Institut für Slavistik der Universität Potsdam Hausarbeit zum Hauptseminar Grundlagen der Sozio- und Kontaktlinguistik Leitung: Prof. Dr. Peter Kosta, Dr. Madlena Norberg, Jens Frasek SS 2001 „W antrejce na ryczce stojom pyry w tytce“ Der Einfluss des Deutschen auf die polnische Sprache im Raum Poznań vorgelegt von: Anja Schmidt Magister Slavistik (Polonistik/Russistik) Hiddenseer Straße 8 10437 Berlin Berlin, 27. November 2002 INHALTSVERZEICHNIS 1. EINFÜHRUNG ........................................................................................................ 3 2. HISTORISCHE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR GEBRAUCH UND EINFLUSS DES DEUTSCHEN IM RAUM POZNAŃ .................................................................... 5 2.1. Die Entwicklung bis 1770 .................................................................................. 5 2.2 Die neupolnische Periode .................................................................................. 7 2.3: Die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens .................... 10 3. SPRACHWISSENSCHAFTLICHE BESCHREIBUNG DER SITUATION IM RAUM POZNAŃ .................................................................................................................. 12 4. SPUREN DES DEUTSCHEN IM HEUTIGEN POLNISCH ................................... 15 4.1. Das grammatische System ............................................................................. 16 4.1.1 Phonetik ....................................................................................................... 16 4.1.2. Genusbezeichnung und Flexion .................................................................. 17 4.2. Die Syntax ........................................................................................................ 17 4.3 Der Wortschatz ................................................................................................. 19 4.3.1 Archaismen .................................................................................................. 20 4.3.2 Germanismen............................................................................................... 21 4.4. Phraseologismen ............................................................................................. 23 5. SCHLUSSBEMERKUNG ..................................................................................... 26 LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................... 27 2 1. EINFÜHRUNG Eine bar mleczny ist als quasi-Volksküche mit ihren sehr preiswerten, einfachen Gerichten an sich schon ein liebenswertes Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. In der Innenstadt von Poznań gibt es mit der Bar Apetyt in der ul. Woźna jedoch eine, die in besonderer Weise einen Archaismus aufweist: Kartoffelbrei wird hier auf dem Speiseplan als „püry“ angegeben. Diese orthografische Sonderform verdeutlicht besonders schön, wie die Sprache der Stadt über die Jahre durch den Einfluss des Deutschen geprägt wurde – und wie ihre Einwohner diesen Einfluss inzwischen mit Humor nehmen. Dies war jedoch beileibe nicht immer so. Poznań, heute Hauptstadt der Wojewoschaft Wielkopolska, ist schon seit Jahrhunderten eine Stadt mit wechselvoller deutsch-polnischer Vergangenheit. Die Zugehörigkeit mal zum deutsch- , mal zum polnischsprachigen Raum ging einher mit vielfältigen Sprachkontakten, die teils aus praktischen Gründen zustande kamen (wie z.B. während der verstärkten Ansiedlung von Handwerkern aus Deutschland im 14. und 15. Jahrhundert), teils aber auch durch Zwang herbeigeführt wurden (wie z.B. während der Zeit der forcierten Germanisierung im preußischen Teilungsgebiet). Entsprechend hielten manche Wörter aus dem Deutschen ohne großen Widerspruch Einzug ins Polnische, während andere bekämpft wurden und es ein Anliegen von Sprachwissenschaftlern und Intellektuellen war, die polnische Sprache später wieder von den fremden Einflüssen zu befreien. Doch auch trotz dieser Bestrebungen gingen viele Wörter deutschen Ursprungs ins Polnische über, und auch auf anderen Gebieten der Sprache ließ und lässt sich z.T. heute noch der Einfluss des Deutschen nachweisen. Die prägendste Zeit für den deutsch-polnischen Sprachkontakt war zweifellos das 19. Jahrhundert, als Poznań Teil des Großherzogtums Posen war und in Folge der Teilungen politisch zu Preußen gehörte. Diese Situation brachte eine Vielzahl von Konflikten mit sich, die nicht nur das sprachliche Verhältnis zwischen Deutschen und Polen beeinflussten und deshalb ausführlicher dargestellt werden. Nach diesem sprachhistorischen Überblick erläutere ich die grundlegenden Termini, die für die Beschreibung der sprachlichen Situation Poznańs relevant sind. Anschließend untersuche ich den Einfluss des Deutschen auf die polnische Sprache in diesem Gebiet in den Bereichen grammatisches System, Syntax, Wortschatz und Phraseologismen. Überwiegend stütze ich mich dabei auf den Słownik gwary 3 miejskiej Poznania, der 1999 in zweiter Auflage von Monika Gruchmanowa und Bogdan Walczak herausgegeben wurde. Dabei geht es mir nicht darum, die vielfältigen Besonderheiten der Sprache in Wielkopolska und hier besonders in Poznań insgesamt zu untersuchen, sondern gezielt den Einfluss des Deutschen aufzuzeigen. In diesem Sinne untersucht diese Arbeit nur einen Aspekt der sprachlichen Besonderheiten, die in der Stadt nachweisbar sind; auch ohne die verschiedenartigen Germanismen lässt sich jedoch das Polnisch im Raum Poznań von dem unterscheiden, das z.B. in Warschau oder Krakau gesprochen wird. Eine Anmerkung zur Literatur: Wie nicht anders zu erwarten ist die Untersuchung der polnischen Sprache im Raum Poznań v.a. ein Anliegen polnischer Wissenschaftler, und auch hier ist die Zahl der Autoren überschaubar. In Deutschland sind zwar die grundlegenden modernen Veröffentlichungen erhältlich, kaum allerdings solche aus der Zwischenkriegszeit, in denen eine detaillierte Beschreibung des Zustands der polnischen Sprache nach den Jahren der Zugehörigkeit zum preußischen Teilungsgebiet geliefert wird. Daher konnte ich auf die damals beobachteten Veränderungen nur anhand von allgemeineren Arbeiten zur Sprachgeschichte eingehen. Dennoch hoffe ich, den Anforderungen an eine Hauptseminarsarbeit gerecht geworden zu sein. 4 2. HISTORISCHE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR GEBRAUCH UND EINFLUSS DES DEUTSCHEN IM RAUM POZNAŃ Bei der Einteilung der Entwicklungsphasen der polnischen Sprache folge ich der Periodisierung wie sie Jan Mazur in seinem 1993 erschienenen Buch „Geschichte der polnischen Sprache“1 vorgenommen hat. Mazur lehnt sich darin im Großen und Ganzen an die Standardwerke von Lehr-Spławiński und Klemensiewicz an, lässt jedoch der altpolnischen Phase die vor- sowie die frühpolnische Periode vorausgehen, die zusammen die vorliterarische Zeit umfassen. Die literarische Epoche beginnt für ihn mit der altpolnischen Phase (1150-1500), auf sie folgt die mittelpolnische (1500-1770). Die an diese anschließende neupolnische Periode begrenzt er - anders als die meisten Sprachhistoriker - auf den Zeitraum 1770-1950, um die Veränderungen, die in der polnischen Sprache nach dem 2. Weltkrieg auftraten, der sog. gegenwärtigen Periode zurechnen zu können.2 2.1. Die Entwicklung bis 1770 Lehnwörter aus der deutschen Sprache sind im Polnischen bereits zu einem so frühen Zeitpunkt wie der vorliterarischen Epoche nachweisbar.3 Zu regelmäßigem Kontakt und einer systematischen Benutzung des Deutschen kam es nach dem Beginn der schriftlichen Phase dann v.a. auf dem Gebiet des Schulwesens: Im 13. Jahrhundert gab es nur wenige Lehrer, die die damalige Schulsprache Latein auf Polnisch unterrichteten; weit verbreitet war hingegen der Unterricht auf Deutsch. „W ten sposób łaczińska szkoła średniowieczna stała się również narzędziem germanizacji“4, wobei der Ausdruck ‚Germanisierung’ als für diese Zeit unzutreffend bezeichnet werden muss. Mit ihm werden größtenteils die Bestrebungen der preußischen Regierungen im 19. