1 Rolf Sistermann: Der experimentelle Empirismus John Deweys und die Problemorientierung nach dem Bonbonmodell. In: Ekkehard Martens (Hg.):Empirie und Erfahrung im Philosophie und Ethikunterricht. Hannover: Siebert 2017, 114-133 1. Philosophische Grundlagen Professor Hagauer, Direktor des Kaiserlich-königlichen Rudolfsgymnasium, hat ein Problem. Sein Schwager Ulrich, ein studierter Mathematiker und ansonsten ein Mann ohne Eigenschaften oder einen besonderen moralischen Standpunkt, hat Hagauer gerade brieflich mitgeteilt, dass sich dessen Frau, nachdem sie eine größere Erbschaft gemacht hat, von ihm scheiden lassen und nun bei ihm, ihrem Bruder, leben will. Hagauer ist wie vor den Kopf geschlagen und kann sich das Verhalten seiner Frau nicht erklären. Als er dann doch nach einigen Tagen der Tatsache ins Auge sehen muss, dass sie nicht zu ihm zurückkehren wird, erinnert er sich an das „Verfahren der Knöpfe“, das ihm schon oft geholfen hat. Es stammt angeblich von dem englischen Schriftsteller Surway der fünf Knöpfe erfolgreichen Denkens unterscheidet: a) Beobachtungen an einem Ereignis, die eine Schwierigkeit in seiner Deutung unmittelbar empfinden lassen; b) die nähere Umgrenzung und Feststellung dieser Schwierigkeiten; c) die Vermutung einer möglichen Lösung; d) die vernunftgemäße Entwicklung der Folgen dieser Vermutung; e) weitere Beobachtung für ihre Annahme oder Ablehnung und damit Erfolg des Denkens. Er stellt zwar fest, dass dieses Verfahren, das er in seinem Beruf schon oft erfolgreich angewendet hat, sich nur mit Schwierigkeiten auf sein privates gefühlsmäßig höchst kompliziertes Problem übertragen lässt, aber kommt nicht darauf, dass es wahrscheinlich gerade sein durchgeknöpfter oder zugeknöpfter Charakter ist, der seine Frau davon abhält, zu ihm zurückzukehren. Robert Musil hat mit der Figur des Gymnasialschulleiters Hagauer in seinem Hauptwerk "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930ff) im 29. Kapitel des zweiten Teils nach übereinstimmender Meinung der Musilforschung eine Karikatur des Reformpädagogen und Wegbereiters der Berufsschulpädagogik Georg Kerschensteiners geschaffen. Er wird als ein pedantischer Schulleiter dargestellt, der die Überzeugung vertritt, dass alle anstehenden Probleme in methodisch abgemessenen kleinen Schritten lösbar sind. Mit dem englischen Schriftsteller Surway ist (114) sehr wahrscheinlich einer der wichtigsten Vertreter des amerikanischen Pragmatismus, der Philosoph und Pädagoge John Dewey, gemeint, um dessen Einführung in Deutschland sich Kerschensteiner verdient gemacht hat.1 Deweys Analyse eines vollständigen Denkaktes, die er 1910 in seinem Buch "Wie wir denken" veröffentlicht hat, entspricht in der Tat den fünf Knöpfen Professor Hagauers. Ob aber der Dichter mit seiner Karikatur Kerschensteiners auch der Philosophie Deweys gerecht geworden ist, kann man bezweifeln. Vielmehr spiegelt sich in diesem Bezug ein im deutschen Geistesleben weit verbreitetes Vorurteil gegenüber dem angelsächsischen Pragmatismus und der mit ihm verbundenen empirischen Philosophie wider, die diese als eine oberflächliche, geistlose, mechanische und nur auf kurzsichtige Vorteile ausgerichtete Denkweise denunziert2. Eine genauere Beschäftigung mit der empiristischen Philosophie Kerschensteiner war ein Bewunderer Deweys und schrieb über ihn: „Viele meiner oft noch ungeklärten Anschauungen haben durch das intensive Studium seiner Schriften Klarheit in mir gewonnen“. Er traf ihn auch ein mal auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. Dewey fand ihn persönlich ganz reizend, war jedoch mit seinem Konzept der staatlich finanzierten beruflichen Fortbildungsschulen ganz und gar nicht einverstanden. Michael Knoll: Der Streit um die Einführung der Fortbildungsschule in den USA, 1910-1917. In: Pädagogische Rundschau 47 (März 1993), S. 131145. 1 2 Martens schreibt 1977 in seiner Habilitation, dass der Pragmatismus bis in die Gegenwart oft als „opportunistische Anpassungstaktik“ angesehen wird. Ekkehard Martens: Dialogisch- pragmatische Philosophiedidaktik. Hannover u. a.: Schroedel 1979. S. 28 2 John Deweys zeigt, dass eine solche Einschätzung auf dessen durchdachten und lebensphilosophisch gehaltvollen Pragmatismus in keiner Weise zutrifft. Sein „experimenteller Empirismus“, wie er ihn nennt, unterscheidet sich nämlich deutlich von dem traditionellen sensualistischen dadurch, dass er von ganzheitlichen, im praktischen Tun gewonnenen Erfahrungen statt von isolierten Sinneseindrücken ausgeht. Der sensualistische Empirismus, so führt Dewey in seinem programmatischen Werk „Die Suche nach Gewissheit“ aus, ist zu sehr auf die von Descartes gestellte Frage nach der Erkenntnis der Realität, der man wirklich gewiss sein kann, fixiert. Auf der Suche nach vollkommener Gewissheit hat sich der Rationalismus an einer unwandelbaren geistigen Welt orientiert. Der klassische Empirismus hat zwar seit Locke gefordert, stattdessen von den Sinneseindrücken auszugehen, setzt aber nach Dewey genauso eine vorgegebene unwandelbare reale Welt voraus. 3 Wirkliche Erfahrungen aber machen wir in einer sich wandelnden Welt in immer neuen Versuchen, darin tätig zu werden und sinnvoll zu handeln, und nicht in der isolierten Betrachtung von Sinneseindrücken. „Sinnesqualitäten, die wir durch das Auge erfahren, haben ihre kognitive Stellung und Aufgabe nicht (wie empiristische Sensualisten meinen) an und für sich, in ihrer (115) Isolierung oder sofern sie sich lediglich der Aufmerksamkeit aufzwingen, sondern weil sie die Konsequenzen bestimmter und bewusst vollzogener Operationen sind. Nur in Verbindung mit der Absicht oder Idee dieser Operationen haben sie irgendeinen Nutzen, sei es, dass sie irgendeine Tatsache enthüllen oder die Prüfung und den Beweis irgendeiner Theorie darstellen.“4 Gegenüber dem sensualistischen Empirismus räumt der experimentellempiristische Philosoph erstaunlicher Weise sogar dem Rationalismus ein gewisses Recht ein. „Die rationalistische Schule hatte ganz recht, darauf zu beharren, dass Sinnesqualitäten für die Erkenntnis nur dann von Bedeutung sind, wenn sie mit Hilfe von Ideen verknüpft werden. Sie irrte nur darin, dass sie die verbindenden Ideen getrennt von der Erfahrung im Intellekt ansiedelte. Eine Verbindung wird durch Operationen geschaffen, die Ideen definieren, und Operationen sind ebenso sehr Sache der Erfahrung wie Sinnesqualitäten.“ 5 Den erkenntnistheoretische Streit zwischen Rationalismus und Empirismus hält Dewey für unfruchtbar. „Alle diese Vorstellungen von Gewissheit und vom Unbewegten, von der Natur der realen Welt, von der Natur des Geistes“ entspringen, das ist Deweys Hauptthese, einer falschen „Trennung zwischen Theorie und Praxis (die im Interesse der Suche nach absoluter Gewissheit eingeführt worden ist).