erfolg nachweisbar nicht auf dem pflichtwidrigen Verhalten, fehlt es am
Pflichtwidrigkeitszusammenhang. So liegt es hier. P wäre auch bei korrekter Fahrweise verletzt
worden.
Fall 163: Wie Fall 162. Aber es läßt sich nicht klären, ob K bei korrekter Fahrweise des A
ebenfalls verletzt worden wäre.
Rspr. und viele in der Literatur sagen (BGHSt 11, 1, 7; 33, 61, 63; Wessels/Beulke, AT30, Rdnrn.
680–683): Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist nur gegeben, wenn der Erfolg gerade auf der
Pflichtwidrigkeit beruht, also nur dann, wenn der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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ausgeblieben wäre. Das muß zur Überzeugung des Gerichts feststehen (vgl. § 261 StPO). Kann
das Gericht diese Überzeugung nicht gewinnen, muß es seiner Entscheidung in dubio pro reo zu
Grunde legen, daß der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Weil damit
im Fall 163 der Pflichtwidrigkeitszusammenhang fehlt, ist A vom Vorwurf einer fahrlässigen
Tötung freizusprechen.
Die Gegenansicht (die sog. Risikoerhöhungslehre: Roxin, AT I3, § 11 Rdnrn. 76–87) sagt: A ist
zu schnell gefahren; damit war sein Fahren sorgfaltspflichtwidrig. Und da die Verletzungen des P
auf dem Fahren beruhen, beruhen sie auch auf einem sorgfaltswidrigen Verhalten, sind also
„durch Fahrlässigkeit“ verursacht worden. A ist aus § 229 strafbar.
Die Risikoerhöhungslehre ist ungenau: Die Gefahren, die A mit seinem Fahren schafft, hat er
zum Teil durch sorgfaltsgemäßes und zum Teil durch sorgfaltswidriges Fahren geschaffen. Der
lange Bremsweg etwa beruht auf dem sorgfaltswidrigen Fahren (10 weitere km/h). Also hat A
die Verletzungen des P nur dann „durch Fahrlässigkeit (§ 229) verursacht, wenn der Tod gerade
auf dem Stück Bremswegverlängerung beruht, das A durch sein sorgfaltswidriges Zu-schnellFahren erzeugt hat. Und eben das ist nicht nachweisbar.
III. Die Rechtswidrigkeit
1. Kein Unrechtserfolg bei objektiver Rechtfertigungslage?
Fall 164: Bei einem Einkaufsbummel mit seiner Frau dreht M sich plötzlich mit gestrecktem
Arm zur Seite, um ihr ein neues Geschäft zu zeigen. Dabei trifft er den Taschendieb T
schmerzhaft am Kopf. T hatte sich gerade angeschickt, ihm das Portemonnaie aus der
Gesäßtasche zu ziehen.
M hat etwas Schlechtes bewirkt, er hat T Schmerzen zugefügt. Er hat aber auch Gutes bewirkt,
nämlich den rechtswidrigen Angriff auf sein Eigentum abgewehrt. Deswegen mißbilligt die
Rechtsordnung den Körperverletzungserfolg nicht, sondern sieht ihn kompensiert. Was als zu
Mißbilligendes allein in der Welt bleibt, ist der Handlungsunwert, der in dem unvorsichtigen
Sich-zur-Seite-Drehen liegt. Bloßes Handlungsunrecht allein ist aber bei Fahrlässigkeitstaten
kein Delikt. Deswegen ist M nicht strafbar nach § 229.
2. Keine Unrechtsfahrlässigkeit bei sorgfaltsgemäßer Vorstellung einer objektiven Rechtfertigungslage?
Fall 165: A läuft mit gezücktem Messer auf B zu und schreit: „Ich bring’ dich um!“ N fürchtet
um B’s Leben. Nach einem Warnruf gibt er einen Warnschuß ab, der als Querschläger
den A verletzt. In Wahrheit handelte es sich um einen Scheinangriff, verabredet von A
und B, um Passanten zu erschrecken.
IV. Die Schuld
Die subjektive Sorgfaltswidrigkeit – ein eigenständiges Merkmal? Allgemein wird beim
Fahrlässigkeitsdelikt verlangt, daß die Tat auch subjektiv sorgfaltswidrig ist. Der Täter müsse
nach seinem individuellen Leistungsvermögen fähig sein, die Sorgfaltsanforderungen zu
erkennen und zu erfüllen.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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1. Die deliktssystematische Einordnung
Fall 166: Ein völlig verkalkter achtzigjähriger Arzt wird zu einer Patientin gerufen. Weil er sie
mit einer anderen verwechselt, gibt er ihr mit tödlicher Wirkung die falsche Spritze.
Fall 167: Ein Volltrunkener glaubt, noch ganz fahrtüchtig zu sein, und erklärt sich bereit, seinen
Zechgenossen in dessen Wagen nach Hause zu chauffieren. Unterwegs überfährt er
einen Fußgänger.
Lesen Sie erneut den Text zu Fall 67!
2. Die Frage der sachlichen Berechtigung des Merkmals
Fall 168 und Fall 169: Siehe Fall 166 und Fall 167.
Fall 170: Ein
ausländischer
Arbeitnehmer
bedient
eine
Kreissäge,
die
den
Sicherheitsvorschriften nicht entspricht und verletzt dadurch einen Arbeitskollegen.
a) Er hat die Gefahr genau erkannt, aber seinem Vorgesetzten geglaubt, der ihm
versi- chert hatte, daß sich die Maschine in ordnungsgemäßem Zustand befinde.
b) Aus Unerfahrenheit hat er jegliche Gefahr verkannt.
Fall 171: A führte für seinen Dienstherrn eine mit zwei Pferden bespannte Droschke. Eines der
Pferde war ein sog. „Leinenfänger“; es hatte die Angewohnheit, den Schweif über die
Fahrleine zu schlagen und diese einzuklemmen. A und sein Dienstherr wußten davon.
Trotzdem blieb das Pferd im Gespann. A fürchtete, entlassen zu werden, wenn er sich
weigerte, mit dem Pferd zu fahren. Als dieses wieder einmal die Leine eingefangen
hatte und K sich vergebens bemühte, sie herauszuziehen, wurden die Pferde wild. A
verlor die Herrschaft über das Gespann. Die Pferde warfen den Passanten P um. Er
geriet unter den Wagen und erlitt einen Beinbruch (RGSt 30, 25).
Welcher der Fälle läßt sich mit einer geschriebenen Rechtsregel lösen?
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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F. Täterschaft und Teilnahme
Die Abgrenzung ist nur für Vorsatztaten wichtig. Bei fahrlässigen Taten gibt es nur Täter.
I. Täterschaft
 In jeden Straftatbestand des BT muss man eine der in § 25 genannten Begehungsformen
hineinlesen. Das „Begehen“, von dem Abs. 1 und Abs. 2 des § 25 sprechen, ist der Oberbegriff
für Handeln und Unterlassen.
 Unterscheiden Sie die drei in § 25 genannten Täterschaftsformen!
Fall 172:
T möchte X, Y und Z töten.
a) Er hetzt seinen Rottweiler auf den X, den das Tier zerfleischt.
b) Eine Woche später lässt er den Y von Z erschießen, indem er dem Z androht,
anderenfalls ihn zu töten.
c) Eine weitere Woche später ertränkt er den Z in der Ostsee, und zwar mit Hilfe
seines Freundes M, der ebenfalls den Tod des Z wünscht.
T ist im Fall 172 a strafbar aus §§ 212, 25 I Alt. 1. Aus diesen beiden Vorschriften bildet sich die
Tatbestandsformulierung: „Wer einen Menschen selbst tötet, ...“ – Weil die unmittelbare
Alleintäterschaft der Normalfall ist, wird § 25 I Alt. 1 in Strafrechtsgutachten gar nicht erwähnt.
T ist im Fall 172 b strafbar aus §§ 212, 25 I Alt. 2. Aus diesen beiden Vorschriften bildet sich die
Tatbestandsformulierung: „Wer einen Menschen durch einen anderen tötet, ...“ – Weil die sog.
mittelbare Täterschaft ein Ausnahmefall ist, wird die Voraussetzung der Tatbegehung „durch
einen anderen“ immer erwähnt und geprüft.
T ist im Fall 172 c strafbar aus §§ 212, 25 II. Aus diesen beiden Vorschriften bildet sich die Tatbestandsformulierung: „Wer einen Menschen mit einem anderen gemeinschaftlich tötet, ...“ –
Weil die sog. Mittäterschaft ebenfalls ein Ausnahmefall ist, wird die Voraussetzung der
Tatbegehung von „mehreren gemeinschaftlich“ immer erwähnt und geprüft. In einfachen Fällen
wie diesem prüft man die Strafbarkeit von T und M sogleich gemeinsam und sagt am Ende: „T
und M haben sich wegen eines Totschlags in Mittäterschaft strafbar gemacht (§§ 212, 25 II).“
 Unterscheiden Sie die zwei großen Meinungslager zur Täterschaft:
 Rspr.: Animus-Theorie (= subjektive Theorie)
Täter ist, wer Täterwillen („animus auctoris“) hat; Teilnehmer ist, wer bloßen Teilnehmerwillen („animus socii“) hat.
H. Lit.: Tatherrschaftslehre (= materiell-objektive Theorie)
Täter ist, wer Tatherrschaft hat.
 Genauer zur Animus-Theorie
 Objektiv genügt jeder Tatbeitrag, sei er auch noch so gering.
 Subjektiv ist – zusätzlich zu den üblichen Voraussetzungen (Vorsatz, besondere subjektive
Merkmale) – der Täterwille erforderlich. Ob ein Beteiligter Täterwillen hat, ist „nach den
gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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zu beurteilen“; „wesentliche Anhaltspunkte“ sind insbesondere „der Grad des eigenen
Interesses am Erfolg der Tat“ sowie „der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft
oder wenigstens der Willen zur Tatherrschaft, so dass Durchführung und Ausgang der Tat
maßgeblich auch von seinem Willen abhängen“ (BGHSt 36, 363, 367).
Ob nach diesen Indizien der Täterwille im jeweiligen Fall bejaht oder verneint werden
muss, ist äußerst unklar. Mit dem Kriterium der „Tatherrschaft oder wenigstens dem
Willen zur Tatherrschaft“ nähert sich die Rspr. der Tatherrschaftslehre an.
 Genauer zur Tatherrschaftslehre (s. etwa Kühl, AT3, § 20 Rn 26).
 Objektiv ist mehr als irgendein Tatbeitrag erforderlich, nämlich Tatherrschaft. Üblich ist
eine sehr naturalistische Beschreibung. Danach ist Tatherrschaft das In-den-Händen-Halten
des Tatgeschehens, die Steuerung des Tatablaufs; Tatherrschaft hat, wer die Tat nach
seinem Willen hemmen oder ablaufen lassen kann.
Auch dieses Kriterium ist recht vage, aber immerhin präziser als die Frage nach dem
Täterwillen.
 Subjektiv gibt es nur die üblichen Voraussetzungen (Vorsatz, besondere subjektive
Merkmale). Nur muss sich natürlich der Vorsatz auf die objektive Tatherrschaft erstrecken:
Das In-den-Händen-Halten des Geschehens muss vom Vorsatz umfasst sein.
 Allgemeine Hinweise zur Prüfung der Täterschaft im Gutachten
 Halten Sie sich an die allgemeine Aufbauregel, dass im objektiven Tatbestand die
objektiven Merkmale geprüft werden und im subjektiven Tatbestand die subjektiven! Das
heißt:
 Klären
Sie
im
objektiven
Tatbestand,
ob
die
nötigen
objektiven
Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen! Nötig ist nach der Animus-Theorie nur ein ganz
geringer Tatbeitrag, nach der Tatherrschaftslehre ist ein bedeutender Tatbeitrag nötig.
 Klären Sie im subjektiven Tatbestand, ob die nötigen subjektiven
Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen! Nötig ist nach der Tatherrschaftslehre nur das
Übliche, nach der Animus-Theorie ist zusätzlich Täterwille nötig.
 Entscheiden Sie sich nur dann zwischen Animus-Theorie und Tatherrschaftslehre, wenn
beide Ansichten zu verschiedenen Ergebnissen kommen!
Das passiert am ehesten im objektiven Tatbestand, wenn der objektive Tatbeitrag des
Beteiligten marginal und gering ist. Im subjektiven Tatbestand hingegen können Sie ein
Divergieren der beiden Täterschaftslehren leicht vermeiden. Weil nämlich die Kriterien der
Animus-Theorie nahezu beliebig sind, können Sie die Animus-Theorie in Ihrem konkreten
Fall fast immer zu demselben Ergebnis kommen lassen, zu dem Sie auch mit der
Tatherrschaftslehre kommen.
 Wenn eine Streitentscheidung nötig ist: Machen Sie deutlich, dass die Animus-Lehre
einem schweren methodischen Einwand ausgesetzt ist, nämlich dem der Beliebigkeit ihrer
Ergebnisse und des Fehlens jeglicher Kraft, die Praxis anzuleiten und damit
Rechtssicherheit zu schaffen.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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1. Alleintäterschaft (§ 25 I)
a) Das Selbstbegehen der Straftat (sog. unmittelbare Täterschaft), § 25 I Alt. 1
Beim Deliktsaufbau gibt es über das soeben vor 1 Gesagte hinaus keine Besonderheiten.
Fall 173:
T installiert abends eine Bombe mit Zeitzünder im Laderaum eines noch unbesetzten
Jumbo-Jets. Als die Bombe in der Nacht planmäßig explodiert und Besatzung wie
Passagiere in den Tod reißt, schläft T.
Unproblematisch: T ist (u. a.) Täter eines Mordes mit gemeingefährlichen Mitteln (§ 211).
Machen Sie sich nur klar, dass trotz der Bezeichnung „unmittelbare Täterschaft“ Tathandlung
und Taterfolg zeitlich weit auseinander liegen können (vgl. § 8).
Fall 174:
(LG Duisburg, Urt. v. 25.3.1993) Der 1921 geborene G hatte im April 1945 als SSRottenführer einen Evakuierungsmarsch vom Nebenlager Wiener Neudorf zum KZ
Mauthausen zu bewachen. Auf ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten V erschoss
er den Häftling H, der nicht mehr gehen konnte. Zur Zeit des Schießens war V weit
entfernt und nicht erreichbar.
Strafbarkeit von G nach § 212?
G hat objektiv zurechenbar den Tod eines anderen Menschen verursacht und damit nach allen
Ansichten den objektiven Tatbestand des § 212 erfüllt. G hat auch vorsätzlich gehandelt. Damit
ist nach Ansicht der Tatherrschaftslehre der Tatbestand komplett verwirklicht. Die AnimusTheorie fragt noch zusätzlich, ob G auch „Täterwillen“ hatte. In einem Fallgutachten können Sie
dem G diesen Täterwillen ohne Bedenken attestieren, denn G war als der Todesschütze
maßgeblich an der Tat beteiligt, hatte die Tatherrschaft und auch den Willen dazu (vgl. die oben
vor 1 genannten Kriterien des BGH). Das LG Duisburg hat sich allerdings auf den Standpunkt
gestellt, G habe keinen Täterwillen gehabt. Schon früher (als es § 25 noch nicht gab) hat die
Rspr. so argumentiert und maßgeblich sein lassen, dass das Tatinteresse gering gewesen sei;
RGSt 74, 84 ff. (Badewannenfall); BGHSt 18, 87 ff. (Stachynskij-Fall).
Konstellationen wie Fall 174 zeigen, dass die Animus-Theorie mit dem heutigen StGB nicht
vereinbar ist. Denn gemäß § 25 I Alt. 1 wird nun einmal als Täter bestraft, wer die Straftat selbst
begeht. Daran besteht bei G im Fall 174 kein Zweifel. Für seine Strafbarkeit mehr zu verlangen,
nämlich einen im Gesetz nirgends auch nur angedeuteten Täterwillen, ist gegen das Gesetz.
Fall 175: T bemüht sich seit langem, seinen friedliebenden und gemütvollen Bernhardiner zu
einem Kampfhund zu erziehen. Der Dressurerfolg ist außerordentlich mäßig:
Kampfeslust und Gehorsam des Bernhardiners sind schwach und unberechenbar. Als
eines Tages zwei Nachbarkinder auf der Straße vor Ts Haus spielen und lärmen, öffnet
T dem Hund die Tür und ruft „Fass!” Es geschieht, was ebenso gut ungeschehen hätte
bleiben könnte: Lustlos, aber in Maßen gehorsam trottet der Hund auf das Kind K zu
und beißt ihm sorgenvoll in den Arm. K schreit vor Angst und Schmerzen auf, aber es
fließt kein Blut.
Strafbarkeit des T nach § 223?
T hat unbestritten eine einfache Körperverletzung begangen. Machen Sie sich aber eines klar:
Wenn man mit dem oben genannten naturalistischen Kriterium der Tatherrschaftslehre ernst
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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machen würde, müsste man die Täterschaft verneinen! Denn es kann überhaupt keine Rede
davon sein, dass T das Tatgeschehen „in den Händen hielt“ oder die Tat „nach seinem Willen
hemmen oder ablaufen lassen“ konnte: Es war reiner Zufall, ob der Hund gehorchen und beißen
würde. Der Fall zeigt, dass dieses Täterschaftskriterium also nicht richtig sein kann, denn es führt
zur Verneinung von Täterschaft, wo sich alle über die Bejahung von Täterschaft einig sind.
Ziehen Sie daraus zwei Lehren:
1. Wenden Sie das naturalistische Kriterium der Tatherrschaftslehre bei der unmittelbaren
Täterschaft nicht an!
Sie dürfen das so machen. Denn die Anhänger der Tatherrschaftslehre wenden ihr Kriterium
bei der unmittelbaren Täterschaft ja selber nicht an.
2. Machen Sie Sich klar: Ein Kriterium, was schon bei der unmittelbaren Täterschaft nicht
stimmt, kann konsequenterweise auch bei der mittelbaren und der Mittäterschaft nicht
stimmen.
Vertiefung: Es gibt neben dem naturalistischen Zweig der Tatherrschaftslehre auch einen
stärker normativistischen Zweig. Er stellt nicht ab auf eine faktische Beherrschung und
Steuerung des Geschehens, sondern darauf, ob sich jemand das Geschehen nach normativem
Maßstab als seine Tat zurechnen lassen muss. Das ist bei aller Schwierigkeit doch ein recht
präziser und weithin zuverlässig funktionierender Maßstab. Denkt man diese normative
Ausrichtung zu Ende, so kann man jedenfalls für die Alleintäterschaft (unmittelbare und
mittelbare Täterschaft) sagen:
Ein Tatbeteiligter ist dann Täter, wenn zwischen ihm und dem Taterfolg
kein anderer als Täter steht.
In dieser konsequenten Ausprägung ist die normativierende Tatherrschaftslehre aber – soweit
ersichtlich – noch nirgends veröffentlicht. Deshalb können Sie sich zwar gedanklich daran
orientieren und sich vieles damit klar machen; aber Sie sollten dieses Kriterium nicht in Ihren
Fallgutachten offen zur Schau tragen, weil Sie Ihren Prüfer damit verdutzen könnten.
b) Das Begehen der Straftat „durch einen anderen“ (sog. mittelbare Täterschaft), § 25 I
Alt. 2
aa) Grundlagen der mittelbaren Täterschaft
Die Möglichkeit, eine Straftat „durch einen anderen“ zu begehen, war schon vor Einführung des
§ 25 I Alt. 2 anerkannt. Die Vorschrift begründet also keine Strafbarkeit, sondern ist nur eine
Klarstellung.
Vertiefung: Häufig werden unmittelbare und mittelbare Täterschaft als zwei einander
ausschließende Täterschaftsformen angesehen. Genau genommen ist aber die mittelbare
Täterschaft nur ein Unterfall der unmittelbaren Täterschaft. Auch derjenige nämlich, der eine
Straftat „durch einen anderen” begeht, begeht die Tat ja „selbst”; denn er „selbst” ist ja der Täter.
Dass das Gesetz beide Formen mit einem „oder” verknüpft, besagt nichts. Bei § 303 etwa spricht
es davon, dass jemand eine Sache „beschädigt oder zerstört”; und es ist allg. A., dass das
Zerstören nur ein Unterfall des Beschädigens ist.
Lernen Sie die Termini „Hintermann”, „Vordermann”, „menschliches Werkzeug”, „Tatmittler”,
„Tatherrschaft” und „Verantwortungsdefizit”!
