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agile – Behinderung und Politik
Ausgabe 4-08
Schwerpunkt:
Solidarität –
aktuell oder nur noch ein Plastikwort?
herausgegeben von
Behinderung und Politik 4/08
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Solidarität ja oder nein? ......................................................................................................... 3
Schwerpunkt
Solidarität – ein schillernder Begriff ....................................................................................... 4
von Maria Gessler
Solidarität zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen ..................... 6
von Klara Reber
Solidarität unter Menschen mit Handicap - oder: Sind wir bessere Menschen? Launische
Betrachtungen einer Selbstbetroffenen ................................................................................. 8
von C. Spring
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau ..................................................................................................10
von Ursula Schaffner
Umsetzung 5. IVG-Revision .................................................................................................13
von Ursula Schaffner
Ein Leben in Würde – für alle! ..............................................................................................14
von Simone Leuenberger
Gleichstellung
Engagierter Einsatz für die Umsetzung des Gleichstellungsrechts .......................................16
von Eva Aeschimann
Arbeit
Back to work in Freiburg .......................................................................................................18
von Catherine Corbaz
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr .......................................19
Bildung
Kurswechsel bei AGILE ........................................................................................................19
Behindertenszene
Ein Vierteljahrhundert Selbsthilfe über Landesgrenzen hinweg ............................................20
von Martin Straub
Medien
Herzsache ............................................................................................................................21
für Sie gelesen von Bettina Gruber
«Ich sehe was, was Du nicht siehst» ....................................................................................23
Impressum ..........................................................................................................................25
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Behinderung und Politik 4/08
Editorial
Solidarität ja oder nein?
In fünf Monaten entscheiden Volk (also wir alle) und Stände (also wir alle) über die
Zukunft unserer Invalidenversicherung. Zu den Massnahmen, die die IV finanziell
wieder auf Kurs bringen sollen, gehört eine temporäre Erhöhung der Mehrwertsteuer
um 0,4 Prozent. Ein Café crème würde im Raum Zürich also 1,6 Rappen mehr kosten. Wer sich lieber eine eigene Kaffee-Maschine für, sagen wir, 400 Franken anschafft, zahlt eins sechzig drauf. Wahnsinn sieht anders aus. Und doch: Wenn da
jeder käme …
Das Problem ist: Momentan kommt jeder und jede. Das Brot wird teurer, die Post,
die Krankenkasse, die Zigaretten, der Strom, das Benzin, und auch unsere UBS
brauchte gerade einen Zustupf aus der Gemeinschaftskasse. Anders als bei der IV
werden die StimmbürgerInnen hier nicht gefragt, ob sie mit dem Preis einverstanden
sind. Für Herrn und Frau Schweizer könnte es deshalb durchaus verlockend sein,
am 17. Mai an der Urne wie schon bei der letzten IV-Vorlage «Stopp» zu rufen.
Zwar halten mit Ausnahme der SVP alle Parteien und auch die Arbeitgeber eine Finanzspritze für die IV für unumgänglich. Nicht, weil sie mit den Versicherten (doch,
doch, die IV ist eine Versicherung!) besonders nett sein wollen. Wahrscheinlich haben sie einfach ausgerechnet, dass eine weitere Blockade wesentlich mehr kosten
würde. Doch Entscheide sind Gefühlssache, und wer weiss schon, wie die Stimmung
im nächsten Frühjahr ist? Fast alle rechnen im 2009 mit einer Rezession. Dann ist
Geiz ja vielleicht wirklich wieder geil.
Spannend ist die Frage, mit welchen Argumenten diese Abstimmung am ehesten zu
gewinnen ist, so oder so. «Solidarität mit Behinderten und Chronischkranken» vielleicht? Na ja. Solidarität bedeutet laut Duden Füreinandereintreten, Verbundenheit,
Zusammenhalt. Und darum geht es (auch). Doch wie alle Tugenden, die einmal zu
oft bemüht wurden, hat die «Solidarität» einiges an Mobilisierungskraft verloren.
Wieso muss ich eigentlich ständig mit allen solidarisch sein?
Ja, wieso? In dieser Ausgabe von «agile – Behinderung und Politik» erfahren Sie
mehr über den schillernden Begriff. Die Lektüre zeigt: Die Frage ist hier gar nicht so
sehr «Solidarität ja oder nein?». Sondern: Was sonst? Auch darauf geben die Beiträge einige Antworten. Lassen Sie sich überraschen!