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht, die auf eine sprachliche und kulturelle Dominanz des Deutschen in polnischen Gebieten abzielten, nicht jedoch die bloße Verwendung von Deutsch als Schulsprache. In großem Maße traten Germanismen im 14. und 15. Jahrhundert auf, als von Polen eine große Zahl an Einwanderern aus Deutschland ins Land geholt wurde. Unter ihnen befanden sich überwiegend Handwerker und Bauern, die bei der 1 Mazur, Jan (1993): Geschichte der polnischen Sprache. Frankfurt/Main. vgl. Mazur (1993) S.9. 3 vgl. Mazur (1993) S. 113. 4 Karaś (1986) S. 78. 2 5 Urbarmachung und wirtschaftlichen Entwicklung der bis dahin unerschlossenen Gebiete helfen sollen. Die Einwanderer gründeten Städte, die z.T. ausschließlich von Deutschen bewohnt wurden, und brachten eine gut entwickelte Wirtschaftkultur mit sich. Dies ermöglichte, dass das Deutsche im Laufe der Jahre nicht nur im handwerklichen Leben prägend wurde, sondern auch Einzug in die Verwaltung hielt. Entsprechend findet man Lehnwörter aus dem Deutschen v.a. in Bereichen des Handwerks, des Bauwesens und der Hauseinrichtung, des Handels, der Kleidung und Rüstung, des Rechts und der Verwaltung, der Ernährung sowie des Bergbaus.5 Da im Gegensatz zu Entlehnungen aus dem Tschechischen, die überwiegend durch literarische Texte verbreitet wurden, die Lehnwörter aus dem Deutschen über die Umgangssprache ins Altpolnische gelangten, wurden viele von ihnen sehr stark polonisiert. Ebenfalls entstanden von solchen Wörter häufig auch regionale Varianten.6 Die in vielen Sphären des öffentlichen Lebens verbreitete Benutzung des Deutschen ging jedoch nicht konfliktfrei vonstatten und rief Proteste seitens der polnischen Bevölkerung hervor. Diese forderte, dass in Kirchen und Schulen wieder auf Polnisch unterrichtet werden sollte, und ein gutes Beispiel für den z.T. erbitterten Widerstand gegen das Deutsche liefern Äußerungen des Wojewoden von Poznań, Jan Ostroroga. In seinem Traktat „Monumentum pro Reipublicae ordinatione“ stellt er fest, dass Deutsch im Gottesdienst nur noch von wenigen Menschen gehört werde; wer in Polen wohnt, solle seiner Ansicht nach auch Polnisch lernen, um die Polen im Gottesdienst nicht zu benachteiligen: „[...] niechże się one [die deutschsprachigen Messen, Anm. A.S.] odbywają gdzieś na ustroniach bez ujmy dla godności Polaków.“7 Der Zustrom von Germanismen ebbte gegen Ende des 15. Jahrhunderts wieder ab, wofür es hauptsächlich zwei Gründe gibt: Zum einen etablierte sich in der mittelpolnischen Periode das Polnische zunehmend als Sprache im öffentlichen Leben, zum anderen ging die wirtschaftliche Entwicklung im 17. Jahrhundert in Folge zahlreicher Kriege deutlich zurück, wodurch die traditionelle Lebensgrundlage vieler deutscher Einwanderer zerstört wurde. In die polnische Sprache neu aufgenommen wurden jedoch Begriffe aus dem sich entwickelnden Bereich des Druckereiwesens 5 vgl. Mazur (1993) S. 114f. vgl. ebd. 7 Karaś (1986) S. 92f. 6 6 (z.B. druk, prasa, prasować) sowie zur Zeit der Herrschaft der Sachsenkönige solche aus dem Bereich des Militärs (z.B. hełm, pancerz, rotmistrz u.a.).8 2.2 Die neupolnische Periode Wie sehr die Entwicklung der Sprache eines Raumes mit seiner geschichtlichen Entwicklung einhergeht, wird im Fall des Polnischen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders deutlich. In Folge der ersten polnischen Teilung von 1772 gehörte das Gebiet um Poznań als Südpreußen bzw. nach dem Wiener Kongress als Großherzogtum Posen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum preußischen Teilungsgebiet, in dem im Verlauf der 123 Jahre eine mal mehr, mal etwas weniger strenge Germanisierungspolitik durchgeführt wurde. Der Teilung vorausgegangen war mit der Herrschaftszeit von König Stanisław August Poniatowski eine kulturelle Blütezeit, in der das politische wie auch das kulturelle Leben wichtige Impulse erhielten und sich in den Städten eine Schicht von Intellektuellen bildete, die sich teilweise als Förderer von Kunst und Literatur betätigten. Diese Umstände bildeten günstige Rahmenbedingungen für die Entwicklung der polnischen Sprache, die sich als unerlässlicher Faktor für die Erneuerung der nationalen Kultur im Geiste der Aufklärung erwies.9 Die erste Teilung Polens im Jahr 1772 bedeutet nicht sofort das Ende dieses Prozesses, sondern führte im Gegenteil zu verstärkten Anstrengungen um Reformen, und dies gerade auch im Bildungsbereich. Als wichtigstes Organ fungierte hierbei die 1773 gegründete Kommission für Nationale Erziehung (Komisja Edukacji Narodowej), deren Reformen u.a. die Einführung eines hierarchisch organisierten Schul- und Universitätssystem vorsahen sowie die Vorbereitung neuer Schulbücher. Von großer Bedeutung war auch die Einführung von Polnisch als Unterrichtssprache an Schulen, was mit der Abschaffung von Latein als Lehr- und Lernsprache einherging. Privatschulen wurden nur dann zugelassen, wenn sie sich verpflichteten, die neuen Programme und Lehrmaterialien anzuwenden. Dies war besonders wichtig für die Ausbildung von Mädchen, die nur in Privatschulen unterrichtet werden konnten. Da diese in der Regel von Ausländern betrieben wurden, war der Unterricht bisher in einer Fremdsprache abgehalten worden.10 Mit der dritten polnischen Teilung 1795 fanden diese Entwicklungen ein abruptes Ende, da die Teilungsmächte nun verstärkt Maßnahmen zur Entnationalisierung der 8 vgl. ebd. S. 236. vgl. Mazur (1993) S.278f. 10 vgl. Mazur (1993) S. 279f. 9 7 Polen einführten. Dies bedeutete v.a. Aktionen gegen Sprache und Kultur: Das Polnische wurde als Unterrichtssprache entweder abgeschafft oder unterlag im Gebrauch deutlichen Einschränkungen. Da es im preußischen Teilungsgebiet gleichzeitig noch nicht genug Lehrer gab, die auf Deutsch unterrichteten, wurde dort die Zahl der Gymnasien deutlich verringert und in einigen Latein als Unterrichtssprache eingeführt. Polnisch wurde nur in kirchlichen Schulen geduldet und im öffentlichen Leben im Umgang mit Ämtern nur auf unterster Ebene zugelassen.11 Nach dem Wiener Kongress entspannte sich die Situation im preußischen Teilungsgebiet etwas und es wurden von der Regierung deutliche Zugeständnisse an die polnische Bevölkerung gemacht. Während der Zeit von 1815-1830, der sog. „stillen Jahre“ herrschte im Großherzogtum Posen Freiheit der Sprache und Religion, und auch wenn das Deutsche de facto von den Schulbehörden deutlich bevorzugt wurde, so war ihm das Polnische an den Gymnasien wenigstens formell gleichgestellt.12 Rechtlicher Ausdruck dieser Haltung war der Sprachenerlass von Kultusminister von Altenstein vom Dezember 1822, der sicherstellte, dass im Schulwesen die polnische nationale Individualität geschützt blieb.13 Diese liberale Politik fand jedoch ein jähes Ende, nachdem der Novemberaufstand von 1830 auch im Großherzogtum große direkte und indirekte Unterstützung gefundnen hatte. Die bereits in Westpreußen erprobten Grundsätze der Einschmelzungs- und Eindeutschungspolitik sollen auf das Posener Gebiet übertragen werden. Die polnische Selbstverwaltung wurde zerschlagen und zunehmend Deutsche in den Ämtern eingesetzt. 