“6 Dewey führt die Abwertung des Handelns gegenüber dem Erkennen auf die Verachtung der Arbeit und des arbeitenden Menschen in der griechischen Sklavenhaltergesellschaft zurück. Die Grundlagen der Philosophien Platons und Aristoteles´ „verherrlichten das Unwandelbare auf Kosten des Wandels, wobei evident ist, dass alle praktische Tätigkeit in den Bereich des Wandels fällt. Sie vermachten uns die Vorstellung, welche die Philosophie seit den Zeiten der Griechen unablässig beherrscht hat, dass die Aufgabe des Erkennens darin bestehe, das aller Erkenntnis vorausgehende Reale zu enthüllen, statt, wie es mit unseren praktischen Urteilen der Fall ist, die Art von Verstehen zu gewinnen, die notwendig ist, um mit den Problemen, wie sie jeweils gerade entstehen, fertig zu werden.“7 Kant hat bekanntlich versucht, eine Synthese zwischen rationalistischer und empiristischer Erkenntnis zu finden, hält aber nach Dewey an der Trennung zwischen Theorie und Praxis durch seine Unterscheidung von Erkenntnistheorie (116) und Moraltheorie fest. Dewey dagegen meint, dass man der Wirklichkeit nur nahe kommen könne, wenn man das Projekt einer separaten Erkenntnistheorie aufgibt: John Dewey: Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr. (New York 1929) Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 20133. S. 28 4 Ebd. S. 116 5 Ebd. S. 116 6 Ebd. S. 28 7 Ebd. S. 20f 3 3 „Die Gleichsetzung des Wirklichen und des Erkannten wird in idealistischen Theorien ganz explizit formuliert. [...] Dann wird, wenn nur gezeigt werden kann, dass mathematische Relationen selbst eine logische Konstruktion des Denkens sind, der erkennende Geist selbst zum konstitutiven Urheber des ganzen Schemas. Realistische Lehren haben gegen die Lehren protestiert, die den erkennenden Geist zur Quelle des erkannten Dings machen. Aber sie haben an einer Lehre einer partiellen Gleichsetzung des Wirklichen und des Erkannten festgehalten; nur haben sie die Gleichung von der Seite des Objekts statt von der des Subjekts her gelesen. [...] Die Welt, wie wir sie erfahren, ist eine wirkliche Welt. Aber sie ist in ihren primären Aspekten keine Welt, die erkannt ist, keine Welt, die verstanden wird und die intellektuell kohärent und sicher ist.“ 8 Während rationalistische Theorien die Qualitäten der Wahrnehmung, beispielsweise den Genuss der Empfindungen in der Natur, nicht erfassen können, hat der sensualistische Empirismus Schwierigkeiten, mathematische Wahrheiten zu erklären. Denen meint Dewey mit seinem Verständnis des Empirismus begegnen zu können. „Der experimentelle Empirismus hat [...] keine der Schwierigkeiten, mit denen Hume und Mill zu kämpfen hatten, um den Ursprung der mathematischen Wahrheiten zu erklären. Er erkennt, dass Erfahrung, die wirkliche Erfahrung des Menschen, die Erfahrung des Vollzugs von Handlungen ist, [...] ganz allgemein des Auswählens und Anpassens von Dingen als Mittel, um bestimmte Konsequenzen zu erreichen. Nur der eigentümlich hypnotische Effekt, den die ausschließliche Befassung mit Erkenntnis ausübt, konnte Denker dazu verführen, Erfahrung mit der Rezeption von Empfindungen zu identifizieren.“9 Dewey plädiert dafür, den ewigen Streit um die richtige theoretische Erkenntnis aufzugeben und sich stattdessen an den Erfahrungen zu orientieren, die Menschen machen, wenn sie in der wirklichen Welt handeln. Im Handeln in der wirklichen Welt geht es nicht um theoretische Fragen bei der Suche nach Gewissheit, sondern um die beste Lösung bei den anstehenden Problemen. Diese Ausrichtung an Problemen ist das hervorstechendste Merkmal von Deweys empiristischer Philosophie. „Ein disziplinierter Geist hat Freude am Problematischen und lässt nicht locker, bis ein Ausweg gefunden ist, der auch einer Prüfung standhält. [...] Niemand macht (117) intellektuelle Fortschritte, der es nicht »liebt nachzudenken«, und niemand liebt es nachzudenken, der nicht ein Interesse an Problemen als solchen hat.“10 Die „Suche nach Gewissheit“ geht jedoch seiner Ansicht nach bei Problemlösungen in die Irre. Wegen der Unüberschaubarkeit der Folgen des Handelns lassen sich Probleme niemals mit Gewissheit, sondern allenfalls mit einer relativen Sicherheit lösen. „Keine Art des Handelns kann, wie wir betont haben, etwas gewähren, das einer absoluten Gewissheit auch nur nahe kommt; das Handeln bietet eine Art Versicherung, aber keine Sicherheit.“11 Während die traditionelle Erkenntnistheorie wegen der fehlenden Gewissheit die Orientierung am Handeln vermeiden wollte, hält Dewey das Erreichen des relativ Sicheren für durchaus ausreichend. „Die Erreichung des relativ Sicheren und Erledigten findet freilich nur im Hinblick auf genau umgrenzte problematische Situationen statt; die Suche nach einer universalen Gewissheit, die für alles gelten soll, ist eine kompensatorische Perversion. Die eine Frage wird beantwortet; eine andere entsteht, und das Denken bleibt lebendig.“12 Max Horkheimer hat in der Emigration in den USA und nach den Erfahrungen mit dem dort herrschenden Positivismus die Gefahren einer „instrumentellen Vernunft“ beschworen: „Die durch quantitative Methoden ermittelten sogenannten Tatsachen, welche die Positivisten als die einzig wissenschaftlichen zu betrachten pflegen, sind oft Oberflächenphänomene, die die zugrunde liegende Realität mehr verdunkeln als enthüllen.“13 Welche Verheerung diese instrumentelle Vernunft z. Z. in unserem Bildungswesen anrichtet, hat Volker Steenblock eindrucksvoll ausgeführt. Er warnt vor einem „Apparat von statistikerstellender Intelligenz [...], dessen Vertreter an Schulen gar nicht unterrichten, jedoch vor einem gedankenlosen 8 Ebd. S. 294 Ebd. S. 158 10 Ebd. S. 228 11 Ebd. S. 37 12 Ebd. S. 228 13 Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Hrsg. Alfred Schmid. Frankfurt am Mein: Fischer 1985. S. 84 9 4 Positivismus nicht gefeit scheinen, in dem das menschliche Selbst- und Weltverhältnis wechselweise nach der Art biologischer Organismen, als Abzähl-Menge, als neurowissenschaftlich erklärbar oder nach dem Muster ökonomischer Verhältnisse gedacht wird.“14 So richtig es ist, vor der Dominanz der positivistischen Kompetenzsucher und ihrem Messbarkeitswahn zu warnen, so falsch ist Horkheimers Versuch, Deweys experimentellen Empirismus mit einem auf Quantitäten ausgerichteten Positivismus gleichzusetzen und dafür verantwortlich zu machen.15 Weit entfernt davon, nur im Dienst einer „instrumentellen Vernunft“ zu stehen, ist Deweys Philosophie im Gegensatz zu Horkheimers pessimistischer Gesellschaftstheorie einem optimistischen Ideal, nämlich dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, verpflichtet. Demokratie ist für ihn mehr als eine Regierungsform. Sie ist „in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“, bei der sich die „verschiedenen Interessen wechselseitig durchdringen.