Angie Hagmann, Co-Präsidentin von AGILE
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Behinderung und Politik 4/08
Schwerpunkt
Solidarität – ein schillernder Begriff
Maria Gessler, Vorstandsmitglied AGILE Behindertenselbsthilfe Schweiz
‹Solidarisch› hat laut Duden die Bedeutung ‹gemeinsam, miteinander übereinstimmend, füreinander einstehend, eng verbunden›. Die Literaturliste zum Thema ist
umfangreich: Verhaltenspsychologie, Entwicklungs- und Evolutionspsychologie nehmen sich der Solidarität an, ebenso politische und sämtliche Zweige der Sozialwissenschaften.
Vom juristischen Begriff zum politischen Schlagwort
Ursprünglich als juristischer Begriff verwendet, übrigens schon bei den Römern, im
Sinn von ‹wechselseitig für das Ganze haftend›, wurde ‹Solidarität› zu Beginn des
19. Jahrhunderts zum politischen Schlagwort. In den nun aufblühenden frühindustriellen Betrieben gab es bestimmt schon damals gute Arbeitgeber, die ihren Leuten
sogar Wohnungen und Schulen bauten, sie ärztlich versorgen liessen und auch Freizeit zugestanden. Doch oft waren die Arbeitsbedingungen unmenschlich lange, ohne
ausreichend Zeit zur Erholung, die Entlohnung schlecht und die Wohnsituation mehr
als prekär. Bittere Armut, Tuberkulose, Alkoholismus. Als sich die Arbeiter immer
heftiger für humanere Produktionsbedingungen einsetzten und damit begannen, Gewerkschaften aufzubauen, wurde der Ruf «Internationale Solidarität!» zum Kampfmittel.
Im vergangenen Jahrhundert ist der Generalstreik von 1918 in der Schweiz zu erwähnen, der entgegen der Ansicht des damaligen Establishment kein bolschewistischer Revolutionsversuch war, «sondern eine soziale Bewegung, die politische Veränderungen forderte und gegen grosse Not protestierte» (Quelle Prof. H. U. Jost,
Lausanne). International ist der von der ganzen Bevölkerung getragene Streik in Polen von 1980 in Erinnerung, mit der Gründung von Solidarność, der Gewerkschaft
der Werftarbeiter von Danzig. Damit begann das Ende der kommunistischen
Zwangsherrschaft.
Strukturen und Gesinnung als Basis von Solidarität
Die oben erwähnten sind ‹grosse› Ereignisse, die entsprechende Umwälzungen zur
Folge haben, auch wenn sie dafür manchmal viel Zeit brauchen. Viel weniger auffällig ist zum Beispiel eine Form von Solidarität, die einfach durch vorgegebene Strukturen entsteht: Wir Schweizer, Wir Frauen, Wir Linkshänder. Man kann sich durch eine
gleichartige Gesinnung solidarisch fühlen, z. B. in einer Partei-, Religions-, Vereinszugehörigkeit, oder zu einer eher ‹ideellen› Solidarität stehen, indem man z. B. ein
Abzeichen kauft, nur gewisse Institutionen bevorzugt, oder grundsätzlich aus Gründen der Solidarität etwas ablehnt oder eben nicht. Solidarität aus gleichen Interessen
in einer bestimmten Situation kann zeitlich begrenzt sein, z. B. Initiativen, Wahlkampf, oder aber anhalten, weil diese Interessen zu vertreten und die Situation zu
verändern langwierig und schwierig ist, z. B. Frauenbewegung, Integration, und ja,
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Behinderung und Politik 4/08
Agile. Gegenseitige Hilfsbereitschaft könnte man auch als ‹handelnde Solidarität›
bezeichnen.
Solidarität als Kitt in Gemeinschaften
Solidarisch ist man aus einem inneren Bedürfnis heraus. Wir Menschen sind so gemacht, dazugehören zu wollen, und wir sind auch so gemacht, zueinander zu
schauen, miteinander verbunden sein zu wollen. Die einen mehr, die anderen weniger. Tatsächlich zeigt sich Solidarität in vielerlei Formen und funktioniert als eine Art
Kitt, der eine Gemeinschaft auf sehr unterschiedliche Weise zusammenhält. Diese
Gemeinschaft kann eine Familie sein, ein Arbeitsteam, doch ebenso gut auch eine
Firma, eine Organisation, eine Nation oder auch ein Verbund von Staaten. Damit
eine Gemeinschaft bestehen bleiben kann, ist irgendeine Form von Solidarität in fast
allen Lebensbereichen erforderlich, nur erscheint sie uns so selbstverständlich, dass
wir sie möglicherweise gar nicht als solche wahrnehmen.
