agile – Behinderung und Politik Ausgabe 4-08 Schwerpunkt: Solidarität – aktuell oder nur noch ein Plastikwort? herausgegeben von Behinderung und Politik 4/08 Inhaltsverzeichnis Editorial Solidarität ja oder nein? ......................................................................................................... 3 Schwerpunkt Solidarität – ein schillernder Begriff ....................................................................................... 4 von Maria Gessler Solidarität zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen ..................... 6 von Klara Reber Solidarität unter Menschen mit Handicap - oder: Sind wir bessere Menschen? Launische Betrachtungen einer Selbstbetroffenen ................................................................................. 8 von C. Spring Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau ..................................................................................................10 von Ursula Schaffner Umsetzung 5. IVG-Revision .................................................................................................13 von Ursula Schaffner Ein Leben in Würde – für alle! ..............................................................................................14 von Simone Leuenberger Gleichstellung Engagierter Einsatz für die Umsetzung des Gleichstellungsrechts .......................................16 von Eva Aeschimann Arbeit Back to work in Freiburg .......................................................................................................18 von Catherine Corbaz Verkehr Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr .......................................19 Bildung Kurswechsel bei AGILE ........................................................................................................19 Behindertenszene Ein Vierteljahrhundert Selbsthilfe über Landesgrenzen hinweg ............................................20 von Martin Straub Medien Herzsache ............................................................................................................................21 für Sie gelesen von Bettina Gruber «Ich sehe was, was Du nicht siehst» ....................................................................................23 Impressum ..........................................................................................................................25 2 Behinderung und Politik 4/08 Editorial Solidarität ja oder nein? In fünf Monaten entscheiden Volk (also wir alle) und Stände (also wir alle) über die Zukunft unserer Invalidenversicherung. Zu den Massnahmen, die die IV finanziell wieder auf Kurs bringen sollen, gehört eine temporäre Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent. Ein Café crème würde im Raum Zürich also 1,6 Rappen mehr kosten. Wer sich lieber eine eigene Kaffee-Maschine für, sagen wir, 400 Franken anschafft, zahlt eins sechzig drauf. Wahnsinn sieht anders aus. Und doch: Wenn da jeder käme … Das Problem ist: Momentan kommt jeder und jede. Das Brot wird teurer, die Post, die Krankenkasse, die Zigaretten, der Strom, das Benzin, und auch unsere UBS brauchte gerade einen Zustupf aus der Gemeinschaftskasse. Anders als bei der IV werden die StimmbürgerInnen hier nicht gefragt, ob sie mit dem Preis einverstanden sind. Für Herrn und Frau Schweizer könnte es deshalb durchaus verlockend sein, am 17. Mai an der Urne wie schon bei der letzten IV-Vorlage «Stopp» zu rufen. Zwar halten mit Ausnahme der SVP alle Parteien und auch die Arbeitgeber eine Finanzspritze für die IV für unumgänglich. Nicht, weil sie mit den Versicherten (doch, doch, die IV ist eine Versicherung!) besonders nett sein wollen. Wahrscheinlich haben sie einfach ausgerechnet, dass eine weitere Blockade wesentlich mehr kosten würde. Doch Entscheide sind Gefühlssache, und wer weiss schon, wie die Stimmung im nächsten Frühjahr ist? Fast alle rechnen im 2009 mit einer Rezession. Dann ist Geiz ja vielleicht wirklich wieder geil. Spannend ist die Frage, mit welchen Argumenten diese Abstimmung am ehesten zu gewinnen ist, so oder so. «Solidarität mit Behinderten und Chronischkranken» vielleicht? Na ja. Solidarität bedeutet laut Duden Füreinandereintreten, Verbundenheit, Zusammenhalt. Und darum geht es (auch). Doch wie alle Tugenden, die einmal zu oft bemüht wurden, hat die «Solidarität» einiges an Mobilisierungskraft verloren. Wieso muss ich eigentlich ständig mit allen solidarisch sein? Ja, wieso? In dieser Ausgabe von «agile – Behinderung und Politik» erfahren Sie mehr über den schillernden Begriff. Die Lektüre zeigt: Die Frage ist hier gar nicht so sehr «Solidarität ja oder nein?». Sondern: Was sonst? Auch darauf geben die Beiträge einige Antworten. Lassen Sie sich überraschen! Angie Hagmann, Co-Präsidentin von AGILE 3 Behinderung und Politik 4/08 Schwerpunkt Solidarität – ein schillernder Begriff Maria Gessler, Vorstandsmitglied AGILE Behindertenselbsthilfe Schweiz ‹Solidarisch› hat laut Duden die Bedeutung ‹gemeinsam, miteinander übereinstimmend, füreinander einstehend, eng verbunden›. Die Literaturliste zum Thema ist umfangreich: Verhaltenspsychologie, Entwicklungs- und Evolutionspsychologie nehmen sich der Solidarität an, ebenso politische und sämtliche Zweige der Sozialwissenschaften. Vom juristischen Begriff zum politischen Schlagwort Ursprünglich als juristischer Begriff verwendet, übrigens schon bei den Römern, im Sinn von ‹wechselseitig für das Ganze haftend›, wurde ‹Solidarität› zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum politischen Schlagwort. In den nun aufblühenden frühindustriellen Betrieben gab es bestimmt schon damals gute Arbeitgeber, die ihren Leuten sogar Wohnungen und Schulen bauten, sie ärztlich versorgen liessen und auch Freizeit zugestanden. Doch oft waren die Arbeitsbedingungen unmenschlich lange, ohne ausreichend Zeit zur Erholung, die Entlohnung schlecht und die Wohnsituation mehr als prekär. Bittere Armut, Tuberkulose, Alkoholismus. Als sich die Arbeiter immer heftiger für humanere Produktionsbedingungen einsetzten und damit begannen, Gewerkschaften aufzubauen, wurde der Ruf «Internationale Solidarität!» zum Kampfmittel. Im vergangenen Jahrhundert ist der Generalstreik von 1918 in der Schweiz zu erwähnen, der entgegen der Ansicht des damaligen Establishment kein bolschewistischer Revolutionsversuch war, «sondern eine soziale Bewegung, die politische Veränderungen forderte und gegen grosse Not protestierte» (Quelle Prof. H. U. Jost, Lausanne). International ist der von der ganzen Bevölkerung getragene Streik in Polen von 1980 in Erinnerung, mit der Gründung von Solidarność, der Gewerkschaft der Werftarbeiter von Danzig. Damit begann das Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft. Strukturen und Gesinnung als Basis von Solidarität Die oben erwähnten sind ‹grosse› Ereignisse, die entsprechende Umwälzungen zur Folge haben, auch wenn sie dafür manchmal viel Zeit brauchen. Viel weniger auffällig ist zum Beispiel eine Form von Solidarität, die einfach durch vorgegebene Strukturen entsteht: Wir Schweizer, Wir Frauen, Wir Linkshänder. Man kann sich durch eine gleichartige Gesinnung solidarisch fühlen, z. B. in einer Partei-, Religions-, Vereinszugehörigkeit, oder zu einer eher ‹ideellen› Solidarität stehen, indem man z. B. ein Abzeichen kauft, nur gewisse Institutionen bevorzugt, oder grundsätzlich aus Gründen der Solidarität etwas ablehnt oder eben nicht. Solidarität aus gleichen Interessen in einer bestimmten Situation kann zeitlich begrenzt sein, z. B. Initiativen, Wahlkampf, oder aber anhalten, weil diese Interessen zu vertreten und die Situation