1832 wurde Deutsch als innere Amtssprache obligatorisch.14 Nach der Thronbesteigung Wilhelms IV. wurden die antipolnischen Maßnahmen kurzzeitig gelockert, und Posen wurde für einige Zeit sogar ein Refugium für zurückkehrende politische Emigranten aus Paris und Kongresspolen. Die Lockerungen wurden jedoch wieder verschärft, als 1846 eine polnische Verschwörung aufgedeckt wurde und ihre Anführer Haftstrafen erhielten. Um den wachsenden Antagonismus zwischen Deutschen und Polen zu überwinden, wurde im Zuge der von Friedrich Wilhelm IV. versprochenen Reorganisation des Großherzogtums beschlossen, das Herzogtum zu teilen und das westliche Gebiet 11 vgl. ebd. vgl. ebd. 13 vgl. Hoensch (1998) S. 209. 14 vgl. Hoensch (1998) S. 210. 12 8 einschließlich Posens in den Deutschen Bund einzugliedern. Da diese Vorhaben einen bewaffneten Aufruhr auf polnischer Seite hervorrief, wurde schließlich von 1848-51 das gesamte Herzogtum vorübergehend in den Deutschen Bund eingegliedert; es verlor nach dem späteren Ausscheiden allerdings seine früheren Sonderprivilegien innerhalb des Staates.15 preußischen Diese Ereignisse verdeutlichen das angespannte Verhältnis zwischen preußischer Teilungsmacht den um mehr nationale Eigenständigkeit kämpfenden Polen. Die von preußischer Seite betriebene Germanisierungspolitik führte unter den Polen zu verstärkter Tätigkeit zum Erhalt ihrer Kultur und Sprache. Diese wurde später unter dem Begriff „organische Arbeit“ zusammengefasst und beinhaltete Bildungsprogramme verschiedenster Art wie die des Posener Arztes Marcinkowski 16; ebenso wurde ein geheimes Schulwesen aufgebaut und die häusliche Bildung gepflegt. Von großer Bedeutung war auch die Existenz verschiedener Zeitungen und Zeitschriften in polnischer Sprache, die den Germanisierungstendenzen entgegenwirken konnten. Nach dem Januaraufstand von 1863 wurden die offiziellen Entnationalisierungsbestrebungen nochmals verschärft, und gingen nach dem Amtsantritt Bismarcks in eine besonders kämpferische Phase über. Der unter Bismarck durchgeführte Kulturkampf hat für Jörg Hoensch „eine eindeutig polonophobe Komponente“17, was sicherlich auch dadurch verstärkt wurde, dass die Polen sowohl den Norddeutschen Bund als auch die Reicheinigung ablehnten. 1871 wurde die geistige Schulaufsicht aufgehoben, 1872-74 dann in der Volksschule Deutsch als allgemeine Unterrichtssprache eingeführt.18 In den Jahren von 1872 bis 1890 wurde Polnisch als Unterrichtssprache auch an den Gymnasien abgeschafft, 1876 Deutsch als alleinige Geschäftssprache in Ämtern und Körperschaften festgelegt.19 1886 trat ein Ansiedlungsgesetz für Deutsche in Kraft, das allerdings später zurückgenommen wurde; vorher waren jedoch bereits 30.000 Polen aus den Grenzgebieten abgeschoben worden.20 1887 wurde Polnisch an den Grundschulen definitiv abgeschafft, nachdem es bis dahin noch als normales Schulfach gewählt werden konnte. Von 1890-97 wurde gleiches auch an Realschulen und Gymnasien 15 vgl. ebd. S. 211ff. Der 1836 aus dem Pariser Exil zurückgekehrte Arzt Karol Marcinkowski gründete 1840 in Posen die „Gesellschaft für wissenschaftliche Hilfe“, deren Ziel es war, durch die Gewährung von Stipendien an minderbemittelte Polen die preußische Kulturpolitik zu unterlaufen. Vgl. Hoensch (1998) S. 211. 17 Hoensch (1998) S. 232. 18 vgl. Walczak (1995) S. 190f. 19 vgl. Hoensch (1998) S. 232. 20 vgl. Hoensch (1998) S.233. 16 9 durchgeführt.21 Dem zwar zahlenmäßig kleinen, jedoch lautstark und durchaus erfolgreich agierenden „Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken“ (nach den Anfangsbuchstaben der Namen seiner Gründer Hansemann, Kennemann und Tiedemann auch „HaKaTa“ genannt) setzte die polnische Seite zahlreiche Bauernvereine entgegen, die sich verstärkt gegen Aufkauf und Enteignung von polnischem Boden zur Wehr setzten und polnisches Brauchtum pflegten. Der Kulturkampf stärkte so letztlich das polnische Nationalbewusstsein, die germanisierende Sprach- und Bodenpolitik führte zu einem Zusammenschluss von Polen über Standes- und Bildungsgrenzen hinweg. Nach Bismarcks Sturz kam es kaum zu Zugeständnisse auf dem Bildungssektor, statt dessen wurde ab 1900 auch der Religionsunterricht auf Polnisch verboten22, was zu Schulstreiks in der Provinz Posen führte. Bogdan Walczak weist zudem darauf hin, dass während der gesamten Zeit der Teilung im preußischen Teilungsgebiet keine polnische Universität existierte.23 Jörg Hoensch kommt zu dem Schluss, dass „[i]deologische und politische Rigorosität und Verkrampfung [...] den auf beiden Seiten mit wachsender Unbeugsamkeit geführten Kampf der Nationalitäten um Sprache, Schule und Boden [kennzeichneten], bei dem die Machtmittel zwar in der Hand des preußischen Staates lagen, der damit aber das Entstehen einer durchgeformten Nationsgesellschaft nicht verhindern konnte.“24 Eine Nationsgesellschaft freilich, der die Bilingualität aufgezwungen war und in der man eine zweischichtige Art des sprachlichen Regionalismus fand. Zu den bereits früher existierenden Besonderheiten der jeweiligen Region kamen neue Kontaktregionalismen hinzu: strukturelle und lexikalische Entlehnungen der Sprache der Teilungsmacht, aufgrund derer sich in Polen drei regionale Untertypen des Polnischen ausmachen ließen – „polszczyzna kongresowiacka, galicyjska i pruska“.25 2.3: Die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens Nachdem Polen nach dem 1. Weltkrieg seine staatliche Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, war es ein verständliches Anliegen der offiziellen Stellen, Kultur und Sprache nach der über 120 Jahre dauernden Fremdherrschaft verstärkt zu 21 vgl. Walczak (1995) S. 191. vgl. Gruchmanowa (1995) S.5. 23 vgl. Walczak (1995) S. 191. 24 Hoensch (1998) S. 235. 25 vgl. Rzepka (1993) S. 138. 22 10 pflegen und von allzu offensichtlichen Einflüssen der ehemaligen Teilungsmächte zu befreien. Dieser Prozess ging einher mit einer deutlichen Abnahme des deutschen Bevölkerungsteils im ehemaligen Teilungsgebiet, da viele Deutsche nach der Änderung der politischen Zugehörigkeit des Gebietes ins Reich auswanderten. Stellten Deutsche im Jahr 1918 noch 42% der Einwohner Poznańs, so sank ihr Anteil zum Jahr 1921 auf 5%.26 Die polnische Sprache wurde von verschiedenen Sprachwissenschaftlern einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen, die sich wenig erfreut über ihre Ergebnissen zeigten. So stellte Aleksander Brückner fest, dass die polnischen Sprecher auf Deutsch dachen und deutsche Ausdrücke dadurch entweder in ihrer deutschen Form im Polnischen verwendeten oder sie wörtlich ins Polnische übersetzten. Entsprechend gab er als Regel für die korrekte Benutzung des Polnischen aus, dass man zwar durchaus Entlehnungen verwenden könne, jedoch nur solche, die mit den Regeln der polnischen Sprache übereinstimmten. 