“ Diese macht eine „beständige Neuanpassung an die durch manigfaltige Wechselwirkung entstehenden neuen Sachlagen“ möglich.16 Dewey glaubt, „daß innerhalb des Wirklichkeitsbereichs menschlicher Gemeinschaften die darin angelegten Möglichkeiten nur dann vollständig verwirklicht werden können, wenn alle ihre Mitglieder möglichst ungehindert und zwanglos an der für sie charakteristischen, bedeutungsvermittelten Kommunikation teilnehmen können“17. Ganz im Gegensatz zu einem an einem Meßbarkeitsideal ausgerichteten Positivismus kann man Deweys empiristische Philosophie eher als eine besondere Form der Lebensphilosophie auffassen. Indem er die Grenze zwischen Theorie und Praxis überwinden will, möchte er ausdrücklich eine Philosophie entwerfen, die sich vom Leben nicht abgesondert hat: „Dieses Problem, die Überzeugungen des Menschen über die Welt, in der er lebt, mit seinen Überzeugungen über die Werte und Zwecke, die sein Verhalten lenken sollten, zu verbinden und zu harmonisieren, ist das tiefste Problem des modernen Lebens. Es ist das Problem jeder Philosophie, die sich von diesem Leben nicht abgesondert hat.“18 (118) Wie Martin Suhr in seiner Einführung in die Philosophie Deweys gezeigt hat19, hat sich Dewey intensiv mit Bergsons lebensphilosophischem Ansatz auseinander gesetzt, mit dem dieser ähnlich wie vierzig Jahre später Merleau- Ponty die Subjekt- Objekt- Spaltung im Begriff der Wahrnehmung überwinden will. Durch seinen Handlungsbezug kann er Bergsons Ansatz voll übernehmen. Man kann Deweys empiristische Philosophie also als eine problembezogene Lebensphilosophie verstehen oder, wie er es formuliert hat, als eine „stark verallgemeinerte (119) Behandlung menschlicher Probleme im Zusammenhang mit ihrer Stellung in der Natur [...], so wie Natur zu einer bestimmten Zeit verstanden wird.“20 Jürgen Habermas fasst Deweys Menschbild folgender Maßen zusammen: „Was den Menschen als handelndes Wesen auszeichnet, ist dieses problemlösende Verhalten - zu wissen, wie man eine problematisch gewordene Situation klärt, und zu wissen, daß man sich dabei auf keine andere Autorität verlassen kann als die eigene intelligente Anstrengung.“ 14 Volker Steenblock: Didaktik der Philosophie und Philosophie der Didaktik. In: Seminar. BAK Lehrerbildung. 2/2016. S. 27 15 Horkheimer: A. a. O. (S. Anm.13). S. 48ff; E. Martens verweist in der Einleitung seiner verdienstvollen Sammlung von ausgewählten Texten des Pragmatismus darauf, dass Dewey „dem positivistischen »Ideal des Produktes an Stelle des Prozesses, durch den das Produkt erzeugt wurde« [...] sein aktives Denkmodell entgegenstellt“. Ekkehard Martens (Hg.): Pragmatismus. Ausgewählte Texte von Charles Sanders Peirce, William James, Ferdinand Canning Scott Schiller, John Dewey. Stuttgart: Reclam 1975, S. 57; zur Kritik an Horkheimers Deweykritik vgl. auch Martin Suhr: John Dewey zur Einführung. Junius. Hamburg 1994. S. 179ff 16 John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik (1916). Aus dem Amerikanischen von Erich Hylla, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1993. S. 120f 17 Axel Honneth: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Berlin: Suhrkamp 2015. S. 98. Honneth sieht darin die Grundlage eines neuen „experimentellen Sozialismus“. 18 Dewey: A. a. O. (s. Anm. 3). S. 255 19 Martin Suhr: John Dewey zur Einführung. Junius. Hamburg 2005. S.38ff 20 John Dewey: Erfahrung und Natur. (1925) Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. S 415 5 „Alles Leben ist Problemlösen.“21 Der Titel, unter dem Karl Popper kurz vor seinem Tode noch einmal eine Aufsatzsammlung herausgegeben hat, könnte auch über Deweys Lebenswerk stehen. Popper stellt dort im Rahmen eines Vortrags aus dem Jahre 1972 ein dreistufiges Schema des Lernverhaltens vor, das er zu dieser Zeit in seinem Band „Objektive Erkenntnis“ entwickelt und begründet hat: 1. das Problem, das aus enttäuschten Erwartungen entsteht, 2. die Lösungsversuche in Form von Probierbewegungen und 3. die Elimination der erfolglosen Lösungsversuche.22 Dieses Schema kommt Deweys Vorstellungen zum Problemlösungsverhalten durchaus entgegen. Aber, obwohl Popper Dewey in der Ablehnung der Suche nach Gewissheit in der Erkenntnistheorie ausdrücklich folgt23, geht er an keiner Stelle auf dessen erfahrungsbezogenen Problembegriff ein. Ein Grund, warum Popper hier nicht an Dewey anknüpft, könnte darin liegen, dass er das Problemlösungsverhalten nicht auf die menschliche Erfahrung beschränkt sehen will. Er beschreibt mit seinem Schema einen seiner Meinung nach rein biologischen, an Darwins Evolutionstheorie ausgerichteten Prozess, der auf alle Lebewesen, so z. B. auch auf die Amöbe, zutrifft. Dewey dagegen hat seine fünf Stufen des Problemlösungsverhalten durch die Analyse eines vollständigen menschlichen reflektierenden Denkaktes gewonnen: „(I) Man begegnet einer Schwierigkeit, (II) sie wird lokalisiert und präzisiert, (III) Ansatz einer möglichen Lösung, (IV) logische Entwicklung der Konsequenzen des Ansatzes, (V) weitere Beobachtung und experimentelles Vorgehen führen zur Annahme oder Ablehnung, das heißt der Denkprozess findet seinen Abschluss, indem man sich für oder wider die bedingt angenommene Lösung entscheidet.“24 (120) Diese fünf Stufen zitiert Robert Musil in seinem Roman in dem anfangs geschilderten Zusammenhang fast wörtlich. Es mag sein, dass diese Art von Problemlösungsverhalten für komplizierte Eheprobleme wie die von Professor Hagauer und seiner Frau Agathe an seine Grenzen stößt. Sie ist jedoch sicherlich spezifisch menschlich und hat wesentliche Bedeutung für den Prozess der Erziehung. Die beiden ersten Stufen beschreibt Dewey folgendermaßen: „Wenn wir etwas völlig Neuem begegnen oder durch etwas in großes Erstaunen versetzt werden, so manifestiert sich die Schwierigkeit jedoch meist zuerst als Schock, als emotionale Störung, als ein mehr oder weniger unbestimmtes Gefühl von etwas Unerwartetem, Sonderbarem, Seltsamem, Störendem. In einem solchen Fall müssen Beobachtungen einsetzen, die bewusst darauf gerichtet sind, die Natur der Schwierigkeit aufzudecken und den besonderen Charakter des Problems klar herauszustellen.“ Dewey macht darauf aufmerksam, dass die beiden Stufen häufig ineinander übergehen, betont aber, dass das kritisch überlegende Denken davon abhängt, dass der zweite Schritt explizit vollzogen wird. „Wenn man nicht ernstlich bemüht ist, die bestehenden Schwierigkeiten genau abzugrenzen, müssen die Gedanken, die in diesem Zusammenhang entstehen, mehr oder weniger vom Zufall abhängig sein.“ Den dritten Schritt beschreibt Dewey als Hypothesenbildung. „Durch sie führt uns das Denken von dem Gegebenen zu dem NichtGegebenen. Dieser Prozess ist daher immer spekulativ, ein Abenteuer. Da die Folgerungen uns über das hinausführen, was tatsächlich sinnlich wahrgenommen wird, so muss ein großer Schritt, ein Sprung getan werden, für dessen Genauigkeit im Voraus keine Gewähr besteht, wie vorsichtig man auch zu Werk gehen mag.