zu verändern langwierig und schwierig ist, z. B. Frauenbewegung, Integration, und ja, 4 Behinderung und Politik 4/08 Agile. Gegenseitige Hilfsbereitschaft könnte man auch als ‹handelnde Solidarität› bezeichnen. Solidarität als Kitt in Gemeinschaften Solidarisch ist man aus einem inneren Bedürfnis heraus. Wir Menschen sind so gemacht, dazugehören zu wollen, und wir sind auch so gemacht, zueinander zu schauen, miteinander verbunden sein zu wollen. Die einen mehr, die anderen weniger. Tatsächlich zeigt sich Solidarität in vielerlei Formen und funktioniert als eine Art Kitt, der eine Gemeinschaft auf sehr unterschiedliche Weise zusammenhält. Diese Gemeinschaft kann eine Familie sein, ein Arbeitsteam, doch ebenso gut auch eine Firma, eine Organisation, eine Nation oder auch ein Verbund von Staaten. Damit eine Gemeinschaft bestehen bleiben kann, ist irgendeine Form von Solidarität in fast allen Lebensbereichen erforderlich, nur erscheint sie uns so selbstverständlich, dass wir sie möglicherweise gar nicht als solche wahrnehmen. Verordnete Solidarität aus Prinzip Um ihr Überleben zu sichern, erlassen Gemeinschaften Gesetze, welche gegenseitige Übereinkünfte verbindlich regeln und Überschreitungen ahnden, also unsolidarisches Handeln zum Schaden der Gemeinschaft oder Einzelnen gegenüber bestrafen. Auch bei rechtlichen Formen von Versicherungen auf Gegenseitigkeit wie Altersvorsorge, Krankenkasse, Unfallversicherung u.ä. wird das Solidaritätsprinzip institutionalisiert, obwohl Solidarität eigentlich nicht gefordert werden kann, sondern implizit auf Freiwilligkeit beruht. Die Einzelnen verzichten hier jedoch in ihrem eigenen Interesse auf die Freiheit, sich solidarisch zu erklären oder auch nicht, obwohl sie wenige Möglichkeiten haben, die Solidarität der anderen Beteiligten zu überwachen oder zu beeinflussen. Solidarität zwischen Sinngebung und kollektivem Nutzen Bei manchen Formen von Solidarität lässt sich der persönliche Nutzen unmittelbar erfahren – man gehört dazu, man hat einen Ort, es gibt einen Sinn, man ist beteiligt. Sie sind uns oft so geläufig, dass wir sie kaum mit dem Etikett ‹Solidarität› versehen würden. Schwieriger wird es, wenn Solidarität mehr verlangt als eine einmalige Handlung oder eine lebensanschaulich motivierte Haltung. Vor allem bei der institutionalisierten Solidarität geht vor lauter Eigennutz gerne vergessen, dass man nicht nur als Einzelne davon profitiert, sondern dass das Funktionieren und Gedeihen der Gemeinschaft davon abhängt. Nicht alle Menschen sind gleichermassen befähigt, solidarisch zu handeln oder zu empfinden. Es gibt zudem überall und immer Schlaumeier und Schlimmere, welche die solidarischen Strukturen einer Gemeinschaft ohne Hemmungen zu ihrem eigenen Vorteil nutzen, dabei aber ihr ‹Recht auf Solidarität› einfordern, sobald etwas schief läuft. Jegliche Gemeinschaft hatte, hat und wird ihre eigenen Codes haben, was die in ihnen gelebte Solidarität betrifft. Lebendige Gemeinschaften verändern sich und mit ihnen diese Codes, ob, wann und wie und in welche Richtung, lässt sich allerdings meist nicht vorhersagen. Bemerkenswerterweise kennen wir zwar einen ‹Loyalitätskonflikt›, aber nichts Vergleichbares im Zusammenhang mit Solidarität. Solida- 5 Behinderung und Politik 4/08 rität – ein schillernder Begriff. Will eine Gemeinschaft zum Nutzen aller weiter bestehen, soll und muss sie ihn immer wieder hinterfragen. Solidarität zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen Klara Reber, Co-Präsidentin des Schweizerischen Seniorenrates und Mitglied des Gleichstellungsrates Égalité Handicap Solidarität hat unterschiedliche Gesichter. Man spricht von Solidarität zwischen Alten und Jungen, zwischen Kranken und Gesunden, zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten oder auch zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen. Solidarität versteht sich vor allem als Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens. Es ist ein Gefühl von Individuen und Gruppen, zusammen zu gehören. Dies äussert sich in gegenseitiger Hilfe und dem Eintreten für einander. Solidarität kann sich von einer kleinen familiären Gruppe bis zum Staat und der Staatsgemeinschaft erstrecken. Die gegenwärtige Finanzkrise und die Hilfsprogramme lassen etwas davon erahnen. Es wird auch unterschieden zwischen Solidarität des Handelns (gegenseitige Hilfsbereitschaft) und Interessens-Solidarität (gleiche Interessen in einer bestimmten Situation). Europa und die Schweiz Es ist wichtig, die Integration der älteren und behinderten Menschen voranzutreiben und die Solidarität zwischen den Generationen sowie diejenige zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkung zu stärken. Auf europäischer Ebene etwa kann das Europäische Parlament Massnahmen festlegen, um die auf Behinderung oder Alter beruhenden unterschiedlichen Behandlungen abzuschaffen. In der Schweiz leistet das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) bereits einen entscheidenden Beitrag in diese Richtung. Am Augenfälligsten ist die Solidarität in der Schweiz zwischen den Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen im öffentlichen Verkehr und im Baubereich. Öffentlicher Verkehr (Bahn, Bus, Tram, Flugzeug) Es gibt Vorkehrungen, die nicht nur Menschen mit Mobilitätseinschränkungen im engeren Sinn zugute kommen, sondern auch vielen anderen Passagieren, wie z.B. Personen mit Kinderwagen, Fahrgästen mit schwerem Gepäck und älteren Menschen. Die letzteren rücken zunehmend in den Fokus, da bei ihnen mit zunehmendem Alter verschiedene Einschränkungen auftreten können. Ich denke hier an Sehbehinderungen bis zur Altersblindheit, Hörbehinderung oder Mobilitätsbehinderung durch ein Hüft- oder Knieleiden. Die Behindertenfachstelle für öffentlichen Verkehr BöV hat in den letzten 20 Jahren ihres Bestehens vorzügliche Arbeit geleistet und ein unterstützendes Netzwerk auf6 Behinderung und Politik 4/08 gebaut. Es besteht eine intensive Zusammenarbeit zwischen der SBB und der Fachstelle, die sich auch auf die Beschaffung des Rollmaterials auswirkt. Als Beispiel wird in der Spezialausgabe der BöV-Nachrichten (20 Jahre BöV) das Regionalfahrzeug «Flirt» von Stadler erwähnt, bei dem das Konzept, vom Pflichtenheft bis zum laufenden Betrieb, intensiv von der Fachstelle begleitet und gestaltet wurde. Der internationale kommerzielle Erfolg dieses Fahrzeugs hat etwas damit zu tun, dass dieses auch bezüglich Behindertengerechtigkeit besser ist als vergleichbare Konkurrenzprodukte. Das vorbildliche Behindertenkonzept der SBB hat sich bewährt und ist erfolgreich, nicht zuletzt, weil es nicht nur für Behinderte, sondern auch mit ihnen zusammen erarbeitet worden ist. Zu den positiven Entwicklungen im öffentlichen Verkehr beigetragen hat insbesondere auch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das 2009 sein 5-JahresJubiläum feiert. Das Angebot an rollstuhlgängigen Fahrzeugen im öffentlichen Verkehr nimmt sowohl auf der Strasse wie auf der Schiene jedes Jahr zu. Seit 2008 sind die Angaben erstmals auch im offiziellen Kursbuch zu finden, und zwar als Texthinweis am Schluss des jeweiligen Fahrplanfeldes. Als Beispiel für diese Entwicklung dienen etwa folgende Zahlen zu Niederflurangeboten im regionalen Schienenverkehr: Waren im Jahr 2007 39 Prozent aller Fahrzeuge für Rollstuhlfahrer zugänglich, so sind es 2009 bereits 45 Prozent. Bei den Niederflurangeboten aller Bus- und Tramlinien gibt es eine Zunahme von 44 Prozent (2007) auf 56 Prozent (2009). Hindernisfreies Bauen Schon heute wünschen viele ältere und behinderte Menschen, wenn möglich, bis zum Lebensende in den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben. Dieser Trend wird mit Blick auf die demografische Entwicklung noch weiter zunehmen. Wohnungsvermieter werden vermehrt mit den Bedürfnissen älterer und behinderter Mieterinnen und Mieter konfrontiert. Die geplanten Leistungen der Invalidenversicherung für eine Assistenz bei Behinderten werden diesbezüglich ebenfalls zu einer erhöhten Nachfrage führen. Es ist deshalb nicht mehr vertretbar, die Bedürfnisse älterer oder behinderter Menschen zu vernachlässigen. Zudem erhöht das alters- und behindertengerechte Bauen den Komfort und die Unfallsicherheit aller Generationen. Sei es bei einem Neubau oder bei einer Renovation, stets sollten auf diese Punkte geachtet werden. Wichtige Informationen und Unterstützung dazu liefert die Schweizerische Fachstelle für alters- und behindertengerechtes Bauen. 