27 Ebenso bemängelte er eine Reihe weiterer Fehler: „Temu naszemu poczuciu sprzeciwia się nie używanie nazw chemji i spirytusu, telefonu i korespondentki, lecz mylny szyk przymiotnika, przed zamiast po rzeczowniku; używanie zwrotu biernego, rażące nas w tylu ogłoszeniach urzędowych; nadmiernie kładzenie zaimka trzeciej osoby, bez czego się łatwo obejść; składanie słów na sposób niemiecki – bo lepiej wkońcu powiedzieć po polsku parasol niż deszczochron; parasol, obce słowo, jak tyle innych, nie grzeje, ani ziębi, ale deszczochron, to grzech przeciwko językowi, jak kamieniołomy – dlaczegóż nie „zębolekarze” [...]28 Für den Raum Poznań untersuchten Jan Bibliński und Adam Tomaszewski die sprachlichen Fehler der Region und veröffentlichten ihre Ergebnisse in Form von Sprachratgebern.29 Dabei stellte Bibliński fest, dass sich die sprachlichen Unreinheiten zwar prinzipiell in allen gesellschaftlichen Ebenen fänden, besonders betroffen jedoch die unteren Schichten seien, die regelgerechtes Polnisch nicht beigebracht bekommen hätten.30 Man rief Ciągnie!, wenn es zog, sich auf jemanden verlassen hieß spuszczać się na kogo, und wenn es brannte, rief man nach dem 26 vgl. Gruchmanowa (1995) S. 5. vgl. Brückner (1925) S. 285. 28 vgl. ebd. S. 285f. 29 siehe auch Bibliński, Jan (1922): Błędy językowe. Poznań sowie Tomaszewski, Adam (1927): Błędy językowe uczniów szkół poznańskich. Kraków. 30 Bibliński zitiert nach Gruchmanowa (1995) S. 6. 27 11 fajerman.31 Nicht fremd für polnische Ohren klingen hingegen solche Wörter wie czasopismo, duszpasterz, listonosz oder auch językoznawstwo, und es ist heute schwer vorstellbar, dass sie ursprünglich nicht aus dem Polnischen stammen, sondern Lehnübersetzungen darstellen, mit denen man die bis dahin benutzten entsprechenden deutschen Wörter ersetzte. Im Gegensatz zu den zuerst genannten Wörtern fügten sie sich jedoch unauffällig in die polnische Sprache ein und wurden nach 1918 im Zuge der Anstrengungen um Sprachreinheit nicht bekämpft. Besonders hartnäckig hielt sich der Einfluss des Deutschen darüber hinaus im Bereich der Amtssprache, wo z.T. sperrige Wendungen ihre ursprüngliche Herkunft verrieten: w odpowiedzi na list oder do usług Pana zawsze z przyjemnością.32 Ähnliche Untersuchungen wie die Tomaszewskis und Biblińskis wurden auch im ehemaligen österreichischen und russischen Teilungsgebiet durchgeführt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht33. Außerdem gründeten K. Nitsch, J. Łoś und J. Rozwadowski 1920 in Krakau den Verein „Towarzystwo Miłośników Języka Polskiego“, der die Zeitschrift „Język Polski“ herausgab, und in Warschau riefen 1930 A. Kryński, S. Szober und W. Doroszewski die „Towarzystwo Poprawności i Kultury Języka Polskiego“ ins Leben und veröffentlichten den „Poradnik Językowy“.34 3. SPRACHWISSENSCHAFTLICHE BESCHREIBUNG DER SITUATION IM RAUM POZNAŃ Wie lässt sich die sprachliche Situation im Raum Poznań mit linguistischem Vokabular angemessen beschreiben? Die gleichzeitige Benutzung von Polnisch und Deutsch auf dem Gebiet des Großherzogtums Posen wird - wie bereits weiter oben angeführt – von polnischen Autoren als Bilinguismus bezeichnet, ohne dass sie diesen Terminus jedoch weiter präzisieren.35 Aufgrund der stark unterschiedlichen Verwendung dieses Begriffes in der sprachwissenschaftlichen Forschung ist eine inhaltliche Konkretisierung allerdings notwendig. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im preußischen Teilungsgebiet Deutsch in zunehmendem Maße als einzige Sprache in den Bereichen Schulwesen, Beispiele aus der Rubrik „Kącik językowy” aus der Zeitschrift „Robotnik“ (1/1919), hier zitiert nach: Witaszek-Samborska (1986) S. 141. 32 vgl. Mazur (19993) S. 299. 33 So z.B. von A. Danysz (1914): Odrębności słownikarskie kulturalnego języka polskiego w Wielkopolsce w stosunku do kulturalnego języka w Galicyi. In: Język Polski, Heft 8-10. 34 vgl. Mazur (1993) S. 285f. 35 Siehe hierfür z.B. Rzepka (1993) S. 138. 31 12 Rechtssprechung und Verwaltung benutzt, wohingegen das Polnische so gut wie nur noch im familiären und privaten Bereich der polnischsprachigen Bevölkerung verwendet wurde. Daher kann man von einer funktionalen Differenzierung beim Gebrauch der beiden Sprachen sprechen und damit einer Situation, die Fishman als Diglossie bezeichnet. Diese ist für ihn eine Art sprachlicher Ordnung auf soziokultureller Ebene, während Bilinguismus eine Charakterisierung des persönlichen (individuellen) sprachlichen Verhaltens sei.36 Um einen wichtigen Aspekt erweitert wird der Begriff bei Vallerdú, der von diglòssia pròpia und diglòssia impròpia spricht. Diglòssia pròpia bezeichnet eine Diglossiesituation, in der der Konflikt zwischen den Sprachen ideologisch neutralisiert wurde (wie z.B. im Fall der Deutschschweiz), wohingegen diglòssia impròpia dann vorliegt, wenn in einem Land durch militärische Okkupation oder politischen Druck die Landessprache auf die Funktion einer sog. low variety reduziert wird.37 In diesem Fall kann man auch von konfliktiver Diglossie sprechen.38 Verschiedene Linguisten beklagen, dass aufgrund der vielfältigen inhaltlichen Erweiterungen der Begriff Diglossie unscharf und daher unbrauchbar geworden sei. Im Sinne einer neuen Klarheit schlägt Schlieben-Lange daher vor, dass in Fällen, in denen eine funktionale Ausgliederung zwischen Volkssprache und offizieller Sprache vorliege und es sich hierbei um zwei verschiedene Sprachen handele, der Terminus Bilinguismus zur korrekten Bezeichnung ausreiche.39 Sinner wiederum zieht es vor, in solchen Fällen von gesellschaftlichem Bilinguismus zu sprechen.40 Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, die individuelle sprachliche Kompetenz der Sprecher im Raum Poznań um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einzuschätzen, kann auch kein Urteil darüber gefällt werden, inwieweit sie als zweisprachig mit allen möglichen Feinunterscheidungen bezeichnet werden 36 vgl. Fishman, Joshua (1967): Bilingualisms with and without Diglossia; Diglossia with and without Bilingualism in: Macnamara, John: Problems of Bilingualism, Ann Arbor, S. 34. hier zitiert nach Sinner (2001) S. 126. 37 vgl. Vallerdu (1979): Dues llengües: dues funcions? (Per una història lingüística da la Catalunya contemporània). Edició revisada i actualizada. Barcelona: Edicions 62 hier zitiert nach Sinner (2001) S. 126f. 38 vgl. Sinner (2001) S. 127. Diese Situation lag im preußischen Teilungsgebiet zweifellos vor, da gerade auch durch das allmähliche Streichen von Polnisch als Sprache an den Schulen bewirken sollte, dass Polnisch einzig zu Zwecken der alltäglichen Kommunikation auf privater Ebene verwendet würde, Deutsch hingegen das offizielle Leben bestimmte. Ebenso hingen spätere Berufschancen vom Grad der Beherrschung der deutschen Sprache ab, was den Aspekt des Konflikts noch weiter verdeutlicht. Vgl. Rzepka (1999) S. 17. 39 vgl. Schlieben-Lange (1973) Soziolinguistik. Eine Einführung. Stuttgart, hier zitiert nach Sinner (2001) S. 127. 40 Sinner (2001) S. 127. 