Bei der mittelbaren Täterschaft gibt es immer zwei Personen auf der „Täterseite“: Den
„Hintermann“ (im Fall 176 den A) und den „Vordermann” (im Fall 176 b den S). Zu klären ist in
einem Fallgutachten immer, ob der „Vordermann“ selber Täter ist und ob der „Hintermann“
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Täter (dann eben „mittelbarer“ Täter) ist (oder vielleicht nur Anstifter oder Gehilfe). Man pflegt
zu sagen, dass der „Hintermann“ dann Täter ist, wenn er den „Vordermann“ als „menschliches
Werkzeug“, als „Tatmittler“ eingesetzt hat und deshalb die „Tatherrschaft“ hat. Das wiederum
bejaht man fast immer, wenn beim „Vordermann“ ein „Verantwortungsdefizit“ besteht (genauer
unter bb).
Fall 176:
A bewirkt absichtlich die Verletzung des Kindes K, indem er ...
a) seinen Hund auf K hetzt;
b) seinen zehnjährigen Sohn S auffordert, K zu verprügeln.
A hat im Fall 176 a die Körperverletzung (§ 223, evtl. § 224 I Nr. 2: mittels eines gefährlichen
Werkzeugs) „selbst“ begangen. In der Var. b hat er sie „durch einen anderen“ begangen, nämlich
durch ein schuldloses Werkzeug. Das ist unbestritten.
Die Animus-Theorie würde argumentieren: A hatte in beiden Varianten Täterwillen. Das ist zwar
nicht falsch und führt zum richtigen Ergebnis, ist aber eine recht beliebige Zuschreibung.
Die naturalistische Tatherrschaftslehre würde argumentieren: A hielt in beiden Varianten das
Geschehen steuernd in Händen. Aber wenn wir uns den Sohn S im Fall 176 b als so
unzuverlässig denken wie den Bernhardiner in Fall 175, dann wird deutlich, dass die Täterschaft
des A im Fall 176 b genauso wenig wie in Fall 175 und in Fall 176 a davon abhängen kann, wie
zuverlässig das eingesetzte (menschliche oder sächliche) Werkzeug funktioniert.
Man ist sich – bei aller Unterschiedlichkeit des gewählten eher „äußerlichen“ Kriteriums – in der
Sache recht einig darüber, dass es die fehlende rechtliche Verantwortung des Tatmittlers ist, die
uns zu der rechtlichen Bewertung bringt, der Hintermann sei der Täter (näher sogleich unter bb).
Vertiefung: Machen Sie sich am Fall 176 klar, was es bedeutet, wenn man sagt, A habe die
Körperverletzung „durch den S“ begangen!
Üblicherweise sagt man: Wenn die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft vorliegen, wird
dem Hintermann die Tathandlung des Vordermannes wie eine eigene Handlung zugerechnet.
Konkret zum Fall 176 b: Dem A sollen die von S ausgeteilten Schläge „wie eigene Schläge des
A zugerechnet“ werden. Das halten wir für eine unnötig komplizierte und auch in der Sache
unzutreffende Beschreibung des rechtlichen Gedankens. Denn im Fall 176 a würde man auch
nicht sagen, dem A wären die Bisse des Hundes „wie eigene Bisse des A zuzurechnen“. Man
würde sich vielmehr mit der schlichten und hinreichenden Feststellung begnügen, dass sein
Befehl an den Hund die Tathandlung war. Konsequenterweise muss man dann auch im Fall 176
b sagen, das sein Befehl an S die Tathandlung war. Die „Besonderheit“ der Tatbegehung „durch
einen anderen“ liegt allein darin, dass die Tathandlung des A keine Sache und kein Tier in Gang
gesetzt hat, sondern einen Menschen.
bb) Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft
(1) Ein Dritter als „anderer“
 Unproblematische Fälle
Fall 177:
T veranlasst W zur Schließung einer Tür mit der Folge, dass O stundenlang in einem
Kellerraum gefangen sitzt.
a) W weiß gar nicht, dass er jemanden einschließt.
b) W ist ein zwölfjähriges Kind.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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c) W ist geisteskrank oder vom Alkohol enthemmt.
d) T täuscht W vor, O sei ein in flagranti ertappter Einbrecher.
e) T ist Anwalt und überzeugt W davon, als Hausherr sei er (W) zur Schließung ohne
Rücksicht auf die Folgen berechtigt.
f) Als W sich weigert, droht T ernsthaft mit Prügeln.
Erklären Sie, worauf jeweils die rechtliche Bewertung beruht, dass T die Freiheitsberaubung
(§ 239) „durch einen anderen“ begeht, also mittelbarer Täter ist!
Im Fall 177 a ist W ein vorsatzloses Werkzeug, in Var. b und c ein schuldloses, in Var. d eines
im Erlaubnisumstandsirrtum (also entweder ein gerechtfertigtes oder ein entschuldigtes), in
Var. e eines im unvermeidbaren Verbotsirrtum (also ein schuldloses), in Var. f ein genötigtes
(also nach h. L. ein wegen § 35 schuldloses).
Die Animus-Theorie würde jedes Mal argumentieren, dass T Täterwillen gehabt habe. Das ist,
wie schon mehrfach betont, nicht widerlegbar, aber eben beliebig und nicht der Sachgrund.
Die Tatherrschaftslehre würde jedes Mal argumentieren, dass T Tatherrschaft gehabt habe. In den
Var. a, d und e würde sie von „Wissensherrschaft“ des T sprechen, in den Var. b, c und f von
„Willensherrschaft“). Das ist, wie ebenfalls schon mehrfach betont, als faktische Macht, das
Geschehen zu steuern, nicht überzeugend, hingegen sehr wohl unter Hinweis auf das normative
Defizit des Tatmittlers, also seine fehlende strafrechtliche Verantwortung.
Machen Sie sich klar, dass immer dann, wenn dem Vordermann lediglich die Schuld fehlt, auch
eine Anstiftung (§ 26) vorliegt! So ist das in den Var. b, c, e (und je nach rechtlicher Bewertung
bei W auch in den Var. d und f). Dann tritt die Anstiftung aber hinter der mittelbarer Täterschaft
zurück.
Faustregel: Strafrechtliche Verantwortung des Vordermannes weist dem Hintermann die Rolle
eines bloßen Teilnehmers (Anstifter, Gehilfe) zu. Fehlt die strafrechtliche Eigenverantwortung,
so handelt der Hintermann „durch einen anderen“.
Aber Achtung! Mit dem Handeln „durch einen anderen“ ist der Hintermann noch nicht
automatisch mittelbarer Täter. Das zeigt ...
Fall 178:
Der Sadist S zwingt Frau F mit Todesdrohungen dazu, ihre 14-jährige Tochter T zu
quälen.
F hat nicht nur den Tatbestand einer einfachen Körperverletzung (§ 223) verwirklicht, sondern
sogar den einer Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 I Nr. 1). Sie hat sich aber nicht
strafbar gemacht, weil sie von S dazu mit Todesdrohungen genötigt worden war (h. L.: nach § 35
entschuldigender Nötigungsnotstand).
S ist mittelbarer Täter einer einfachen Körperverletzung (§§ 223, 25 I Alt. 2). Er hat aber keine
Misshandlung von Schutzbefohlenen begangen. Denn das würde voraussetzen, dass die gequälte
T seiner Fürsorge oder seiner Obhut unterstand oder seinem Hausstand angehört hat usw.
 Problematische Fälle (Auswahl)
Die Probleme liegen meist bei der Frage, ob schon mittelbare Täterschaft vorliegt oder
wenigstens Anstiftung.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 179:
Frau F bereitet ihre Geburtstagsfeier vor und bittet ihre gehorsame 20-jährige Tochter
T, aus dem Keller des Nachbarn N heimlich ein paar Flaschen Sekt zu besorgen. T
macht das, aber nur, damit N, den sie nicht leiden kann, sich über den Verlust des
Champagners ärgert. Dass ihre Mutter die Flaschen bekommt, ist der T klar, aber egal.
Hat T einen Diebstahl (§ 242) begangen? Oder F? Was ist ein „dolos-absichtsloses Werkzeug“?
T hat dem N fremde bewegliche Sachen weggenommen; sie hat auch vorsätzlich gehandelt, aber
ohne Zueignungsabsicht. Also hat sie keinen Diebstahl begangen.
F könnte einen Diebstahl in mittelbarer Täterschaft (§§ 242, 25 I Alt. 2) begangen haben. F hat
zurechenbar verursacht, dass es zur Wegnahme fremder beweglicher Sachen gekommen ist.
Täterin wäre sie aber nur, wenn sie die Tat „durch einen anderen“ begangen hat. Das könnte hier
T sein. T hat wie gesagt vorsätzlich, aber absichtslos gehandelt. Ob das für mittelbare Täterschaft
genügt, ist umstritten (Stichwort: „dolos-absichtsloses Werkzeug“). Die Rspr., also die AnimusLehre, macht das wie üblich allein vom „Täterwillen“ abhängig und könnte im Fall 179 ohne
Schwierigkeiten eine mittelbare Täterschaft der F bejahen (vgl. BGH, NStE Nr. 16 zu § 242
StGB). Das Lager der Tatherrschaftslehre ist gespalten. Der faktische Zweig verlangt eine
Überlegenheit des Hintermannes, die sich nicht schon aus der Nichtstrafbarkeit des
Vordermannes ergibt (z. B. SKStGB-Hoyer2000, § 25 Rn 45–47; LK-Roxin11, § 25 Rn 140).
Danach wäre mittelbare Täterschaft hier abzulehnen mit der Begründung, T habe wegen ihres
Vorsatzes das gesamte Geschehen durchschaut und daher selber gesteuert, F hingegen habe keine
Herrschaftsmacht gehabt; nicht einmal Anstiftung wäre mangels Haupttat zu bejahen (wohl aber
§ 246). Der normative Zweig bejaht – jedenfalls beim „dolos-absichtslosen Werkzeug” –
mittelbare Täterschaft mit der Begründung, dass das Strafbarkeitsdefizit der T genüge, das
Geschehen rechtlich als Tat der F zu bewerten (z. B. Jescheck/Weigend, AT5, S. 669 f.;
Tröndle/Fischer50, § 25 Rn 3; anders aber Stratenwerth, AT I4, § 12 Rn 37). Diese Ansicht finden
wir nach dem bislang Gesagten nur konsequent.
Vertiefung: Gerade am Fall 179 lässt sich gut erklären, warum die streng normative
Tatherrschaftslehre vorzugswürdig ist. Der Grund findet sich letztlich in § 26. Diese Vorschrift
zeigt, indem sie dem Anstifter dieselbe Strafe wie dem Täter androht, dass das Bestimmen eines
anderen zur verantwortlichen Deliktsbegehung der eigenen Deliktsbegehung materiell
gleichwertig ist. Die Abgrenzung von Täterschaft und Anstiftung ist also nur formal-typisierend.
Wenn T Zueignungsabsicht gehabt und damit eine dem § 26 genügende Haupttat begangen hätte,
wäre F als Anstifterin „gleich einem Täter“ zu bestrafen. Wenn dagegen – wie hier mangels
Zueignungsabsicht – das die Anstiftung nur formal typisierende Merkmal der Haupttat nicht
erfüllt ist, ändert das nichts am Gewicht von Fs Tatbeitrag. F verdient also in beiden Fällen die
gleiche Strafe (Gleichbehandlungsgrundsatz, Art. 3 I GG). Weil nun aber § 26 nicht greift,
spricht alles dafür, die Wegnahmeverursachung in Zueignungsabsicht als täterschaftlichen
Diebstahl zu erfassen. – Was dieser Einsicht bei vielen im Wege steht, ist vermutlich der
Ausdruck der „Tatherschaft“; denn eine irgendwie geartete Herrschaft über T hat F ja nicht. Der
Ausdruck „Tatherrschaft“ ist aber keiner, der sich im Gesetz findet. Deshalb darf man sich nach
seinem Wortsinn nicht richten. Gemäß § 25 I 2. Fall kommt es nur darauf an, dass F den Sekt
„durch einen anderen“ weggenommen hat. Und das kann man allemal sagen, und es so zu sehen,
ist nach dem gerade Gesagten auch in der Sache geboten.
Fall 180: Wie Fall 177 e. Aber T ist kein Anwalt, sondern Zahnarzt.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Ist W einer Freiheitsberaubung (§ 239) strafbar? Oder T? Gibt es einen „Täter hinter dem Täter“?
W hat tatbestandlich und rechtswidrig eine Freiheitsberaubung begangen. Er handelte zwar wie
im Fall 177 e im Verbotsirrtum, aber anders als dort diesmal im vermeidbaren, denn er durfte der
Rechtsauskunft eines Zahnarztes nicht vertrauen. W handelte also gemäß § 17 mit Schuld und ist
daher strafbar.
T hat die Einsperrung des O zurechenbar verursacht. Täter wäre er aber nur, wenn er diese
Einsperrung „durch einen anderen”, hier den W, begangen hätte. W befand sich wie gesagt nur
im vermeidbaren Verbotsirrtum. Ob das für mittelbare Täterschaft reicht, ist umstritten. Die
Rspr., also die Animus-Lehre, macht das wie üblich allein vom „Täterwillen“ abhängig und
könnte im auch im Fall 180 ohne Schwierigkeiten eine mittelbare Täterschaft des T bejahen (vgl.
BGHSt 35, 347, 352–354). Das Lager der Tatherrschaftslehre ist gespalten. Der faktische Zweig
verlangt eine faktische Überlegenheit des Hintermannes, die durchaus auch bei Strafbarkeit des
Vordermannes vorliegen können soll (z. B. Baumann/Weber/Mitsch, AT10, § 29 Rn 139; S/SCramer/Heine26, § 25 Rn 38). Danach wäre mittelbare Täterschaft hier zu bejahen mit der
Begründung, T habe wegen seines überlegenen Rechtswissens das gesamte Geschehen gesteuert.
Der normative Zweig verlangt für die mittelbare Täterschaft, dass der Vordermann ein
strafbarkeitsausschließendes Defizit hat (so z. B. Jescheck/Weigend, AT5, S. 669; Stratenwerth,
AT I4, § 12 Rn 53, 55). Danach genügt Ws bloß strafbarkeitsminderndes Defizit nicht; T ist
danach also kein mittelbarer Täter, wohl aber Anstifter.
Vertiefung: Wir halten es für richtig, ein strafbarkeitsausschließendes Defizit zu verlangen, und
zwar aus zwei Gründen. Erstens: Wenn man bloße Strafbarkeitsminderungen genügen lassen
wollte, dürfte man nicht bei strafrahmenabsenkenden Strafmilderungen (wie z. B. § 17 S. 2)
stehen bleiben, sondern müsste konsequenterweise jeden strafmildernden Gesichtspunkt genügen
lassen, sogar wenn er erst bei der konkreten Strafzumessung zum Tragen käme wie zum Beispiel
eine „schwere Kindheit“ des W (vgl. § 46 II: „das Vorleben des Täters“). Damit würden die Ergebnisse aber ganz unplausibel. Weil wir kein Kriterium sehen, mit dem man die strafmildernden
Defizite sachlich begründet unterscheiden könnte, halten wir sie insgesamt für nicht ausreichend,
eine mittelbare Täterschaft des Hintermannes zu begründen. – Zweitens: Es besteht bei bloß
strafbarkeitsmindernden Defiziten des Vordermannes auch kein Bedürfnis, mittelbare Täterschaft
des Hintermannes zu bejahen. Denn weil der Vordermann Täter ist, kommt für den Hintermann
Anstiftung in Betracht.
(2) Das Opfer als „anderer“
Fall 181:
X bringt Y am Strand dazu, sein Schlauchboot mit einem Messer aufzuschlitzen.
a) Er schafft das, indem er dem Y einredet, es sei ein fremdes Schlauchboot.
b) Er schafft das, indem er dem Y für den Fall der Weigerung Prügel androht.
c) Er schafft das, indem er ausnutzt, dass Y erst 4 Jahre alt ist und noch kein
Verständnis für sein Eigentum und dessen Beschädigung hat.
Im Ansatz fragen Animus-Theorie und Tatherrschaftslehre wie immer nach dem „Täterwillen“
bzw. der „Tatherrschaft“ des Hintermannes. Aber natürlich kann man hier für eine Faustformel
nicht auf diejenigen Kriterien zurückgreifen, die bei einem Dritten als „anderer“ gelten. Denn
jemand wie Y, der sein eigenes Rechtsgut verletzt, handelt nicht deliktisch; deshalb kann man
bei ihm nicht sinnvoll danach fragen, ob er mit oder ohne Vorsatz, rechtmäßig oder rechtswidrig,
mit oder ohne Schuld gehandelt hat. In der Sache lässt man deshalb maßgeblich sein, ob er
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freiwillig sein Rechtsgut verletzt hat. Man greift also auf die Voraussetzungen einer Einwilligung
zurück.
Faustregel: Das sein eigenes Rechtsgut verletzende Opfer ist ein Werkzeug des Hintermannes,
wenn es ...
 gar nicht erkennt, dass es sein eigenes Rechtsgut verletzt (Irrtum, „Wissensherrschaft“) oder
 genötigt wird (Zwang, „Willensherrschaft“).
„Wissensherrschaft“ liegt vor im Fall 181 a und c, „Willensherrschaft“ in der Var. b. In allen drei
Var. ist X mittelbarer Täter einer Sachbeschädigung.
cc) Prüfungsaufbau bei der mittelbaren Täterschaft
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Tätermerkmale
b) Tatobjekt
c) Taterfolg
d) Tathandlung:
Hier Beschreibung, dass und wie der Täter auf den Vordermann eingewirkt hat.
e) Kausalität:
Hat die Einwirkung des Täters auf den Vordermann zum Erfolg geführt?
f) Objektive Zurechnung
War die Einwirkung des Täters auf den Vordermann im Hinblick auf den eingetretenen
Erfolg eine unerlaubte Gefahrschaffung und hat sich im Erfolg genau diese unerlaubt
geschaffene Gefahr verwirklicht?
g) Tatbegehung „durch einen anderen“ = War der Vordermann ein „menschliches
Werkzeug“?
h) Weitere objektive Merkmale
2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz (insb. hins. 1 g)
b) Weitere subjektive Merkmale
c) „Täterwille“ erforderlich und gegeben?
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
2. Mittäterschaft, § 25 II
a) Grundlagen der Mittäterschaft
aa) Der typische Fall und die Idee der wechselseitigen Zurechnung (§ 25 II)
Fall 182: A und B schlendern nachts durch die Stadt. Als ihnen der schmächtige Passant O
entgegenkommt, sagt A zu dem kräftigen B: „Du, der hat sicher Geld dabei. Das
schnapp ich mir, wenn du ihm ein bisschen Angst machst. Halbe halbe?“ B nickt. Als
O sie erreicht, droht B ihm mit Schlägen und veranlasst ihn so zum Stillhalten,
während A in allen Taschen nach Geld sucht und Os Portmonee an sich nimmt.
Strafbarkeit von A und B gemäß §§ 240, 242, 249?
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A ist nach § 25 I Alt. 1 Alleintäter eines Diebstahls (§ 242); B hat eine Nötigung (§ 240)
begangen. Wegen Raubes (§ 249) können sie nur bestraft werden, wenn man jedem das vom
anderen begangene Unrecht zurechnen kann. Das leistet § 25 II. Gängige Stichworte: „arbeitsteiliges Zusammenwirken“, „funktionale Tatherrschaft“.
bb) Das Verhältnis zur Alleintäterschaft
 Im Vergleich zur unmittelbaren Täterschaft (§ 25 I Alt. 1) wirkt die Mittäterschaft immer
strafbarkeitsausweitend, weil ja dem einen das vom anderen begangene Unrecht zusätzlich
angelastet wird (Fall 182).
 Im Vergleich zur mittelbaren Täterschaft (§ 25 I Alt. 2) wirkt die Mittäterschaft manchmal
nicht strafbarkeitsausweitend. Das zeigt
Fall 183:
Wie Fall 182, aber B ist schwachsinnig und A weiß das.
Abwandlung: A weiß nichts von Bs Schwachsinn.
B ist wegen Schuldunfähigkeit (§ 20) straflos. A ist im Hinblick auf die Wegnahme Alleintäter
(§ 25 I Alt. 1) und hinsichtlich der räuberischen Drohung mittelbarer Täter (§ 25 I Alt. 2).