Verordnete Solidarität aus Prinzip
Um ihr Überleben zu sichern, erlassen Gemeinschaften Gesetze, welche gegenseitige Übereinkünfte verbindlich regeln und Überschreitungen ahnden, also unsolidarisches Handeln zum Schaden der Gemeinschaft oder Einzelnen gegenüber bestrafen. Auch bei rechtlichen Formen von Versicherungen auf Gegenseitigkeit wie Altersvorsorge, Krankenkasse, Unfallversicherung u.ä. wird das Solidaritätsprinzip institutionalisiert, obwohl Solidarität eigentlich nicht gefordert werden kann, sondern
implizit auf Freiwilligkeit beruht. Die Einzelnen verzichten hier jedoch in ihrem eigenen Interesse auf die Freiheit, sich solidarisch zu erklären oder auch nicht, obwohl
sie wenige Möglichkeiten haben, die Solidarität der anderen Beteiligten zu überwachen oder zu beeinflussen.
Solidarität zwischen Sinngebung und kollektivem Nutzen
Bei manchen Formen von Solidarität lässt sich der persönliche Nutzen unmittelbar
erfahren – man gehört dazu, man hat einen Ort, es gibt einen Sinn, man ist beteiligt.
Sie sind uns oft so geläufig, dass wir sie kaum mit dem Etikett ‹Solidarität› versehen
würden. Schwieriger wird es, wenn Solidarität mehr verlangt als eine einmalige
Handlung oder eine lebensanschaulich motivierte Haltung. Vor allem bei der institutionalisierten Solidarität geht vor lauter Eigennutz gerne vergessen, dass man nicht
nur als Einzelne davon profitiert, sondern dass das Funktionieren und Gedeihen der
Gemeinschaft davon abhängt.
Nicht alle Menschen sind gleichermassen befähigt, solidarisch zu handeln oder zu
empfinden. Es gibt zudem überall und immer Schlaumeier und Schlimmere, welche
die solidarischen Strukturen einer Gemeinschaft ohne Hemmungen zu ihrem eigenen
Vorteil nutzen, dabei aber ihr ‹Recht auf Solidarität› einfordern, sobald etwas schief
läuft. Jegliche Gemeinschaft hatte, hat und wird ihre eigenen Codes haben, was die
in ihnen gelebte Solidarität betrifft. Lebendige Gemeinschaften verändern sich und
mit ihnen diese Codes, ob, wann und wie und in welche Richtung, lässt sich allerdings meist nicht vorhersagen. Bemerkenswerterweise kennen wir zwar einen ‹Loyalitätskonflikt›, aber nichts Vergleichbares im Zusammenhang mit Solidarität. Solida-
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Behinderung und Politik 4/08
rität – ein schillernder Begriff. Will eine Gemeinschaft zum Nutzen aller weiter bestehen, soll und muss sie ihn immer wieder hinterfragen.
Solidarität zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen
Klara Reber, Co-Präsidentin des Schweizerischen Seniorenrates und Mitglied des
Gleichstellungsrates Égalité Handicap
Solidarität hat unterschiedliche Gesichter. Man spricht von Solidarität zwischen Alten
und Jungen, zwischen Kranken und Gesunden, zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten oder auch zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen.
Solidarität versteht sich vor allem als Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens. Es ist ein Gefühl von Individuen und Gruppen, zusammen zu gehören. Dies
äussert sich in gegenseitiger Hilfe und dem Eintreten für einander. Solidarität kann
sich von einer kleinen familiären Gruppe bis zum Staat und der Staatsgemeinschaft
erstrecken. Die gegenwärtige Finanzkrise und die Hilfsprogramme lassen etwas davon erahnen. Es wird auch unterschieden zwischen Solidarität des Handelns (gegenseitige Hilfsbereitschaft) und Interessens-Solidarität (gleiche Interessen in einer
bestimmten Situation).