7 Behinderung und Politik 4/08 Solidarität unter Menschen mit Handicap - oder: Sind wir bessere Menschen? Launische Betrachtungen einer Selbstbetroffenen C. Spring, Geschäftsführerin und Beraterin bei Procap Um es gleich vorweg zu nehmen, das Thema ist zu komplex, um ihm in diesen wenigen Zeilen auch nur annähernd gerecht zu werden. Und: nein, Menschen mit Behinderung sind auch nur Menschen! Drittens: als Selbstbetroffene bin ich nicht per definitionem kompetenter, um zu diesem Thema Auskunft geben zu können. Dazu braucht es nicht nur «Betroffenen-Kenntnisse» durch eigene «Betroffenen-Erlebnisse» sondern auch Fachkenntnisse. Aber ich behaupte, dass ich dazu eine Meinung habe, allerdings muss sie nicht selig machen. Ich bin auch nicht aufgrund eines Merkmales (hier mein sichtbares Handicap) in einer «automatischen Solidarität» auf ewig, unkritisch und bedingungslos mit Mitbetroffenen verbunden. Mögliche Gründe folgen weiter unten. Viertens: das Thema birgt viele Fallen, die Fettnäpfchen sind zuverlässig verteilt, die «alten» Geschichten eben. Ich laufe deshalb Gefahr, durch diesen Artikel in der Luft zerrissen zu werden. Provokative Kollateral-Solidaritätsfragen Heisst kritisch sein, unsolidarisch sein? Oder ist es gar so, dass eine Selbstbetroffene vermeintlich eher sagen kann, was selbst eine kompetente nicht-betroffene Person nicht einmal denken darf? Hat man mich deshalb für diesen Artikel angefragt? Macht sich AGILE damit solidarischer und kompetenter? Vielleicht habe ich aber kaum eine Ahnung, was Betroffene wirklich beschäftigt, da ich «zu wenig behindert» bin! Wie viel Behinderung darf es denn sein? Wo fängt die Betroffenheit überhaupt an, und wo hört sie auf? Dies nur so nebenbei, sozusagen als provokative KollateralSolidaritätsfragen mit dem augenzwinkernden Verweis auf einige versteckt-beliebte Fettnäpfchen. Komplizierte Solidarität unter Betroffenen Tatsache ist, dass Solidarität heute nicht mehr zieht. Das spüren alle «Bewegungen», also auch die Behindertenbewegung, sofern man noch von einer solchen sprechen kann. Alle Solidaritätsbewegungen kranken daran, dass «ihre» Solidarität und «ihre» Gegner an Eindeutigkeit verloren haben. Nicht dass es «uns» an Forderungen mangelt! Nur ist alles viel komplizierter geworden. So gibt es «die behinderte Person an sich» gar nicht. Es hat sie zwar nie gegeben, aber behinderte Menschen sind eben auch Menschen und in der heutigen Zeit ebenso IndividualistInnen wie alle anderen. Differenzierte und flexible Lösungen sind gefragt. Sich solidarisch mit gleichartig Betroffenen einzusetzen, braucht deshalb einen langen Atem, viel Fachkenntnis, ist kompliziert und schreckt viele, auch Selbstbetroffene, von einem Engagement ab. Elegante Ent-Solidarisierung unter Betroffenen Krass vereinfachte Lösungen für simplifizierte Probleme propagiert nur noch meine Lieblings-Missbrauchs-Partei und sie hat deshalb nicht zuletzt auch unter Menschen mit Handicap viele SympathisantInnen. Damit ent-solidarisieren sich die Betroffenen elegant von den so genannten Scheininvaliden. Sie selber sind die ehrlichen Invali8 Behinderung und Politik 4/08 den, die ihr Leben lang gekrampft und ihre Rente zu Recht erhalten haben. Das ist populistische Psychologie und sie wirkt wie ein Spaltpilz unter den Betroffenen. Damit ist aber noch längst nicht alles gesagt! Solidarisieren wir uns als Selbstbetroffene mit anderen Betroffenen aufgrund des Merkmales «Behinderung», so identifizieren wir uns mit Mitbetroffenen und erhalten wir eine gemeinsame «Behinderten-Identität». Wir werden uns bewusst, was uns von «den anderen» unterscheidet. Wir schöpfen daraus Sinn, Kraft, die gemeinsamen Interessen und eventuell sogar die Ziele, welche wir vertreten oder für die wir uns einsetzen wollen. Für letzteres muss aber schon eine höhere Solidaritäts-Stufe gezündet werden. Aber Achtung: «Ich möchte nicht am selben Anlass wie DIESE Behinderten teilnehmen!» Das höre ich ab und zu von einigen unserer selbst betroffenen Procap-Mitglieder. Diese etwas verächtliche und unverhohlene Abgrenzung ist die wenig subtile Ausprägung von vielen weiteren Ent-Solidarisierungsmechanismen, die es überall in unserer Gesellschaft gibt. Was könnte hier passiert sein? Dazu kurz einige Vorschläge. Treten-gegen-unten und rudern-gegen-oben Wir Menschen orientieren uns nach «oben», nach denen, die es besser haben und denen es besser geht. Wir wollen nicht diejenigen sein, die weit unten in der gesellschaftlichen Rangfolge rangieren. Instinktiv und meist unreflektiert «wissen» wir, welche vorurteils-beladenen Betroffenen-Gruppen mehr als andere von der Gesellschaft diskriminiert und gemieden werden. Da Menschen mit einem Handicap eben auch Menschen sind, übernehmen viele unkritisch diese Haltung und grenzen sich von DIESEN Behinderten ab. Indem sie nach unten treten, erhöhen sie sich selbst und können sich besser fühlen. Das ist keine gute Voraussetzung für gelebte Solidarität unter Menschen mit Handicap. Wir alle sind viel mehr Viele Menschen möchten nicht wissen, was sie von anderen Menschen unterscheidet, sie möchten auch nicht dauernd darauf hingewiesen werden. Insbesondere dann nicht, wenn es um eine gesellschaftlich negativ besetzte Eigenschaft geht. Sie möchten einfach «normal» sein. Sie orientieren sich an der Norm, am Unauffälligen und möchten sich nicht über das auffällige Merkmal «Behinderung» solidarisieren. Und nicht zuletzt lassen sich viele Selbstbetroffene nicht mehr auf ihre Behinderung reduzieren. Solidarität durch Identifikation mit anderen Gleichbetroffenen ist für viele ein zu enges Korsett, denn sie, respektive wir alle sind viel mehr! Letzteres lässt Hoffnung aufkommen. Doch wir sind noch weit entfernt von der gesellschaftlichen Gleichstellung behinderter Menschen. 