Zugleich ist A auch Mittäter nach § 25 II, denn für Mittäterschaft ist es nicht nötig, dass der
andere schuldhaft handelt (§ 29). Die Strafdrohung ist so oder so dieselbe.
Vertiefung: Wie soll man A verurteilen? Am besten wegen Raubes in mittelbarer Täterschaft,
wenn man die Ansicht teilt, dass die Tatbegehung „durch einen anderen“ nur ein Sonderfall der
Selbstbegehung ist. Denn dann ist es überflüssig, die Raubstrafbarkeit des A über den „Umweg“
der Zurechnung fremden Unrechts nach § 25 II zu begründen. – Im Ergebnis ebenso Jakobs, AT2,
21/91; unklar bei LK-Roxin11, § 25 Rn 171.
In der Abwandlung von Fall 183 kennt A die Schuldunfähigkeit des B nicht. Deshalb kann er
wegen § 16 I 1 auch nicht aus § 25 I Alt. 2 als mittelbarer Täter bestraft werden: Er weiß nicht,
dass er die Tat „durch einen anderen“ begeht. Es bleibt aber seine Strafbarkeit aus § 25 II.
b) Voraussetzungen der Mittäterschaft
aa) Besondere Tätermerkmale
Fall 184:
Der Kriminalbeamte K und der Zeuge Z schlagen bei einer amtlichen
Gegenüberstellung gemeinsam auf den Verdächtigen V ein.
K und Z sind Mittäter einer gefährlichen Körperverletzung (§§ 224 I Nr. 4, 25 II). K ist
zusätzlich Alleintäter einer Körperverletzung im Amt (§§ 340 I, III, 25 I Alt. 1). Z ist insoweit
kein Täter, weil er selber kein Amtsträger ist; er ist nur Gehilfe (§§ 340 I, III, 27). – Siehe LKRoxin11, § 25 Rn 169.
bb) Das gemeinschaftliche Begehen
Probleme bereitet das Merkmal „gemeinschaftlich begehen“. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Mittäter nur ist, wer erstens einen objektiven Beitrag zur Tatbegehung leistet und
zweitens mit dem anderen einen „gemeinsamen Tatentschluss“ gefasst hat. Man spricht häufig
vom „bewussten und gewollten Zusammenwirken“ (etwa Wessels/Beulke, AT30, Rn 524).
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(1) Der objektive Tatbeitrag
aa) Mittäter kann nur sein, wer überhaupt einen objektiven Tatbeitrag leistet.
Fall 185: (vereinfacht nach BGH, NStZ 1993, 385) M, E und F sind im Auto unterwegs, E sitzt
am Steuer. M kommt spontan auf die Idee, man könne das Geschäft der H ausrauben.
M und E planen die Tat. F sagt, er fahre mit, wolle aber auch ein Drittel der Beute. Die
Tat verläuft wie geplant: E fährt vor Hs Geschäft, M und E stürmen hinein, E hält der
H eine Pistole vor, während M die Kasse lehrt, beide steigen wieder in den Wagen und
E fährt davon.
Strafbarkeit der Beteiligten gemäß § 249?
M und E haben einen gemeinschaftlichen Raub begangen (§§ 249, 25 II). F ist kein Mittäter, weil
er keinen objektiven Beitrag geleistet hat.
bb) Der objektive Tatbeitrag darf nicht ganz untergeordnet sein, sondern muss einiges Gewicht
haben.
Fall 186:
M ist eines Nachts in die Villa des verreisten V eingedrungen und schweißt in
stundenlanger Mühe den Tresor auf. Um zwei Uhr morgens bringt ihm seine Frau F
wie vereinbart eine Mahlzeit. Die Stärkung tut dem M gut. Im Morgengrauen verlässt
er die Villa mit seiner Beute.
Strafbarkeit von M und F nach § 242?
Die Tatherrschaftslehre verlangt einen „wesentlichen“ Beitrag (LK-Roxin11, § 25 Rn 189,191;
S/S-Cramer/Heine26, § 25 Rn 64, 69)., d. h. dass „ihm eine im Rahmen arbeitsteiliger
Ausführung relevante Funktion“ (LK-Roxin11, § 25 Rn 189) zukommen muss.
Die Animus-Theorie kommt im Ergebnis ebenfalls zur Verneinung von Täterschaft. Sie lässt
zwar als objektiven Tatbeitrag jede noch so geringfügige Tätigkeit genügen und fragt danach, ob
der Beteiligte „die Tat als eigene“ will (also Täterwillen und nicht bloßen Gehilfenwillen hat); s.
dazu oben unter I vor 1. Das ermittelt sie aber in einer wertenden Betrachtung aller Umstände;
wesentliche Anhaltspunkte sollen sein „der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der
Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder jedenfalls der Wille zur Tatherrschaft“
(BGHSt 37, 289, 291). Deshalb wird von der Rechtsprechung bei ganz untergeordneten
Tätigkeiten meist Täterschaft verneint (so etwa in BGHSt 34, 124, 125).
cc) Umstritten ist, ob eine Tätigkeit im Vorbereitungsstadium als Tatbeitrag ausreicht.
Fall 187: (nach BGHSt 37, 289 ff.) G und H werden polizeilich gesucht. Sie rüsten sich mit
geladenen Revolvern aus und verabreden, im Fall einer drohenden Verhaftung ohne
Rücksicht auf das Leben anderer zu schießen. Eines Abends treten mehrere
Polizeibeamte auf sie zu, um sie festzunehmen. G nimmt sofort zum Zeichen der
Aufgabe die Hände hoch; H erschießt zwei Beamte.
Strafbarkeit von G und H nach § 212? Unterscheiden sie neben der Animus-Theorie die „weite“
und die „enge“ Tatherrschaftslehre!
H ist nach § 212 strafbar. G ist es nur dann, wenn er Mittäter des Totschlags war. Das war er nur
dann, wenn er einen objektiven Tatbeitrag geleistet hat. Dafür kommt allein sein Verhalten vor
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dem fraglichen Abend in Betracht. Die meisten lassen für § 25 II solch einen Beitrag genügen; so
die subjektive Theorie (z. B. BGHSt 37, 289, 292 f.) und die weite Tatherrschaftslehre (etwa S/SCramer/Heine26, § 25 Rn 66; Wessels/Beulke, AT30, Rn 529). Andere verlangen einen Tatbeitrag
im Ausführungsstadium; so die enge Tatherrschaftslehre (z. B. LK-Roxin11, § 25 Rn 181).
Die enge Tatherrschaftslehre verdient u. E. den Vorzug: Mittäter kann nach dem Wortlaut des
§ 25 II nur sein, wer an der Tat-„Begehung“ mitwirkt. Man unterscheidet aber allgemein
zwischen bloßen Vorbereitungshandlungen und der eigentlichen Tatbegehung (vgl. §§ 8, 9). Für
einen Alleintäter wären das Einstecken der Waffe und die Erklärung, zum Todesschuss bereit zu
sein, unbestritten nur Vorbereitung. Es gibt keinen Grund, das bei einem Mittäter anders zu
sehen.
Vertiefung: Im Gegenteil spricht das Gesetz sogar dafür, Verbrechensverabredungen noch nicht
als Teil der Tatbegehung anzusehen. Gemäß §§ 30 II, 31 I Nr. 3 wird nämlich derjenige, der (wie
G) mit einem anderen ein Verbrechen verabredet und danach vollkommen untätig bleibt (also
nicht an der Tat mitwirkt, sie aber auch nicht verhindert), nur aus § 30 bestraft, also nur wegen
des Versuches einer Beteiligung.
(2) Der gemeinsame Tatentschluss
aa) „Tatentschluss“ hat nur, wer den Vorsatz hat, dass sein (unter 1 näher beschriebener)
objektiver Tatbeitrag zusammen mit dem Beitrag des anderen zur Verwirklichung des
Tatbestandes führt. Das ist nichts weiter als der übliche Vorsatz (vgl. § 16 I 1); er bezieht sich
hier auf die Umstände des jeweiligen Tatbestandes sowie auf den objektiven Umstand des
gemeinschaftlichen Begehens. Der Tatentschluss ist nur dann ein „gemeinsamer“, wenn die
Mittäter sich über ihre Tatentschlüsse verständigt haben.
Fall 188: S hat sich über V geärgert. Als er ihn nachts ohne Freunde auf dem Parkplatz der
Disco sieht, schlägt er ihn zu Boden. Dabei ist ihm klar, dass die in der Nähe stehende
D jede günstige Gelegenheit zu einem Diebstahl nutzt; er will sogar, dass D sich an V
bereichert. In der Tat nimmt D dem ohnmächtigen V das Geld ab. D wiederum hatte
den früheren Streit zwischen S und V mitbekommen und wusste deshalb, als S sich
dem V näherte, dass er ihn niederschlagen würde.
S hat eine Körperverletzung (§ 223) begangen, D einen Diebstahl (§ 242). Haben Sie auch einen
Raub (§ 249) begangen? Der objektive Tatbestand eines Raubes in Mittäterschaft liegt vor. Auch
hatten S und D beide den Vorsatz, dass dem O mit Gewalt das Geld weggenommen werden
würde; und sie hatten sogar auch Dritt- (S) bzw. Selbstzueignungsabsicht (D). Aber ihr
Tatentschluss war kein „gemeinsamer“. Also haben sie keinen Raub in Mittäterschaft begangen.
Vertiefung: Die Voraussetzung des sog. gemeinsamen Tatentschlusses kann man systematisch
§ 30 II 3. Fall entnehmen. Dort ist für den Versuch der Beteiligung (> Mittäterschaft) das
Erfordernis der Verbrechensverabredung aufgestellt. Und allgemein sieht man den Versuch der
Mittäterschaft als notwendiges Durchgangsstadium für das vollendete Delikt an. Dann ist es aber
folgerichtig, auch für das mittäterschaftlich vollendete Delikt die „Verabredung“ zu verlangen.
Das tun ja alle, sie nennen es nur verkomplizierend „gemeinsamer Tatentschluss“. Bei richtigem
Verständnis gehört die Verabredung in den objektiven Tatbestand verortet. Denn „verabreden”
bedeutet, objektiv für Einigkeit sorgen. Sieht man es so, wäre im subjektiven Tatbestand der
Vorsatz darauf zu beziehen (§ 16 I 1). Weil dieser Aufbau zu sehr vom Üblichen abweicht,
empfiehlt es sich für die Klausur bislang nicht, ihr Gutachten so aufzubauen. In der Hausarbeit
hingegen haben Sie Platz und können den Leser an der Präzisierung teilhaben lassen.
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bb) Am gemeinsamen Tatentschluss fehlt es insoweit, als ein Mittäter mehr tut, als vorher
abgesprochen wurde (Mittäterexzess).
Fall 189:
Wie Fall 182. Aber A hat vor der Tat eine geladene Pistole eingesteckt, ohne es B zu
sagen.
Strafbarkeit von A und B nach §§ 249, 250?
A und B haben gemäß §§ 249, 25 II einen Raub in Mittäterschaft begangen (oben bei Fall 182).
A hat vorsätzlich eine Waffe bei sich geführt und hat somit einen schweren Raub begangen
(§ 250 I Nr. 1 Buchst. a). – Auch für B ist § 250 objektiv verwirklicht, denn „ein anderer
Beteiligter am Raub“, nämlich A, hat eine Schusswaffe bei sich geführt. Diesen Umstand hat B
aber nicht gekannt. Er hat also insoweit gemäß § 16 I 1 ohne Vorsatz gehandelt und kann nicht
aus § 250 bestraft werden.
Vertiefung: Eine andere Frage ist, ob A aus § 250 als Mittäter oder als Alleintäter zu verurteilen
ist. Genauer ist eine Verurteilung als Mittäter (so auch BGHSt 36, 231, 232). Denn die von B
begangene Drohung, die für eine Bestrafung aus § 250 Voraussetzung ist, kann dem A ja nur
über § 25 II zugerechnet werden. – Man darf sich nicht sprachlich davon beirren lassen, dass es
dann im Fall 189 nur einen Mittäter gibt. So etwas kann zum Beispiel auch dann passieren, wenn
einer von zwei Mittätern nicht bestraft werden kann, weil er z. B. schwachsinnig und wegen § 20
schuldlos ist (s. nur SKStGB-Hoyer2000, § 25 Rn 107).
cc) Nach allgemeiner Ansicht kann Mittäterschaft auch dann vorliegen, wenn sich ein zunächst
ganz Unbeteiligter erst im Laufe des Geschehens mit den anderen verständigt und einmischt
(sukzessive Mittäterschaft). Als unproblematisch gilt
Fall 190: (nach BGH, GA 1969, 214) X und Y geraten mit O in Streit und schlagen auf ihn ein.
Nach den ersten zehn Schlägen bekommen sie spontane und willkommene
Unterstützung von ihrem Freund Z.
Strafbarkeit von X, Y und Z?
Alle drei werden als Mittäter einer gefährlichen Körperverletzung bestraft (§ 224 I Nr. 4).
Vertiefung: Bei der sukzessiven Mittäterschaft ist v. a. zweierlei umstritten: 1. Haftet der
Hinzutretende auch für besondere Erschwerungsgründe, die schon vorher verwirklicht worden
sind? 2. Ist sukzessive Mittäterschaft auch noch nach formeller Vollendung, aber vor materieller
Beendigung der Tat möglich? – Siehe dazu etwa BGHSt 2, 344 (345 ff.), GA 1994, 485;
Schönke/Schröder-Cramer/Heine26, § 25 Rn 91; Kühl, AT3, § 20 Rn 126 ff.; LK-Roxin11, § 25
Rn 192 ff.
c) Prüfungsaufbau bei der Mittäterschaft
Aufbauprobleme bestehen, weil das Merkmal der gemeinschaftlichen Begehung ein objektivsubjektives Mischmerkmal ist: Es besteht wie gezeigt aus objektiven und subjektiven
Untermerkmalen. Hier eine Aufbauempfehlung zu § 249 im Fall 182:
Strafbarkeit von A und B wegen Raubes in Mittäterschaft (§§ 249, 25 II) durch das
Androhen von Schlägen und das Ansichnehmen des Portmonees
I. Tatbestand
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1. Objektiver Tatbestand
a) Wegnahme einer fremden beweglichen Sache
aa) Für A und B fremde bewegliche Sache? +, das Portmonee.
bb) Ist es zu einer Wegnahme gekommen? +, seitens des A.
b) Ist es zu einer Anwendung von Drohungen gekommen? +, seitens des B.
c) Objektiver Tatbeitrag sowohl von A als auch von B? +, siehe a und b.
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2. Subjektiver Tatbestand
a) Gemeinsamer Tatentschluss? +, Einigung Sekunden vor der Tatbegehung.
b) Zueignungsabsicht? +, A beabsichtigt Selbstzueignung, B Drittzueignung.
c) Täterwille erforderlich und gegeben? Täterwille von A und B kann bejaht werden; also
keine Erörterung, ob der Täterwille wirklich eine Voraussetzung der Mittäterschaft ist.
II. Rechtswidrigkeit und Schuld? +.
Fall 184: Für K und Z §§ 224, 25 II bejahen. Für K § 340 bejahen. Für Z §§ 340, 25 verneinen und §§ 340, 27
bejahen.
Fall 185: Für M und E §§ 249, 25 II bejahen. Für F §§ 249, 25 II prüfen und beim objektiven Tatbeitrag verneinen.
Fall 186: Für M § 242 bejahen. Für F §§ 242, 25 II prüfen. Beim objektiven Tatbeitrag Meinungsstand nennen:
Tatherrschaftslehre würde den hinreichenden Beitrag verneinen, subjektive Theorie den Täterwillen.
Fall 187: Für H § 212 bejahen. Für G §§ 212, 25 II prüfen, beim objektiven Tatbeitrag Meinungsstand nennen und
sich entscheiden.
Fall 188: Für S § 223 bejahen. Für D § 242 bejahen. Für S und D §§ 249, 25 II prüfen und gemeinsamen
Tatentschluss verneinen.
Fall 189: Für A und B §§ 249, 25 II bejahen. Für A §§ 250, 25 II bejahen. Für B §§ 250, 25 II prüfen und beim
gemeinsamen Tatentschluss verneinen.
3. Versuch und Rücktritt bei Allein- und Mittäterschaft
a) Versuch und Rücktritt bei der unmittelbaren Täterschaft (§ 25 I Alt. 1)
Keine Besonderheiten. Ausführlich im 3. Kapitel D IV.
b) Versuch und Rücktritt bei der mittelbaren Täterschaft (§ 25 I Alt. 2)
aa) Versuch bei der mittelbaren Täterschaft (§§ 25 I Alt. 2, 22)
 Die Vorstellung von der Tatbestandsverwirklichung („Tatentschluss“) muss sich auf den
kompletten objektiven Tatbestand beziehen. Die Vorstellung muss bei der mittelbaren
Täterschaft also auch darauf gerichtet sein, die Tat „durch einen anderen“ zu begehen.
 Das unmittelbare Ansetzen beim Versuch in mittelbarer Täterschaft ist umstritten.
Fall 191: Vater V braucht Schnaps und Zigaretten. Deshalb ruft er seinen siebenjährigen Sohn S
zu sich, um ihn zum Klauen in den Supermarkt zu schicken.
a) Als S ihn fragt, was los sei, findet V doch noch Schnaps und Zigaretten in einer
Schublade und schickt S wieder aus dem Zimmer.
b) Er trägt dem S die Besorgung auf. Während S noch zögerlich fragt „Muss ich
wirklich?”, findet V das Gesuchte und entlässt S ohne Auftrag.
c) S verlässt gehorsam das Zimmer und zieht sich seine Schuhe an. Da findet V das
Gesuchte und entpflichtet S.
d) S kommt auf dem Weg zum Supermarkt unter ein Auto und stirbt.
e) S nimmt im Supermarkt eine Flasche Schnaps in die Hand, sieht sich verstohlen um
und erblickt den Ladenbesitzer, der ihn streng beobachtet. Da stellt S die Flasche
wieder zurück.
Hat Vater V einen Diebstahl in mittelbarer Täterschaft (§§ 242 I, 25 I Alt. 2) versucht?
– 1. A.: Der mittelbare Täter setzt unmittelbar zur Tat an bereits mit der Einwirkung auf den
Tatmittler.
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Die einen blicken dabei auf den Beginn der Einwirkung (Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch,
AT10, 29/155; Tröndle/Fischer50, § 22 Rn 26), andere auf den Abschluss der Einwirkung
(Jakobs, AT2, 21/105).
Das heißt für Fall 191: Nicht in Var. a, in Var. b je nach Spielart und gewiss in Var. c bis e.
– 2. A.: Der mittelbare Täter setzt unmittelbar zur Tat an erst mit dem unmittelbaren Ansetzen
des Tatmittlers.
Merke: Es kommt nach dieser Ansicht nicht darauf an, welchen Zeitpunkt sich der mittelbare
Täter für das Ansetzen des Tatmittlers vorstellt.
So Kühl, AT3, § 20 Rn 91; LK-Vogler10, § 22 Rn 101; wohl auch Maurach/Gössel, AT 27,
§ 48 Rn 115.
Das heißt für Fall 191: Erst in Var. e.
– 3. A. (h. L.): Der mittelbare Täter setzt unmittelbar zur Tat an in dem Moment, in dem er nach
seiner Vorstellung „die Herrschaft über das Geschehen endgültig aus der Hand gibt oder das
geschützte Rechtsgut unmittelbar gefährdet wird“ (Lackner/Kühl23, § 22 Rn 9).
Man muss also danach unterscheiden, ob der Tatmittler in Gegenwart des Hintermannes tätig
werden soll oder in dessen Abwesenheit.
a) Der anwesende mittelbare Täter setzt unmittelbar zur Tat an mit dem Eintritt einer
unmittelbaren Gefahr für das Rechtsgut, d. h. mit dem unmittelbaren Ansetzen des
Tatmittlers.
b) Der abwesende mittelbare Täter setzt unmittelbar zur Tat an mit der Entlassung des
Tatmittlers aus dem Herrschaftsbereich.
Das heißt für Fall 191: Nicht in Var. a bis c, aber in Var. d und e.