Europa und die Schweiz
Es ist wichtig, die Integration der älteren und behinderten Menschen voranzutreiben
und die Solidarität zwischen den Generationen sowie diejenige zwischen Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkung zu stärken. Auf europäischer Ebene
etwa kann das Europäische Parlament Massnahmen festlegen, um die auf Behinderung oder Alter beruhenden unterschiedlichen Behandlungen abzuschaffen. In der
Schweiz leistet das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) bereits einen entscheidenden Beitrag in diese Richtung. Am Augenfälligsten ist die Solidarität in der
Schweiz zwischen den Behinderten und älteren Menschen mit Einschränkungen im
öffentlichen Verkehr und im Baubereich.
Öffentlicher Verkehr (Bahn, Bus, Tram, Flugzeug)
Es gibt Vorkehrungen, die nicht nur Menschen mit Mobilitätseinschränkungen im engeren Sinn zugute kommen, sondern auch vielen anderen Passagieren, wie z.B.
Personen mit Kinderwagen, Fahrgästen mit schwerem Gepäck und älteren Menschen. Die letzteren rücken zunehmend in den Fokus, da bei ihnen mit zunehmendem Alter verschiedene Einschränkungen auftreten können. Ich denke hier an Sehbehinderungen bis zur Altersblindheit, Hörbehinderung oder Mobilitätsbehinderung
durch ein Hüft- oder Knieleiden.
Die Behindertenfachstelle für öffentlichen Verkehr BöV hat in den letzten 20 Jahren
ihres Bestehens vorzügliche Arbeit geleistet und ein unterstützendes Netzwerk auf6
Behinderung und Politik 4/08
gebaut. Es besteht eine intensive Zusammenarbeit zwischen der SBB und der Fachstelle, die sich auch auf die Beschaffung des Rollmaterials auswirkt. Als Beispiel wird
in der Spezialausgabe der BöV-Nachrichten (20 Jahre BöV) das Regionalfahrzeug
«Flirt» von Stadler erwähnt, bei dem das Konzept, vom Pflichtenheft bis zum laufenden Betrieb, intensiv von der Fachstelle begleitet und gestaltet wurde. Der internationale kommerzielle Erfolg dieses Fahrzeugs hat etwas damit zu tun, dass dieses auch
bezüglich Behindertengerechtigkeit besser ist als vergleichbare Konkurrenzprodukte.
Das vorbildliche Behindertenkonzept der SBB hat sich bewährt und ist erfolgreich,
nicht zuletzt, weil es nicht nur für Behinderte, sondern auch mit ihnen zusammen
erarbeitet worden ist.
Zu den positiven Entwicklungen im öffentlichen Verkehr beigetragen hat insbesondere auch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das 2009 sein 5-JahresJubiläum feiert.
Das Angebot an rollstuhlgängigen Fahrzeugen im öffentlichen Verkehr nimmt sowohl
auf der Strasse wie auf der Schiene jedes Jahr zu. Seit 2008 sind die Angaben erstmals auch im offiziellen Kursbuch zu finden, und zwar als Texthinweis am Schluss
des jeweiligen Fahrplanfeldes.
Als Beispiel für diese Entwicklung dienen etwa folgende Zahlen zu Niederflurangeboten im regionalen Schienenverkehr: Waren im Jahr 2007 39 Prozent aller Fahrzeuge für Rollstuhlfahrer zugänglich, so sind es 2009 bereits 45 Prozent. Bei den
Niederflurangeboten aller Bus- und Tramlinien gibt es eine Zunahme von 44 Prozent
(2007) auf 56 Prozent (2009).
Hindernisfreies Bauen
Schon heute wünschen viele ältere und behinderte Menschen, wenn möglich, bis
zum Lebensende in den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben. Dieser Trend wird
mit Blick auf die demografische Entwicklung noch weiter zunehmen. Wohnungsvermieter werden vermehrt mit den Bedürfnissen älterer und behinderter Mieterinnen
und Mieter konfrontiert. Die geplanten Leistungen der Invalidenversicherung für eine
Assistenz bei Behinderten werden diesbezüglich ebenfalls zu einer erhöhten Nachfrage führen. Es ist deshalb nicht mehr vertretbar, die Bedürfnisse älterer oder behinderter Menschen zu vernachlässigen. Zudem erhöht das alters- und behindertengerechte Bauen den Komfort und die Unfallsicherheit aller Generationen. Sei es bei
einem Neubau oder bei einer Renovation, stets sollten auf diese Punkte geachtet
werden.