9 Behinderung und Politik 4/08 Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau Von Ursula Schaffner Die aktuelle Finanzkrise macht vor den Sozialversicherungen nicht halt. Besonders deutlich ist sie beim AHV-Fonds und bei den Pensionskassen zu spüren. Angesichts der gigantischen Summe von 68 Milliarden Franken, die der Schweizer Staat der UBS zur Verfügung gestellt hat, fragt sich die gewöhnliche Staatsbürgerin, wie es denn um den Rettungswillen der Nation in Sachen IV steht. Wie viel wert sind die BezügerInnen von IV-Leistungen dem Stimmvolk? Wir hoffen, dass sich das Stimmvolk im Mai 2009, bei der Abstimmung über die Mehrwertsteuererhöhung, an diese Grössenverhältnisse erinnert. Wir hoffen, dass es sich dann vor Augen hält, um wen es bei dieser Abstimmung geht: um Menschen nämlich, die sich meistens keine schönen Häuser oder grossartige Ferienreisen leisten können. Um Menschen, die sich knapp ihre Existenz sichern können. Invalidenversicherung Noch wissen wir nicht, ob dank der 5. IVG-Revison tatsächlich mehr Menschen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten ihren Arbeitsplatz behalten oder sogar einen neuen finden konnten. Dennoch hat der Bundesrat bereits die 6. IVG-Revision angekündigt. Dank ihr sollen mehr Menschen aus der Rente zurück ins Berufsleben integriert werden. Für dieses Ziel will der Bundesrat vermehrt Begleitung, Coaching und Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen rechnet mit einem hohen Sparpotential bei den bisherigen RentnerInnen. Allerdings fragt sich, ob das ehrgeizige Ziel auf die Schnelle erreicht werden kann, und wo die notwendigen Arbeitsplätze zu finden sind. Wäre es nicht gescheiter, zuerst die Instrumente der 5. IVG-Revision vollumfänglich anlaufen zu lassen, sie zu testen, sie auszuwerten und danach erste Schlüsse zu ziehen? Stattdessen scheint der Bundesrat auf einen hektischen Aktivismus zu bauen. Mit seinem Vorgehen nimmt er in Kauf, dass noch mehr Menschen verunsichert werden, dass sich noch mehr Menschen fragen, wozu es die Invalidenversicherung in dieser Form überhaupt noch braucht. Vertrauen in eine angeschlagene Institution bildet sich langfristig durch seriöses, überlegtes Arbeiten und Voranschreiten und nicht durch überstürztes Voranhasten und Schnellschüsse. In verschiedenen Kantonen führt die strengere Praxis der IV-Stellen zu vermehrten Beschwerden von Antragstellenden. Die Sozialversicherungsgerichte heissen die Beschwerden in annähernd der Hälfte der Fälle gut. Wir wissen allerdings nicht, was mit den gutgeheissenen Beschwerden oder den abgewiesenen Personen geschieht. Wir wissen aber, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen eine 100 PunkteListe herausgegeben hat. Damit sollen Versicherungs-BetrügerInnen besser erfasst werden. Ganz besonders nimmt das Amt dabei MigrantInnen unter die Lupe. Ihnen erteilt man so quasi präventiv einen Malus und stellt sie somit unter den Generalverdacht des Betrugs. 10 Behinderung und Politik 4/08 AHV Die Abstimmung zur Flexibilisierung des Rentenalters von Ende November war in den vergangenen drei Monaten eines der zentralen Themen in Zusammenhang mit der AHV. Die Initiative des Gewerkschaftsbundes wird von den bürgerlichen Parteien, den Arbeitgeber-Verbänden und vom Bundesrat abgelehnt. Alle begründen ihre Haltung mit zu hohen Folgekosten. Die Linken, die Grünen und die gewerkschaftliche Seite stimmen dem Anliegen zu mit dem Argument, eine frühzeitige Pensionierung müsse auch für Menschen mit niedrigen Einkommen möglich sein. Ob dafür die Grenze von 120'000.- Franken die richtige ist? Eine kürzlich durchgeführte Befragung des Personaldienstleisters «Kelly Services» hat ergeben, dass zwei Drittel der Arbeitnehmenden nach der Pensionierung gerne teilzeitlich weiter arbeiten würden. Je nach dem wie die Abstimmung von Ende November ausgeht, ist das Parlament gefordert, mit der 11. AHV-Revision endlich vorwärts zu machen und die verschiedenen Bedürfnisse – freie Wahl einer Frühpensionierung oder Arbeitseinsatz über das Pensionsalter hinaus – unter einen Hut zu bringen. Zurzeit steht einzig die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre zur Debatte (vgl. auch sozialpolitische Rundschau in agile 3/2008). Der Bundesrat informiert sich aktuell im Ausland über die dortigen Reformen der Altervorsorge. Davon erhofft er sich neue Impulse. Der entsprechende Bericht kann auf http://www.bsv.admin.ch/praxis/forschung/publikationen/index.html?lang=de eingesehen werden. Im letzten Jahr hat die AHV-Jahresrechnung mit einem Gewinn von 1,5 Milliarden Franken abgeschlossen. Das waren 1,2 Milliarden weniger als im 2006. Das Ergebnis 2008 wird voraussichtlich nochmals um einiges tiefer ausfallen. Bereits per Ende September sind 9,2 Prozent weniger Einnahmen eingetroffen als im Jahr zuvor. Auf den Reserven des AHV-Fonds war ein Verlust von 2,5 Milliarden Franken zu verzeichnen. Dies alles im Zusammenhang mit und als Folge von der Finanzkrise. BVG Die Finanzkrise hat starke Auswirkungen auf die Geschäfte der Pensionskassen. Noch streiten die Verantwortlichen des Pensionskassenverbandes dies gerne ab. Die Zahlen sprechen jedoch für sich: Seit Einführung des Pensionskassen-Obligatoriums (1985) sind die Renditen auf den Anlagevermögen noch nie so tief gewesen. Die Verluste betrugen im September für das laufende Jahr rund 60 Milliarden Franken. Der aktuelle Börsenzusammenbruch wird deshalb längerfristig zu deutlich tieferen Renten aus der zweiten Säule führen. Der Bundesrat hat inzwischen beschlossen, den Mindestzinssatz im BVG von heute 2,75 auf 2 Prozent zu senken. Diesmal konnte die Landesregierung die Senkung ohne grosse Differenzen zwischen den verschiedenen Interessensvertretern durchwinken. Möglicherweise müssen aber bald etliche Pensionskassen saniert werden. Bis Ende September meldeten schon ein Drittel aller Pensionskassen eine Unterdeckung. Das heisst, die Auszahlung der laufenden Renten ist zunehmend gefährdet. 11 Behinderung und Politik 4/08 Die Pensionskassen werden ab nächstem Jahr neue Anlagenvorschriften beachten müssen. Sie dürfen höchstens 30 Prozent ihrer Gelder in Immobilien investieren. Bis jetzt waren es 50 Prozent. Das heisst; die eine und andere Kasse wird Immobilien abstossen müssen. Ob dies angesichts der Krise mit Wertpapieren eine sinnvolle Regelung ist, bleibe dahingestellt. Der Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen, Yves Rossier, meinte dazu, die BVG-Regeln hätten zum Ziel, die Risiken zu minimieren und nicht die Profite zu maximieren. KVG Immer mehr Menschen können ihre Krankenversicherung nicht mehr bezahlen. Es sind inzwischen 120’000 bis 150'000. Wenn diese zum Arzt oder ins Spital gehen, werden ihre Leistungen von den Krankenkassen nicht mehr übernommen. Die offenen Rechnungen belaufen sich inzwischen auf rund 80 Millionen Franken. Die Kantone haben sich inzwischen bereit erklärt, 85 Prozent der ungedeckten Rechnungen zu begleichen. Die Krankenkassen behalten dagegen die Verlustscheine und sind weiterhin für das Inkasso der ausstehenden Prämien verantwortlich. Heute übergeben Spitäler zu viele heikle, persönliche Angaben an Versicherungen. Es heisst, die Krankenkassen verlangten dies von den Spitälern. Das ist ein happiger Vorwurf. Die Krankenversicherungen wehren sich dagegen und lassen verlauten, dass sie nur jene Daten verlangen, die sie zur Kontrolle der Rechnungen benötigen. Jetzt muss der eidgenössische Datenschutzbeauftragte aktiv werden und dementsprechend Empfehlungen abgeben. Austritts- und Operationsberichte dürfen nicht systematisch und flächendeckend an Krankenkassen herausgegeben werden, sondern nur in einzelnen Fällen mit begründetem Verdacht auf unnötige Massnahmen. Das ist aber mit einem grossen personellen Aufwand verbunden und kostet entsprechend viel. Das Bundesamt für Gesundheit hat von mehreren Krankenkassen verlangt, die Verwaltungskosten nach unten zu korrigieren. Von verschiedenen Seiten wird zudem verlangt, dass die Krankenkassen die Höhe der Löhne ihrer Kaderangestellten transparent machen. Bis jetzt wehren sich die Kaderangestellten mit Erfolg gegen eine solche Offenlegung ihrer Löhne. Erfolgsgekrönt war auch ihr Kampf gegen den Ausschluss ihrer Interessenvertreter aus dem Parlament Der Grossteil der Schweizer Bevölkerung fühlte sich im 2007 überwiegend gesund (87 Prozent). Dies zeigen die Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2007. Insgesamt 37 Prozent der Befragten sind übergewichtig. 