Aus der Lit. siehe noch Jescheck/Weigend, AT5, S. 521; LK-Roxin11, § 25 Rn 152; SKStGBRudolphi1993, § 22 Rn 20a; Wessels/Beulke, AT30, Rn 613; wohl auch S/S-Eser26, § 22
Rn 54a. Von ihnen lassen aber manche – wie der BGH, dazu sogleich – die Entlassung aus
dem Herrschaftsbereich nur genügen, wenn der Tatmittler nach der Vorstellung des
Hintermannes „sogleich“, „nunmehr“, „unverzüglich“ o. ä. zur Tat schreiten soll.
Wer diese Einschränkung mitmacht, kann in Var. d das unmittelbare Ansetzen verneinen oder
bejahen; das Kriterium ist für beide Wertungen offen.
– Der BGH vermengt alle drei Ansätze. In einer der neuesten Entscheidungen heißt es:
Bei der mittelbaren Täterschaft „liegt zwar ein Ansetzen des Täters zur Tat schon vor,
wenn er seine Einwirkung auf den Tatmittler abgeschlossen hat, es ist also nicht
erforderlich, dass der Tatmittler seinerseits durch eigene Handlungen zur Tat ansetzt.
Ein unmittelbares Ansetzen ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Tatmittler in der
Vorstellung entlassen wird, er werde die tatbestandsmäßige Handlung nunmehr in
engem Zusammenhang mit dem Abschluss der Einwirkung vornehmen ...
Demgegenüber fehlt es hieran, wenn die Einwirkung auf den Tatmittler erst nach
längerer Zeit wirken soll oder wenn ungewiss bleibt, ob und wann sie einmal Wirkung
entfaltet. In diesen Fällen beginnt der Versuch erst dann, wenn der Tatmittler ...
seinerseits unmittelbar zur Tat ansetzt. Entscheidend für die Abgrenzung ist daher, ob
nach dem Tatplan die Einzelhandlungen des Täters in ihrer Gesamtheit schon einen
derartigen Angriff auf das geschützte Rechtsgut enthalten, dass es bereits gefährdet ist
und der Schaden sich unmittelbar anschließen kann ..., oder ob die Begründung einer
solchen Gefahr dem noch ungewissen späteren Handeln des Tatmittlers überlassen
bleibt“
So BGHSt 43, 177, 180; vgl. auch BGHSt 30, 363, 365; NStZ 1986, 547.
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Das heißt für Fall 191: Nicht in Var. a bis c, vielleicht in Var. d und bestimmt in Var. e.
Stellungnahme Hardtung: Nach den allgemeinen Lehren, wie sie sich im Skript „Vorlesung
Strafrecht I“ beim Versuch finden, hat V im Fall 191 nach seiner Vorstellung „zur
Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt“, wenn er eine Handlung vorgenommen
hat, die nach seiner Vorstellung der eigentlichen Tathandlung unmittelbar vorangeht, also ohne
wesentliche Zwischenakte in sie einmündet.
Was ist hier die eigentliche Tathandlung? Wer einen Diebstahl durch einen anderen begeht,
begeht diese Tat dadurch, dass er sein menschliches Werkzeug in Gang setzt; nicht anders, als
wenn jemand seinen dressierten Hund die gewünschte Beute apportieren lässt oder einen
Totschlag begeht, indem er eine Kugel abfeuert. Diese eigentliche Tathandlung ist im Fall 191
(noch etwas pauschal) das Losschicken des S, also die Zeitspanne vom Beauftragen des S bis zu
dessen Verlassen der Wohnung. Die vorherigen Einwirkungen des V auf S (Herbeirufen, Beginn
des Beauftragens) sind dagegen noch nicht die eigentliche Tathandlung, ebenso wenig wie das
Herbeirufen des Hundes oder das Entsichern und Heben der Waffe. Das spätere Geschehen (S ist
unterwegs, S ist im Supermarkt) hingegen spielt schon nach der eigentlichen Tathandlung des V,
so wie das Laufen und Zuschnappen des Hundes oder das Fliegen und Zerstören der Kugel. Beim
Einsatz dieser sächlichen Werkzeuge erklärt man nach allg. Ansicht nicht das Zuschnappen des
Hundes oder das Einschlagen der Kugel zur Tathandlung des Täters. Dann aber ist es nur
konsequent und systematisch geboten, auch beim Einsatz eines menschlichen Werkzeugs nicht
das Handeln des Werkzeugs zur Tathandlung des Täters zu erklären; vielmehr muss man auf das
Handeln des Täters selber blicken.
Zu dieser seiner eigenen Tathandlung, d. h. zum Losschicken des S, muss V also unmittelbar
angesetzt haben. Deshalb wäre es ganz unpassend, für V das unmittelbare Ansetzen des
Tatmittlers maßgeblich sein zu lassen (so aber oben die 2. Ansicht und für manche Fälle der
BGH). Es geht hier nun einmal um die Strafbarkeit des Hintermannes wegen Versuches und
damit um sein unmittelbares Ansetzen (vgl. nur SKStGB-Rudolphi1993, § 22 Rn 20a). Das passt
auch am besten zu den Vorstellungen des Gesetzgebers: Er sah beispielhaft den Versuch, einen
Betrug durch einen täuschenden Brief zu begehen, in der Absendung des Briefes
(Sonderausschuss-Prot. V/1747) und einen Totschlagsversuch im Losschicken des Boten mit der
vergifteten Nahrung zu den Opfern (Sonderausschuss-Prot. V/1748); dem entspricht hier das
Losschicken des S.
Das „Losschicken“ erstreckt sich im Fall 191 allerdings über den Zeitraum von der Beauftragung
des Werkzeugs bis zu dessen Losgehen. Fraglich bleibt also, wann ganz genau V unmittelbar
angesetzt hat: Schon mit dem letzten Wort an S (Var. c) oder erst mit dem Verlassen der
Wohnung (Var. d)? Hier neige ich zum späteren Moment. Zwar hat V mit dem letzten Wort
seine Tathandlung, nämlich die Einwirkung auf S, schon komplett begangen; alles weitere
Verhalten des V ist bloßes Unterlassen. Aber S ist noch im Herrschaftsbereich des V und kann
jederzeit von ihm gestoppt werden. In den Gesetzgebungsmaterialien wird in einem
vergleichbaren Beispiel (Täter will mittels einer Bombenexplosion töten) das unmittelbare Ansetzen nicht schon im Scharfmachen der Bombe gesehen, sondern erst darin, dass der Täter von
der scharf gemachten Bombe weggeht (Schlee, SA-Prot. V/1773 f.). Ein vom Tatort abwesender
mittelbarer Täter setzt also – so mein Formulierungsvorschlag – unmittelbar an, wenn er den
sinnlichen Kontakt zum (sächlichen oder menschlichen) Werkzeug beendet hat. Das entspricht
(wohl) dem, was andere die „Entlassung aus dem Herrschaftsbereich“ nennen. Danach hat V
auch in Var. d einen Versuch begangen.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Stellungnahme Herzberg: Der Rückblick zeigt, dass es sich so verhält, wie zu vermuten war.
Man kann nicht einfach sagen, dass im Streit um das Problem des Themas die einen Recht haben
und die anderen, ohne es einzusehen, Unrecht. Richtiges und Unrichtiges findet sich vielmehr auf
die verschiedenen Theorien verteilt. Die Fehler der einen wie der anderen Seite werden m.E.
vermieden, wenn man die Dinge so sieht: Beim deliktischen Versuch ist zu unterscheiden
zwischen Versuchshandlung und Versuchserfolg. Jene bedeutet schon die Teilerfüllung des
Versuchstatbestandes, dieser muss hinzutreten, damit das Versuchsdelikt zustande kommt. Dafür
entscheidend ist in den Fällen unseres Themas – genau wie sonst – die unmittelbare Gefahr der
Verwirklichung des Tatbestandes, gemessen an der Vorstellung des Täters beim eigenen
Handeln. Der Versuch liegt also jedenfalls dann vor, wenn der Tatmittler die
Zuspitzungshandlung vornimmt, die der Täter beim eigenen Handeln erwartet hat, die also im
Rahmen seiner zu dieser Zeit gegebenen Vorstellung liegt. Er liegt – mit schwächerem Gewicht –
auch bereits dann vor, wenn der Zeitpunkt erreicht ist, für den der Täter beim eigenen Handeln
die Zuspitzungshandlung sich als frühestens möglich vorgestellt hat. Weder so noch so kommt
aber das Versuchsdelikt zustande, wenn der Täter vor diesem Zeitpunkt erfährt, dass die
Deliktsvollendung ausgeschlossen ist. (Ausführlich zum Ganzen Herzberg, FS-Roxin, 749 ff.)
bb) Rücktritt bei der mittelbaren Täterschaft (§ 24 I)
Keine Besonderheiten. Wie beim unmittelbaren Täter gilt Abs. 1 des § 24. Der rücktrittswillige
mittelbare Täter kann z. B. sein menschliches Werkzeug rechtzeitig stoppen; er kann selber die
Vollendung verhindern; er kann sein Werkzeug die Vollendung verhindern lassen, so wie man
sich beim Rücktritt der Hilfe eines jeden beliebigen Menschen bedienen kann (etwa indem man
den Notarzt ruft, der das Leben des angeschossenen Opfers rettet).
c) Versuch und Rücktritt bei der Mittäterschaft (§ 25 II)
aa) Versuch bei der Mittäterschaft (§§ 25 II, 22)
 Die Vorstellung von der Tatbestandsverwirklichung („Tatentschluss“) muss sich auf den
kompletten objektiven Tatbestand beziehen. Die Vorstellung muss bei der Mittäterschaft also
auch darauf gerichtet sein, die Tat mit einem anderen „gemeinschaftlich“ zu begehen.
Bedenken Sie: Für den Täter ist es ein objektiver Umstand, dass er und sein Mittäter einen
gemeinsamen Tatvorsatz haben, d. h. sich verständigt haben also über ihre Vorsätze. Die
Vorstellung einer Tatbegehung in Mittäterschaft hat also nur, wer sich vorstellt, sich mit einem
anderen über die Tatbegehung verständigt zu haben.
 Das unmittelbare Ansetzen beim Versuch in Mittäterschaft ist umstritten.
Fall 192: Bandenchef C will, dass T und M den O in dessen Haus töten. Der von C erdachte und
auf Os Lebensgewohnheiten abgestimmte Tatplan sieht folgenden Ablauf vor: M soll
um 17 Uhr an der Haustür klingeln und den allein anwesenden O, wenn er die Tür
öffnet, ins Haus stoßen und ins Badezimmer drängen. Dann soll T nachkommen und
den O im Bad mit einer von C zur Verfügung gestellten Waffe erschießen. Am Tattage
geht M, gefolgt von T, zur Haustür und klingelt. Als O öffnet, stößt M ihn in die
Wohnung. Das ist für die im und am Haus postierte Polizei das Zeichen zum Zugriff.
Abwandlung: M und T werden schon von der Polizei festgenommen, als sie vor Os
Haus gerade aus dem Wagen steigen.
Strafbarkeit von M, T und C nach §§ 212, 25 II, 22, 23 I, 12?
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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– 1. A. (h. L.): Setzt ein Mittäter nach allgemeinen Regeln unmittelbar an, so setzen damit zugleich alle anderen unmittelbar an (Gesamtlösung).
Arg: Jeder Mittäter muss sich die Tatbeiträge jedes anderen zurechnen lassen, also auch
dessen unmittelbares Ansetzen.
Etwa BGHSt 36, 249 (250); 39, 236 (238); S/S-Eser26, § 22 Rn 55.
Das heißt für Fall 192: Nach h. A. hätte ein Alleintäter spätestens im Moment des
Hineindrängens zum Totschlag unmittelbar angesetzt (manche würden schon das Klingeln
genügen lassen). M hat selber den O ins Haus gedrängt und damit unmittelbar angesetzt. –
Das wird dem noch draußen wartenden T zugerechnet. – Lässt man Cs „Mitwirkung im
Vorbereitungsstadium“ für eine Mittäterschaft genügen, dann ist auch ihm das unmittelbare
Ansetzen des M zuzurechnen.
In der Abwandlung hat keiner unmittelbar angesetzt.
– 2. A: Der einzelne Mittäter setzt unmittelbar an, wenn er zu dem seine Tatherrschaft
begründenden Verhalten unmittelbar ansetzt (Einzellösung).
Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975, S. 104 ff.
Das heißt für Fall 192: M hat zu seinem Tatbeitrag, dem Hineinstoßen, unmittelbar angesetzt.
– T aber hat zu seinem Tatbeitrag, dem Schießen, noch nicht unmittelbar angesetzt. – C
hingegen hat seinen Tatbeitrag sogar schon komplett geleistet, hat also unmittelbar angesetzt.
In der Abwandlung hat nur C unmittelbar angesetzt.
– 3. A: Der einzelne Mittäter setzt unmittelbar an, wenn er zu dem seine Tatherrschaft
begründenden Verhalten unmittelbar ansetzt und die mittäterschaftliche Gesamthandlung nach
allgemeinen Regeln bis zum Versuch gediehen ist.
SKStGB-Rudolphi1993, § 22 Rn 19a.
Das heißt für Fall 192: M hat zu seinem Tatbeitrag, dem Hineinstoßen, unmittelbar angesetzt;
das war zugleich das unmittelbare Ansetzen „nach allgemeinen Regeln“. – T hat zu seinem
Tatbeitrag, dem Schießen, noch nicht unmittelbar angesetzt. – C hat seinen Tatbeitrag sogar
schon komplett geleistet, hat also unmittelbar angesetzt; zusätzlich ist es auch (nämlich durch
M) zum unmittelbaren Ansetzen „nach allgemeinen Regeln“ gekommen.
In der Abwandlung hat C zwar seinen Tatbeitrag schon komplett geleistet, es fehlt aber noch
das unmittelbare Ansetzen „nach allgemeinen Regeln“. Deshalb ist keiner wegen versuchten
Totschlags strafbar.
Stellungnahme: T stellte sich vor, dass erst M den O ins Bad drängen und dann T den O
erschießen werde. Damit stellte T sich die gemeinschaftliche Begehung eines Totschlags vor.
Wäre es zur Verwirklichung dieses Geschehens gekommen, würde dem T das Drängen des M
zugerechnet. Solch ein Drängen ist nach allg. Ansicht ein unmittelbares Ansetzen zum Totschlag.
Also hatte T eine Vorstellung, wonach ihm das unmittelbare Ansetzen des M zugerechnet wird
wie sein eigenes Verhalten. Weil es im Fall 192 wie von T vorgestellt zum unmittelbaren
Ansetzen des M gekommen ist, hat folglich auch T „nach seiner Vorstellung von der Tat zur
Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt“ (§ 22). – Damit ist von den drei
genannten Ansichten die erste vorzugswürdig.
Vertiefung 1: Nicht stören darf man sich daran, dass Ts eigener Tatbeitrag noch in der Zukunft
lag. Denn für die von § 22 zum Kriterium erhobene „Vorstellung von der Tat“ ist es vollkommen
anerkannt, dass man auf die komplette Vorstellung blicken muss. Anderenfalls käme man immer
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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zu unsinnigen Ergebnissen: Beim Alleintäter etwa ist das Heben der Waffe und das Zielen nur
deshalb ein unmittelbares Ansetzen zum Totschlag, weil der Täter beim Heben und Zielen die
Vorstellung hat, gleich – also in der Zukunft! – abzudrücken; ohne Berücksichtigung dieser
Zukunftsvorstellung könnte man das unmittelbare Ansetzen niemals bejahen.
Vertiefung 2 (sehr speziell): Aber auch die erstgenannte Ansicht befriedigt nicht. Gemäß § 22
kommt es für einen Versuch darauf an, dass der Täter nach seiner Vorstellung unmittelbar
ansetzt. Es kommt also für den Versuch – egal in welcher Täterschaftsform – niemals darauf an,
was eine andere Person tatsächlich tut; es zählt immer nur, was der Täter sich vorstellt. Und die
Vorstellung einer Person kann von der Realität abweichen. Das zeigt sich an der Abwandlung zu
Fall 192, wenn man (was wir freilich nicht tun würden, s. Fall 187) die Mitwirkung des C im
Vorbereitungsstadium als Tatbeitrag genügen lässt: C stellte sich beim Losschicken seiner Leute
vor, dass sie ins Haus des O eindringen und ihn töten würden. Nach „seiner Vorstellung“ hat er
also zur Verwirklichung des Totschlags angesetzt in dem Moment, den er beim Losschicken von
T und M für den Tatzeitpunkt hielt, also am Tattag um 17 Uhr.
bb) Rücktritt bei der Mittäterschaft (§ 24 II)
 Nach § 24 II 1 wird wegen Versuches nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert.
Damit werden alle Fälle erfasst, die beim Alleintäter unter § 24 I 1 Alt. 1 und 2 fallen. Das dazu
Gesagte gilt auch hier.
Fall 193:
T und M wollen als Mittäter eines Einbruchsdiebstahls den Safe öffnen. T liest von
einem Zettel die Kombination ab und M stellt sie ein. Nach der zweiten Zahl besinnt
sich T und geht mit dem Zettel davon. Auch M muss unverrichteter Dinge abziehen.
Die einzige Besonderheit ist terminologischer Art, nämlich die, dass im Sinne des § 24 II 1 auch
derjenige die Vollendung „verhindert“, der die weitere Ausführung der Tat schlicht aufgibt, so
dass seine Mitbeteiligten die Tat nicht mehr erfolgreich abschließen; so z. B. T im Fall 193.
 Nach § 24 II 2 Alt. 1 wird wegen Versuches nicht bestraft, wer sich freiwillig und ernsthaft
bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet wird.
Das entspricht § 24 I 2. Das dazu Gesagte gilt auch hier.
Fall 194:
Wie Fall 193. Aber T und M wähnen nur, die richtige Kombination zu kennen.
Tatsächlich sind die Zahlen falsch.
T hat die Vollendung der Tat nicht verhindert, weil der Diebstahl auch bei vollständiger
Nennung der vermeintlich richtigen Zahlenkombination nicht vollendet worden wäre. Ein
Rücktritt nach § 24 II 1 scheidet also mangels Verursachung der Nichtvollendung aus.
Angesichts der Vorstellung des T, die richtige Kombination zu kennen, hat er aber das zur
Nichtvollendung Optimale geleistet. Sein schlichtes Aufhören war deshalb ein „ernsthaftes
Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern“. Weil T sich auch freiwillig bemühte und die
Vollendung ohne sein Zutun ausblieb, ist ein Rücktritt nach § 24 II 2 Alt. 1 zu bejahen.
 Nach § 24 II 2 Alt. 2 wird wegen Versuches nicht bestraft, wer sich freiwillig und ernsthaft
bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie unabhängig von seinem früheren
Tatbeitrag begangen wird. Hierzu gibt es im Abs. 1 kein Pendant.
Fall 195: Wie Fall 194. Aber nachdem T die Nennung der weiteren Zahlen verweigert hat und
gegangen ist, beschließt M, auf gut Glück eine völlig neue Kombination einzustellen.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Das Unwahrscheinliche geschieht: Die Kombination stimmt. M öffnet den Tresor,
nimmt die Juwelen an sich und macht sich davon.
Man könnte schon bezweifeln, ob die geschehene Tat wirklich noch diejenige ist, die T
gemeinsam mit M und dem Zahlenzettel versucht hat; man könnte sie auch als eine andere, neue
Tat allein des M ansehen. Aber auch wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass die von T
und M gemeinsam versuchte Tat durch Ms Weiterhandeln doch noch begangen worden ist, dann
ist sie jedenfalls unabhängig von Ts früheren Tatbeitrag (Nennung zweier falscher Zahlen)
begangen worden. Auch hat sich T freiwillig und ernsthaft um die Nichtvollendung bemüht, ist
also zurückgetreten.
II. Teilnahme
Aufbauempfehlung:
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Die vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat eines anderen (sog. Haupttat)
b) Bei § 26: Das Bestimmen
Bei § 27: Das Hilfeleisten
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
IV. Strafzumessung (§§ 26, 27 II 2; ggf. § 28)
1. Anstiftung (§ 26)
a) Objektiver Tatbestand
aa) Die „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ eines anderen (sog. Haupttat)
Beachten Sie § 11 I Nr. 5!
Fall 196: Nachdem M Bankrott gegangen ist, treibt ihn seine Frau F in den Selbstmord, um in
den Genuss seiner Lebensversicherung zu kommen.
M hat sich selber getötet; das erfüllt weder den Tatbestand des § 212 noch den irgendeiner
anderen Verbotsnorm. Damit war Ms Verhalten keine „rechtswidrige Tat“ und F kann nicht als
Anstifterin bestraft werden. – Aber je nach den (nicht geschilderten) näheren Umständen kommt
ein Totschlag in mittelbarer Täterschaft in Betracht.