“ Die nachfolgenden Überlegungen in der vierten Stufe haben Charakter einer kritischen Prüfung der vorausgehenden spekulativen Entwürfe. „Nach eingehendem Prüfen kann der Ansatz in seiner ersten Form verworfen werden. Etwas, das zuerst wahrscheinlich schien, kann sich als unzutreffend, ja sogar als Jürgen Habermas: Ganz allein. Wie sich der amerikanische Philosoph John Dewey 1929 auf "Die Suche nach Gewissheit" machte. Die Zeit. 3/ 1998 22 Karl R. Popper: Wissenschaftslehre in entwicklungstheoretischer und in logischer Sicht. Rundfunkvortrag für den NDR, 7. März 1972. In: Ders.: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München: R. Piper 1994. S. 16 23 Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Vetter, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973. S. 77 24 John Dewey: Wie wir denken (Boston 1910). Mit einem Nachwort neu herausgegeben von Rebekka Horlacher und Jürgen Oelkers. Zürich: Pestalozzianum 20092. S. 57 21 6 widersinnig erweisen, wenn alle Folgen überdacht werden.“ Die fünfte Stufe dient schließlich der Festigung des Ergebnisses. Seinem experimentellen Empirismus entsprechend hat Dewey hier vor allem das Experiment im Auge. „Ist man berechtigt anzunehmen, dass nur diese besonderen Bedingungen zu diesen Ergebnissen führen würden, dann ist die Bestätigung so zwingend, dass sie zu einem Schluss führt, wenigstens solange nicht widersprechende Tatsachen eine Revision angezeigt erscheinen lassen.“ 25 2. Pädagogische Anwendungen Mit Deweys sechs Jahre später erschienen umfangreichen Werk „Demokratie und Erziehung“ wurde der in Amerika höchst einflussreiche und geachtete (121) Philosoph, dessen weitgespanntes Werk in der Gesamtausgabe inzwischen 37 Bände umfasst, in Deutschland vor allem als Pädagoge bekannt. In seiner Beschreibung der „Methode des verständigen Lernens“ erhalten die Stufen des Denkens noch einmal eine unterrichtsbezogene genauere Bestimmung. Dewey bringt dabei Gesichtspunkte ins Spiel, die auch heute noch maßgebend genannt werden können. In der ersten Stufe steht die Erfahrung der Schüler im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum reinen Denken versteht Dewey Erfahrung als den „Versuch, etwas zu tun, auf einen Gegenstand einzuwirken und wahrnehmbare Rückwirkungen bei diesem Gegenstande auszulösen.“26 Hier kommt Deweys pragmatischer Ansatz zum Tragen. Dewey hält die Annahme, man könne beim Schüler Erfahrung voraussetzen, für einen „Grundirrtum der Methode des Unterrichtes“. Die Unterrichtsplanung steht also vor der Aufgabe, eine Situation zu finden, die „das Denken herausfordert - das bedeutet: sie muss ein Handeln notwendig machen, das weder gewohnheitsmäßig noch nach Laune und Willkür erfolgen kann. Sie muss darum etwas darbieten, was neu (deshalb unsicher und problematisch) ist, aber doch mit bereits bestehenden Verhaltungsweisen so weit in Zusammenhang steht, dass eine wirksame Reaktion ausgelöst wird.“27 Der Lehrer (mitgemeint sind natürlich auch immer die Lehrerinnen genau wie bei den Schülern die Schülerinnen) muss sich bei der Planung folgende Frage stellen: „Ist die Erfahrung, um die es sich handelt, eine persönliche Angelegenheit des Schülers, die ihrer Natur nach zur Beobachtung der in ihr liegenden Beziehungen anregt, diese Beobachtung leitet und zu gewissen Schlüssen aus ihrer erfahrungsmäßigen Nachprüfung nötigt? Oder ist sie von außen her an den Schüler herangetragen, wird sie ihm selbst nur zum Problem, weil er diesen äußeren Anforderungen entsprechen muss?“28 Wenn der planende Lehrer das nicht beachtet, dann hat „der Schüler [....] wohl ein Problem - aber es besteht nur darin, den vom Lehrer und der Schule gestellten Anforderungen zu genügen. Als seine Aufgabe empfindet er es, herauszufinden, was der Lehrer verlangt, was ihn bei der Wiederholung und Prüfung und in seinem äußeren Verhalten zufrieden stellt.“29 Markus Tiedemann hat diese Unterrichtssituation in seinem Plädoyer für einen problemorientierten Philosophieunterricht treffend karikiert. Demnach meinen manche Lehrer immer noch, der Problemorientierung genüge zu tun, wenn sie ihren Schülern einen schwierigen philosophischen Text vorlegen und sich dabei (122) denken: „So, jetzt habt ihr ein Problem.“30 Dewey sieht noch eine weitere Gefahr in diesem Unterrichtskonzept. „Was dabei an Denken erzeugt wird, ist bestenfalls künstlich und einseitig; oft sind die Folgen schlimmer: das wirkliche Problem, das der Schüler zu lösen strebt, ist nicht die Erfüllung der Schulanforderungen, sondern der Schein dieser Erfüllung. „Wie weit kann ich mich an diesen 25 Ebd. S. 58 ff John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik (1916). Aus dem Amerikanischen von Erich Hylla, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1993. S. 205 26 27 Ebd. S. 206 Ebd. S. 207 29 Ebd. S. 208 30 Markus Tiedemann: Problemorientierung. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch: Philosophie und Ethik. Bd. I: Didaktik und Methodik. Paderborn: Schöningh (UTB) 2015. S. 73 28 7 Forderungen vorbeidrücken, ohne ernsthafte Gefahr zu laufen?"31 Für die zweite Phase seiner Methode des verständigen Lernens, der Phase der Lokalisierung und Präzisierung der Schwierigkeit, gibt Dewey auch wieder wertvolle Hinweise für die Unterrichtsplanung. „Die Kunst des Unterrichtes besteht zum großen Teil darin, die Schwierigkeiten neuer Probleme ausreichend groß zu machen, so dass sie das Denken anregen, aber wiederum so klein zu halten, dass neben der durch ,die neuen Elemente naturgemäß hervorgebrachten Verwirrung auch lichte, vertraute Stellen vorhanden sind, von denen helfende Fingerzeige ausgehen.“32 Für die dritte Phase seiner Methode formuliert Dewey eine Grundeinsicht, die für jeden Lernprozess sicherlich entscheidend ist, aber auch heute noch in den meisten Unterrichtsentwürfen zu wenig beachtet wird: „Nur wenn er [der Schüler] selbst mit den Problemen ringt, seinen eigenen Ausweg sucht und findet, denkt er.“ Sie resultiert aus seinen grundlegenden Untersuchungen über das Wesen des Denkens, dass „kein Gedanke, kein Begriff als solcher von einer Person auf eine andere übertragen werden kann. Wenn ein Gedanke mitgeteilt wird, so ist er für den, der die Mitteilung entgegennimmt, nur eine gegebene Tatsache mehr, nicht ein Gedanke.“ In seinem Kommentar zu den weiteren Phasen betont Dewey emphatisch die Wichtigkeit der Erprobung und Anwendung des Gelernten. Am Schluss des Kapitels über „Das Denken in der Erziehung“ fasst Dewey die fünf Stufen noch einmal prägnant zusammen. Der Philosoph nennt sie nun nicht nur Stufen des Denkens, sondern methodische Schritte der „bildenden Erfahrung“. „Es sind folgende: erstens, dass der Schüler eine wirkliche, für den Erwerb von Erfahrung geeignete Sachlage vor sich hat - dass eine zusammenhängende Tätigkeit vorhanden ist, an der er um ihrer selbst willen interessiert ist; zweitens: dass in dieser Sachlage ein echtes Problem erwächst und damit eine Anregung zum Denken; drittens: dass er das nötige Wissen besitzt und die notwendigen Beobachtungen anstellt, um das Problem zu behandeln; (123) viertens: dass er auf mögliche Lösungen verfällt und verpflichtet ist, sie in geordneter Weise zu entwickeln; fünftens: dass er die Möglichkeit und die Gelegenheit hat, seine Gedanken durch praktische Anwendung zu erproben, ihren Sinn zu klären und ihren Wert selbständig zu entdecken.