13 können. Die in Kapitel 2 aufgezeigten Entwicklungen legen es jedoch nahe, dass sie zumindest in der sehr allgemein gehaltenen Definition von Oskaar als zweisprachig angesehen werden können, da sie ohne weiteres von der einen in die andere Sprache umschalten können, wenn die Situation es erfordert.41 Mit der Terminologie von Lüdi kann an die sprachliche Situation in Poznań an der Wende zum vorherigen Jahrhundert so zusammenfassen, dass die individuelle Mehr- bzw. Zweisprachigkeit mit territorialer Mehrsprachigkeit einhergeht, da mehrere Sprachen auf ein und demselben Territorium koexistieren. Es kommt dabei zu sozialer Mehrsprachigkeit oder Diglossie, da die jeweiligen Sprachen funktionell unterschiedlich verwendet werden.42 Die in den folgenden Kapiteln untersuchten sprachlichen Besonderheiten des Polnischen, die sich aus dem Kontakt mit der deutschen Sprache ergaben, können nach Weinreich als Interferenzen bezeichnet werden und zwar im Sinne einer „deviation from the norms of either language which occur in the speech of bilinguals as a result of their familarity with more than one language [...].“43 Da diese Definition häufig so verstanden wird, dass Interferenzen als Fehler anzusehen seien, betont Sinner, dass die Beeinflussung einer Sprache durch eine weitere nicht zwangsläufig zu Normverstößen führen muss. Er selber spricht daher im Zusammenhang mit Interferenz von veränderten Gebrauchsfrequenzen bestimmter sprachlicher Elemente.44 Für Interferenzen und weitere sprachliche Erscheinungen wie Lehnwörter und Kodeumschaltungen wird auch der Ausdruck transkodische Markierung verwendet.45 Lehnelemente sind dabei in den meisten Fällen lexikalische Einheiten einer Sprache L2, die in die L1 eingeführt werden, um deren Referenzpotential zu erhöhen. Sie werden zu einem Teil von L1, auch wenn ihre fremde Herkunft erkennbar bleibt. 46 Kode-Umschaltungen (code-switching) wird im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt, da es die Einbettung einer Sequenz der Sprache L2 während der Rede in eine L1 bezeichnet. Da es ein typisches Element in der Kommunikation zweisprachiger Sprechergruppen ist, ist es sicherlich auch ein weit verbreitetes 41 Vgl. Oskaar, Els (1984): Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung. In: Besch/Reichmann/Sonderegger (1984): Sprachgeschichte: Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. New York, S. 852. hier zitiert nach Sinner (2001) S. 129. 42 Lüdi (1996) S. 234. 43 vgl. Weinreich, Uriel (1953): Languages in Contact. Findings and Problems. New York S. 1, hier zitiert nach Sinner (2001) S. 132. 44 vgl. Sinner (2001) S. 133. 45 So von Lüdi (1987) und Auer (1990) genaue Angaben bei Lüdi (1996) S. 241. 46 Lüdi (1996) S. 242. 14 Phänomen im Raum Poznań gewesen. Aufgrund der seines spontanen Auftretens in der Sprache wird es im Słownik Gwary Miejskiej Poznania jedoch nicht berücksichtigt. Schließlich noch einige Bemerkungen zur gwara miejska der Stadt Poznań. Als gwara miejska bezeichnen Dubisz/Karaś/Kolis eine „mówiona odmiana języka charakterystyczna dla poszczególnych grup nieinteligenckich środowisk dużych aglomeracji miejskich, kontynuająca dawne dialekty miejskie”.47 Sie ist somit eine gesprochene Varietät der Standardsprache, deren Benutzung territorial und gesellschaftlich begrenzt ist. Im Unterschied zum Standardpolnischen zeigt sie deutliche Folgen der sprachlichen Regionalisierung, wie sie in Folge der Teilungen im 19. Jahrhundert in Polen stattfand. In der gwara miejska überdauerten oftmals auch solche Begriffe, die nach 1918 im Zuge der Bemühungen um Sprachreinheit aus dem Polnischen eliminiert werden sollten.48 Der Grund hierfür liegt darin, dass die gwara miejska die Sprache der Kleinbürger, des Handwerker- und Arbeitermilieus ist und somit von Menschen benutzt wird, die die Literatursprache entweder überhaupt nicht benutzen oder nur sehr begrenzten Kontakt mit ihr haben. WitaszekSamborska stellt zudem fest, dass der Einfluss der Literatursprache auf Poznań insgesamt begrenzt war, da die Schicht der Intelligenz in der Stadt fast gänzlich fehlte und ihr Charakter wesentlich von Handel, Handwerk und Verwaltung geprägt wurde.49 Dies ist im Grunde eine wenig rühmliche Beschreibung der sprachlichen Situation einer Stadt, die in dem Teil Polens liegt, der maßgeblich bei der Herausbildung der frühen polnischen Standardsprache beteiligt war. Gleichzeitig ermöglicht es diese fehlende Progressivität jedoch, auch Ende des 20. Jahrhunderts noch zahlreiche Spuren veralteter Sprachformen in der polnischen Sprache des Raums Poznań zu finden. 4. SPUREN DES DEUTSCHEN IM HEUTIGEN POLNISCH Im Folgenden werden die verschiedenartigen Einflüsse des Deutschen aufgezeigt, wie man sie noch heute in der polnischen Sprache finden kann. Dabei wird der Begriff „heute“ allerdings dehnbar verwendet: Aufgeführt werden all solche Beispiele, die von den Autoren des Słownik Gwary Miejskiej Poznania noch nicht als Dubisz, St./Karaś, H./Kolis, N. (1995) S. 153f. vgl. Rzepka (1999) S. 15f. 49 vgl. Witaszek-Samborska (1986) S. 142. 47 48 15 ausgestorben bezeichnet werden. Das heißt jedoch nicht, dass die entsprechenden Formen gegenwärtig auf der Straße von vielen Einwohnern der Stadt benutzt werden. In manchen Fällen treten bestimmte Germanismen nur noch in der Sprache alter Menschen auf, die die Zeit der Zweisprachigkeit Poznańs noch erlebt haben. Hinzu kommt, dass das sprachliche Material der Autoren seit den 1970er Jahren gesammelt wurde und somit nicht mehr unbedingt gewährleistet ist, dass bestimmt Formen nicht doch inzwischen ausgestorben sind. Mehr als um die 100%ige Aktualität geht es hier darum, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie in jüngster Vergangenheit und tlw. auch gegenwärtig noch das Deutsche seine Spuren im Polnischen hinterlassen hat. 4.1. Das grammatische System 4.1.1 Phonetik Aufgrund des jahrzehntelangen Nebeneinanders von Deutschen und Polen in Poznań verwundert es nicht, dass das Polnische – selbst wenn es von den Sprechern grammatikalisch korrekt ausgesprochen wurde – auf dem Gebiet der Phonetik vom Deutschen beeinflusst wurde. Besonders häufig kam es zu einer falschen Aussprache des [s] bei Lehnwörtern, da Polen häufig das [s] stimmhaft wie im Deutschen, also [z], sprachen, wo es im Polnischen stimmlos hätte sein müssen: intenzywny, konzul, zerweta anstatt intensywny, konsul, serweta.50 Auch die im Polnischen typische getrennte Aussprache von Diphthongen wurde nicht beachtet und beide Vokale zusammengezogen, weshalb Europa wie Ajropa klang, idealny wie idejalny.51 Jan Biliński warnte seinerzeit auch davor, [r], [t] und [ch] auf deutsche Weise zu artikulieren und riet darauf zu achten, dass das [r] kein Rachen-r werde, das [t] nicht behaucht werde und das [ch] nicht geröchelt klinge.52 Im heutigen Polnisch treten diese Besonderheiten jedoch nicht mehr auf. Vereinzelt hört man noch eine untypische Aussprache des [r]; wenn ein Sprecher jedoch das [r] als Rachen-r ausspricht, so stellt dies ein individuelles Kennzeichen seiner Sprechweise dar und ist nicht mehr als Überbleibsel des deutschen Einflusses zu werten.53 50 vgl. Gruchmanowa, Monika (1999) S. 22. vgl. ebd. 52 Biliński, Jan (1922): Błędy językowe. Poznań, S.15, hier zitiert nach Gruchmanowa (1999), ebd. 53 vgl. Gruchmanowa (1999) S. 44. 