39 Prozent der Frauen sind tendenziell zu leicht oder gar untergewichtig. Vermischtes Revision des UVG (Unfallversicherungsgesetz) Die Sozialpolitische Kommission des Nationalrates verzichtet auf eine Privatisierung der SUVA. Auch will sie den Mindestinvaliditätsgrad für eine IV-Rente nicht von 10 auf 20 Prozent. erhöhen. Das Parlament debattiert im Frühling 2009 über die UVGRevision. Weitere Öffnung der Einkommensschere Gemäss einer OECD-Studie haben sich die Einkommensunterschiede in den letzten 12 Behinderung und Politik 4/08 zwanzig Jahren in allen Industrieländern vergrössert. In Ländern mit grossen Einkommensungleichheiten ist die Armut besonders gravierend und weit verbreitet. In der Schweiz ist die Einkommensverteilung relativ gleichmässig. Der Anteil der Working Poor – d.h. der Menschen, die arbeiten und trotzdem nicht genügend zum Leben haben – ist im Vergleich zu allen OECD-Ländern am höchsten. Mobile Arbeitskräfte Noch nie waren Arbeitskräfte so mobil wie heute. Während ein Teil der Länder nach wie vor ein grosses Bevölkerungswachstum aufweist und seinen EinwohnerInnen nicht genügend Arbeitplätze bieten kann, haben andere Länder wegen sinkender Geburtsraten einen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften. Im Gegensatz zu früher verläuft die Arbeitsmigration heute vermehrt in verschiedene Richtungen. Das heisst, nicht mehr nur von Süden nach Norden, sondern beispielsweise auch umgekehrt. Zudem kehren immer mehr ArbeitsmigrantInnen wieder in ihre Herkunftsländer zurück. Berücksichtigte Quellen (vom 20. August bis 3. November 2008): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le Temps, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen und Statistik. Umsetzung 5. IVG-Revision Von Ursula Schaffner Seit dem 1. Januar 2008 ist die 5. IVG-Revision in Kraft. Dank ihr sollen mehr Menschen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten in der Arbeitswelt bleiben können, so lautet das grosse Versprechen dieser Revision. Schweizweit ist denn auch in fast allen Blättern zu lesen, wie erfolgreich man «auf Kurs» sei, dass «Chefs helfen, IVFälle früher zu erfassen», dass die «Antragstellenden in der Entscheidfindung zu Partnern werden». Medienpräsenz wie nie zuvor Die IV-Stellen haben gemerkt, dass sie nach ihren grossen Versprechen in der Öffentlichkeit nun vermehrt zeigen und erklären müssen, was sie tun. In fast allen Tageszeitungen der Schweiz wird regelmässig über ihre Arbeit berichtet. Die IV-Stellen unterstreichen dabei häufig die Bedeutung der Früherfassung. Das heisst, dass die IV-Stellen selbst früher als bisher auf Menschen mit gesundheitlichen Problemen zugehen und diese, wenn möglich, «vor der Rentenfalle bewahren». Anhand von geschilderten Beispielen erfolgreicher beruflicher Wiedereingliederung wird ihre Tätigkeit konkret und nachvollziehbar. Auch das BSV ist in den Medien auffallend präsent. Noch so gerne, betont es, dass bis Mitte des Jahres bei den IV-Stellen schon 4700 Meldungen zur Früherfassung eingegangen sind. Und zwar mehrheitlich von Arbeitgebern. Dagegen scheinen die 13 Behinderung und Politik 4/08 Arbeitgeber, Instrumente wie Eingliederungszuschüsse oder Beiträge an die Sozialversicherung zu ihrer Entlastung bei der Anstellung von Menschen mit einem Handicap kaum in Anspruch zu nehmen. Das BSV meinte kürzlich an einer Tagung selbstkritisch, dass diese Instrumente in der Anwendung wahrscheinlich (noch) zu kompliziert seien. Grosse Fragezeichen bei Behinderten Den fast euphorisch anmutenden Erfolgsberichten von Seiten der IV-Stellen und des BSV stehen die unbeantworteten Fragen der Behinderten und ihrer Organisationen gegenüber. Denn bisher fehlen Angaben darüber, was mit den früh gemeldeten Personen effektiv geschieht. Auf Anfrage heisst es beim BSV dazu, dass diese Angaben in so kurzer Zeit nicht verfügbar seien. Die einseitig wirkende Medienoffensive der IV-Stellen und des BSV löst deshalb bei den Behinderten zwiespältige Reaktionen aus: Finden tatsächlich mehr Menschen eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt oder haben die Eingliederungsspezialisten, wie sich die IV-Angestellten heute sehen, ihre Lektion in verbesserter Öffentlichkeitsarbeit gelernt? Antworten auf beide Fragen gibt es wohl erst in zwei bis drei Jahren. Verschiedene Geschäfts- und Beratungsstellen der Behindertenhilfe stellen ihrerseits eine Tendenz fest, dass Personen, die bereits vor dem 1. Januar 2008 bei einer IVStelle angemeldet waren, auf die weitere Bearbeitung ihres Dossiers warten müssen. Dem Beschleunigungsgebot für Neu(an)meldungen steht offenbar ein Verlangsamungseffekt bei den Altmeldungen gegenüber. Eine weitere Beobachtung ist, dass bei einzelnen IV-Stellen berufliche Massnahmen mit grösserer Zurückhaltung als in früheren Jahren gesprochen werden, und zwar besonders bei schlecht qualifizierten Personen. Damit kann zweifellos Geld gespart werden. Und zwar bei jenen Menschen, die eh schon wenig zum Leben haben. Auch dies sind konkrete Geschichten und eines der Gesichter der Umsetzung der 5. IVG-Revision. Ein Leben in Würde – für alle! Simone Leuenberger «Leben im Heim ist unzumutbar!» - «Im Heim gibt es nur Routine. Für jedes Kleinste, das darüber hinausgeht, muss man kämpfen.» - «Pflege zuhause organisieren, entspricht einem viel besseren Preis-Leistungs-Verhältnis.» - «Ich will doch nicht bis 15 Uhr im Bett liegen bleiben und warten, bis die Spitex kommt». Diese Aussagen stammen nicht etwa von politisch aktiven Menschen mit einer Behinderung, die ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern. Nein, sie stammen von Leuten, die mit zunehmendem Alter auf Unterstützung angewiesen sind. Die neuen Alten wollen nicht ins Heim Man liest und hört es immer deutlicher: Die neuen Alten wollen nicht ins Heim. Sie wollen ihre gewohnte Umgebung, ihr Einfamilienhaus nicht tauschen mit einem Zim14 Behinderung und Politik 4/08 mer in einem Heim, wo sie «durchaus zwei bis drei eigene kleine Möbel mitnehmen können». Sie wollen daheim alt werden, auch wenn sie mehr und mehr auf fremde Hilfe angewiesen sind. Diese Hilfe können die Angehörigen oft nicht leisten, sei es, weil sie zu weit weg wohnen, sei es, weil sie selber Familie und Arbeit haben, sei es, weil sie bereits ausgebrannt sind und keine Kraft mehr haben. Aber die Wirtschaft schaut dem nicht untätig zu. Mehr und mehr Organisationen entstehen, die individuelle Pflege zuhause anbieten, zusätzlich zur Spitex. Nicht nur Pflegeleistungen sind im Angebot, sondern der ganze Hilfsbedarf wird abgedeckt. So ist es auch möglich, jemanden vermittelt zu bekommen, der zwei Stunden am Tag mit auf einen Spaziergang kommt oder schaut, dass sich eine demenzkranke Person nicht verirrt. Freizeitgestaltung gehört ebenso zum Angebotenen wie Wäsche, Putzen, Einkaufen, Kochen. Individuell und flexibel muss die Hilfe sein. Die Illegalen kommen Natürlich hat alles seinen Preis. Aber die Senioren können rechnen. Denn auch ein Heimplatz kostet. Bloss: Nicht alle können sich ein Leben zuhause mit der Hilfe von Pflegediensten leisten. Gerade wer eine 24-Stunden-Betreuung braucht, muss sich andere Lösungen suchen. Und wählt oft den Gang in die Illegalität. 