“33 Im Vergleich zu den Stufen des Denkens fällt auf, dass vor allem die fünfte Stufen unter pädagogischem Aspekt umformuliert wurde. Es geht nun nicht nur um die Bestätigung der Ergebnisse. Sondern auch um praktische Anwendung und Entdeckung eines weiterführenden Wertes. Es macht also durchaus Sinn, unter didaktischen Gesichtspunkten neben der Festigung des Gelernten hier noch eine sechste Lernphase zu unterscheiden. Genau das hat Heinrich Roth gemacht, als er 1957 in seiner „Pädagogischen Psychologie des Lehrens und Lernens“ unter Bezug auf Deweys Buch „Wie wir denken“, das 1951 auf deutsch erschienen war, seine bekannten sechs Stufen des Lernens entwickelt hat. Er unterscheidet dort 1. die Stufe der Motivation, 2. die Stufe der Schwierigkeiten, 3. die Stufe der Lösungen, 4. die Stufe des Tuns und Ausführens, 5. die Stufe des Behaltens und Einübens und 6. die Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und Integration des Gelernten.34 Man kann die Meinung vertreten, dass die Stufe der Schwierigkeiten das Problem impliziert. Ein Mangel der Lernstufen bei Roth besteht jedoch darin, dass er die Problemstellung und damit die grundsätzliche Problemorientierung des Lernvorgangs nicht explizit in den Vordergrund stellt. Dewey dagegen hat in der genauen Bestimmung des Problems das entscheidende Merkmal reflektierten Denkens gesehen. „Wenn wir etwas völlig Neuem begegnen oder durch etwas in großes Erstaunen versetzt werden, so manifestiert sich die Schwierigkeit jedoch meist zuerst als Schock, als emotionale Störung, 31 Dewey: A. a. O. (s. Anm. 24) S. 209 Ebd. S. 209 33 Ebd. S. 218f 34 Heinrich Roth: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens (1957), Hannover u.a.: Schroedel 196911. S. 218ff 32 8 als ein mehr oder weniger unbestimmtes Gefühl von etwas Unerwartetem, Sonderbarem, Seltsamem, Störendem. In einem solchen Fall müssen Beobachtungen einsetzen, die bewusst darauf gerichtet sind, die Natur der Schwierigkeit aufzudecken und den besonderen Charakter des Problems klar herauszustellen. Es ist das Vorhandensein oder Nicht Vorhandensein dieser Stufe, das weitgehend den Unterschied zwischen der echten Reflexion (oder dem kritisch überlegenden Denken) und dem unkritischen Denken bildet. Wenn man nicht ernstlich bemüht ist, die bestehenden Schwierigkeiten genau abzugrenzen, müssen die Gedanken, die in diesem Zusammenhang entstehen, mehr oder weniger vom Zufall abhängig sein.“35 (124) In der Fokussierung auf ein Problem, das „von einer Schwierigkeit, einer Diskrepanz, die zu einer Erklärung drängt, seinen Ausgang nimmt“, hat er auch den wesentlichen Unterschied seiner Stufen des Denkens zu den Formalstufen in der Herbartschule gesehen, die man auch heute noch in manchen Unterrichtsentwürfen in der vereinfachten Form (Einstieg, Erarbeitung, Ergebnissicherung) finden kann. Die Formalstufen Herbarts sind seiner Meinung nach nur geeignet, das „'Abhören des Stoffes' günstig zu beeinflussen"36, führen aber nicht zu eigenen Einsichten. Werner Correll, der in einer eigenen Studie den lebensphilosophischen Ansatz John Deweys und seine Bedeutung für die Pädagogik besonders gewürdigt hat37, hält sich in seiner Lernpsychologie, die vier Jahre nach Roths pädagogischer Psychologie erschienen ist, genauer als Roth an Deweys Bestimmungen des Denkprozesses. Er beschreibt dementsprechend fünf Phasen. Er zählt die Erfahrung der Schwierigkeiten noch zur ersten Stufe der Motivation und führt ganz im Sinne Deweys eine für den gezielten Lernprozess entscheidende zweite Stufe ein: „Begrenzung und Lokalisierung dieser Schwierigkeit: Zielsetzung für die Arbeit durch Definition des Problems“.38 Er erläutert dies folgendermaßen: „Wenn ein Problem nicht mit dem Insgesamt der bisherigen Erfahrung in Beziehung gesetzt wird, weil es z. B. nicht gelingt, es abzugrenzen, es zu 'definieren', kann es auch nicht bearbeitet werden, da kein Arbeitsziel vorhanden ist. Was keine Grenze erhält, bleibt außerhalb des Lernbereichs. Unterrichtspraktisch bedeutet dies die Notwendigkeit, den neuen Unterrichtsgegenstand oder auch die Übungsstunde so einzuführen, dass das Problem für die Kinder genau umrissen wird und überschaubar ist, so dass es eingegliedert werden kann. Hierzu gehört vor allem die Zielangabe: das Ziel ist nichts anderes als die Definition des Problems, seine Lokalisierung und Präzisierung.“39. Auch die dritte und vierte Phase beschreibt Correll genauer als Roth. Es geht ihm nicht nur um Planung und Ausführung einer Lösung, sondern er fordert, dass in (125) der dritten Phase „jeder Schüler die Möglichkeit erhält, seine Vorstellungen über die Lösung des erfahrenen Problems tatsächlich zu äußern“ und auszuprobieren. Er bringt dabei auch das Prinzip von Versuch und Irrtum ins Spiel. „Weder der Lehrer, noch die anderen Schüler dürfen dabei allzu schnell vorauseilen und durch ihre Stellungnahmen und Bewertungen andere mögliche Ansätze unterdrücken oder von vorn herein ausscheiden.“40 Man kann hier von selbstgesteuert intuitiven Problemlösungsversuchen sprechen. 35 Dewey: A. a. O. (s. Anm. 22).S. 59; Vgl. auch John Dewey: Erfahrung und Erziehung (1938) in: John Dewey/ Oscar Handlin / Werner Correll: Reform des Erziehungsdenkens. Eine Einführung in John Deweys Gedanken zur Schulreform, Herausgegeben und übertragen von Werner Correll, Weinheim: Julius Beltz 1963. S.87: „Wenn eine gegebene Erfahrung nicht in ein bisher unbekanntes Gebiet hinausführt, entstehen keine Probleme. Gerade solche Probleme sind aber die Anreger des Denkens. Daß die Bedingungen, die in der gegenwärtigen Erfahrung gefunden werden, als Ausgangspunkte für Probleme benutzt werden sollten, ist ein Charakteristikum, das die auf Erfahrung begründete Erziehung von der überlieferten Erziehung unterschiedet.“ 36 Dewey: A. a. O. (s. Anm. 22). S. 146ff 37 Werner Correll: Die Anthropologie John Deweys und ihre Bedeutung für die Pädagogik, in: Theresia Hagenmaier, Werner Correll, Brigitte van Veen-Bosse (hg): Neue Aspekte der Reformpädagogik, Studien zur Anthropologie und Pädagogik bei Kerschensteiner, Dewey und Montessori. Heidelberg: Quelle & Meyer 1964. S 66ff 38 Werner Correll: Lernpsychologie. Grundfragen und pädagogische Konsequenzen. (1961). Donauwörth: Ludwig Auer 197111, 56 39 Ebd. S. 61. 40 Ebd. S. 61 9 In der vierten Stufe begnügen sich die Schüler „nicht mehr nur mit der Aufzählung verschiedener sich teils widersprechender Lösungsmöglichkeiten, sondern sie befassen sich mit der Auswahl derjenigen Vorstellungen, die die größten Erfolgsaussichten versprechen. Sie […] beurteilen den logischen Wert der Lösungswege dadurch, dass sie die möglichen Konsequenzen antizipieren. Innerlich verfolgen sie also den Weg bis zum Ende und vergleichen die Folgen mit dem Ansatz.