51 16 4.1.2. Genusbezeichnung und Flexion Eine sprachliche Besonderheit im Posener Raum stellen von der Literatursprache abweichende grammatikalische Bezeichnungen der Geschlechter einiger Worte sowie abweichende Flexionen dar: So findet man (ten) gołeń, (ten) żołądz und (ta) baraka, (ta) magiel, (ta) mirta, (ta) pora (anstelle von por) sowie (to) pomarańczko (anstelle von pomarańcza). Im Falle von magiel, mirta und baraka spricht Gruchmanowa von einer möglichen Beeinflussung des Deutschen, da das grammatikalische Geschlecht von dort übernommen worden sein kann – vollkommen sicher ist dies jedoch nicht.54 Diese Sonderformen zählen inzwischen allesamt zu den zulässigen Regionalismen und gelten nicht als Fehler, da sie auch von der Intelligenz benutzt werden.55 Germanismen haben auf dem Gebiet des grammatischen Systems somit nur eine marginale Stellung inne. 4.2. Die Syntax Wesentlich stärker ist der Einfluss des Deutschen dagegen auf dem Gebiet der Syntax. Schon A. A. Kryński stellte in seinem 1920 erschienenen Sprachratgeber Jak nie należy mówić i pisać po polsku fest, dass der jahrzehntelange Kontakt zwischen dem Deutschen und dem Polnischen dazu geführt habe, dass im Polnischen eine veränderte Wortfolge innerhalb eines Satzes verbreitet sei und auch die Abhängigkeitsbeziehungen eines Ausdrucks von einem anderen häufig einen fremdartigen Charakter annähmen. Ursache hierfür sei vor allem, dass sich die Sprecher ihrer Fehler größtenteils nicht bewusst seien und das System der Syntax so nur eine geringe Widerstandskraft gegenüber dem deutschen Einfluss besäße. Dieses Phänomen trete besonders bei Sprechern auf, die in ihrer Jugend zweisprachig gewesen seien, doch gerade aufgrund des fehlenden Bewusstseins für die korrekte Benutzung der Sprache fänden sich viele Fehler auch noch innerhalb der jüngeren Generation.56 Zu den immer noch anzutreffenden Eigenarten des Polnischen im Raum Poznań zählt so z.B. der übermäßige Gebrauch des Passiv – einer Konstruktion, die gemeinhin als typisch für das Deutsche angesehen wird. Ebenso findet sich die vom Standardpolnischen abweichende wörtliche Übersetzung der deutschen Konstruktion 54 vgl. Gruchmanowa (1999) S. 34f. vgl. ebd. 56 Vgl. Kryński, A. A. (1920): Jak nie należy mówić i pisać po polsku. o.O. S. 4; zitiert nach WitaszekSamborska (1999) S. 47. 55 17 von ‚haben plus Infinitiv’ als mieć plus Infinitiv: Te akta mam u siebie na biurku leżeć, w pokoju mamy stać tapczanik, szafę oder auch miodu i lipowej herbaty sobie weź, bo tu w plucach masz ten kaszel siedzieć.57 Nicht nur bei der älteren Generation findet man auch immer noch einen fehlerhaften Gebrauch von Präpositionen, der vom Deutschen beeinflusst ist: Richt oder stinkt etwas nach etwas wird dies häufig mit czuć, pachnieć oder śmierdzieć za czymś widergegeben wie z.B. in den Ausdrücken czuć za farbą, pachnieć za fiołkami, śmierdzieć za terpentyną oder smakować za ananasami.58 Bisweilen wird auch im Polnischen eine Präposition durch eine andere ersetzt: So findet sich anstelle von czekać na kogoś die Wendung czekać za kimś, mit der das Deutsche ‚auf jemanden warten’ wörtlich übersetzt wurde. Gleiches gilt für den Ausdruck wsiąść w tramwaj statt wsiąść do tramwaju und ubrać co anstelle von ubrać się w co.59 Fehlerhaft ist schließlich auch die Bildung des Genitivs mit Hilfe der Präposition od (analog zu von) wie z.B. in od brata syn oder dyrektor od tej fabryki.60 Auch bei der Wortstellung zeigt sich der Einfluss des Deutschen, wofür vor allem die Partikel ale als Entsprechung des deutschen aber ein gutes Beispiel liefert. Sie wird zur Verstärkung von Aussagen häufig innerhalb des Satzes verwendet anstatt - wie im Polnischen üblich - an den Anfang gestellt zu werden: To jest ale źle! Ta się ale maluje! oder Ten się ale stara o ten samochód!61 Schließlich finden sich nach wie vor auch Beispiele dafür, dass das Prädikat im Polnischen fehlerhaft ans Satzende gestellt wird: Myślałem, że dawno już to gotowe ma. Drzewa, ktore na wiosnę zielone były. Dawnij to „Hartwig” ciężary rolwagami woził. Besonders fremdartig klingen solche Sätze, in denen das Reflexivpronomen się ans Ende gestellt wurde, wie z.B. in Dom, który naprzeciw kościoła znajduje się. Do takiej kawiarni, do takiej restauracji to nie chodziło się oder Uwydatnia to się.62 Zu aussterbenden Germanismen in der polnischen Syntax zählen die folgenden Fälle: Sprachbeispiele aus Biliński, Jan (1922): Błędy językowe. Poznań S. 57 bzw. eigenes Material der Autoren des Słownik; hier zitiert nach Witaszek-Samborska (1999) S. 48. 58 vgl. ebd. 59 vgl. Witaszek-Samborska (1999) S. 52. 60 vgl. Witaszek-Samborska (1999) S. 48. 61 vgl. Witaszek-Samborska (1999) S. 49. 62 vgl. ebd. 57 18 - Eine Satzkonstruktion nach dem Muster ‚zostać plus Infinitiv’, um eine Vergangenheitsform widerzugeben wie z.B. bei On został stać (Er blieb stehen.) - Die Konstruktion nach dem Muster accusativus cum infinitivo wie z.B. in słyszałam go śpiewać, widziałem go jechać tramwajem - Der überflüssige Gebrauch von Präpositionen wie in bawić się z zabawkami - bzw. ihr falscher Gebrauch wie bei być u pracy anstatt być w pracy (bei der Arbeit sein) oder iść na urząd anstelle von iść do urzędu (aufs Amt gehen) - fehlerhaftes Weglassen der Präpositionen im Fall von spóźnić co anstelle von spóźnić się na co (etwas verpassen): z.B. spóźnić pociąg - ebenso wie bei der Zeitangabe ten tydzień anstelle von w tym tygodniu (diese Woche) 4.3 Der Wortschatz Der im Raum Poznań verwendete Wortschatz setzt sich nach Walczak aus drei Schichten zusammen: Archaismen, Dialektismen und Germanismen.63 Diese drei Schichten lassen sich aufgrund ihrer sprachgeschichtlichen Herkunft unterscheiden: Archaismen bezeichnen veraltete Ausdrücke aus der polnischen Allgemeinsprache. Dabei gilt für das im ehemaligen preußischen Teilungsgebiet gesprochene Polnisch generell, dass es sich durch einen im Vergleich zum russischen und zum österreichischen Teil starken sprachlichen Konservatismus und somit eine hohe Zahl an Archaismen auszeichnet. Dies ist vor allem dadurch bedingt, dass die Grenzen zwischen den Teilungsgebieten auch eine Grenze für die Sprache darstellten, so dass sich im preußischen Gebiet Ausdrücke und Worte halten konnten, die im restlichen polnischen Sprachraum bereits nicht mehr gebraucht wurden – und umgekehrt.64 Dialektismen entstanden durch den Zustrom von Bevölkerung aus der ländlichen Umgebung65; Germanismen schließlich gelangten durch den bereits beschriebenen 63 vgl. Walczak (1999) S. 67. vgl. ebd. S. 53. 