Wichtige Informationen und Unterstützung dazu liefert die Schweizerische Fachstelle
für alters- und behindertengerechtes Bauen.
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Behinderung und Politik 4/08
Solidarität unter Menschen mit Handicap - oder: Sind wir bessere
Menschen? Launische Betrachtungen einer Selbstbetroffenen
C. Spring, Geschäftsführerin und Beraterin bei Procap
Um es gleich vorweg zu nehmen, das Thema ist zu komplex, um ihm in diesen wenigen Zeilen auch nur annähernd gerecht zu werden. Und: nein, Menschen mit Behinderung sind auch nur Menschen! Drittens: als Selbstbetroffene bin ich nicht per definitionem kompetenter, um zu diesem Thema Auskunft geben zu können. Dazu
braucht es nicht nur «Betroffenen-Kenntnisse» durch eigene «Betroffenen-Erlebnisse» sondern auch Fachkenntnisse. Aber ich behaupte, dass ich dazu eine Meinung
habe, allerdings muss sie nicht selig machen. Ich bin auch nicht aufgrund eines
Merkmales (hier mein sichtbares Handicap) in einer «automatischen Solidarität» auf
ewig, unkritisch und bedingungslos mit Mitbetroffenen verbunden. Mögliche Gründe
folgen weiter unten. Viertens: das Thema birgt viele Fallen, die Fettnäpfchen sind
zuverlässig verteilt, die «alten» Geschichten eben. Ich laufe deshalb Gefahr, durch
diesen Artikel in der Luft zerrissen zu werden.
Provokative Kollateral-Solidaritätsfragen
Heisst kritisch sein, unsolidarisch sein? Oder ist es gar so, dass eine Selbstbetroffene vermeintlich eher sagen kann, was selbst eine kompetente nicht-betroffene Person nicht einmal denken darf? Hat man mich deshalb für diesen Artikel angefragt?
Macht sich AGILE damit solidarischer und kompetenter? Vielleicht habe ich aber
kaum eine Ahnung, was Betroffene wirklich beschäftigt, da ich «zu wenig behindert»
bin! Wie viel Behinderung darf es denn sein? Wo fängt die Betroffenheit überhaupt
an, und wo hört sie auf? Dies nur so nebenbei, sozusagen als provokative KollateralSolidaritätsfragen mit dem augenzwinkernden Verweis auf einige versteckt-beliebte
Fettnäpfchen.
Komplizierte Solidarität unter Betroffenen
Tatsache ist, dass Solidarität heute nicht mehr zieht. Das spüren alle «Bewegungen», also auch die Behindertenbewegung, sofern man noch von einer solchen
sprechen kann. Alle Solidaritätsbewegungen kranken daran, dass «ihre» Solidarität
und «ihre» Gegner an Eindeutigkeit verloren haben. Nicht dass es «uns» an Forderungen mangelt! Nur ist alles viel komplizierter geworden. So gibt es «die behinderte
Person an sich» gar nicht. Es hat sie zwar nie gegeben, aber behinderte Menschen
sind eben auch Menschen und in der heutigen Zeit ebenso IndividualistInnen wie alle
anderen. Differenzierte und flexible Lösungen sind gefragt. Sich solidarisch mit
gleichartig Betroffenen einzusetzen, braucht deshalb einen langen Atem, viel Fachkenntnis, ist kompliziert und schreckt viele, auch Selbstbetroffene, von einem Engagement ab.
Elegante Ent-Solidarisierung unter Betroffenen
Krass vereinfachte Lösungen für simplifizierte Probleme propagiert nur noch meine
Lieblings-Missbrauchs-Partei und sie hat deshalb nicht zuletzt auch unter Menschen
mit Handicap viele SympathisantInnen. Damit ent-solidarisieren sich die Betroffenen
elegant von den so genannten Scheininvaliden. Sie selber sind die ehrlichen Invali8
Behinderung und Politik 4/08
den, die ihr Leben lang gekrampft und ihre Rente zu Recht erhalten haben. Das ist
populistische Psychologie und sie wirkt wie ein Spaltpilz unter den Betroffenen.