Fall 197: Autofahrer A und sein Beifahrer B haben es eilig. Als A vor einer rot werdenden
Ampel bremst, ruft B: „Komm egal; gib Schub, Rakete!“ Daraufhin gibt A Vollgas
und fährt sehenden Auges bei Rotlicht über die menschenleere Kreuzung.
A hat zwar eine rechtswidrige Tat im üblichen Sprachsinne begangen, nämlich eine
Ordnungswidrigkeit. Das genügt aber nicht für § 26. Dort wird eine „rechtswidrige Tat“ im
speziellen Sinne des § 11 I Nr. 5 verlangt, nämlich eine rechtswidrige straftatbestandliche Tat.
Daran fehlt es hier.
Fall 198: Frau F ist der Kastanienbaum im Garten ihrer Nachbarn N ein Dorn im Auge, weil er
Schatten auf ihre Terrasse wirft. Als die Eheleute N im Urlaub sind, bedrängt F ihren
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Mann M, in den Nachbargarten zu gehen und dort die störenden Äste abzusägen. M
gehorcht, ohne F zu sagen, dass die Eheleute N ihm das vor ihrer Abreise ausdrücklich
erlaubt haben.
M hat nicht den Tatbestand des Hausfriedensbruches (§ 123 I Alt. 1) verwirklicht; denn er hat
zwar das befriedete Besitztum der Eheleute N betreten, aber nicht gegen deren Willen, ist also
nicht „eingedrungen“ (sog. „tatbestandsausschließendes Einverständnis“). Den Tatbestand der
Sachbeschädigung (§ 303) hingegen hat M – jedenfalls nach h. A. – sehr wohl erfüllt, handelte
aber wegen der Einwilligung der Eheleute N gerechtfertigt (sog. „rechtfertigende Einwilligung“).
Mangels Rechtswidrigkeit der Tat scheidet also eine Strafbarkeit der F wegen Anstiftung aus.
Fall 199: Beim Hinausfahren aus einer Parkbucht beschädigt Autofahrer A ein anderes
Fahrzeug. Beifahrer B bewegt ihn zur Weiterfahrt durch die Täuschung, es sei nichts
passiert.
A hat eine „rechtswidrige Tat“ i. S. der §§ 26, 11 I Nr. 5 begangen, nämlich ein unerlaubtes
Entfernen vom Unfallort (§ 142 I). Er hat aber nicht vorsätzlich gehandelt, so dass B nicht wegen
Anstiftung strafbar ist. – Eine Strafbarkeit des B wegen mittelbarer Täterschaft hängt insb. davon
ab, ob er das Tätermerkmal „Unfallbeteiligter“ (definiert in § 142 V) erfüllt hat; hierzu fehlen im
Fall nähere Angaben.
Fall 200: Der Skinhead S fordert seinen Kumpel K auf, den schlafenden Obdachlosen O mit
dem Stiefel ins Gesicht zu treten. K tut das, und zwar so heftig, dass O an den
Verletzungen stirbt.
a) An diese Folge hatte K nicht gedacht, wohl aber S.
b) An diese Folge hatte keiner der beiden gedacht.
Lesen Sie §§ 11 II, 18!
K hat eine Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227) begangen, denn er hat den O vorsätzlich
verletzt (§§ 223, 224) und dadurch fahrlässig dessen Tod verursacht (§ 18).
K hat den Tod des O zwar nur fahrlässig verursacht. Er hat aber dennoch die Straftat der
„Körperverletzung mit Todesfolge“ im Sinne des § 26 „vorsätzlich begangen“; das bestimmt
§ 11 II. Dazu hat S ihn bestimmt. In Var. a liegt auch der von § 26 verlangte Vorsatz des S vor.
In Var. b hat S zwar im Hinblick auf die Todesfolge ohne Vorsatz gehandelt. Das ist aber für
eine Bestrafung aus §§ 227, 26 nicht nötig. Denn § 18 besagt ausdrücklich, dass auch der
Teilnehmer schon bei bloßer Fahrlässigkeit für die besondere Folge haftet.
Fall 201: B bedrängt den volltrunkenen A, noch mit dem Auto zu fahren. A erkennt zwar seinen
desolaten Zustand, setzt sich aber ans Steuer und fährt los.
A hat vorsätzlich eine „rechtswidrige Tat“ i. S. der §§ 26, 11 I Nr. 5 begangen, nämlich eine
Trunkenheitsfahrt gemäß § 316 I. Er handelte wegen der Volltrunkenheit zwar
höchstwahrscheinlich gemäß § 20 im Zustand der Schuldunfähigkeit; aber das spielt für die
Strafbarkeit des B wegen Anstiftung keine Rolle. – In einem Gutachten wäre vor Bs Strafbarkeit
aus §§ 316 I, 26 eine Strafbarkeit aus § 316 I in mittelbarer Täterschaft zu erwägen. Sie wäre
aber mit der h. L. zu Recht zu verneinen, weil B selber kein „Fahrzeug geführt“ hat (§ 316 als
sog. „eigenhändiges Delikt“).
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Fall 202: Im Fall 193 nimmt M nur irrtümlich an, die Nachbarn hätten ihm das Betreten des
Gartens und das Absägen der Äste erlaubt.
M hat eine rechtswidrige Tat begangen, nämlich zunächst einmal einen Hausfriedensbruch
(§ 123 I Alt. 1). Insoweit fehlte ihm aber der Vorsatz, denn er kannte nicht den Umstand, dass er
gegen den Willen der Hausrechtsinhaber in deren Garten ging. Also scheidet eine Strafbarkeit der
F aus §§ 123 I Alt. 1, 26 aus.
Schwieriger liegen die Dinge bei §§ 303, 26: Sieht man mit der h. L. eine Einwilligung als
Rechtfertigungsgrund an, dann hat M vorsätzlich den Tatbestand des § 303 verwirklicht. Ob das
eine „rechtswidrige“ Tat war, hängt davon ab, wie man den Erlaubnisumstandsirrtum des M sich
auswirken lässt. Steht man auf dem Standpunkt, dieser Irrtum des M lasse die Rechtswidrigkeit
entfallen, scheidet eine Strafbarkeit der F wegen Anstiftung aus; lässt man den Irrtum des M erst
schuldausschließend wirken, so liegt eine vorsätzliche rechtswidrige Tat des M vor und F ist
wegen Anstiftung strafbar. Richtig ist die erstgenannte Lösung.
Fall 203: Der masochistische M bewegt die Prostituierte P durch reichen Lohn, ihn mit der
Peitsche schlimm zu quälen und zu verletzen.
P ist strafbar wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 I Nr. 2), denn die Einwilligung des M
war gemäß § 228 unwirksam. M hat die P zu dieser Tat bestimmt. Dennoch ist man sich darüber
einig, dass M nicht wegen Anstiftung strafbar ist. Die Begründung dafür lautet: Unser Strafrecht
ist ein Strafrecht zum Rechtsgüterschutz. Ein Teilnehmer (Anstifter und Gehilfe) wird aus
demselben Grund wie ein Täter bestraft, nämlich weil er ein fremdes Rechtsgut verletzt (oder
gefährdet). Daran aber fehlt es bei demjenigen, der zur Verletzung eines eigenen Rechtsgutes
auffordert. Also muss man über den Gesetzeswortlaut hinaus eine weitere Strafbarkeitsvoraussetzung aufstellen: Die Haupttat muss gegen ein für den Anstifter fremdes
Rechtsgut gerichtet sein.
Konstellationen wie hier in Fall 203 laufen unter dem wenig hilfreichen Stichwort „notwendige
Teilnahme“. Bei Licht besehen folgt die Straflosigkeit des M aus den allgemeinen Grundsätzen.
Wie jedes Handlungsmerkmal muss auch das „Bestimmen“ eine strafrechtlich missbiligte Gefahr
schaffen, die sich im Anstiftungserfolg (der Tathandlung des Haupttäters) verwirklicht. Sich
selbst zu gefährden ist aber rechtlich nicht missbilligt (näher zum Ganzen Herzberg, JuS 1987,
617 ff.)
bb) Das Bestimmen
Merke: Bestimmen ist das Hervorrufen des Tatentschlusses.
Ergänzend: 1. Umständlich sagt man auch, der Haupttäter müsse gerade durch die
Anstifterhandlung zum „omnimodo facturus“ (das bedeutet: der fest zur Tat Entschlossene)
werden. – 2. Wenn die Rspr. betont, ein Bestimmen erfordere „ein Hervorrufen des
Tatentschlusses beim Täter und zugleich die Unterordnung unter dessen Willensentschluss“
(BGHSt 9, 370, 379 f.), so ist der zweite Teil des Zitates aus der Animus-Theorie geboren,
wonach Täterschaft und Teilnahme nach dem Täterwillen zu unterscheiden seien. Wer nicht die
Animus-Theorie der Rspr., sondern die Tatherrschaftslehre der h. L. bevorzugt, braucht diesen
Zusatz nicht.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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(1) Unproblematische Fälle
 Prototypen des Bestimmens schildern beispielsweise Fall 197, Fall 198 und Fall 201. Auch
noch unproblematisch ist ...
Fall 204: Der Industrielle I will den Journalisten J beseitigen lassen, weil dieser Is illegalen
Waffengeschäften auf die Spur gekommen ist, und sucht nach jemandem, der die Tat
für ihn ausführt. Berufskiller K hört davon und beschließt, die Tat zu begehen, falls I
ihm dafür 10.000 € zahle. Als er I ein entsprechendes Angebot macht, sagt I zu.
Daraufhin tötet K den J mittels einer Autobombe.
Die Tötung des J ist eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat des K. Zu ihr wurde er von I
bestimmt. K hatte die Tat zwar schon erwogen (vielleicht sogar schon geplant oder sogar
vorbereitet); aber er hatte noch keinen wirklichen Tatentschluss, alles hing von der Bereitschaft
des I zur Zahlung ab. Also hat I den K zur Tat bestimmt.
 „Kettenanstiftung“
Fall 205: K wünscht den Tod des O. Er fordert A auf, den T mit Os Tötung zu beauftragen.
Alles geht glatt: A beauftragt T, T tötet O.
Kettenanstiftung nennt man die Anstiftung eines anderen zur Anstiftung eines Dritten zur
Haupttat (die Kette kann auch noch mehr Personen enthalten). Nach h. A. ist die
Kettenanstiftung „mittelbare Anstiftung zur Haupttat“ (BGHSt 6, 359, 361; Lackner/Kühl23, § 26
Rn 8; Wessels/Beulke, AT30, Rn 570); danach wäre K zu bestrafen aus §§ 212, 26 (vielleicht
§§ 211, 26).
Vertiefung: Die h. L. ist mit Händen zu greifen ungenau: Die Haupttat, zu der der K den A angestiftet hat, ist dessen Anstiftung zum Totschlag; also ist K strafbar gemäß §§ 212 (vielleicht
§ 211), 26, 26. Das Gesetz selber unterscheidet zwischen der Anstiftung zur Tatbegehung und
der Anstiftung zur Anstiftung, wie § 30 I 1 beweist. – Diese richtige Strafbarkeitsbegründung
wird in BGHSt 6, 359, 361 auch vollkommen korrekt nachgezeichnet. Nur verwässert der BGH
dort die gewonnene Klarheit mit dem sich anschließenden Satz: „Da der Anstifter zur Anstiftung
... nach dem Gesetz zu bestrafen ist, welches auf die Handlung Anwendung findet, zu welcher er
... angestiftet hat, so kann man die Anstiftung zur Anstiftung mit der überwiegenden Meinung in
Rechtsprechung und Schrifttum auch als mittelbare Anstiftung zur Haupttat auffassen“ (Hervorhebung von uns).
(2) Problematische Fälle (Auswahl)
 „Situative Anstiftung“
Für das im obigen Merksatz genannte Hervorrufen des Tatentschlusses ist
Mindestvoraussetzung, dass das Verhalten des Anstifters für die Entstehung des Tatentschlusses
kausal ist. Das ist aber nur die unstreitige Mindestanforderung. Umstritten ist, ob für ein
Bestimmen noch mehr erforderlich ist als bloße Verursachung.
Fall 206: Der verschrobene O geht mit seinen 10-jährigen Neffen N in die Spielwarenabteilung
eines Kaufhauses und lässt ihn dort für einige Minuten allein, weil er weiß, dass N
dann der Versuchung erliegen wird, einigen Puppen den Kopf abzureißen. Es kommt,
wie von O geplant.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Reicht für das Bestimmen das Schaffen einer tatanreizenden Situation?
 1. A.: Für das Bestimmen genügt jede Art und Weise der Beeinflussung
So ausdrücklich Baumann/Weber/Mitsch, AT10, § 30 Rn 63; Lackner/Kühl23, § 26 Rn 2; in
der Sache auch Herzberg, JuS 1987, 617, 620 l. Sp. u., 621 r. Sp. u.; vielleicht auch BGHSt 2,
279, 282: „Anstiftung ... begeht ..., wer durch sein Verhalten bewirkt, dass ...“ der andere sich
zur Haupttat entschließt).
Teilweise wird betont, dass neben der Kausalität auch die objektive Zurechnung gegeben sein
muss (z. B. Herzberg, JuS 1987, 617, 620 f.).
 2. A.: Für das Bestimmen ist eine kommunikative Beeinflussung erforderlich, d. h. eine
mindestens konkludente Aufforderung zur Tat
In der Lit. wohl überwiegend; s. nur S/S-Cramer/Heine26, § 26 Rn 4; Wessels/Beulke, AT30,
Rn 568.
 3. A.: Für das Bestimmen ist ein gemeinsamer Tatentschluss (ein Unrechtspakt) zwischen
Anstifter und Haupttäter erforderlich (SKStGB-Hoyer2000, § 26 Rn 12; Puppe, GA 1984,
101 ff., insb. 112 f.).
Im Fall 206 wäre nach der 1. Ansicht ein Bestimmen zu bejahen, nach den anderen Ansichten
wäre es zu verneinen. Wir halten die erste Ansicht für zutreffend. Der heutige Wortlaut des § 26
lässt jede Form des Bestimmens genügen. Nicht einleuchten will uns die Begründung der 2. und
auch 3. Ansicht, erst ihr jeweiliges Kriterium legitimiere die tätergleiche Bestrafung des
Anstifters, die voraussetze, dass der Anstifter selber das Rechtsgut mittelbar angreife (so etwa
S/S-Cramer/Heine26, ebd.). Denn dieser mittelbare Rechtsgutsangriff hat mit der Art und Weise
der Bestimmung gar nichts zu tun. Das zeigt deutlich Fall 206, wo trotz bloß situativer
Anstiftung eindeutig der O das Rechtsgut mittelbar angreift (er ist ja sogar – wegen Einsatz eines
schuldlosen Werkzeugs – zugleich mittelbarer Täter). Auch das Argument der 3. Ansicht, wenn
schon bei Mittäterschaft ein gemeinsamer Tatentschluss nötig sei, müsse dies für die Anstiftung
erst recht gelten (SKStGB-Hoyer ebd.), überzeugt nicht. Es genügt für die tätergleiche
Bestrafung der Befund, dass der Anstifter der Urheber der Tat ist. An das Bestimmen sind also
u.E. keine besonderen Anforderungen zu stellen. Aber natürlich gelten für das Bestimmen alle
allgemeinen Anforderungen an eine Tathandlung, also neben denen der Kausalität insb. die der
objektiven Zurechnung.
Vertiefung 1: In den Fällen der kommunikativen Beeinflussung (vgl. Fall 201 und Fall 204) ist
die unerlaubte Gefahrschaffung (fast) immer zu bejahen (vgl. aber Fall 208!), und das aus
folgendem Grund: Die Haupttat selber ist eine unerlaubte Gefahrschaffung, also salopp gesagt
etwas Schlechtes. Wer einen anderen zu dessen Haupttat auffordert, beabsichtigt also etwas
Schlechtes. Dieser Unwert, der im Auffordern liegt, wird auch nicht aufgewogen durch irgendeinen Wert; denn der Wert könnte nur in der Haupttat zu finden sein, aber dort ist er eben nicht zu
finden, weil die Haupttat ja eine unerlaubte Gefahrschaffung ist.
Vertiefung 2: In den Fällen der situativen Anstiftung gewinnt die Frage nach der Unerlaubtheit
der Gefahrschaffung aber an Bedeutung. In Fall 206 ist sie zwar zu bejahen. Aber sobald man
derartige Fälle in den Bereich des bloßen Eventualvorsatzes verschiebt, wird deutlich, dass das
Verhalten der situativen Anstiftung rechtlich als erlaubt zu bewerten sein kann, so etwa wenn
man Fall 206 dahin abwandelt, dass O nur von den gelegentlichen Neigungen des N weiß, mit
ihm zu Einkaufszwecken in der Spielwarenabteilung ist, dringend zur Toilette muss und nun den
N mit Eventualvorsatz zwischen den Regalreihen stehen lässt.
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 „Aufstiftung“ = „Hochstiftung“
Fall 207: R will einen Raub begehen. A empfiehlt ihm, für alle Fälle eine schussbereite Pistole
mitzunehmen. R befolgt den Rat.
R hat einen schweren Raub begangen (§ 250 I Nr. 1 Buchst. a). Nach h. A. ist A strafbar wegen
Anstiftung zum schweren Raub (§§ 250 I Nr. 1 Buchst. a, 26), denn er hat ja in der Tat den R zu
dieser rechtswidrigen Tat, nämlich dem schweren Raub bestimmt (BGHSt 19, 339, 340 f.;
Wessels/Beulke, AT30, Rn 571). Nach der Gegenansicht scheidet Anstiftung zum schweren Raub
aus, weil schon keine Anstiftung zum darin logisch zwingend enthaltenen einfachen Raub vorlag
(S/S-Cramer/Heine26, § 26 Rn 8). Das überzeugt uns nicht: § 26 fragt danach, ob der Anstifter
den Täter zu einer bestimmten rechtswidrigen Tat angestiftet hat. Ob der Täter schon zu anderem
oder Geringerem entschlossen war, spielt nach dem Wortlaut keine Rolle. Wir sehen auch keinen
Grund, den Wortlaut einzuschränken. Wie unpassend eine solche Einschränkung wäre, wird ganz
deutlich etwa in dem Fall, dass T zu einer Körperverletzung entschlossen ist und A ihm nun zur
Tötung des Opfers rät. Dann würden auch die Vertreter der Gegenansicht wohl nicht mehr
argumentieren wollen, eine Anstiftung zum Totschlag scheide aus, weil schon keine Anstiftung
zur darin logisch zwingend enthaltenen Körperverletzung vorlag. – Zum subjektiven Anstiftungstatbestand s. noch unten Fall 211.
b) Subjektiver Tatbestand
aa) Der Vorsatz des Anstifters
(1) Geschriebene Voraussetzungen
Gemäß § 16 I 1 muss sich der Vorsatz des Anstifters auf alle objektiven Umstände der
Anstiftung (§ 26) erstrecken. Der Anstifter muss also Vorsatz haben erstens hinsichtlich der
vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat (= Haupttat) und zweitens hinsichtlich seines
Bestimmens.
Zur Terminologie: Das nennt man häufig den „doppelten Anstiftervorsatz“ (z. B. SKStGBHoyer2000, § 26 Rn 30; Lackner/Kühl23, § 26 Rn 4).
Probleme bereitet dabei am ehesten der auf die Haupttat bezogene Vorsatz. Nach h. A. muss der
Vorsatz des Anstifters sich auf eine bestimmte Straftat beziehen. Der BGH sagt dazu:
„Der Vorsatz des Anstifters muss sich auf eine bestimmte Haupttat beziehen. Welche
Anforderungen dabei an die Bestimmtheit zu stellen sind, ist in Schrifttum und
Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt. Übereinstimmung herrscht darüber,
dass es nicht ausreicht, wenn der Wille des Anstifters nur darauf gerichtet ist, den Täter
ohne weitere Konkretisierung überhaupt zu strafbaren Handlungen oder zu Straftaten
einer lediglich dem gesetzlichen Tatbestand nach beschriebenen Art (z. B. Diebstählen)
zu veranlassen ... An der Bestimmtheit der Tat fehlt es aber auch dann, wenn diese nur
nach der Gattung der in Betracht kommenden Tatobjekte umrissen ist ... Der Vorsatz
des Anstifters muss sich auf die Ausführung einer zwar nicht in allen Einzelheiten, wohl
aber in ihren wesentlichen Merkmalen oder Grundzügen konkretisierten Tat beziehen ...