“41 Da sie dabei in der Regel einer Anleitung bedürfen, kann man von kontrolliert angeleiteten Problemlösungsversuchen sprechen. Die fünfte Stufe steht wie bei Dewey im Dienste der Erprobung und Anwendung des Gelernten. Wie oben ausgeführt macht es Sinn, hier Heinrich Roth zu folgen, der „5. die Stufe des Behaltens und Einübens und 6. die Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und Integration des Gelernten“, also eine Festigungsphase und eine Transferphase unterscheidet. Dewey hat sich an keiner Stelle speziell mit der Planung von Philosophie- und Ethikunterricht beschäftigt. Aber es ist durchaus sinnvoll und wichtig, seine Einsichten in den empirischpragmatischen Charakter des reflektierten Denkens und der „bildenden Erfahrung“ zur Grundlage der Planung eines problemorientierten Philosophieunterrichts zu machen, der diesen Namen verdient. 3. Das Bonbonmodell des Lernprozesses Im Anschluss an Deweys Stufen des Denkens und die Lernphasen von Correll und Roth muss die Planung eines problemorientierten Philosophieunterrichts folgende sechs Phasen enthalten: (1.Phase) Eine Hinführung, die von den Interessen und Erfahrungen der Schüler ausgeht, diese aber in einen unerwarteten Zusammenhang stellt, so dass das Bedürfnis entsteht, die neuen Erfahrungen in die alten zu integrieren. (2. Phase) Eine Problemstellung, die für alle Schüler nachvollziehbar ist, weil die in der Hinführung erfahrenen Schwierigkeiten lokalisiert und präzisiert wurden. (126) (3. Phase) Eine selbstgesteuert intuitive Problemlösungsphase, in der die Schüler einzeln oder in Zusammenarbeit mit Mitschülern selbstständig arbeiten und mögliche Lösungen entwerfen. (4. Phase) Eine angeleitet kontrollierte Problemlösungsphase, in der die Schüler philosophische Texte oder andere philosophisch gehaltvolle Medien, die ihnen angeboten werden, auf das zuvor selbst durchdachte Problem beziehen, dadurch besser und leichter verstehen und so ihrem oft nicht unerheblichen Anspruch gerecht werden können. (5.Phase) Eine Festigungsphase, in der die Ergebnisse der kontrollierten Phase auf den Begriff gebracht, im Vergleich mit denen der intuitiven Phase befragt und in den Zusammenhang der Reihe gestellt werden. (6.Phase) Eine Transferphase, in der es um Anwendung und Erprobung an Beispielen, kritische Stellungnahme und anschließende offene Fragen geht. Zwei dieser Phasen, die Problemstellung und die Festigung, erfordern eine enge, andere Phasen, vor allem die selbstgesteuert – intuitiven Problemlösungsversuche, eine offenere Unterrichtsführung. Genauer betrachtet stellt sich das folgendermaßen dar. Die Hinführungsphase, die an die Erfahrungswelt der Schüler anknüpft setzt breit an und führt zu einer konkreten Schwierigkeit, die die Schüler dazu motiviert, an einer möglichen Einordnung zu arbeiten. Die Problemstellung sollte dann so eng gefasst sein, dass die folgenden Lösungsversuche in absehbarer Zeit zumindest zu einem vorläufigen Ergebnis führen können. In der selbstgesteuert – intuitiven Problemlösungsphase sollte der Lehrer sich ganz zurückhalten und den Schülern einen Freiraum für unterschiedliche und folglich auch divergente Versuche geben. Die philosophisch gehaltvollen Texte und Materialien, die die Lehrperson den Schülern in der angeleitet- kontrollierten Phase zur Verfügung stellt, führen zu einer Fokussierung auf eine Lösung, die dann in ihren Konsequenzen untersucht und mit 41 Ebd. S. 63 10 den selbstgefundenen intuitiven Lösungen abgeglichen werden kann. In der Festigungsphase wird man das Ergebnis möglichst genau auf den Begriff bringen und prüfen, ob es der Problemstellung entspricht. In der abschließenden Transferphase, in der u.a. die Anwendung auf andere Beispiele erprobt und diskutiert wird, geht der Gedankengang dann wieder in die Breite. Wenn man sich den Wechsel von weiteren und engeren Unterrichtsphasen graphisch vor Augen führt, entsteht eine Figur, die einem Bonbon ähnelt, dessen Papier an zwei Stellen zusammengedreht wurde. Man kann deshalb von dem "Bonbonmodell des Lernprozesses" als dem Unterrichtsmodell sprechen, dass einem problemorientierten Philosophieunterricht am angemessensten ist und der Denkweise der empirischen Philosophie John Deweys möglichst genau entspricht. Das Bonbon-Modell ist kein Modell für eine Unterrichtsstunde mit einer bestimmten Länge, sondern beschreibt den natürlichen Lernprozess in einer (127) gelungenen Unterrichtseinheit. Dieser kann mit dem Ablauf einer Unterrichtsstunde zusammenfallen, kann sich aber auch über mehrere Stunden erstrecken. In der Regel wird man versuchen, bis zur Festigungsphase zu kommen, so dass sich die Hausaufgabe mit dem Transfer befassen kann. Wenn aber die Problemstellung die Schüler so beschäftigt und berührt, dass sie in der intuitiven Phase in eine intensive Diskussion zu genau diesem Problem geraten, so ist es durchaus möglich und sinnvoll, diese nicht abzubrechen, sondern bis zum Ende der Stunde weiterlaufen zu lassen. Nach einer Sicherung des Diskussionsstandes als Zwischenergebnis können die für die kontrollierte Problemlösung vorgesehenen Materialien in der nächsten Stunde eingesetzt oder als Hausaufgabe vorbereitet werden. Im Übrigen muss man zwei Ebenen der Planung unterscheiden. Das Bonbonmodell ist in erster Linie bei der Planung jeder Unterrichtseinheit hilfreich. Darüber hinaus macht es aber auch Sinn, die Unterrichtsreihe als ganze als eine Art Superbonbon aufzufassen und ihren Aufbau dementsprechend zu strukturieren. Wie aus der folgenden Gegenüberstellung deutlich wird, werden im problemorientierten Unterricht nach dem Bonbonmodell auch alle wichtigen methodischen Kompetenzen eingeübt. In den einzelnen Phasen kommen schwerpunkthaft alle Methoden zur Anwendung, die von Ekkehard Martens in seiner „Methodik des Philosophie- und Ethikunterrichts“ (2003) und die kurze Zeit danach in dem Diskussionspapier der Fachverbände zu den Bildungsstandards (2006)42 zusammengestellt wurden. Phänomenologische Methoden sind nach Martens nicht nur bei der Wahrnehmung hilfreich, sondern ausdrücklich auch bei der Problemkonstituierung43 , also im Sinne des Bonbonmodells nicht nur bei der Hinführung, sondern auch bei der Problemstellung. Bei den selbstgesteuert intuitiven Problemlösungsversuchen der dritten Phase kommen die von Martens beschriebenen spekulativen Methoden zum Zuge. Dewey selbst nennt den Prozess, der in dieser dritten Stufe durch „Annahme, Vermutung, Erraten, Hypothese“ „das Denken von dem Gegebenen zu dem Nicht-Gegebenen“ führt, ausdrücklich „ein Abenteuer“, das „immer spekulativ“ ist.44 Bei den angeleitet- kontrollierten Problemlösungsversuchen der vierten Phase geht es im Philosophieunterricht im Wesentlichen um die Arbeit mit philosophischen Texten, die Antworten auf die in der Problemstellung gestellten Frage enthalten. Folglich kommen hier primär hermeneutische Methoden zum Zuge. In der fünften Phase, der Festigungsphase, sollen die bisherigen Ergebnisse auf den Begriff gebracht werden. Dazu sind die von Martens beschriebenen analytischen Methode hilfreich. In der sechsten Phase, dem Transfer, geht es um (128) Auseinandersetzung, Infragestellung und Erprobung der gewonnenen Erkenntnisse, also um Anwendung der von Martens beschriebenen dialektischen Methoden. So kommen alle von Martens in seinem Fünffingermodell zusammengestellten Methoden des Philosophie- und Ethikunterricht zum Diskussionspapier der Fachverbände Ethik und Philosophie zu Bildungsstandards für die Sek. I. In: Ethik und Unterricht. 