Damit ist aber noch längst nicht alles gesagt! Solidarisieren wir uns als Selbstbetroffene mit anderen Betroffenen aufgrund des Merkmales «Behinderung», so identifizieren wir uns mit Mitbetroffenen und erhalten wir eine gemeinsame «Behinderten-Identität». Wir werden uns bewusst, was uns von «den anderen» unterscheidet. Wir
schöpfen daraus Sinn, Kraft, die gemeinsamen Interessen und eventuell sogar die
Ziele, welche wir vertreten oder für die wir uns einsetzen wollen. Für letzteres muss
aber schon eine höhere Solidaritäts-Stufe gezündet werden.
Aber Achtung: «Ich möchte nicht am selben Anlass wie DIESE Behinderten teilnehmen!» Das höre ich ab und zu von einigen unserer selbst betroffenen Procap-Mitglieder. Diese etwas verächtliche und unverhohlene Abgrenzung ist die wenig subtile
Ausprägung von vielen weiteren Ent-Solidarisierungsmechanismen, die es überall in
unserer Gesellschaft gibt. Was könnte hier passiert sein? Dazu kurz einige Vorschläge.
Treten-gegen-unten und rudern-gegen-oben
Wir Menschen orientieren uns nach «oben», nach denen, die es besser haben und
denen es besser geht. Wir wollen nicht diejenigen sein, die weit unten in der gesellschaftlichen Rangfolge rangieren. Instinktiv und meist unreflektiert «wissen» wir, welche vorurteils-beladenen Betroffenen-Gruppen mehr als andere von der Gesellschaft
diskriminiert und gemieden werden. Da Menschen mit einem Handicap eben auch
Menschen sind, übernehmen viele unkritisch diese Haltung und grenzen sich von
DIESEN Behinderten ab. Indem sie nach unten treten, erhöhen sie sich selbst und
können sich besser fühlen. Das ist keine gute Voraussetzung für gelebte Solidarität
unter Menschen mit Handicap.
Wir alle sind viel mehr
Viele Menschen möchten nicht wissen, was sie von anderen Menschen unterscheidet, sie möchten auch nicht dauernd darauf hingewiesen werden. Insbesondere dann
nicht, wenn es um eine gesellschaftlich negativ besetzte Eigenschaft geht. Sie
möchten einfach «normal» sein. Sie orientieren sich an der Norm, am Unauffälligen
und möchten sich nicht über das auffällige Merkmal «Behinderung» solidarisieren.
Und nicht zuletzt lassen sich viele Selbstbetroffene nicht mehr auf ihre Behinderung
reduzieren. Solidarität durch Identifikation mit anderen Gleichbetroffenen ist für viele
ein zu enges Korsett, denn sie, respektive wir alle sind viel mehr!
Letzteres lässt Hoffnung aufkommen. Doch wir sind noch weit entfernt von der gesellschaftlichen Gleichstellung behinderter Menschen.
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Behinderung und Politik 4/08
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau
Von Ursula Schaffner
Die aktuelle Finanzkrise macht vor den Sozialversicherungen nicht halt. Besonders
deutlich ist sie beim AHV-Fonds und bei den Pensionskassen zu spüren. Angesichts
der gigantischen Summe von 68 Milliarden Franken, die der Schweizer Staat der
UBS zur Verfügung gestellt hat, fragt sich die gewöhnliche Staatsbürgerin, wie es
denn um den Rettungswillen der Nation in Sachen IV steht. Wie viel wert sind die
BezügerInnen von IV-Leistungen dem Stimmvolk? Wir hoffen, dass sich das Stimmvolk im Mai 2009, bei der Abstimmung über die Mehrwertsteuererhöhung, an diese
Grössenverhältnisse erinnert. Wir hoffen, dass es sich dann vor Augen hält, um wen
es bei dieser Abstimmung geht: um Menschen nämlich, die sich meistens keine
schönen Häuser oder grossartige Ferienreisen leisten können. Um Menschen, die
sich knapp ihre Existenz sichern können.
Invalidenversicherung
Noch wissen wir nicht, ob dank der 5. IVG-Revison tatsächlich mehr Menschen mit
gesundheitlichen Schwierigkeiten ihren Arbeitsplatz behalten oder sogar einen neuen
finden konnten. Dennoch hat der Bundesrat bereits die 6. IVG-Revision angekündigt.