Da der Anstifter für die Tat des Angestifteten ebenso wie dieser selbst einstehen muss,
ist zu verlangen, dass die Tat nicht nur nach Tatbestandstypus und allgemeinen
Gattungsmerkmalen des Tatobjekts festgelegt ist, sondern in der Vorstellung des
Anstifters in ihrem tatsächlichen, freilich noch nicht bis »ins Detail« ausgeführten Bild
als wenigstens umrisshaft individualisiertes Geschehen erscheint.“
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
Prof. Dr. Bernhard Hardtung / Prof. Dr. Rolf D. Herzberg
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Zitat aus BGHSt 34, 63, 64–66; s. noch S/S-Cramer/Heine26, § 26 Rn 17; Tröndle/Fischer50,
§ 26 Rn 6; Wessels/Beulke, AT30, Rn 572.
Vertiefung: Ein geringeres Maß an Bestimmtheit verlangen bspw. Kretschmer, NStZ 1998, 401,
402; LK-Roxin11, § 26 Rn 46 ff. Teilweise wird auch gesagt, der Vorsatz des Anstifters müsse
sich auf keine bestimmte Straftat beziehen; er müsse nicht konkreter sein als der normale
Tätervorsatz auch (Herzberg, JuS 1987, 617 ff.).
Fall 208: (nach BGHSt 34, 63 ff.) T möchte ins Ausland fliehen und klagt dem A, dass er kein
Geld habe. Daraufhin sagt A: „Dann müsstest du eine Bank oder Tankstelle machen.“
Dann nimmt das Gespräch eine andere Richtung. Zwei Tage später überfällt T mit
gezogenem Revolver eine Bank.
T hat (nach h. A.) einen schweren Raub (§ 250 II Nr. 1) begangen. A hat ihn nach h. A. nicht
vorsätzlich zu dieser Tat angestiftet, weil die Tat in der Vorstellung des A nicht hinreichend
bestimmt war.
Vertiefung: Richtigerweise ist zunächst im objektiven Anstiftungstatbestand genauer
untersuchen, ob A den schweren Raub nicht nur verursacht hat, sondern ob er ihn auch objektiv
zurechenbar verursacht hat (vgl. oben bei Fall 206). Das ist bei einer solchen
Allerweltsbemerkung, die dem T ohnehin nicht mehr verrät, als er eh schon weiß, wohl zu
verneinen. Zur Frage des Anstiftervorsatzes kommt man dann gar nicht. Würde man aber den
objektiven Anstiftungstatbestand bejahen, hat man auch den dazu passenden Vorsatz
anzunehmen.
Fall 209: A beauftragt den T, auf offener Straße den O zu erschießen, und beschreibt ihm dessen
Aussehen. Als T dem O auflauert, kommt U des Weges. T hält U für O und erschießt
ihn.
T hat einen Menschen getötet. Er kannte auch alle Umstände, die zum Tatbestand des § 212
gehören, und hat daher gemäß § 16 I 1 vorsätzlich gehandelt (sog. unbeachtlicher error in
obiecto). T ist also wegen Totschlags (§ 212) strafbar.
Hat sich A einer Anstiftung zum Totschlag strafbar gemacht? Er hat die Haupttat des T
verursacht. „Bestimmt“ hat er ihn aber nur, wenn sein Verhalten unerlaubt riskant war mit Blick
auf die Tötung gerade des U (objektive Zurechnung). Dafür kommt es darauf an, wie
wahrscheinlich es war, dass T statt des O den U tötet. Bejaht man die objektive Zurechnung,
bereitet der Anstiftungsvorsatz ein Problem. Es wird meist in die Frage gekleidet, ob der „error
in obiecto“ des Täters, der für diesen unbeachtlich ist, auch für den Anstifter unbeachtlich ist
oder aber für ihn eine beachtliche „aberratio ictus“ darstellt. Mit dieser Fragestellung anzusetzen
ist zwar weit verbreitet, aber gesetzesfern. Besser ist es, gesetzesnah mit § 16 I 1 danach zu
fragen, ob A alle Umstände gekannt hat, die zum Tatbestand der objektiv verwirklichten
Anstiftung zum Totschlag gehören. In der Sache muss man zwei Meinungslager unterscheiden:
 Eine stark vertretene Ansicht würde für A argumentieren, er habe bei seiner Bitte an T den
Umstand verkannt, dass gerade der U getötet werden würde, also ohne Vorsatz gehandelt (vgl.
SKStGB-Samson1993, vor § 26 Rn 55; LK-Roxin11, § 26 Rn 90 ff.; Kühl, AT3, § 20 Rn 209).
Diese Ansicht sieht also im Dazwischentreten eines eigenverantwortlichen Haupttäters keine
Besonderheit gegenüber den üblichen, schlichteren Fällen der „aberratio ictus“.
Vertiefung: Bedenken Sie aber, dass es zur rechtlichen Behandlung der „aberratio ictus“ auch
eine Gegenmeinung gibt, wonach der Vorsatz zu bejahen ist.
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 Die (wohl noch herrschende) Gegenposition greift auf die Regeln für den „Irrtum über den
Kausalverlauf” zurück und argumentiert:
„Die Regeln für das Fehlgehen des Angriffs (»aberratio ictus«) finden bei
Fallgestaltungen wie der vorliegenden keine Anwendung. Sie sind – als Sonderfall der
Kausalabweichung – für Geschehensabläufe entwickelt worden, in denen der Täter das
Angriffsobjekt vor sich sieht, an seiner Stelle aber ein anderes Objekt verletzt ... Die
Übertragung dieser Regeln auf andere Sachverhalte bereitet Schwierigkeiten ... und ist
auch nicht erforderlich. Die Kategorie der Zurechnung der Abweichungen vom
vorgestellten Verlauf des Geschehens innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner
Lebenserfahrung Voraussehbaren ... reicht aus“ (BGHSt 37, 214, 219; s. auch BGH,
NStZ 1998, 294, 295; S/S-Cramer/Heine26, § 26 Rn 23).
Diese Meinung würde den Angriff auf U also als bloße Kausalabweichung ansehen und als
solche für unbeachtlich halten, weil Verwechslungen dieser Art sich „innerhalb der Grenzen
des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren“ bewegen.
Stellungnahme: Die erstgenannte Ansicht verdient den Vorzug: Die vom BGH erwähnten
„Regeln für das Fehlgehen des Angriffs (»aberratio ictus«)“ sind letztlich diejenigen Regeln, die
§ 16 mit der Autorität des Gesetzgebers vorgibt. Sie sind allgemein gültig. Deshalb darf man sie
nicht mit der Begründung missachten, sie bereiteten „Schwierigkeiten“ oder sie seien „nicht
erforderlich“. Ein Rechtsanwender darf sich nicht von den gesetzlich vorgegebenen Regeln
lösen, bloß weil er glaubt, er habe praktikablere oder andere, vielleicht sogar bessere Regeln.
(2) Ungeschriebene Voraussetzungen (Stichwort „Lockspitzel“ = „agent provocateur“)
Fall 210: T und A gehen nachts durch die Stadt. T will Zigaretten, hat aber kein Geld mehr. A
zeigt auf den Passanten O, der gerade vor einem Zigarettenautomaten steht und das
Münzgeld schon in der Hand hat, und sagt: „Nimm es dir doch von ihm da!“ T gefällt
die Idee. Er stellt sich dem O in den Weg, sagt: „Ich brauch’ mal eben das Geld.“ und
ergreift Os Hand, um ihm das Geld zu entwinden. Aber O schlägt ihn mit gekonnten
Kampfsportschlägen nieder und geht gemächlich davon.
a) A fühlt sich von dem unerwarteten Geschehen genauso niedergeschlagen wie T.
b) A hat das genau so kommen sehen, weil er den O und dessen Kampfkünste
kannte.
Abwandlung: T geht zu As Überraschung mit einem gezogenen Messer auf O los,
wird aber wie im Grundfall von O besiegt.
T hat sich im Grundfall eines versuchten Raubes strafbar gemacht (§§ 249, 22, 23 I, 12 I), denn
er wollte dem O mit Gewalt dessen Geldmünzen wegnehmen und hat spätestens mit dem
Zugreifen unmittelbar dazu angesetzt.
Zur Var. a: A hat den T vorsätzlich zu dessen Raubversuch bestimmt und damit alle
geschriebenen Voraussetzungen des § 26 verwirklicht. Die einzige Besonderheit gegenüber den
typischen Fällen einer Anstiftung ist die, dass die „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ des
T hier keine Vollendungstat (§ 249) war, sondern eine bloße Versuchstat (§§ 249, 22). A ist
deshalb strafbar wegen Anstiftung zum Raubversuch (§§ 249, 22, 26). – Zum subjektiven
Anstiftungstatbestand s. noch unten Fall 211.
Vertiefung: §§ 26, 27 setzen eine „rechtswidrige Tat“ voraus. Das ist gemäß § 11 I Nr. 5 nur eine
solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Der bloße Versuch beispielsweise
des Raubes im Fall 210 verwirklicht allerdings nicht den Tatbestand des § 249. Aber er
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verwirklicht den Versuchstatbestand, der in §§ 249, 22, 23 I beschrieben ist: §§ 249, 22 sagen,
was ein Raubversuch ist, und § 23 I bestimmt, dass dieser Raubversuch als Verbrechensversuch
(§ 12 I, II) ein strafbares Tun ist. – Zum Vergleich: Der Versuch einer Beleidigung (§§ 185, 22)
ist nicht strafbar und also wegen § 11 I Nr. 5 auch keine „rechtswidrige Tat“ i. S. der §§ 26, 27.
Zum bloßen Versuch einer Beleidigung anzustiften ist also straflos.
Auch in der Var. b wäre A, § 26 beim Wort genommen, wegen Anstiftung zum Raubversuch zu
bestrafen. Denn er hat den T ja vorsätzlich zu dessen Raubversuch bestimmt. § 26 ist in seiner
Anlehnung an den „Haupttatbestand“ (hier §§ 249, 22) unselbstständig („akzessorisch“): Er
verlangt nur, dass der eine die tatbestandsmäßig-rechtswidrige Haupttat vorsätzlich begeht und
dass der andere ihn dazu vorsätzlich bestimmt hat. Demnach wäre es ohne Bedeutung, dass A für
seine Person den für T zu fordernden Vollendungsvorsatz nicht hat. Das befremdet. Denn wenn
A die aussichtslose Tat in die eigene Hand genommen, also selber auf O eingedrungen wäre,
bliebe er ja straflos, weil er, der Os Unüberwindbarkeit kannte, nicht die Vorstellung gehabt
hätte, § 249 zu vollenden.
Vertiefung 1: Für den Anstifter auf den Vollendungsvorsatz zu verzichten hätte freilich Sinn,
wenn der Strafgrund der Anstiftung darin läge, dass der Anstifter den Täter in strafrechtliche
Schuld führt. Aber diese Erklärung, die sog. Schuldteilnahmetheorie, ist schon deshalb unhaltbar,
weil §§ 26, 27 (vgl. auch § 29) eine schuldhaft begangene Haupttat gerade nicht verlangen. Ist
somit der Strafgrund für Täter und Teilnehmer gleich, dann ist die für A so ungünstige „akzessorische“ Lösung nicht einleuchtend.
Vertiefung 2 (sehr speziell): Man kann auch erwägen, § 28 I anzuwenden. Denn dass der Täter
Vollendungsvorsatz hat, ist eine persönliche, für den Täter individuell festzustellende
Voraussetzung, die seine Strafbarkeit begründet und somit § 28 I an sich subsumiert werden
könnte. Indes wäre dann die akzessorische Lösung im Prinzip beibehalten und nur in ihrer
Auswirkung abgeschwächt (bloße Strafmilderung bei A). Außerdem hatte der Gesetzgeber bei
§ 28 I allein solche Merkmale im Auge, in denen sich eine Sonderpflicht ausdrückt; Beispiel: A
besticht Richter T und bewegt ihn zu einer Rechtsbeugung (§ 336). Um derartige Fälle ging es
bei Einführung des § 28 I. An seine Anwendung auf A im Fall 210 war nicht gedacht.
Nach nahezu allgemeiner Ansicht soll der Anstifter so stehen, wie er als Täter stünde. Weil er als
Täter mangels Vollendungsvorsatzes straflos wäre, soll er es als Anstifter aus demselben Grund
sein. Man verlangt also für eine Bestrafung aus § 26 als ungeschriebenes Merkmal Vollendungsvorsatz des Anstifters (Kühl, AT3, § 20 Rn 201 ff.; LK-Roxin11, § 26 Rn 67 ff.).
Empfehlung zum Aufbau: Prüfen Sie das ungeschriebene Merkmal des Vollendungsvorsatzes
erst am Ende des subjektiven Tatbestandes in § 26. Denn die Strafbarkeit kann ja schon an einem
geschriebenen Merkmal scheitern. So ist es z. B. bei der Frage, ob A den T in der Abwandlung
von Fall 210 zum Versuch eines schweren Raubes angestiftet hat: Objektiv hat er ihn zur
tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Tat (§§ 250 II Nr. 1, 22) bestimmt, aber er tat es laut
Sachverhalt nicht vorsätzlich.
bb) Sonstige subjektive Merkmale?
Fall 211: T klagt dem A seine Armut. Der gleichgültige A rät ihm, er solle doch dem O
vorspiegeln, dass der dem T noch 300 € schulde, und das Geld einfordern. T macht
das, O fällt drauf rein.
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T hat einen Betrug (§ 263) begangen; insbesondere hatte er die dort vorausgesetzte
Bereicherungsabsicht. Zu dieser vorsätzlichen rechtswidrigen Tat hat A den T objektiv bestimmt.
A hat auch vorsätzlich gehandelt. A selber hatte zwar keine Bereicherungsabsicht (auch nicht in
Form der Drittbereicherungsabsicht), aber das wird für den Anstifter auch nicht verlangt. Also ist
A strafbar gemäß §§ 263, 26. – Ob für ihn eine Strafmilderung nach § 28 I in Betracht kommt, ist
streitig; die h. L. verneint das (z. B. Stratenwerth, AT4, § 12 Rn 196 f.; vgl. auch BGHSt 22, 375,
380 zur entsprechenden Zueignungsabsicht in § 242; anders aber SKStGB-Samson1993, § 28
Rn 20).
c) Rechtswidrigkeit und Schuld
Keine Besonderheiten. Lesen Sie § 29!
d) Die Rechtsfolge
Der Anstifter wird „gleich einem Täter“ bestraft. Beachten Sie aber § 28!
2. Beihilfe (§ 27)
a) Objektiver Tatbestand
aa) Die „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ eines anderen (sog. Haupttat)
Hierzu ist schon alles bei der Anstiftung gesagt worden (s. ab Fall 196).
Machen Sie sich noch einmal klar, dass „Haupttat“ i. S. der §§ 26, 27 auch eine Anstiftung sein
kann (oben Fall 205 und hier Fall 212) und auch eine Beihilfe.
Fall 212: Analphabet A will den O tot sehen und den Killer K beauftragen. F, die Freundin des
A, sucht ihm auf seine Bitte hin aus dem Internet die Telefonnummer des K und nennt
sie ihm. A beauftragt K, K führt die Tat aus.
K hat (mindestens) einen Totschlag (§ 212) begangen, A eine Anstiftung dazu (§§ 212, 26). F ist
– genau genommen! – wegen „Beihilfe zur Anstiftung zum Totschlag (§§ 212, 26, 27)“ strafbar
(so auch S/S-Cramer/Heine26, § 27 Rn 18); die ganz h. L. verkürzt das aber ungenau zu einer
Strafbarkeit wegen „Beihilfe zum Totschlag (§§ 212, 27)“; s. z. B. BGH, NStZ 1996, 562 (563);
NStZ 2000, 421 (422); Kühl, AT3, § 20 Rn 242a; Wessels/Beulke, AT30, Rn 583.
Vertiefung: Bei der Beihilfe ist natürlich in der Tat denkbar, dass ein Gehilfe des Anstifters mit
seinem Beitrag zugleich zur Haupttat Hilfe leistet; Beispiel: Der Anstiftergehilfe nennt dem
Anstifter die genauen Umstände am Tatort, erst mit deren Mitteilung kann der Anstifter den
Täter zur Tat bewegen. – Obwohl es nach der h. L. für den Schuldspruch letztlich nicht darauf
ankommt, ob der Gehilfe wirklich zur Haupttat Hilfe leistet oder nur zur Anstiftung, betont auch
BGH, NStZ 2000, 421 (422), dass es diesen Unterschied gibt und dass es insoweit genauer
Auswertung des Sachverhaltes bedarf.
bb) Das Hilfeleisten
(1) Die Art und Weise des Hilfeleistens
Zur Frage, was ein Hilfeleisten sei, werden üblicherweise zwei Hauptmeinungslager genannt:
 1. A.: Hilfeleisten ist jeder Tatbeitrag, der für die Tatbestandsverwirklichung ursächlich ist.
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So die h. Lit.; etwa S/S-Cramer/Heine26, § 27 Rn 10; Kühl, AT3, § 20 Rn 214 ff., insb. 220.
Dieser ursächliche Beitrag, so heißt es meist, könne die Haupttat ermöglichen, erleichtern,
intensivieren oder absichern.
Gelegentlich wird zu Recht betont, dass auch hier neben der Kausalität die Voraussetzungen
der objektiven Zurechnung erfüllt sein müssen (z. B. Kühl, AT3, § 20 Rn 221.)
 2. A.: Hilfeleisten ist jeder Tatbeitrag, der die Tatbestandsverwirklichung irgendwie fördert.
So die Rspr. und Teile der Lit.; etwa BGH, NStZ 1995, 27 (28); Wessels/Beulke, AT30,
Rn 582.
Dazu heißt es aber – jedenfalls in der neueren Rechtsprechung –, die Förderung müsse „in
irgendeiner Weise für die Haupttat kausal geworden sein, so dass die Rechtsgutsverletzung
verstärkt oder die Durchführung der Tat erleichtert worden ist“ (BGH, NStZ 1995, 27, 28).
Vergleicht man die näheren Beschreibungen, dann zeigt sich, dass sie die Unterschiede zwischen
„Mitverursachung“ und bloßer „Förderung“ nicht mehr erkennen lassen. Dennoch empfehlen
wir, in einem Fallgutachten beide Positionen zu nennen. Fast immer führen sie aber zu
demselben Subsumtionsergebnis.
Fall 213: T will einen Einbruch begehen. Sein Bekannter B fährt ihn im Wagen zum Tatort. Auf
dem Rücksitz ist noch Ts Freund F dabei. Als T schwächelt und beginnt, den Mut zur
Tat zu verlieren, stärkt ihm F mit aufmunternden Worten den Sinn. Am Tatort
angekommen, steigt T aus und macht sich frohen Mutes an die Arbeit, die er Stunden
später erfolgreich beendet.
Unterscheiden Sie physische und psychische Beihilfe (Beihilfe „durch Tat“ und „durch Rat“)!
T hat einen Diebstahl (§ 242) begangen. B hat dazu Hilfe geleistet, indem er den T zum Tatort
gefahren hat (sog. physische Beihilfe). Aber auch F hat Hilfe geleistet, nämlich indem er T in
seinem wankenden Tatentschluss bestärkt hat (sog. psychische Beihilfe).
Fall 214: Wie Fall 213. Aber am Tatort wartet Ts Kumpel K. K hält absprachegemäß während
der gesamten Zeit, die T im Gebäude verbringt, draußen Wache und ist jederzeit
bereit, in kritischen Situationen den T per Handy zu warnen. Es kommt aber keine
kritische Situation.
Auch hier hat K dem T Hilfe geleistet. Zwar war sein Wachestehen nicht physisch kausal, weil K
nicht ein einziges Mal warnend tätig geworden ist. Aber T hat sich nur deshalb ins Haus
begeben, weil er sich durch Ks Anwesenheit und Wachsamkeit sicher fühlte. Auf diesem Wege
ist K also durchaus kausal für die Tatbestandsverwirklichung geworden.