4/2006. S.44 42 43 Ekkehard Martens: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Hannover: Siebert 2003. S 101 44 Dewey: A. a. O. (s. Anm. 22). S. 59 11 Zuge. Martens will die Vernetzung der fünf Methoden allerdings „auf keinen Fall als zwingende, lineare Stufenabfolge [...] verstehen“.45 Die Ausrichtung an Deweys problemorientierten Stufen des Denkens macht dagegen eine solche, wie die folgende Tabelle zeigt, für das Bonbonmodell unabdingbar. [[ Tabelle Stufen des Denkens pdf]] Stufen des Denkens bei John Dewey 1. Man begegnet einer Schwierigkeit Methoden nach E. Martens und dem Diskussionspapier der Fachverbände Das Bonbonmodell des Lernprozesses 1. Phänomenologische Methode: etwas wahrnehmen können Phasen der Problemorientierung 1. Ein Problem finden,das die Schü angeht und berührt. 2. Probleme konstituieren, 2. Sie wird lokalisiert und Konflikte bearbeiten das Problem wird präzisiert 2. Divergente, bisher noch unentschiedene Ansichten gegenüber und in Frage stellen 3. Spekulative 3. Ansätze verschiedener Methode:Einfälle haben Lösungsmöglichkeiten können, Kreativität werden entwickelt entwickeln 3. Schüler bringen ihr Vorwissen in Problemlösungsversuche durch "Probierbewegungen" ein 4. Logische Entwicklung der absehbaren Folgen eines Ansatzes 5. Der Schüler hat die Möglichkeit und die Gelegenheit, seine Gedanken durch praktische Anwendung zu erproben, ihren Sinn zu klären und ihren Wert selbständig zu entdecken (J. Dewey: Wie wir denken, 1910 und ders.:Demokratie und Erziehung, 1916) 4.Hermeneutische Methode: Jemanden verstehen können; Medien erschließen 4. Auseinandersetzung mit den Lösungen von Denkern der Vergangenheit und Gegenwart anleiten 5. Analytische Methode: Argumente und Begriffe klären können 5. Intuitive mit kontrollierten Problemlösungsversuchen abgleichen und erarbeitete Ergebnisse festhalten 6. Dialektische Methode: Auseinandersetzungen führen können; Werte klären, Argumentieren und (Sistermann, Rolf zuerst in ZDPE, 1/ Handeln können 2005. S. 16—27) (Martens, E.: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, 2003; Diskussionspapier der Fachverbände, 2006 ) 6. Problematisierung der gefunden Lösung und/oder Erweiterung bzw. Vertiefung der Problemstellung (Sistermann, R../ Wittschier,M.: Problemorientierter Philosophieunterricht nach dem Bonbon modell in: ZDPE 1 / 2015 ) Zu diesem erprobten und bei der Planung von Philosophie- und Ethikunterricht vielfach bewährten Lernprozessmodell sind bei der Anwendung im (129) Unterrichtsalltag inzwischen einige Fragen aufgetaucht, die wir in einem Werkstattgespräch aufgegriffen haben46. Auf einige von ihnen, die in der fachdidaktischen Literatur angesprochen wurden und an denen der spezifisch empirisch- pragmatische Charakter des Bonbonmodells verdeutlicht werden kann, gehe ich im folgenden genauer ein. Jonas Pfister hat an das Bonbonmodell die Frage gestellt, wie die Schüler nach dem anfänglichen „Input“ zu der „von der Lehrperson beabsichtigten Frage gelangen."47 Tatsächlich ist eine gezielte Problemstellung in einem Unterricht, der sich an Deweys 45 46 Martens: A. a. O. (s. Anm 41). S. 56 Rolf Sistermann/ Michael Wittschier: Problemorientierter Philosophieunterricht nach dem Bonbonmodell, in: ZDPE 1/2015. S.60-67 47 Jonas: Pfister: Fachdidaktik Philosophie, 2. korrigierte und aktualisierte Auflage, Bern: Haupt 2014. S. 187 12 Problemverständnis orientiert so wichtig, dass sie genau geplant sein will und nicht den zufälligen Einfällen einzelner Schüler überlassen werden kann. Der Unterricht nach dem Bonbonmodell ist aber auch nicht davon abhängig, dass die Problemstellung von den Schülerinnen oder Schülern kommt. Im konkreten Unterricht werden es ohnehin nicht „die“ Schüler, sondern vielmehr einige wenige Wortführer sein. Entscheidend ist nicht, dass die Problemformulierung von den Schülern selbst entwickelt wird, sondern dass eine gezielte und gelungene Problemstellung, die mit einigermaßen absehbarer Wahrscheinlichkeit zu dem gewünschten Resultat führen wird, von möglichst allen Schülern nachvollzogen werden kann und ihnen diese so klar ist, dass sie eigene Lösungsversuche anstellen können. Im Bonbonmodell heißt die erste Phase deshalb auch nicht Einstieg oder Input, sondern Hinführung. Bettina Bussmann hat in ihrer Untersuchung zu einer lebensweltlich- wissenschaftsorientierten Philosophiedidaktik festgestellt, dass das Bonbonmodell ebenso wie das Martenssche Fünffingermodell einer lebensweltlich orientierten philosophischen Auseinandersetzung mit Ergebnissen der Wissenschaft grundsätzlich entgegenkommt. Sie möchte aber in den Kommentar zu den einzelnen Unterrichtsphasen auch entsprechende Hinweise aufnehmen. So sollte es z.B. zur intuitiven Problemlösung heißen „Das eigene lebensweltliche und wissenschaftliche Vorwissen aktivieren und stark machen.“48 Dem steht natürlich nichts im Wege. Das Einbeziehen eines wissenschaftlichen, inhaltlichen Vorwissens stellt vielmehr eine sinnvolle Ergänzung zum methodisch an der (empirischen) Wissenschaft orientierten Ansatz Deweys dar. Der Kommentar ist in der oben abgedruckten Tabelle ohnehin so allgemein gehalten, dass er ohne weiteres noch inhaltlich konkretisiert werden kann. Roland Henke hat die Auffassung vertreten, das Bonbonmodell müsse zu (130) einem dialektischen oder Zwei- Säulen- Modell weitergeführt werden, damit sowohl in der intuitiven wie auch in der kontrollierten Problemlösung der „kognitive Konflikt“ initiiert werden könne, „der die Weiterentwicklung der philosophischen Urteilskraft der Lernsubjekte von sich selbst her herausfordert.“49 In der graphischen Darstellung der sich verbreiternden selbstgesteuertintuitiven und der breit ansetzenden angeleitet- kontrollierten Problemlösungsphase ist jedoch angedeutet, dass im Bonbonmodell in diesen Phasen selbstverständlich divergente und kontroverse Positionen zum Zuge kommen. In dem Oberstufenlehrwerk „Weiterdenken Bd. C“50, dessen Unterrichtseinheiten durchgängig nach dem Bonbonmodell konzipiert sind, finden sich in der kontrollierten Problemlösungsphase in jeder Unterrichtseinheit mindestens zwei Texte mit unterschiedlichen Positionen zu der aufgeworfenen Problemstellung. Eine Erweiterung des Bonbonmodells in diese Richtung erscheint also nicht nötig. Richtig ist jedoch der Hinweis, dass die intuitiven Problemlösungen der Lernenden nicht zu „unverbindlichen Gedankenäußerungen“ degradiert werden dürfen, „die dann durch die Expertenlösungen übertroffen und im weiteren Lernprozess abgelöst werden“51. Deshalb sollten sie im Unterricht nach dem Bonbonmodell in der Festigungsphase den Ergebnissen der kontrollierten Problemlösungsphase gegenübergestellt und mit ihnen abgeglichen