Dank ihr sollen mehr Menschen aus der Rente zurück ins Berufsleben integriert werden. Für dieses Ziel will der Bundesrat vermehrt Begleitung, Coaching und Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen rechnet
mit einem hohen Sparpotential bei den bisherigen RentnerInnen. Allerdings fragt
sich, ob das ehrgeizige Ziel auf die Schnelle erreicht werden kann, und wo die notwendigen Arbeitsplätze zu finden sind. Wäre es nicht gescheiter, zuerst die Instrumente der 5. IVG-Revision vollumfänglich anlaufen zu lassen, sie zu testen, sie auszuwerten und danach erste Schlüsse zu ziehen? Stattdessen scheint der Bundesrat
auf einen hektischen Aktivismus zu bauen. Mit seinem Vorgehen nimmt er in Kauf,
dass noch mehr Menschen verunsichert werden, dass sich noch mehr Menschen
fragen, wozu es die Invalidenversicherung in dieser Form überhaupt noch braucht.
Vertrauen in eine angeschlagene Institution bildet sich langfristig durch seriöses,
überlegtes Arbeiten und Voranschreiten und nicht durch überstürztes Voranhasten
und Schnellschüsse.
In verschiedenen Kantonen führt die strengere Praxis der IV-Stellen zu vermehrten
Beschwerden von Antragstellenden. Die Sozialversicherungsgerichte heissen die
Beschwerden in annähernd der Hälfte der Fälle gut. Wir wissen allerdings nicht, was
mit den gutgeheissenen Beschwerden oder den abgewiesenen Personen geschieht.
Wir wissen aber, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen eine 100 PunkteListe herausgegeben hat. Damit sollen Versicherungs-BetrügerInnen besser erfasst
werden. Ganz besonders nimmt das Amt dabei MigrantInnen unter die Lupe. Ihnen
erteilt man so quasi präventiv einen Malus und stellt sie somit unter den Generalverdacht des Betrugs.
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Behinderung und Politik 4/08
AHV
Die Abstimmung zur Flexibilisierung des Rentenalters von Ende November war in
den vergangenen drei Monaten eines der zentralen Themen in Zusammenhang mit
der AHV. Die Initiative des Gewerkschaftsbundes wird von den bürgerlichen Parteien, den Arbeitgeber-Verbänden und vom Bundesrat abgelehnt. Alle begründen ihre
Haltung mit zu hohen Folgekosten. Die Linken, die Grünen und die gewerkschaftliche
Seite stimmen dem Anliegen zu mit dem Argument, eine frühzeitige Pensionierung
müsse auch für Menschen mit niedrigen Einkommen möglich sein. Ob dafür die
Grenze von 120'000.- Franken die richtige ist?
Eine kürzlich durchgeführte Befragung des Personaldienstleisters «Kelly Services»
hat ergeben, dass zwei Drittel der Arbeitnehmenden nach der Pensionierung gerne
teilzeitlich weiter arbeiten würden.
Je nach dem wie die Abstimmung von Ende November ausgeht, ist das Parlament
gefordert, mit der 11. AHV-Revision endlich vorwärts zu machen und die verschiedenen Bedürfnisse – freie Wahl einer Frühpensionierung oder Arbeitseinsatz über das
Pensionsalter hinaus – unter einen Hut zu bringen. Zurzeit steht einzig die Erhöhung
des Frauenrentenalters auf 65 Jahre zur Debatte (vgl. auch sozialpolitische Rundschau in agile 3/2008). Der Bundesrat informiert sich aktuell im Ausland über die
dortigen Reformen der Altervorsorge. Davon erhofft er sich neue Impulse. Der entsprechende Bericht kann auf
http://www.bsv.admin.ch/praxis/forschung/publikationen/index.html?lang=de
eingesehen werden.
Im letzten Jahr hat die AHV-Jahresrechnung mit einem Gewinn von 1,5 Milliarden
Franken abgeschlossen. Das waren 1,2 Milliarden weniger als im 2006. Das Ergebnis 2008 wird voraussichtlich nochmals um einiges tiefer ausfallen. Bereits per Ende
September sind 9,2 Prozent weniger Einnahmen eingetroffen als im Jahr zuvor. Auf
den Reserven des AHV-Fonds war ein Verlust von 2,5 Milliarden Franken zu verzeichnen. Dies alles im Zusammenhang mit und als Folge von der Finanzkrise.
BVG
Die Finanzkrise hat starke Auswirkungen auf die Geschäfte der Pensionskassen.