65 Zu einem Zustrom von Landbevölkerung in die Stadt kam es v.a. im Jahr 1900, als die alten preußischen Stadtmauern abgetragen wurden, was eine Ausweitung des Stadtgebiets ermöglichte. Eingemeindet wurden damals die Bezirke Wilda, Łazarz, Górczyn und Jeżyce; 1925 folgten die Bezirke Dębiec, Winiary, Naramowice, Główna, Komandoria, Rataje und Mała Starołeka. Landbevölkerung strömte auch verstärkt nach 1918 nach Poznań, als die meisten der dort ansässigen Deutschen das Gebiet verließen, und ihr Platz von Polen aus den umliegenden Dörfern eingenommen 64 19 über hundert Jahre andauernden engen Kontakt mit der deutschen Sprache ins Polnische. Der jeweilige Anteil dieser drei Schichten am Gesamtwortschatz im Raum Poznań beträgt etwa 31% (Archaismen), 40% (Dialektismen) und 29% (Germanismen).66 Interessant sind für diese Arbeit vor allem die Archaismen und Germanismen, wobei Gruchmanowa den Anteil der gegenwärtig tatsächlich gebrauchten Germanismen am Wortschatz auf nur 15% beziffert. Der Rest zähle bereits zu veralteten und ungebräuchlichen Ausdrücken.67 4.3.1 Archaismen Bei den Archaismen unterscheidet Walczak grundlegend zwei Arten: zum einen Wortarchaismen (archaizmy Bedeutungsarchaismen/semantische wyrazowe), Archaismen zum anderen (archaizmy znaczeniowe/semantyczne). Bedeutungsarchaismen zeichnen sich dadurch aus, dass bei ihnen eine veraltete Bedeutung eines Ausdrucks bewahrt wird, während dieser Ausdruck ebenso mit einer anderen Bedeutung in der heutigen Sprache verwendet wird.68 Als Beispiel führt Walczak u.a. czerstwy für ‚frisch’ (bei einem Brot) an, interes für ‚Laden’, metryka für Taufzeugnis sowie die berühmte pyza für ‚Hefekloß, der in Dampf gegart wird’.69 Eines muss dabei jedoch beachtet werden: Weißt ein Wort wie z.B. gryf neben seiner heute gebräuchlichen Bedeutung ‚geflügelter Löwe aus der Mythologie mit dem Kopf eines Adlers’ eine weitere Bedeutung auf, die aus dem Deutschen hervorgeht (‚Griff’), so zählt letztere nicht zu den Bedeutungs-, sondern zu den Wortarchaismen, da es sich nicht um eine veraltete weitere Bedeutung des Wortes heute gebräuchlichen gryf handelt, sondern schlicht und ergreifend um ein Homonym.70 Als Wortarchaismen bezeichnet man Wörter, die als „ganze“ vergessen oder nicht mehr benutzt wurden.71 Die Mehrzahl der Fälle machen hierbei einheimische polnische Ausdrücke aus, ebenso finden sich jedoch auch Entlehnungen, die im gesamten polnischen Sprachgebiet benutzt wurden und aus dem Lateinischen, vor wurde. Ein weiteres Mal siedelte im Zuge der verstärkten Industrieentwicklung nach 1945 Landbevölkerung in großem Maße in die Stadt um. Vgl. Gruchmanowa (1986) S. 21 sowie Gruchmanowa (1995) S. 8. 66 vgl. Walczak (1999) S. 67. 67 vgl Gruchmanowa (1995) S. 11. 68 vgl. Walczak (1999) S. 57f. 69 Für diese und weitere Beispiele vgl. ebd. 70 vgl. ebd. 71 vgl. ebd. S. 54. 20 allem aber aus dem Deutschen stammten. Bei den Lehnwörtern aus dem Deutschen unterscheidet man zwischen Eigenentlehnungen (zapożyczenia właściwe), bei denen der deutsche Ausdruck nur mit geringen orthographischen und phonetischen Veränderungen ins Polnische übernommen wurde, sowie den sog. kalki“ – wörtlichen Übersetzungen eines deutschen Ausdrucks ins Polnische. Beide Typen von Lehnwörtern gingen in die polnische Allgemeinsprache ein und müssen daher ebenso wie die einheimischen Ausdrücke als Archaismen behandelt werden. Gleichzietig müssen sie von denjenigen deutschen Ausdrücken unterschieden werden, die dem Deutschen entlehnt wurden, der polnischen Allgemeinsprache jedoch nicht bekannt waren. Ein Blick auf die Lehnwörter zeigt, dass Begriffe aus den verschiedensten Bereichen übernommen wurden: Eigenentlehnungen z.B. aprykoza celstat deka gardyny glanc gryf kasta kejter mantel nudle petroleum pupka rajzender rant/rand rychtyg/rychtyk szefel sztuk tum westka wyc szkolnik świętojanka72 zaborgować. kalki z.B. macoszka 4.3.2 Germanismen Zu den Germanismen im Raum Poznań zählt Walczak all diese Wörter, die nicht in die polnische Allgemeinsprache Einzug gehalten hatten oder haben. 73 Zum größten Teil handelt es sich hierbei um Lehnwörter, die in ihrer ursprünglichen Form ins Polnische übernommen wurden und nur geringfügig an die Erfordernisse der polnischen Aussprache und Flexion angepasst wurden. Wie bei den Archaismen zeigt sich auch hier, dass Germanismen aus den verschiedensten Bereichen stammen konnten, und wie bei den Archaismen finden sich auch hier neben den 72 73 Für diese und weitere Beispiele vgl. ebd. S. 54ff. vgl. ebd. S. 63. 21 eigentlichen Lehnwörtern wortwörtliche Übersetzungen von deutschen Begriffen ins Polnische: Beispiele Lehnwörter: ajnfach bamber74 biksa blajba blaumontak bryle buchta75 bumelcug cyga dojczkatolik dynks ema76 faksy frechownie fyrtel77 gemelkasta78 glaca kipa kista knara knyf launa neper plindz rajzefiber rapel szajskop szneka sprechać79 sztula stychpróba tytka zicherhajtka80 afa ajmerek eka Die Mehrzahl der Lehnwörter stammen aus dem Hochdeutschen, in einzelnen Fällen wurden jedoch auch Wörter aus regionalen Dialekten oder bestimmten Soziolekten entlehnt. Neben dem schon erwähnten plindz zählen hierzu auch bejmy als Bezeichnung für Geld (im Deutschen ursprünglich von „Böhm“ - Groschen) sowie dalas für Armut (aus dem umgangssprachlichen „Dalles“).81 Im Gegensatz zu den eigentlichen Lehnwörtern gibt es im Polnischen nur eine geringe Zahl an kalki im Bereich der Wortbildung, weshalb nur einige wenige Beispiele angeführt werden können: Beispiele für kalka bei Wortbildung:82 obkład - Belag beim Brot/Aufschnitt obkładać - ein Brot belegen odebrać się - einen Abzug/ein Foto machen odkluczyć - aufschließen przeciągać - umziehen przepisać się - sich verschreiben wyciągać - ausziehen aus einer Wohnung 74 Bezeichnung v.a. für reiche Bauern; bamber bezeichnet zudem die große Zahl von Einwohnern Poznańs, die aus Bamberg in die Gegend eingewanderten. 75 Gefängnis 76 Mädchen 77 Stadtviertel 78 Abfalleimer 79 Deutsch sprechen 80 Sicherheitsnadel 81 vgl. Walczak (1999) S. 63ff. 82 vgl. ebd. S. 66. 22 Beispiele für kalka bei Wortbedeutung:83 Diese sog. kalki znaczeniowe entstehen, wenn ein mehrdeutiges deutsches Wort auch im Polnischen als mehrdeutig verwendet wird, obwohl die polnische Entsprechung nicht über die zusätzliche Bedeutung verfügt.84 So wurde z.B. der Ausdruck im zweiten Stock wohnen als mieszkać na drugim kiju übersetzt, obwohl für Stock im Sinne von Etage im Polnischen piętro richtig gewesen wäre. Ebenso bezeichnet das polnische Wort skrzydło nur den Flügel eines Tieres, nicht aber das Musikinstrument, das richtig als fortepian übersetzt werden muss. Auch ist ein związek eine Verbindung zwischen zwei Menschen, nicht aber zur Bezeichnung einer Eisenbahnverbindung zu gebrauchen. 4.4. Phraseologismen Phraseologismen mit regionalem Bezug sind im Polnisch wie es von den Einwohnern Poznańs gesprochen wird nur in sehr geringem Maß vorhanden; ihre Zahl beläuft sich auf insgesamt knapp 400 Ausdrücke, Phrasen und Redewendungen.85 Innerhalb dieser lassen sich drei verschiedene Gruppen ausmachen: Solche Phraseologismen, die mit denen der Standardsprache übereinstimmen und nur geringfügig von dieser abweichen; meist wurde im Vergleich zum Standardpolnisch nur eine einzige Komponente verändert. Daneben gibt es Phraseologismen, die der Standardsprache überhaupt nicht bekannt sind, und schließlich solche, die in Anlehnung an deutsche Satzkonstruktionen und Phraseologismen entstanden sind. Letztere zählen jedoch heute zu den Elementen im Polnischen, die kaum noch gebräuchlich sind, und entsprechend macht ihr Anteil an den in Poznań auftretenden Phraseologismen nicht mehr als 25% aus.86 83 vgl. ebd. Monika Gruchmaonowa spricht in diesem Fall nicht von einer kalka, sondern wertet die entsprechenden Ausdrücke als semantische Entlehnung (zapożyczenie semantyczne), bei der die Bedeutung eines bereits bestehenden polnischen Ausdrucks um eine weitere, im Deutschen gebräuchliche erweitert wird. Vgl. Gruchmanowa (1986) S. 27. Ich gebe jedoch der Einschätzung von Bogdan Walczak den Vorzug, da m.E. der hier zu Grunde liegende Prozess der ist, dass ein im Deutschen doppeldeutiges 1:1 ins Polnische übertragen, nicht jedoch eine zusätzliche Bedeutung bewusst aufgenommen wurde. 