Fall 215: (= Fall 185; vereinfacht nach BGH, NStZ 1993, 385) M, E und F sind im Auto
unterwegs, E sitzt am Steuer. M kommt spontan auf die Idee, man könne das Geschäft
der H ausrauben. M und E planen die Tat. F sagt, er fahre mit, wolle aber auch ein
Drittel der Beute. Die Tat verläuft wie geplant: E fährt vor Hs Geschäft, M und E stürmen hinein, E hält der H eine Pistole vor, während M die Kasse lehrt, beide steigen
wieder in den Wagen und E fährt davon.
M und E haben einen gemeinschaftlichen Raub begangen (§§ 249, 25 II). F ist kein Mittäter, weil
er keinen objektiven Beitrag geleistet hat (s. schon oben bei Fall 185).
Ist F, wenn er schon ist kein Mittäter ist, wenigstens Gehilfe?
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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Nein, und zwar auch nach der Förderungstheorie nicht. Der BGH hat zu Fall 215 gesagt: „Nach
der Rechtsprechung des BGH kann zwar schon ein bloßes ‚Dabeisein’ die Tatbegehung ...
fördern oder erleichtern ... In derartigen Fällen bedarf es aber sorgfältiger und genauer
Feststellungen darüber, dass und wodurch die Tatbegehung in ihrer konkreten Gestaltung
objektiv gefördert oder erleichtert wurde ...“ Solche Feststellungen hat er in Fall 215 nicht
gefunden.
Problematisch sind nur Konstellationen, in denen der Gehilfenbeitrag keine auch nur noch so
indirekte Ursache für die Tatbestandsverwirklichung gewesen ist. – Finden Sie den Unterschied
in den beiden folgenden Fällen!
Fall 216: T will O erschießen. B findet das gut und gibt dem T eine Pistole mit. T will die Waffe
auch wirklich einsetzen, entschließt sich aber Minuten vor der Tat, doch lieber seine
eigene Pistole zu nehmen.
T hat einen Totschlag (§ 212) begangen. Bs Hingabe seiner Pistole war für die Tatbegehung
eindeutig nicht physisch kausal. Allenfalls eine psychische Kausalität kann man erwägen; aber
dazu sagt der Sachverhalt zu wenig. Eine Ursächlichkeit des Gehilfenbeitrags für die
Tatbestandsverwirklichung ist also zu verneinen. Aber hat der Gehilfenbeitrag die
Tatbestandsverwirklichung „irgendwie gefördert“? Nach den neueren Beschreibungen des
„Förderns“ (s. oben vor Fall 213) ist das zu verneinen. In früheren Entscheidungen haben die
Gerichte aber vergleichbare Gehilfenbeiträge genügen lassen (so v. a. das besonders bekannt
gewordene Urteil RGSt 6, 169 f.).
Fall 217: (nach RGSt 6, 169 f.) T will stehlen gehen. G gibt ihm einen Schlüssel mit. Vor Ort
will T das Schloss mit dem Schlüssel öffnen, das gelingt aber nicht. T bricht das
Schloss kurzerhand auf und stiehlt.
Das RG hat Beihilfe zum vollendeten Diebstahl bejaht. Das ist nicht überzeugend. Wohl aber hat
T zunächst einen Diebstahlsversuch unter Verwendung des Schlüssels begangen; also ist G
strafbar wegen Beihilfe zum Diebstahlsversuch (§§ 242 I, II, 22, 27)
(2) Der Zeitpunkt des Hilfeleistens (Stichwort: „sukzessive Beihilfe“)
Fall 218: (aus einer Examensklausur Frühjahr 2000) B will aus einer Villa kostbare Teppiche
stehlen. Er bittet seinen leichtgläubigen Freund F, ihn nachts um 2 Uhr vor der Villa
mit seinem Kleintransporter abzuholen; er habe dort ein Stelldichein mit einer Dame,
müsse aber zum Dank dafür ausrangierte Einrichtungsgegenstände abtransportieren.
Als F nachts erscheint und den B auf dem Gehweg mit den Teppichen sieht, kommen
ihm Zweifel, dass es um Sperrmüll gehe. B räumt den Diebstahl ein und verspricht F
1.000 €, wenn er ihn und die Teppiche fortbringt. F macht das.
Hat F eine Beihilfe zum Einbruchsdiebstahl des B begangen (§§ 244 I Nr. 3, 27)?
Eine Beihilfestrafbarkeit des F kommt erst ab dem Moment der Aufklärung in Betracht; vorher
hatte F ersichtlich keinen Vorsatz. Im Moment des Abtransportierens war der Einbruchsdiebstahl
des B (§ 244 I Nr. 3) – jedenfalls nach h. L. – schon formell vollendet (es war zur Wegnahme der
Teppiche gekommen); aber er war noch nicht materiell beendet (weil die Diebesbeute noch nicht
in Sicherheit gebracht war). Ob der Gehilfe noch in dieser Phase Hilfe leisten kann, ist
umstritten.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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 Nach h. M. ist Beihilfe (§ 27) noch bis zur Beendigung der Haupttat möglich.
S. nur BGHSt 4, 132, 133; S/S-Cramer/Heine26, § 27 Rn 17; Wessels/Beulke, AT30, Rn 583).
 Nach der Gegenansicht ist Beihilfe nur bis zur Vollendung der Haupttat möglich.
So z. B. Jakobs, AT2, 22/41; LK-Roxin11 § 27 Rn 35; LK-Ruß11 § 257 Rn 5; SKStGBHoyer2000, § 27 Rn 18; SKStGB-Samson1986, § 257 Rn 26).
Stellungnahme: Die „rechtswidrige Tat“, von der § 27 spricht, ist „nur“ (§ 11 I Nr. 5) genau das
Verhalten, das einen Straftatbestand verwirklicht. Ist also bei einem Diebstahl mit der
Wegnahme der Tatbestand verwirklicht, so verwirklicht das weitere Sichern der Beute nicht
mehr den Tatbestand des § 242; damit kann es nach den klaren Worten des Gesetzes in §§ 27,
11 I Nr. 5 nicht mehr Bezugspunkt der Hilfeleistung eines Gehilfen sein. – Der Moment der
„materiellen Beendigung“ ist übrigens so unbestimmt, dass verfassungsrechtliche Bedenken laut
werden; die teilen wir allerdings nicht.
Vertiefung: Hat F eine Begünstigung (§ 257) begangen? Statt einer Beihilfe oder zusätzlich?
Lehnt man – mit der Minderheitsmeinung – die Möglichkeit einer sukzessiven Beihilfe ab,
entstehen keine Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Beihilfe zur Begünstigung: Wirkt sich
der Beitrag des Beteiligten vor der Tatbestandsverwirklichung aus, so liegt Beihilfe vor; wirkt er
sich – wie im Fall 218 – erst danach aus, ist es Begünstigung.
Die h. M. steht dagegen im Fall 218 vor der Wahl. „Entscheidend für die Abgrenzung sind die
Vorstellung und der Wille des Täters, mit denen er seinen Beistand leistet“ (BGHSt 4, 132, 133;
ebenso z. B. Wessels/Hillenkamp, BT 223, Rn 804; kritisch S/S-Stree26, § 257 Rn 8). Im Fall 218
würde der BGH vielleicht (vielleicht!) sagen, F habe mit Begünstigungsabsicht gehandelt, weil F
dem B die Vorteile des Diebstahls sichern wollte. Das wäre aber eine beliebige Zuschreibung.
Mit dem gleichen Recht könnte man nämlich sagen, F habe in Beihilfeabsicht gehandelt, weil er
die Beendigung des Diebstahls (was ja nun einmal dasselbe ist wie die Sicherung der Beute!)
unterstützen wollte.
b) Subjektiver Tatbestand
Wie bei der Anstiftung (ab Fall 208).
c) Rechtswidrigkeit und Schuld
Keine Besonderheiten. Lesen Sie § 29!
d) Die Rechtsfolge (§ 27 II)
Die Strafe des Gehilfen muss gemildert werden (§ 27 II 2). Beachten Sie außerdem § 28!
3. Versuch und Rücktritt bei der Teilnahme
Halten Sie unbedingt die folgenden zwei Konstellationen (unter a und b) auseinander:
a) Beteiligung am Versuch
Ein strafbarer Versuch ist begangen worden und jemand nimmt daran als Anstifter oder Gehilfe
teil.
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Nichts Neues gegenüber dem bisher Gesagten. Der begangene Versuch ist die „vorsätzlich
begangene rechtswidrige Tat“ des anderen, von der §§ 26, 27 sprechen. Vgl. Fall 210!
Auch zum Rücktritt von der Teilnahme am Versuch gilt nichts Neues. Lesen Sie Fall 193 bis Fall
195 und wandeln Sie die Fälle so ab, dass T kein Mittäter ist, sondern nur ein Gehilfe!
b) Versuch der Beteiligung (§ 30)
Ein strafbarer Versuch ist nicht begangen worden, aber jemand hat darauf hingewirkt, dass es zu
einer Straftat komme.
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aa) Versuch der Anstiftung (§ 30 I)
Entscheidend ist, wozu jemand anzustiften versucht. Halten Sie auseinander:
 Straflos ist der Versuch der Anstiftung zur Beihilfe.
 Strafbar ist nur der Versuch der Anstiftung zur Haupttat und zur Anstiftung.
 Strafbar ist der Versuch der Anstiftung nur bei Verbrechen.
Fall 219: Wie Fall 210. Aber T erkennt wider As Erwarten den O als Karateprofi und findet As
Idee deshalb gar nicht gut. Er lässt O in Ruhe.
Im Fall 219 ist T straflos. Mangels Haupttat hat A sich nicht aus § 26 strafbar gemacht. Wohl
aber aus § 30 I 1 Alt. 1: Er hat versucht, den T dazu zu bestimmen, einen Raub, also ein
Verbrechen zu begehen. Allerdings ist As Strafe zwingend zu mildern (§ 30 I 2).
Fall 220: X will einen Einbruchdiebstahl begehen. Er bittet seinen Berufskollegen K, ihm
Einbruchswerkzeug zu leihen. K lehnt höhnisch ab. X begeht die Tat mit eigenen
Mitteln.
X hat den straflosen Versuch einer Anstiftung zur bloßen Beihilfe zum Einbruchdiebstahl
(§§ 244, 27) begangen. (Außerdem ist § 244 ohnehin kein Verbrechen; s. § 12 I).
bb) Versuch der Beihilfe (straflos)
Einfach: Die versuchte Beihilfe ist immer straflos.
Fall 221: M erklärt seiner Frau F beim Abendbrot, er werde rauben gehen. F gibt ihm zur
Erleichterung eine Pistole mit. Noch während M einem Opfer auflauert, schießt er sich
aus Versehen in den Fuß. Er lässt das Rauben sein und humpelt ins Krankenhaus.
Im Fall 221 ist M straflos, weil er noch nicht unmittelbar angesetzt hat zum Raubversuch.
Mangels Haupttat hat F sich nicht aus § 27 strafbar gemacht. In § 30 ist die versuchte Beihilfe
nicht erfasst.
cc) Sonstige strafbare Verhaltensweisen vor Versuchsbeginn (§ 30 II)
§ 30 II beschreibt alternativ sechs Verhaltensweisen, die, wenn es zur Tatbegehung käme,
Täterschaft oder Anstiftung begründen würden, aber keine bloße Beihilfe.
Fall 222: A sagt zu seiner armen Schwester S, wenn sie wolle, werde er für sie ...
a) am Wochenende den reichen O ausrauben.
b) den X überreden, am Wochenende den reichen O auszurauben.
S zeigt sich erfreut und nimmt As Vorschlag dankend an.
A hat sich bereit erklärt, ein Verbrechen zu begehen (Fall 222 a) bzw. zu ihm anzustiften (Fall
222 b). S hat das Erbieten eines anderen angenommen, ein Verbrechen zu begehen (Fall 222 a)
bzw. zu ihm anzustiften (Fall 222 b).
Fall 223: A und S entwickeln im Gespräch den Plan, gemeinsam
a) am Wochenende den reichen O auszurauben.
b) den X zu überreden, am Wochenende den reichen O auszurauben.
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A und S haben jeweils mit einem anderen verabredet, ein Verbrechen zu begehen (Fall 223 a)
bzw. zu ihm anzustiften (Fall 223 b).
Wichtig: Zu allen sechs Tatvarianten gehört, dass derjenige, der sich bereit erklärt usw., es
wirklich ernst meint, also die Erklärung nicht nur zum Schein abgibt (s. nur BGH, NStZ 1998,
403, 404; Wessels/Beulke, AT30, Rn 564). Das steht zwar nicht deutlich in § 30 II, ergibt sich
aber z. B. aus § 31 I Nr. 2 („Vorhaben“).
c) Rücktritt vom Versuch der Beteiligung (§ 31)
§ 31 nennt für jede der in § 30 genannten Formen des Beteiligungsversuches eine
Rücktrittsmöglichkeit. Die Vorschrift enthält überwiegend Voraussetzungen, die schon bei § 24
behandelt worden sind. Lesen!
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G. Die Konkurrenzen
Fall 224: T erschießt O.
Fall 225:
T wirft absichtlich einen Stein durch die Fensterscheibe und gegen den Kopf des O.
Fall 226: T wirft absichtlich heute einen Stein durch die Fensterscheibe des O und morgen
denselben Stein gegen Os Kopf.
 Kein Strafrechtsgutachten ohne Konkurrenzen!
 Unterscheiden und lernen Sie:
 Gesetzeskonkurrenz (nur gelegentlich im Gesetz geregelt)
Von mehreren verwirklichten Straftatbeständen „verdrängt“ der eine den anderen; der Täter wird
nur wegen der einen Tatbestandsverwirklichung bestraft. – Im Fall 224 sind §§ 212 und 223
verwirklicht, T wird aber nur wegen § 212 bestraft.
 Tateinheit = Idealkonkurrenz (in § 52 geregelt)
Im Fall 225 verwirklicht T §§ 303 und 223. Lesen Sie § 52 I und II! Höchststrafe: 5 J.
Freiheitsstrafe.
 Tatmehrheit = Realkonkurrenz (in §§ 53–55 geregelt)
Im Fall 226 verwirklicht T §§ 303 und 223. Lesen Sie §§ 53 I und 54 I 2, II! Höchststrafe: 5 J.
11 M.
I. Voraussetzung aller Konkurrenzüberlegungen: mehrere
Gesetzesverletzungen
Fall 227: X beleidigt Y mit einem Schwall von Schimpfworten. Tags darauf rächt sich Y, indem
er dem X mehrere Faustschläge ins Gesicht versetzt.
Konkurrenzfragen stellen sich erst dann, wenn mehrere Gesetzesverletzungen vorliegen (vgl.
§ 52 I). Ein Gesetz „verletzen“ kann man nur dadurch, dass man seinen Tatbestand verwirklicht.
Mehrere Akte werden aber manchmal zu schon nur einer einzigen Tatbestandsverwirklichung zusammengefasst.
Die Tracht Prügel etwa ist nur eine Verwirklichung des § 223 und die Kaskade von
Schimpfwörtern verwirklicht nur einmal den § 185 (S/S-Stree26 Vor § 52 Rn 17; Warda, JuS
1964, 81, 84). Das stellt man in einem Gutachten am besten durch entsprechende Formulierung
des Obersatzes schon bei der Prüfung des Tatbestandes klar.
Nur eine Gesetzesverletzung, also nur eine Tatbestandsverwirklichung liegt vor in den Fällen der
„iterativen“ (= wiederholten) und „sukzessiven“ (= sich fortlaufend vollziehenden)
Tatbestandsverwirklichung. Das hat vier Voraussetzungen: Es muss sich um rechtlich
gleichartige Tätigkeitsakte handeln, die in einem engen räumlichen und zeitlichen
Zusammenhang stehen, von einem einheitlichen Willen getragen sind und überdies nach der
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Lebensauffassung als ein einheitliches Geschehen erscheinen (Sowada, Jura 1995, 245, 248;
Warda, Oehler-FS, 257 f.; ähnlich BGH, NStZ 1990, 490, 491; NStZ 1993, 234).
Weitere Beispiele: Schießt der Täter dreimal am Opfer vorbei und trifft es mit dem vierten
Schuss tödlich in den Kopf, so ist § 212 nur einmal, und zwar sukzessiv, verletzt worden (also
nicht etwa eine Vollendung nebst drei Versuchen). Ebenfalls nur einmal, und zwar diesmal
iterativ, verwirklicht der Dieb den Tatbestand des § 242, indem er fünfmal in das Regal des
Tabakhändlers greift und jeweils eine Schachtel Zigaretten in seine Taschen steckt.
Achtung: Bei diesen Tatbestandsverwirklichungen durch mehrere Akte spricht man häufig von
„natürlicher Handlungseinheit“. Dasselbe Wort wird irritierenderweise auch für etwas zwar
Ähnliches, aber doch Anderes verwendet, nämlich als Bezeichnung für eine Form „einer
Handlung im rechtlichen Sinne“. Dort ist mit „natürlicher Handlungseinheit“ gemeint, dass
mehrere Akte zwar mehrere Straftatbestände verwirklichen, dass aber diese Gesetze durch
„dieselbe Handlung“ i. S. des § 52 I verletzt werden. Genauer unten III 2 d.
II. Gesetzeskonkurrenz
Kriterium der h. L.: Klarstellungsinteresse
Fall 228:
Wie Fall 224. Aber die Kugel tritt aus Os Körper aus und verletzt noch den Z.
Hat der Täter mehrere Straftatbestände verwirklicht, beispielsweise zwei, dann konkurrieren die
verletzten Strafgesetze darum, zur Anwendung zu kommen, d. h. an der Bildung der konkreten
Strafe beteiligt zu sein. Es kann sein, dass beide zur Anwendung kommen. Aber auch kann das
eine das andere verdrängen oder umgekehrt. In Rspr. und Lit. findet man meist den Satz, dass ein
Strafgesetz das andere nur dann verdrängt, wenn „der Unrechts- und Schuldgehalt einer
strafbaren Handlung schon nach einem der in Betracht kommenden Strafgesetze erschöpfend
bestimmt werden kann“. Das verdrängte Strafgesetz wird dann im Urteilstenor nicht aufgeführt.
Zitat von Jescheck/Weigend5, S. 732. Ebenso BGHSt 25, 373; 39, 100 (108); Jakobs, AT2,
31/11 f.; Wessels/Beulke30, Rn 787. – Zu abweichenden, meist aber sehr ähnlichen Konzeptionen
siehe Jescheck/Weigend5, S. 732 in Fn 1. Zu den praktischen Folgen der Gesetzeskonkurrenz
Haft AT8, S. 272; Jescheck/Weigend5, S. 737 f.
Wird hingegen durch die Nennung des einen Strafgesetzes der Unrechts- und Schuldgehalt nicht
erschöpfend beschrieben, so wird der Rest durch die Nennung des anderen Strafgesetzes
klargestellt (sog. Klarstellungsfunktion).
Im Fall 228 tritt die Körperverletzung an O hinter dessen Tötung zurück. Die Körperverletzung
des Z bleibt aber daneben stehen zur Klarstellung, dass durch die Tat noch ein anderer Mensch
verletzt worden ist.
1. Spezialität (vgl. Fall 224)
Merksatz: Ein Tatbestand ist im anderen logisch zwingend enthalten.
Ein Tatbestand verhält sich zu einem anderen als lex specialis, wenn die Verwirklichung des
speziellen Deliktstatbestandes zwangsläufig zugleich den in Betracht kommenden allgemeinen
Tatbestand erfüllt (Wessels/Beulke30, Rn 788). Qualifikationen und Privilegierungen sind immer
spezieller als ihr Grundtatbestand. So gehen mit jedem Raub (§ 249) eine Nötigung (§ 240) und
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ein Diebstahl (§ 242) notwendig einher und mit jeder Tötung auf Verlangen (§ 216) ist auch der
Tatbestand des Totschlags (§ 212) erfüllt. Die spezielleren §§ 249, 216 verdrängen als
Qualifizierung bzw. Privilegierung die §§ 242, 240, 212.
Wegen der Klarstellungsfunktion (s. o. vor 1 a. E.) tritt der generelle Tatbestand aber nur zurück,
wenn der speziellere komplett verwirklicht ist. Obwohl also mit jeder Tötung auch eine
Körperverletzung angestrebt wird (s. § 226), tritt die vollendete Körperverletzung (§ 223) nicht
hinter dem bloß versuchten Tötungsdelikt (§§ 212, 22) zurück, denn andernfalls würde der
Erfolgsunwert der vollendeten Körperverletzung im Urteil nicht zum Ausdruck kommen (so nun
auch BGHSt 44, 196, 198 ff.; zum Urteil Kudlich, JA 1999, 452-454).