30'000 bis 40'000 illegale Pflegekräfte arbeiten in Schweizer Privathaushalten, so die Schätzung eines Experten für Schattenwirtschaft. Nicht nur die Schweiz lässt sich von Illegalen pflegen. In Österreich titelte das Behindertenberatungszentrum und Zentrum für Selbstbestimmtes Leben BIZEPS bereits 2001 «6000 Pflegekräfte illegal in Österreich». In Deutschland dürften es bis zu 100'000 sein. Sie wohnen in Privathaushalten, sind rund um die Uhr da und bekommen nebst Kost und Logis 600 bis 1000 Euro pro Monat. In der Schweiz sind die «Löhne» ähnlich. Sozialversicherungen gibt es nicht, denn es darf ja niemand wissen, dass da jemand arbeitet. Wer erwischt wird, wird ausgeschafft und der Arbeitgeber gebüsst. Was geht uns das an? Was sollen wir davon halten? Es ist beruhigend zu merken, dass auch ältere Menschen ihre Selbstbestimmung mit der vermehrten Pflegebedürftigkeit nicht abgeben wollen, genau so wie wir Menschen mit einer Behinderung. Es ist aber beunruhigend, dass in der immer noch reichen Schweiz das Geld für menschenwürdige Pflege fehlt. Entweder lebt, wer Pflege braucht, unwürdig in einem Heim, oder man stellt Leute zu unwürdigen Bedingungen an, um ein würdiges Leben trotz Pflegebedarf zu führen. Dies ist ein Grund mehr, für eine anständige Assistenzentschädigung zu kämpfen, eine Assistenzentschädigung, mit welcher Menschen mit einem Bedarf an persönlicher Hilfe ein würdiges Leben führen und ihren Angestellten würdige Löhne bezahlen können, damit auch diese in Würde leben können. Schön, dass immer mehr Leute genau das wollen! (Quellen: Tagespresse letzte Wochen) 15 Behinderung und Politik 4/08 Gleichstellung Engagierter Einsatz für die Umsetzung des Gleichstellungsrechts Eva Aeschimann, Sekretärin Gleichstellungsrat Égalité Handicap «Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser», so das geflügelte Wort des deutschen Schriftstellers Theodor Fontane. Für die zehn Mitglieder des Gleichstellungsrats von Égalité Handicap müsste dieser Aphorismus umgeschrieben werden:«Courage ist gut, Ausdauer ist gut, beides kombiniert ist besser». Zehnmal behinderungsübergreifend denken und handeln Dreimal jährlich treffen sich die Mitglieder des Gleichstellungsrats (GR) zu einer Sitzung. Unter anderem dienen diese Treffen dazu, sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen, wer sich wo und wie für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung stark macht. Die zehn Mitglieder des Gleichstellungsrats vertreten dabei in erster Linie die Interessen und Erfahrungen je einer Behinderungsgruppe. Derzeit sind dies Körperbehinderte, speziell Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, dann Sehbehinderte, Geistigbehinderte, Menschen mit Schwerhörigkeit, Gehörlose, ältere Menschen mit Behinderung und psychisch Behinderte (speziell Menschen mit Depressionen oder Psychose-Erfahrung und Psychiatrie-Erfahrung). In zweiter Linie vertreten sie ihre Sprachregion, ihre Altersgruppe und – im Falle von weiblichen Mitgliedern – die speziellen Anliegen von Frauen und Mädchen mit Behinderung. Weiter zeichnen sich die Mitglieder des Gleichstellungsrats durch ihre Fähigkeit aus, behinderungsübergreifend zu denken und in ihrem Engagement auch die Bedürfnisse anderer Behinderungsarten zu berücksichtigen. An der Sitzung Ende Oktober wurde dies einmal mehr verdeutlicht. Gleichstellung in der Praxis Unter anderem informierten die einzelnen GR-Mitglieder über ihren aktuellen, persönlichen Einsatz für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Lorenzo Giacolini, Vertreter für Körperbehinderte ohne Rollstuhl, erläuterte beispielsweise seinen Einsatz für die Gründung einer Aussenstelle der Fachstelle Égalité Handicap im Tessin. Eine Anlaufstelle, die mit ihren Dienstleistungen allen behinderten oder chronisch kranken Menschen sowie Menschen mit altersbedingten Beeinträchtigungen zu Gute kommen würde, die Benachteiligungen oder sogar Diskriminierungen ausgesetzt sind. Klara Reber wiederum beschäftigt sich, als Vertreterin für ältere Menschen mit Behinderung, aktuell mit dem Thema Solidarität zwischen SeniorInnen mit Behinderung und generell Menschen mit Behinderung. Und ganz handfest testet Helen Zimmermann als blinde Frau zurzeit Angebote, mit denen Unternehmen und Behörden in die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung investieren. So die Bancomaten der Credit Suisse, Steuererklärungs-Formulare im Kanton Zürich aber auch andere Angebote, die die Zugänglichkeit ermöglichen sollen. Eine erste Auswertung von Helen 16 Behinderung und Politik 4/08 Zimmermann lässt aufhorchen, sie stellt zwar eine steigende Sensibilisierung bezüglich Zugänglichkeit fest, aber viele der angebotenen Lösungen seien nicht wirklich durchdacht und praktikabel. Aufmerksam bezüglich Gleichstellungsfragen ist auch Jörg Frey, dies etwa in Zusammenhang mit der Umsetzung der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) im Kanton Bern, wo Jörg Frey arbeitet. Frey beobachtet zudem, dass mit der Umsetzung der 5. IVG-Revision für Menschen mit Behinderung bei den IV-Stellen eine erheblich schärfere Gangart angeschlagen worden ist. Dass die Umsetzung von Gleichstellung auch auf rechtlichen Grundlagen beruht, machte Daniel Hadorn klar. Der Vertreter für die Gehörlosen informierte über verschiedene ablehnende Bundesgerichtsentscheide zur Finanzierung von Gebärdendolmetschern für Gehörlose im Beruf. (Lesen Sie dazu auch den entsprechenden Artikel und Kommentar von Daniel Hadorn auf der Website von AGILE.) Auch das Co-Präsidium des Gleichstellungsrats, Olga Manfredi und Cyril Mizrahi, engagiert sich ausserhalb des Rates laufend in Sachen Gleichstellung. Olga Manfredi letzthin beispielsweise als Beraterin eines Internet-Bildungspool bezüglich Hindernisfreiheit, Cyril Mizrahi bei einer neuen Fussgängerbrücke im Genfer Ort Vernier, die für mobilitätsbehinderte Menschen nicht zugänglich ist. Courage und Ausdauer kombinieren Die Mitglieder des Gleichstellungsrats belegen mit ihren Engagements die Notwendigkeit des Einsatzes für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Sie versuchen zusammen mit der Fachstelle Égalité Handicap, die Verankerung des Gleichstellungsgesetzes und die notwendigen Reformen voranzutreiben. Nicht nur an ihren drei Sitzungstagen, sondern an 365 Tagen im Jahr. Und manchmal, wie 2008, sogar an 366 Tagen. Mit Courage und Ausdauer. 17 Behinderung und Politik 4/08 Arbeit Back to work in Freiburg Von Catherine Corbaz, Verantwortliche Back to work Rund 35 Personen aus 25 KMU der Region nahmen am 10. September 2008 an einer Veranstaltung in den Räumlichkeiten der KGV in Granges-Paccots/Freiburg teil. Thema der verschiedenen Referenten und eines Runden Tischs war die Anstellung und Weiterbeschäftigung von Menschen mit Behinderung. Der Anlass wurde auf Initiative von AGILE durchgeführt mit Unterstützung der Handelskammer Freiburg. Gérald Métroz, selbstständiger Unternehmer im Rollstuhl, sprach mit viel Humor über die wichtigen Fragen der beruflichen Eingliederung der Menschen mit Behinderung. Seine persönlichen Erfahrungen, die er mit dem Publikum teilte, liessen niemanden unberührt. Ein Vertreter der IV-Stelle des Kantons Freiburg und der Direktor von «IPT – Integration für alle Freiburg» erläuterten, welche Leistungen sie für die Unternehmen anbieten. Nach den Referaten wurden am Runden Tisch zwei praktische Fälle vorgestellt. Beim ersten handelt es sich um einen unter Allergien und psychischen Problemen leidenden Mann, der von einem Freiburger Unternehmen angestellt worden war. Das zweite Beispiel war eine Person mit einer physischen Behinderung, die bei der öffentlichen Verwaltung ein Praktikum absolviert. Trotz der sehr unterschiedlichen Biografien haben die beiden Beispiele gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, seien es physische oder psychische, eine Chance zu geben. Ihre Vorgesetzten stellten klar, dass ihre Eingliederung nicht unbedingt eine spezifische Vorbereitung von Seiten der Kolleginnen und Kollegen voraussetzt. Natürlich ist jede Situation unterschiedlich, aber Vorurteile nehmen eben genau durch die Begegnung im Alltag ab. Die folgende Diskussion befasste sich mit verschiedenen Themen, beispielsweise mit der Frage, ob die Behinderung im Lebenslauf erwähnt werden soll oder welche Art von