werden. In ähnliche Richtung gehen die Bedenken Klaus Blesenkempers bei seiner ausführlichen und gründlichen Auseinandersetzung mit dem Bonbonmodell als Instrument der Bettina Bussmann: Was heißt: sich an der Wissenschaft orientieren? Untersuchungen zu einer lebensweltlich-wissenschaftsorientierten Philosophiedidaktik am Beispiel des Themas „Wissenschaft, Esoterik und Pseudowissenschaft“, Münster: Lit 2014. S. 107 49 Roland W.Henke: Die Förderung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte, in: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch: Philosophie und Ethik. Bd. I: Didaktik und Methodik. Paderborn: Schöningh (UTB) 2015. S.92 50 Rolf Sistermann (Hg.): Weiterdenken. Philosophie/Ethik. Bd.C. Oberstufe. Braunschweig: Schroedel 2012 51 Henke: A. a. O. (s. Anm 47). S. 92 48 13 Unterrichtsplanung. Er warnt davor, dass die dritte, intuitive Phase nur eine vorbereitende Funktion für die vierte, kontrollierte Phase haben könnte. Er möchte die dritte Phase aufwerten und von der vierten nicht so deutlich trennen. „Problemlösungen sind nicht immer und nicht allein auf die Bearbeitung von diskursiven und narrativen Texten, präsentativen Medien usw. angewiesen.“ 52 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Ein Lehrgespräch, ein Referat, eine Repräsentation oder ein Lehrervortrag kann hier genauso gut am Platze sein. Das Sokratische Gespräch in der Tradition von Leonard Nelson und Gustav Heckmann hat allerdings, gerade wenn man die dritte Phase aufwerten will, sicherlich eher seine genuine Funktion als selbstgesteuert- intuitive und wird nicht als angeleitet- kontrollierte Problemlösung gelten können, wie Blesenkemper meint. So sieht es auch Klaus Draken in seinem Handbuchartikel zum Sokratischen (131) Gespräch. „Danach könnte eine Phase der intuitiven Problemlösung eher dem sokratisch orientierten Gesprächstypus folgen, während die angeleitete Problemlösung [...] eng mit Texterarbeitung oder eher einem Lehrgespräch verbunden erscheint. […] In diesem Verständnis kann ein zeitgemäßer Philosophie- und Ethikunterricht sicherlich in wirkungsvoller Weise sowohl den Ansprüchen «der Philosophie» wie auch denen «des Philosophierens» gerecht werden.“53 Interessanter und anregender ist dagegen Blesenkempers Versuch, „wichtige Momente“ des Bonbonmodells „(ab der dritten Phase) [...] – mit gewissen Akzentverschiebungen – als planungsrelevante ,Transformation’ der drei didaktischen Maximen Kants“ aufzufassen und sie „somit aus der Perspektive der philosophischen Fachwissenschaft“ zu legitimieren. Unter Kants didaktischen Maximen versteht er folgende drei von Kant zusammengestellten „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“54 Diese drei Maximen sieht Blesenkemper nun in folgenden Phasen des Bonbonmodells verwirklicht: Das Selbstdenken mit der entsprechenden von ihm angemahnten Aufwertung in der selbstgesteuert- intuitiven Phase, das An-der-Stelle-jedes-anderen-Denken in der angeleitet- kontrollierten Phase, weil es ja dort um in der Auseinandersetzung mit Texten und anderen Materialien um einen „Perspektivwechsel hin zu noch fremden Standpunkten“ gehe, und das Jederzeit-mit-sichselbst-einstimmig-Denken in der fünften und sechsten Phase, in der die Schüler „das Gelernte durch analytische Verfahren auf den Begriff bringen (fünfte Phase) und sich dazu dialektisch anwendend, transferierend und bewertend ins Verhältnis setzen (sechste Phase).“ Allerdings überlegt er auch, ob die mit der dritten Maxime behauptete „zentrale Vernunfttätigkeit, durch welche die gewonnenen Ergebnisse in sich und für die Lerner selbst stimmig gemacht werden sollen“55, nicht eine siebte Phase erfordert. So sinnvoll es ist, zu überlegen, wie das Bonbonmodell in der philosophischen Tradition verankert ist, und so schmeichelhaft es sein mag, wenn die Wurzeln schon bei Kant wiederentdeckt werden, zeigt schon dieser Gedanke an eine siebte Phase und die auch von Blesenkemper eingeräumte Tatsache, dass sich zu den ersten beiden Phasen (Hinführung und Problemstellung) bei Kant keine spezielle Entsprechung findet, dass die Legitimation „aus der Perspektive der philosophischen Fachwissenschaft“ woanders gesucht werden muss, nämlich bei John Dewey. (132) Dewey geht es nicht um subjektive Stimmigkeit und Sicherung der Allgemeingültigkeit. Er hält Kants kopernikanische Revolution der Denkungsart, die die Welt und ihre Erkenntnis vom Standpunkt des erkennenden Subjekts aus behandelt, für eine Scheinrevolution, weil die Natur des Gegenstandes nach wie vor von einer leitenden Idee „fixiert“ werde. „Kants 52 Klaus Blesenkemper: Unterrichtsplanung, In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch: Philosophie und Ethik. Bd. I: Didaktik und Methodik. UTB 2015. S. 320 53 Klaus Draken: Sokratisches Gespräch und Lehrgespräch In: Jonas Pfister, Peter Zimmermann (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts. (UTB-Band-Nr.: 4514). Bern: Haupt 2016. S. 309 54 Blesenkemper hat diese Maximen an sechzehn Stellen in Kants Werk gefunden, U.a. in Kant: Kritik der Urteilskraft, Kap.50, § 41 55 Klaus Blesenkemper: Unterrichtsplanung. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch: Philosophie und Ethik. Bd. I: Didaktik und Methodik. Paderborn: Schöningh (UTB) 2015. S 320 14 Formen der Anschauung und des Begriffs haben nichts Hypothetisches oder Konditionales. [...] Kant postuliert sie aus dem Grund, weil er die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit anstelle des Hypothetischen und des Wahrscheinlichen sichern möchte. Auch gibt es weder etwas Offenes, Beobachtbares noch etwas Zeitliches oder Historisches in der Kantischen Maschinerie.“56 . Dewey sieht dagegen die wahre kopernikanische Revolution der Denkungsart in einem experimentellen Empirismus, dem es nach dem Vorbild der modernen Wissenschaften mehr um Überprüfbarkeit und Offenheit als um Sicherheit und Stimmigkeit geht. Nach Dewey kommt die Problemorientierung, die entscheidend für das Lernen nach dem Bonbonmodell ist, nicht in den Blick, wenn man sich mit Kant rein kognitiv orientiert. „Die Annahme – wie sie Kant in Übereinstimmung mit traditionellen Theorien macht -, alle Erfahrung sei ihrem Wesen nach kognitiv, führt zu der Lehre, das Wahrnehmen […] sei ein Fall von Erkennen. In Wirklichkeit präsentiert die ursprüngliche Wahrnehmung dem Erkennen das Problem; [...]. Und im Erkennen müssen erst einmal aus der Masse an präsentierten Qualitäten diejenigen ausgewählt werden, die, im Unterschied zu anderen Qualitäten, Licht auf die Natur des Problems werfen.“57 Gerade darauf aber kommt es Dewey an. Er will „Licht auf die Natur des Problems werfen“. Man mag, wie gesagt, mit Robert Musil der Ansicht sein, dass sich mit Deweys empiristischer Philosophie nicht alle Lebensprobleme lösen lassen. Aber ein problemorientierter Philosophieunterricht, der es mit der Problemorientierung ernst mein, tut gut daran, sich an ihr auszurichten. (133) 56 57 Dewey: A. a. O. (s. Anm. 3).S. 289 Ebd. S. 179