Vertiefung: Lex specialis ist auch das Vorsatzdelikt gegenüber dem entsprechenden bloßen
Fahrlässigkeitsdelikt, etwa § 212 gegenüber § 222. Denn auch der Täter des Vorsatzdeliktes
verursacht i. S. des Gesetzes „fahrlässig“ den Erfolg. Die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit
sind nämlich dieselben wie die der objektiven Zurechnung beim Vorsatzdelikt. Aber die h. L.
(BGHSt 39, 195, 199; SKStGB-Samson/Günther1995 Vor § 52 Rn 94) sieht diese Identität nicht
deutlich und nimmt deshalb hier nicht Spezialität an, sondern materielle Subsidiarität (dazu
gleich unter 3 b). – Ebenfalls besteht Spezialität zwischen vollendeter Tat und Versuch sowie
zwischen Handlungsdelikt (z. B. § 212) und Unterlassungsdelikt (§§ 212, 13). Hier ist das PlusMinus-Verhältnis allerdings ebenfalls nicht anerkannt. – Zum Ganzen Herzberg, JuS 1996, 377
ff.
2. Konsumtion
Merksatz: Ein Tatbestand ist regelmäßige und typische Begleittat eines anderen.
Fall 229:
A hebelt an Es Haus die Terrassentür auf, geht in das Wohnzimmer, steckt Es CDSammlung in ein paar große Taschen und nimmt alles mit.
Die Verwirklichung des einen Tatbestandes ist zwar nicht logisch zwingend, aber doch
regelmäßig und typischerweise mit der Begehung eines anderen verbunden. So geht mit der
Begehung eines Wohnungseinbruchdiebstahls (§ 244 I Nr. 3 Alt. 1) die Verwirklichung der
§§ 123, 303 regelmäßig einher. Nach h. M. konsumiert daher § 244 I Nr. 3 Alt 1 den
Hausfriedensbruch und die Sachbeschädigung (SKStGB-Samson/Günther1995 Vor § 52 Rn 86).
Begründet wird die Konsumtion so: Der Gesetzgeber habe den Unwert der typischen Begleittaten
bei der Bildung der Strafrahmen der konsumierenden Tatbestände bereits in Rechnung gestellt
(Jescheck/Wiegend5, S. 735 f.).
3. Subsidiarität
Merksatz: Ein Tatbestand greift nur hilfsweise, wenn ein anderer nicht greift.
a) Formelle Subsidiarität
Fall 230:
D hat O auf offener Straße bestohlen. Staatsanwalt S klagt ihn beim Amtsrichter A
wegen Diebstahls und auch wegen Unterschlagung an.
In manchen Tatbeständen ist ausdrücklich angeordnet, dass sie nur zur Anwendung kommen,
„wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist“ (z. B. §§ 246 I,
248b). Andere Normen ordnen Strafbarkeit nur für den Fall an, dass die sie erfüllende Tat nicht
auch von genau bezeichneten anderen Tatbeständen erfasst wird (z. B. §§ 145d, 316). Bei beiden
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Arten von Subsidiaritätsklauseln spricht man von formeller Subsidiarität, weil die Subsidiarität,
also das Zurücktreten, im Gesetz förmlich angeordnet ist.
b) Materielle Subsidiarität
Fall 231:
T zersticht gemeinsam mit seinem Freund F alle Autoreifen am Wagen des Herrn H.
F macht mit, weil T ihn dazu aufgefordert hat.
Die stillschweigende (materielle) Subsidiarität wird durch Auslegung einzelner Tatbestände
ermittelt. Dabei wird geprüft, ob „nicht schon eine andere Norm eingreift und die nur hilfsweise
geltende Norm verdrängt“ (Haft AT8, S. 273; Jescheck/Weigend5, S. 734).
Vertiefung: Die materielle Subsidiarität kann man begründen mit einer Rechtsanalogie zu den
Anordnungen der formellen Subsidiarität. Vereinzelt wird aus ihnen aber – genau
entgegengesetzt – ein Umkehrschluss gezogen und die materielle Subsidiarität abgelehnt, soweit
sie über Fälle annähernder Spezialität hinausgeht (NK-Puppe1995 Vor § 52 Rn 22 f.).
Ein Hauptanwendungsfall der materiellen Subsidiarität ist nach h. M. bei verschiedenen Formen
der Beteiligung gegeben: Die Beihilfe soll subsidiär gegenüber der Anstiftung sein und trotz
gleicher Strafandrohung soll die Anstiftung gegenüber der (Mit-)Täterschaft subsidiär sein (Jescheck/Weigend5, 735; SKStGB-Samson/Günther1995 Vor § 52 Rn 94; für Tateinheit aber NKPuppe1995 Vor § 52 Rn 41).
Vertiefung: Nur subsidiär sollen nach h. M. auch sein der Versuch gegenüber der Vollendung
und das Fahrlässigkeitsdelikt gegenüber dem entsprechenden Vorsatzdelikt. Bei diesen Fällen ist
aber genau besehen Spezialität gegeben (dazu schon oben unter 1 a. E.). Ferner soll die abstrakte
Gefährdung gegenüber der konkreten und die konkrete wiederum gegenüber der Verletzung des
Rechtsguts subsidiär sein. Da jeder konkreten eine abstrakte Gefährdung vorausgeht und jeder
Verletzung eine konkrete Gefährdung, liegt auch in diesen Fällen genau besehen (regelmäßig)
Spezialität vor (vgl. NK-Puppe1995, Vor § 52 Rn 46 ff.).
4. Verhältnis zu Tateinheit und Tatmehrheit
Gesetzeskonkurrenz kommt sowohl bei Tateinheit (§ 52) als auch bei Tatmehrheit (§ 53) in
Betracht. Bei Tateinheit spricht man von mitbestrafter Begleittat, bei Tatmehrheit von
mitbestrafter Vor- bzw. Nachtat (vgl. BGHSt 38, 366, 368 f.; Otto Jura 1994, 276 f.;
Wessels/Beulke30, Rn 794 ff.).
Eine mitbestrafte Tat liegt etwa vor, wenn „eine der Straftat nachfolgende tatbestandsmäßige
Handlung, den durch die erste Tat erlangten rechtswidrigen Gewinn sichern, ausnutzen oder
verwerten soll, ... kein neues Rechtsgut verletzt und der Schaden quantitativ nicht über das
bereits eingetretene Maß hinaus erweitert wird“ (Jescheck/Weigend5, S. 736).
Fall 232: D steckt bei Rewe eine Flasche Sekt in seinen Jutebeutel. Filialleiter F schöpft
Verdacht, als D den Laden verlässt. Auf dem Parkplatz fragt F den D, was denn mit
der Flasche sei. D zeigt F einen Kassenbon, der dokumentiert, dass D vor einer halben
Stunde eine solche Flasche Sekt bei Aldi erworben hat. F glaubt ihm, dass es sich um
diese Flasche handelt, und lässt D ziehen.
D hat einen Diebstahl begangen (§ 242). Er hat aber auch durch Täuschung des F bei diesem
einen Irrtum erregt, der F davon abhielt den Anspruch aus § 861 BGB geltend zu machen. Dieser
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Sicherungsbetrug sollte aber nur die bereits erlangte Position sichern, so dass nach h. M. der
Betrug als mitbestrafte Nachtat hinter dem Diebstahl zurücktritt.
Vertiefung: Welches Strafgesetz zurücktritt, richtet sich grundsätzlich nach der Höhe der
angedrohten Strafe: Das leichtere Delikt tritt zurück. Dass im Fall 232 trotz gleichen
Strafrahmens der Betrug als mitbestrafte Nachtat und nicht der Diebstahl als mitbestrafte Vortat
zurücktritt, liegt daran, dass das Zustandekommen des Betruges vom vorangegangenen Diebstahl
gewissermaßen „abhängig“ ist, und auch daran, dass in Situationen wie im Fall 232 zwar immer
der Diebstahl vorliegt, aber nur sehr selten der sich anschließende Sicherungsbetrug.
Merke: Mitbestrafte Begleit-, Vor- und Nachtaten treten unabhängig davon zurück, ob sie zur
Haupttat in Tateinheit oder Tatmehrheit stehen. Man muss also in einem Gutachten nicht prüfen,
ob „dieselbe Handlung“ vorliegt, sondern nur, ob die eine Tat zur anderen im Verhältnis der Spezialität, Konsumtion oder Subsidiarität (eben in Gesetzeskonkurrenz) steht.
III. Tateinheit und Tatmehrheit (auch: Ideal- und Realkonkurrenz)
– §§ 52, 53
Fall 233:
Wie Fall 225. Aber der Stein trifft nach Os Kopf noch eine Glasschale, die
zerspringt.
Lesen Sie § 52 I und unterscheiden Sie beide Varianten!
Ts Handlung (der Wurf) hat sowohl mehrere Strafgesetze verletzt, nämlich §§ 223 und 303, (sog.
ungleichartige Idealkonkurrenz) als auch dasselbe Strafgesetz mehrmals, nämlich zweimal
§ 303, (sog. gleichartige Idealkonkurrenz). Gemäß § 52 I stehen alle drei einzelnen
Tatbestandsverwirklichungen in Tateinheit.
1. Handlung im natürlichen Sinne
Nach ganz h. M. liegt jedenfalls dann „dieselbe Handlung“ i. S. des § 52 I vor, wenn nur eine
Handlung im natürlichen Sinne gegeben ist, also nur eine willensgetragene Körperbewegung
oder Nichtbewegung: ein Schuss, ein Ausruf, ein Nicht-aus-dem-Wasser-Retten (BGHSt 1, 21;
18, 26; S/S-Stree26, Vor § 52 Rn 11; SKStGB-Samson/Günther1995 Vor § 52 Rn 21).
Fall 234: Per Fernzünder bringt A eine Bombe zur Explosion, die er in einem Kaufhaus plaziert
hatte, und die dort mehrere Menschen tötet, andere verletzt und zahlreiche Sachen
beschädigt und zerstört.
Alle Tötungs-, Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsdelikte sind durch dieselbe Handlung
im natürlichen Sinne, nämlich das Auslösen der Bombe, verwirklicht worden und stehen in
Tateinheit i. S. des § 52 I (BGHSt 16, 397 f.; Kühl, AT3, 21/7).
2. Handlung im rechtlichen Sinne
Aber auch mehrere Handlungen im natürlichen Sinne, die jeweils ein Strafgesetz verletzen,
bilden mitunter im Rechtssinne doch „dieselbe Handlung“ in § 52 I.
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100
a) Überschneidungen der Handlungen im natürlichen Sinne
aa) So können mehrere Gesetzesverletzungen in einem Handlungs-Teil zusammenfallen. Für
Tateinheit ausreichend ist eine teilweise Identität der Ausführungshandlungen im objektiven
Tatbestand der konkurrierenden Strafgesetze (BGHSt 7, 149, 151; 43, 317, 319;
Jescheck/Weigend5, 720; Wessels/Beulke30, Rn 777).
Fall 235:
R schlägt dem O fest ins Gesicht und erreicht so, dass O still hält, als R ihm das
Portmonee abnimmt.
R hat einen Raub (§ 249) und eine Körperverletzung (§ 223) begangen. Die Körperverletzung ist
nicht notwendiger Bestandteil des Raubes, weil dafür keine körperverletzende Gewalt nötig ist.
Die Körperverletzung ist hier aber identisch mit derjenigen Gewalt gegen die Person, mit der der
Räuber das Opfer zur Duldung der Wegnahme nötigt. Damit besteht zwischen §§ 249 und 223
Tateinheit wegen Teilidentität der Ausführungshandlungen.
Vertiefung: Als Ausführungsakt gilt nach h. M. jeder Teilakt „vom Anfang der Ausführung bis
zur materiellen Beendigung des Delikts“ (BGH StV 1983, 104 f.; SKStGB-Samson/Günther1995
§ 52 Rn 11; Wessels/Beulke30, Rn 777); danach besteht Idealkonkurrenz zwischen einem (Bank)Raub und einer nach der Wegnahme erfolgten Geiselnahme zur Sicherung der Beute (BayObLG
NJW 1983, 406). Mit dem Wortlaut ist das nicht vereinbar. Die Akte der Geiselnahme verletzen
(= verwirklichen) nicht einmal teilweise den Tatbestand des Raubes. Vorzugswürdig ist es also,
als zeitliche Grenze die formelle Vollendung zu nehmen.
bb)
Konkurrieren zwei Dauerdelikte miteinander oder ein Dauerdelikt mit einem
Zustandsdelikt, so gilt nach der Rspr. das Erfordernis der Teilidentität der
Ausführungshandlungen ebenfalls. Die h. L. weicht davon teilweise ab, was in Fall 236 relevant
wird.
Terminologie: Unter Dauerdelikten versteht man zunächst Tatbestände, die eine Tathandlung beschreiben, die sich über eine längere Zeit hinziehen kann, z. B. das Fahrzeugführen bei § 316.
Außerdem werden auch solche Normen, die die „Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen
Zustandes verpönen“ (z. B. §§ 123, 239), als Dauerdelikte bezeichnet (BGHSt 42, 215, 216;
Haft, AT8, S. 283; Lackner/Kühl23 § 52 Rn 11). – Delikte, die keine Dauerdelikte sind, sondern
einen Zustand der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung beschreiben, nennt man
Zustandsdelikte.
Fall 236:
Der Camper C geht eines abends gegen den Willen der Freundinnen A und B zu
ihnen in ihren Wohnwagen, um sich der A sexuell zu nähern.
a) Als A ihn deutlich zum Gehen auffordert, nennt er sie eine „bescheuerte Kuh“.
b) Als B ihn hinausstoßen will, schlägt er sie mit einem Faustschlag nieder.
c) Dann erzwingt er von A einige Küsse und fasst ihren Busen an.
Wie konkurriert der Hausfriedensbruch (§ 123) im Grundfall mit der Beleidigung (§ 185) in
Var. a, der Körperverletzung (§ 223) in Var. b und der sexuellen Nötigung (§ 177) in Var. c?
Nach allgemeiner Ansicht stehen Taten, die nur „bei Gelegenheit“ des Dauerdeliktes begangen
werden, zu diesem in Tatmehrheit. Im Fall 236 a liegt also Realkonkurrenz zwischen
Hausfriedensbruch und Beleidigung vor.
Einig ist man sich auch darin, dass Zustandsdelikte, die der Aufrechterhaltung des vom
Dauerdelikt beschriebenen rechtswidrigen Zustands dienen, mit dem Dauerdelikt in Tateinheit
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stehen. Das führt im Fall 236 b zur Tateinheit von Hausfriedensbruch und Körperverletzung und
überzeugt auch, denn die Körperverletzung verhinderte die Beendigung des Hausfriedensbruches
und war also in der Tat ein Teil der Ausführung der Hausfriedensbruchstat.
Im Fall 236 c dient der Hausfriedensbruch zur Begehung der sexuellen Nötigung. Für solche
Fälle der Zweck-Mittel-Relation nimmt die Rspr. Tatmehrheit an (BGHSt 18, 32 f.), die h. L.
dagegen Tateinheit (vgl. S/S-Stree26 Vor § 52 Rn 91).
b) Klammerwirkung
Fall 237:
T schlägt O bewusstlos, um ihm die Geldbörse zu rauben. Anschließend reißt T, um
schneller an die Börse zu gelangen, die Jackentasche des O auf, steckt die Börse ein
und verschwindet.
Wie konkurrieren die §§ 249, 223, 303?
Die Körperverletzung und die Sachbeschädigung sind jeweils teilidentisch mit dem Raub. Sie
stehen also mit dem Raub in Tateinheit. Die Ausführungsakte der Sachbeschädigung und der
Körperverletzung untereinander überschneiden sich aber nicht und stünden deshalb nach dem
bisher Gesagten in Tatmehrheit. Trotzdem stehen die beiden Delikte in Tateinheit, weil der Raub
eine „Klammerwirkung“ entfaltet. Ein Delikt verklammert nämlich zwei weitere immer dann zur
Tateinheit, sobald es im konkreten Fall genauso schwer wiegt wie das eine der beiden weiteren
Delikte; das andere kann ruhig schwerer wiegen (h. L.: BGHSt 31, 29, 31; 33, 4, 7; Haft AT8,
282; Jescheck/Weigend5, S. 721; S/S-Stree26, § 52 Rn 16, 18; zur Kritik Geppert, Jura 1997, 214
ff.). – In Fall 237 wiegt der Raub schwerer als beide anderen Taten, entfaltet also
Klammerwirkung.
Vertiefungshinweis: Zur Klammerwirkung siehe ausführlicher Geppert, Jura 1997, 214 ff.
c) Vertiefung: Fortsetzungszusammenhang
Früher hatte die Rspr. Einzelakte zu einer fortgesetzten Handlung i. S. des § 52 I verbunden,
wenn sie sich gegen das gleiche Rechtsgut richteten, in der Begehungsweise gleichartig waren
und von einem Gesamtvorsatz getragen wurden (BGHSt 19, 323 ff.; 23, 33 ff.; 26, 4 ff.; 36,
105 ff.). Danach standen etwa einzelne Abrechnungsbetrügereien eines Kassenarztes zueinander
in Tateinheit, wenn sie alle von vornherein geplant waren, auch wenn sie sich über Jahre erstreckten. Mit der Entscheidung des Großen Senats in BGHSt 38, 138 ff. hat der BGH diese
Konstruktion praktisch aufgegeben und damit abgeschafft. – Zum Ganzen Wessels/Beulke30, Rn
769 ff.
d) „Natürliche Handlungseinheit“
Der Begriff der natürlichen Handlungseinheit umfasst zwei Konstellationen.
aa) Erstens dient er in den Fällen der „iterativen“ (= wiederholten) und „sukzessiven“ (= sich
fortlaufend
vollziehenden)
Tatbestandsverwirklichung
dazu,
nur
eine
einzige
Tatbestandsverwirklichung, also auch nur eine Gesetzesverletzung anzunehmen. Machen Sie
sich klar, dass diese Bedeutung der „natürlichen Handlungseinheit“ schon oben eine Rolle
gespielt hat, nämlich oben unter A I bei Fall 227.
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bb) Zweitens dient das Rechtsinstitut der natürlichen Handlungseinheit zur Begründung von
Tateinheit.
Fall 238: D räumt das Warenlager seines Arbeitgebers A aus. Wie er weiß, gehören nicht alle
Gegenstände dem A, sondern einige wegen eines Eigentumsvorbehaltes dem X, andere
Teile der Beute sind der Y-Bank zur Sicherheit übereignet.
Weil im Fall 238 unterschiedliche Rechtsgutsträger betroffen sind, verneint man herrschend die
Annahme nur einer einzigen Verletzung des § 242. Man nimmt aber ziemlich unumstritten
Tateinheit an.
Fall 239:
(BGHSt 22, 67 ff.) Der angetrunkene A fährt an einem Haltzeichen gebenden
Polizeibeamten vorbei. Bei der sich anschließenden Verfolgung pendelt A mehrfach
zwischen beiden Fahrbahnseiten, so dass mehrere entgegenkommende Fahrzeuge nur
mit Mühe ausweichen können. Weiterhin drängt er einen zum Überholen ansetzenden
Streifenwagen von der Straße ab und fährt gezielt auf einen an der Straße stehenden
Polizeibeamten zu, der sich im letzten Augenblick durch einen Sprung zur Seite in
Sicherheit bringen kann.
Der BGH (aaO., S. 76) hat den einheitlichen Fluchtwillen des Täters genügen lassen, um
Delikte wie gefährliche Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, gefährliche
Eingriffe in den Straßenverkehr, Trunkenheitsfahrt und unerlaubtes Entfernen vom Unfallort zu
einer natürlichen Handlungseinheit zu verbinden. Diese Rspr. zu den sog. Polizeifluchtfällen ist
im Schrifttum überwiegend auf Ablehnung gestoßen. Dadurch werde „der Weg geöffnet zu
einer amorphen, uferlosen natürlichen Handlungseinheit gewissermaßen quer durch das
Strafgesetzbuch“ (Warda, Oehler-FS, S. 241, 252), wobei das Kriterium der Einheitlichkeit des
Willensentschlusses überstrapaziert werde (Sowada, Jura 1995, 245, 253).
Vertiefungshinweis: Zur „natürlichen Handlungseinheit“ siehe ausführlicher Sowada, Jura 1995,
245 ff.
Vorlesung AT. Stand: 15.05.2016.
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