Coaching die IV-Stelle anbieten kann. Der Apéro zum Abschluss der Veranstaltung gab Gelegenheit zum Austausch von Erfahrungen und von Visitenkarten. Da und dort war den Gesprächen zu entnehmen, dass der grösste Teil der Arbeitgeber noch wenig über die Leistungen der IPT oder der IV-Stellen weiss. Übersetzung: Susanne Alpiger 18 Behinderung und Politik 4/08 Verkehr Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich behindertengerechter öffentlicher Verkehr. BöV-Nachrichten Bildung Kurswechsel bei AGILE AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz schlägt im Bereich Bildung eine neue Richtung ein. Einerseits ist AGILE derzeit daran, ein innovatives Weiterbildungs-Angebot in einer neuen methodischen Form zu entwickeln. Andererseits bietet die Dachorganisation ihr Know-How den Mitgliedorganisationen neu auch direkt an. Mit der langjährig erarbeiteten Kompetenz im Weiterbildungssektor unterstützt die Bereichsleiterin Bildung interessierte Mitgliedorganisationen bei der Planung, Organisation und Durchführung von massgeschneiderten und individuellen Weiterbildungsangeboten. Damit will AGILE dem raschen thematischen Wandel auf der sozialpolitischen Agenda und im Weiterbildungssektor noch besser entsprechen. Mit Blick auf diesen Kurswechsel schreibt AGILE derzeit keine langfristig geplanten, eigenen Kurse aus. Dies ergibt die Möglichkeit, flexibel und bedarfsorientiert auf aktuelle Kursanfragen der Mitgliedorganisationen und anderer Interessierter einzugehen. Haben Sie einen Weiterbildungsbedarf in Ihrer Organisation? Brauchen Sie dabei fachlich-, sachlich-, sozial- und umsetzungs-kompetente Unterstützung? Dann wenden Sie sich an die Bereichsleiterin Bildung bei AGILE: Catherine Corbaz, ([email protected]) Über allfällige Kurs-Angebote halten wir Sie auf unserer Website, im Newsletter und in unserer Zeitschrift auf dem Laufenden. Oder rufen Sie uns an, und melden Sie Ihren Wunsch nach Unterstützung bei der Durchführung eines Kurses direkt an. 19 Behinderung und Politik 4/08 Behindertenszene Ein Vierteljahrhundert Selbsthilfe über Landesgrenzen hinweg Martin Straub, Präsident Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft SNaG Die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft wurde 1983 als Selbsthilfe-Organisation gegründet. Seit jeher ist es unser Ziel, Betroffene und deren Angehörige zu unterstützen und Ideen für Lösungen im alltäglichen Leben aufzuzeigen. Heute zählen wir rund 160 Mitglieder und alle unsere Vorstandsmitglieder arbeiten ehrenamtlich. Narkolepsie als Krankheit bekannt machen Oftmals ist es für Aussenstehende schwierig, die Krankheit zu verstehen. Denn häufig ist die Erkrankung auf den ersten Blick nicht erkennbar. Deshalb ist es uns ein Anliegen, die Narkolepsie auch in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und auf die speziellen Probleme dieser Erkrankung hinzuweisen. Die Narkolepsie Gesellschaft verfügt über regionale Gruppen, welche jährlich einige Anlässe organisieren. Diese stehen jeweils allen Interessierten offen und bieten auch eine gute Gelegenheit, dass sich Betroffene und Angehörige in ungezwungener Atmosphäre treffen und austauschen können. Weiter pflegt die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft Kontakte mit Narkolepsie Selbsthilfeorganisationen im Ausland. Vor allem mit Deutschland und Österreich. Meilenstein in der Vereinsgeschichte Vom 16. – 18. Mai 2008 durfte die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft ihr 25Jahr-Jubiläum feiern. Ein Meilenstein in unserer Geschichte, auf den wir stolz sein können. Ist es doch für eine kleine Selbsthilfeorganisation, wie wir es sind, nicht immer einfach, alle anstehenden Aufgaben zu meistern. Der Anlass fand im Tagungszentrum Leuenberg statt, oberhalb von Hölstein (BL). Rund 65 Personen trafen sich, davon gut ein Viertel Teilnehmer aus dem deutschsprachigen Ausland, um dieses Jubiläum mit uns zu feiern. Den Auftakt bildete am Freitagnachmittag ein Begrüssungs-Apéro mit angeregten Gesprächen. Nach dem Abendessen wurde in zwei Vorträgen über verschiedene Aspekte der Narkolepsie berichtet. Am Samstagmorgen wurden dann Workshops zu verschiedenen Themen durchgeführt. Zur Auswahl standen folgende Themen: Sexualität und Narkolepsie, unter der Leitung von Dr. med. Evelina Jecker, Klinische Dozentin, Universitätsspital Zürich Krisenbewältigung, unter der Leitung von Maria Slanzi, Sozialpädagogin, Zürich Beruf und Narkolepsie, unter der Leitung von Hanspeter Locher, Mitglied der SNaG Hilfsstrategien, unter der Leitung von Madeleine Grieder, Mitglied der SNaG 20 Behinderung und Politik 4/08 Nach einer ausgiebigen Mittagspause wurden die interessanten Resultate der einzelnen Workshops präsentiert. Am Samstagabend fand die Jubiläumsveranstaltung statt, begleitet von einem exzellenten Abendessen und als Höhepunkt einem anschliessenden Unterhaltungsabend. Dieser dauerte bis um 4 Uhr in der Früh. Viel zu schnell verging die Zeit und nach dem abschliessenden, ausgiebigen Frühstück am Sonntag traten die Besucher ihre Heimreise an. Alle um viele Erfahrungen und Informationen reicher. Medien Herzsache für Sie gelesen von Bettina Gruber Eine Herzsache ist etwas, was uns nicht kalt lässt, was uns im Innersten berührt. Das Marfan-Syndrom tut dies. Es konfrontiert die Betroffenen ein Leben lang mit den Einschränkungen, die es ihnen auferlegt. Und es hat etwas Unheimliches, weil Marfan lebensbedrohende Situationen herbeiführen kann. Die Betroffenen können ihre Krankheit darum schwer ignorieren. Und sie sind mit einer Umwelt konfrontiert, die Fragen stellt, zu ihrem grossen Wuchs vielleicht Bemerkungen macht, aber letztlich wenig weiss. Immer erklären müssen, obwohl man doch lieber nicht ständig an die Krankheit denken möchte? Für Aussenstehende ist ein Leben mit Marfan schwer vorstellbar. Wer allerdings das vor kurzem erschienene Buch der Marfan Stiftung Schweiz liest, wird hinterher mit mehr Wissen und Verständnis auf Betroffene zugehen können. Das vorliegende Buch mit den Untertitel «Gesundheitskompetenz und Empowerment bei chronischen körperlichen Beeinträchtigungen am Beispiel des Marfan-Syndroms» will grundsätzlich die Problematik von seltenen Krankheiten aufzeigen und tut dies anhand reichhaltiger Information zum Marfan-Syndrom sowie Zeugnissen Betroffener. Es gliedert sich in sechs Hauptteile, in welchen Beiträge verschiedener AutorInnen aus dem jeweiligen Fachgebiet enthalten sind. Der erste Teil befasst sich mit der grundsätzlichen Problematik seltener Krankheiten. Anhand europäischer Statistiken wird die Gesundheitsversorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten verglichen. Ein grosses Problem bei seltenen Krankheiten stellt die Diagnoseverzögerung dar. Oft konsultierten Betroffene während Jahren verschiedene Ärzte und Ärztinnen, bis die richtige Diagnose gestellt wurde. Bei Marfan kann es tödliche Folgen haben, wenn auf Alarmzeichen nicht rechtzeitig mit geeigneten Massnahmen reagiert wird. Fundiertes Wissen beim medizinischen Personal und Betroffenen ist daher äusserst wichtig. Wer aufgrund dieser Schwierigkeiten vermuten würde, Marfan-Patienten beurteilten ihre Lebensqualität als niedrig, dürfte aller21 Behinderung und Politik 4/08 dings durch die beigebrachten Tabellen überrascht werden und ein differenziertes Bild erhalten. Ein ermutigendes Ergebnis, um in der Lektüre fortzuschreiten. Nicht nur im Zusammenhang mit Marfan sind die Seiten über Gesundheitsförderung, Gesundheitsorientierung (Salutogenese), Empowerment, Autonomie und Fürsorge oder Gesundheits- und Patientenkompetenz spannend zu lesen. Mündige Patienten sind heute gefragt, und