85 vgl. Bąba (1999) S. 70ff. 86 vgl. ebd. 84 23 Unter diesen lassen sich folgende Beispiele ausmachen, an denen der Einfluss des Deutschen deutlich sichtbar ist: Auch wenn es fast ein wenig wie Ironie der Sprache anmutet, bezeichnet ausgerechnet der partiell deutsche Begriff echt poznaniak einen echten Posener. Daneben gibt es mehrer Wendungen, die ausdrücken, dass jemand als nicht normal oder dumm bezeichnet wird: amba komu odbiła, mieć ambę - ‘jdm. geht der Amboss durch, einen Amboss haben’ dostać rapla, mieć rapla - einen Rappel bekommen oder haben głabnąć szplina - einen Spleen haben mieć aincweg - einen weg haben mieć ptoka - einen Vogel haben mieć sztycha - einen Stich haben przyjść komu głupio - jdm. dumm kommen Sich zu betrinken heißt in Poznań bisweilen dać sobie w tyte - ‘sich einen in die Tüte geben’ oder: mieć jednego siedzieć - einen sitzen haben Sucht man in Folge dessen Streit oder möchte man jemanden bedrohen, so kann der Satz fallen Chcesz w glacę? - ‚Willst du was auf die Glatze?’ Mieć świnię (Schwein haben) wäre in einem solchen Fall auch im Polnischen hilfreich. Nicht mehr gebräuchlich ist es hingegen, fehlende Zeit oder Lust auf ein Gespräch mit być nie do rozmowy (nicht zu sprechen sein) zu übersetzen; genauso wenig wird für die Lebhaftigkeit oder Bewegungsfreude einer Person noch der Ausdruck być mobil (mobil sein) gebraucht. Auf die deutscher Herkunft des Sprechers verwies schließlich früher einmal die Bezeichnung polski urlop (polnischer Urlaub) - gemeint ist hier Urlaub zu nehmen, auch wenn dieser gar nicht genehmigt wurde, was in gewisser Weise auf mentaler Ebene einen Einfluss des Deutschen auf die polnische 24 Sprache darstellt.87 Porządek musi być (Ordnung muss sein) lautet schließlich die Devise, die in ganz Polen bekannt ist. 87 Sämtliche Beispiele vgl. ebd. 25 5. SCHLUSSBEMERKUNG Die Zugehörigkeit Poznańs zum Deutschen Reich ist seit knapp 85 Jahren vorüber, und doch halten sich in der Sprache an manchen Stellen die Spuren des den Menschen damals aufgezwungenen Deutschen noch hartnäckig. Was heute eher zum Schmunzeln anregt, ist gleichzeitig ein Beweis dafür, wie groß einst der Einfluss des Deutschen auf das Polnische gewesen sein muss, das vor 1918 deutliche Kennzeichen der rigorosen Germanisierungspolitik Preußens trug. Dabei erwiesen sich allerdings nicht alle Gebiete der Sprache als gleich anfällig für deutsche Entlehnungen: Als am resistentesten stellten sich Phonetik und Flexion heraus, bei denen durch den Kontakt mit dem Deutschen nur einige wenige Laute bzw. die Deklination einiger geringen Zahl an Worten verändert wurde. Diese Aussage gilt allerdings mit der Einschränkung, dass die Autoren des Słownik eine Vielzahl von Beispielen anführen, bei denen das Polnisch des Posener Raums deutliche Abweichungen von dem der Standardsprache aufweist. Diese werden allerdings nicht den Germanismen zugerechnet, sondern gelten als einheimische Elemente der Sprache. Die Vermutung grammatikalische liegt Besonderheit allerdings in Folge nahe, von dass sich jahrzehntelanger z.B. manche mangelnder Schulausbildung in der Muttersprache herausgebildet und gehalten hat, wie die nicht korrekte Benutzung von Vergangenheitsformen bei Verben (dzieciaki belczeli, ciotki płakali, dziewczyny się żegnali), die Ersetzung von dla durch do (Do kogo ta kawa? Te kwiaty to do mnie?) oder auch die von jako kto, co durch za kogo, co (Jak był młodszy służył do mszy w kościele, za ministranta)88. Auch wenn diese Variationen keine Germanismen darstellen, so sind sie doch eine direkte Folge der preußischen Politik. Als besonders offen für den Einfluss des Deutschen stellte sich schließlich das Systeme der Lexik heraus, und dies besonders im Bereich der Lehnwörter. Man kann auch davon ausgehen, dass auf diesem Gebiet die Germanismen am längsten überdauern werden. Grammatische Strukturen und korrekte Aussprache sind dank entsprechender Schulbildung und Kontakt aller Einwohner Poznańs mit der Literatursprache frei von offensichtlichen Fehlern, und nur bei alten Menschen auf dem Dorf finden sich noch Formen wie sie Bibliński in der Zwischenkriegszeit notiert hatte. Doch gerade weil es heute fast in Mode ist, seine regionale Andersartigkeit zu unterstreichen, wird man in Poznań noch lange pyry in tytki kaufen – und auf Postkarten neuerdings gar aus Pyrlandia grüßen. 88 Alle Beispiele bei Witaszek-Samborska (1999) S. 45f. 26 LITERATURVERZEICHNIS 1. Monographien Brückner, Aleksander (1925): Dzieje Języka Polskiego. Warszawa Dubisz, St./Karaś, H./ Kolis, N. (1995): Dialekty i gwary polskie. Warszawa Gruchmanowa, Monika (1995): Polszczyzna Poznania po odzyskaniu niepoległości a obecnie. Poznań Gruchmanowa, M./Walczak, B. (Hrsg.) (1999): Słownik gwary miejskiej Poznania. Poznań Gruchmanowa, M./Witaszek-Samborska, M./Żak-Święcicka (1986): Mowa mieszkańców Poznania. Poznań Hoensch, Jörg K. (1998): Geschichte Polens. Stuttgart Karaś, Mieczysław (1986): Język polski i jego historia. Warszawa Klemensiewicz, Zenon (1985): Historia języka polskiego. tom 3, Warszawa Mazur, Jan (1993): Geschichte der polnischen Sprache. Frankfurt/Main Tomaszewski, Adam (1934): Mowa Ludu Wielkopolskiego. Charakterystyka Ogólna. Poznań Trzeciakowski, Lech (1990): The Kulturkampf in Prussian Poland. New York Walczak, Bogdan (1995): Zarys dziejów języka polskiego. Poznań 2. Aufsätze: Bąba, Stanisław (1999): Frazeologia. in: Gruchmanowa, Monika/Walczak, Bogdan (Hrsg.): Słownik gwary miejskiej Poznania. Poznań, S. 70-78. Gruchmanowa, Monika (1999): Opis systemu gramatycznego polszczyzny Poznania. in: Gruchmanowa, Monika/Walczak, Bogdan (Hrsg.): Słownik gwary miejskiej Poznania. Poznań, S. 20-44. Lüdi, Georges (1996): Mehrsprachigkeit. In: Goebl, Hans (Hrsg.) Kontaktlinguistik I und II. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin Rzepka, Wojciech (1993): Status regionalizmów w polszczyźnie XIX wieku. in: Handke, Kwiryna (Hrsg.): Region, regionalizm. Pojęcia i rzeczywistość. Warszawa, S. 120-145. Rzepka, Wojciech (1999): Rodowód polszczyzny Wielkopolan. In: Gruchmanowa, Monika/Walczak, Bogdan (Hrsg.): Słownik gwary miejskiej Poznania. Poznań, S. 7-19. 27 Sinner, Carsten (2001): Zur Terminologie in der Sprachkontaktforschung. Bilinguismus und Diglossie, Interferenz und Integration sowie tertiärer Dialekt. In: Haßler, Gerda (Hrsg.): Sprachkontakt und Sprachvergleich. Münster, S. 125152. Walczak, Bogdan (1999): Słownictwo. in: Gruchmanowa, Monika/Walczak, Bogdan (Hrsg.): Słownik gwary miejskiej Poznania. Poznań, S. 53-69. Witaszek-Samborska, Małgorzata (1986): Potoczna polszczyzna Poznania a kultura języka polskiego, in: Gruchmanowa/Witaszek-Samborska/Żak-Święcicka (Hrsg.): Mowa mieszkańców Poznania. Poznań, S. 140-156. Witaszek-Samborska, Małgorzata (1999): Składnia. in: Gruchmanowa, Monika/Walczak, Bogdan (Hrsg.): Słownik gwary miejskiej Poznania. Poznań, S. 45-52. 28