diesen Anspruch, beteiligt zu sein an den Entscheidungen, die das eigene Leben, die eigene Gesundheit betreffen, erheben wir ja heute gegenüber medizinischen Fachpersonen. Umso mehr erscheint mir hier die Warnung von Betroffenen hilfreich, nicht zu hohe Ansprüche an Patienten, auch an uns selber zu stellen. Es kann nicht sein, dass die Patienten in gute und schlechte aufgeteilt werden – die Kompetenten und die Anderen. Es muss den Betroffenen auch zugestanden werden, zuweilen ängstlich, wütend, verunsichert und mutlos zu sein, nicht alles in seiner vollen Tragweite sofort zu begreifen und nicht immer eine souveräne Reaktion auf heikle Situationen an den Tag zu legen. In einem zweiten Teil geht es um die Herausforderungen, welche die Diagnose Marfan an die Betroffenen und ihr Umfeld stellt. Ausführlich wird dabei auf genetisches Wissen und seine Problematik eingegangen. Danach geht es um Selbstwertgefühl, Verarbeitung in Partnerschaft und Familie, die Beziehung zum Arzt, die Kommunikation und ihre Tücken oder auch um Wert und Grenzen von Selbsthilfegruppen. Diese rund 70 Seiten kann ich zur Lektüre wärmstens empfehlen. Nicht nur im Zusammenhang mit Marfan. (Die zahlreichen Tabellen, Schemata und Kästchen hier und im ersten Teil erschweren zwar den Lesefluss, geben aber eine reichhaltige Palette an Zusatzinformationen; sich durchzubeissen lohnt sich.) Im dritten Teil wird es dafür wieder etwas leichter. Hier machen wir Bekanntschaft mit sechs Betroffenen und ihren Familien. Leichter, nicht weil hier alles Friede-FreudeEierkuchen wäre, sondern weil die Lebensgeschichten wirklich zu fesseln vermögen. Sie geben Zeugnis von Mut und Lebenswillen, auch Lebensfreude, ohne die dunklen Momente zu verschweigen. Mit dem Eindruck, über Marfan und davon Betroffene schon eine ganze Menge erfahren zu haben, wird der Leser, die Leserin nun im Teil vier in die medizinischen Aspekte eingeführt. (Eine geschickte Entscheidung, diesen Teil nicht an den Anfang zu stellen. Denn mit den zahlreichen Symptomen, die eine Marfan-Erkrankung hervorrufen kann, wäre man sonst fast erschlagen.) Dem Laien wird auf verständliche Art erklärt, was diese Bindegewebsschwäche für das Herz, die Gefässe, das Skelett und die Augen für Auswirkungen haben kann, wie die Diagnosestellung aussieht und welche Therapien angewendet werden. Gerade bezüglich der Risiken für die Gefässe, namentlich die Aorta, ist eine fundierte Information der Betroffenen im wahrsten Sinn des Wortes lebenswichtig. Der fünfte Teil schliesst mit rechtlichen Aspekten an. Speziell versicherungstechnische Fragen zu Leistungen von IV und Krankenversicherung werden in einem kurzen Überblick erörtert. Im konkreten Fall helfen die aufgeführten Beratungsstellen in dieser komplizierten Materie weiter. 22 Behinderung und Politik 4/08 Der sechste Teil liefert ein Fazit aus Betroffenensicht. Menschen mit Marfan sowie Angehörige haben das Buchprojekt begleitet und z.B. aufgrund ihrer Kritik ein abgewandeltes Kompetenzmodell erstellt. Ein ausführliches Glossar im Anhang hilft durch den Dschungel von Fachwörtern. Und hier findet sich auch ein Überblick über Marfan-Organisationen und ihre Geschichte. Dass der Tod eines Fünfzehnjährigen seine Eltern vor 20 Jahren zu Mitbegründern der Marfan Stiftung Schweiz werden liess, zeigt die tragische Seite der Geschichte dieser Vereinigung, aber auch, wie stark das Engagement von Wenigen aufgrund persönlicher – leidvoller – Betroffenheit eine Sache voranbringen kann. Herzsache – ein Buch, das etwas zu sagen hat. Mit seiner roten Farbe, die wirklich den «fil rouge» durch die 299 Seiten darstellt, signalisiert es auf eindrückliche Weise die Kraft, die Betroffene zu einem Leben mit zahlreichen Einschränkungen aufbringen, aber auch die Bedrohungen, die von der möglichen Herzschwäche und der Anfälligkeit der Hauptschlagader ausgehen. Das Blut als bedrohte Lebenskraft. Und dann eben die BeHERZtheit, mit der Betroffene ihren Alltag meistern. Ein Zeugnis von Angst und Mut, Kampf und Kraft. Mitten aus dem Leben. Herzsache. Gesundheitskompetenz und Empowerment bei chronischen körperlichen Beeinträchtigungen am Beispiel des Marfan-Syndroms, Marfan Stiftung Schweiz, 2008, ISBN 978-3-033-01587-6. Zum Preis von 44.80 Franken plus Versandkosten zu beziehen bei: Marfan Stiftung Schweiz, Marktgasse 31, CH-3011 Bern, Tel. 031 312 11 22, Fax 031 312 11 20 www.marfan.ch Email: [email protected] Eine Ausgabe mit extra grosser Schrift für Personen mit Sehbehinderung kann ebenfalls bei der Marfan Stiftung Schweiz bezogen werden. «Ich sehe was, was Du nicht siehst» EA/Das erfolgreiche Theaterprojekt mit Blinden und Sehenden unter der Leitung von Regisseurin Heinke Hartmann ist nun auch als DVD erhältlich. Die Hörfilm-Fassung einer Vorstellung in St. Gallen ist ein überraschendes und unterhaltendes Weihnachtsgeschenk, aber auch ein sinnvolles Lehrmittel für Schulen, Aus- und Weiterbildung. Das Theaterprojekt «Ich sehe was, was Du nicht siehst» handelt von der Wahrnehmung der Welt. Sieben blinde respektive sehbehinderte und acht sehende Menschen haben sich auf den Weg gemacht, ihre Welt-Erfahrung zu untersuchen und zu vergleichen. Theater ist auf Bildhaftigkeit, auf das Visuelle angelegt. Deshalb dürfte Theaterarbeit für Blinde von vorneherein eher uninteressant sein, dürften viele denken, bevor sie die SchauspielerInnen erlebt, gesehen und gehört haben. Genau diese Spannung, dieser Widerspruch hat die Projektgruppe um Regisseurin Heinke Hartmann faszi23 Behinderung und Politik 4/08 niert. Aus dieser Faszination ist eine Forschungsreise in Form eines Theaters über das Sehen und die Wahrnehmung entstanden. Der Theaterabend macht Sichtbares für Nicht-Sehende hörbar und erlebbar. Und er öffnet den Sehenden die Augen für das Unsichtbare. Denn es wird reflektiert, getanzt, gefragt, gesungen, gesprochen, gespielt, erzählt, gestrickt, gerapt, gerochen und geschmeckt. Es wird provoziert, es werden die Rollen getauscht. Und es gibt eine Liebesgeschichte, die die Grenzen überwindet. Im Feuilleton verschiedener Zeitungen wurde das Theaterprojekt als sensibel und intelligent gewürdigt. Die Mixtur aus Texten, Szenen und Slapstick habe das Zeug zur Abendunterhaltung mit Mehrwert. Die DVD enthält eine Hörfilm-Fassung und ein akustisch unterlegtes Menü für Blinde und Sehbehinderte. Dazu interessantes Bonus-Material. Dank der ins Theaterstück integrierten Audiodeskription kann sie von Blinden und Sehenden sehr gut gemeinsam angehört und angesehen werden. Kurz: «Ich sehe was, was Du nicht siehst» ist sehens- und hörenswert! Die DVD kann beim Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen bestellt werden. Sie kostet 25 Franken zuzüglich Versandkosten. Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen SZB Schützengasse 4 9000 St. Gallen Tel. 071 223 36 36 [email protected] 24 Behinderung und Politik 4/08 Impressum agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form – der «BÖV Nachrichten») Herausgeberin: AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz Effingerstrasse 55, 3008 Bern Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35 Email: [email protected] Redaktion: Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe Bettina Gruber Haberditz Simone Leuenberger Ursula Schaffner Lektorat: Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe) Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe) Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von «agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche gekennzeichnet. Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht! Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected] 25