Noch streiten die Verantwortlichen des Pensionskassenverbandes dies gerne ab. Die
Zahlen sprechen jedoch für sich: Seit Einführung des Pensionskassen-Obligatoriums
(1985) sind die Renditen auf den Anlagevermögen noch nie so tief gewesen. Die
Verluste betrugen im September für das laufende Jahr rund 60 Milliarden Franken.
Der aktuelle Börsenzusammenbruch wird deshalb längerfristig zu deutlich tieferen
Renten aus der zweiten Säule führen. Der Bundesrat hat inzwischen beschlossen,
den Mindestzinssatz im BVG von heute 2,75 auf 2 Prozent zu senken. Diesmal
konnte die Landesregierung die Senkung ohne grosse Differenzen zwischen den
verschiedenen Interessensvertretern durchwinken.
Möglicherweise müssen aber bald etliche Pensionskassen saniert werden. Bis Ende
September meldeten schon ein Drittel aller Pensionskassen eine Unterdeckung. Das
heisst, die Auszahlung der laufenden Renten ist zunehmend gefährdet.
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Behinderung und Politik 4/08
Die Pensionskassen werden ab nächstem Jahr neue Anlagenvorschriften beachten
müssen. Sie dürfen höchstens 30 Prozent ihrer Gelder in Immobilien investieren. Bis
jetzt waren es 50 Prozent. Das heisst; die eine und andere Kasse wird Immobilien
abstossen müssen. Ob dies angesichts der Krise mit Wertpapieren eine sinnvolle
Regelung ist, bleibe dahingestellt. Der Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen, Yves Rossier, meinte dazu, die BVG-Regeln hätten zum Ziel, die Risiken zu
minimieren und nicht die Profite zu maximieren.
KVG
Immer mehr Menschen können ihre Krankenversicherung nicht mehr bezahlen. Es
sind inzwischen 120’000 bis 150'000. Wenn diese zum Arzt oder ins Spital gehen,
werden ihre Leistungen von den Krankenkassen nicht mehr übernommen. Die offenen Rechnungen belaufen sich inzwischen auf rund 80 Millionen Franken. Die Kantone haben sich inzwischen bereit erklärt, 85 Prozent der ungedeckten Rechnungen
zu begleichen. Die Krankenkassen behalten dagegen die Verlustscheine und sind
weiterhin für das Inkasso der ausstehenden Prämien verantwortlich.
Heute übergeben Spitäler zu viele heikle, persönliche Angaben an Versicherungen.
Es heisst, die Krankenkassen verlangten dies von den Spitälern. Das ist ein happiger
Vorwurf. Die Krankenversicherungen wehren sich dagegen und lassen verlauten,
dass sie nur jene Daten verlangen, die sie zur Kontrolle der Rechnungen benötigen.
Jetzt muss der eidgenössische Datenschutzbeauftragte aktiv werden und dementsprechend Empfehlungen abgeben. Austritts- und Operationsberichte dürfen nicht
systematisch und flächendeckend an Krankenkassen herausgegeben werden, sondern nur in einzelnen Fällen mit begründetem Verdacht auf unnötige Massnahmen.
Das ist aber mit einem grossen personellen Aufwand verbunden und kostet entsprechend viel.
Das Bundesamt für Gesundheit hat von mehreren Krankenkassen verlangt, die Verwaltungskosten nach unten zu korrigieren. Von verschiedenen Seiten wird zudem
verlangt, dass die Krankenkassen die Höhe der Löhne ihrer Kaderangestellten transparent machen. Bis jetzt wehren sich die Kaderangestellten mit Erfolg gegen eine
solche Offenlegung ihrer Löhne. Erfolgsgekrönt war auch ihr Kampf gegen den Ausschluss ihrer Interessenvertreter aus dem Parlament
Der Grossteil der Schweizer Bevölkerung fühlte sich im 2007 überwiegend gesund
(87 Prozent). Dies zeigen die Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2007. Insgesamt 37 Prozent der Befragten sind übergewichtig. 39 Prozent der
Frauen sind tendenziell zu leicht oder gar untergewichtig.
Vermischtes
Revision des UVG (Unfallversicherungsgesetz)
Die Sozialpolitische Kommission des Nationalrates verzichtet auf eine Privatisierung
der SUVA. Auch will sie den Mindestinvaliditätsgrad für eine IV-Rente nicht von 10
auf 20 Prozent. erhöhen. Das Parlament debattiert im Frühling 2009 über die UVGRevision.
Weitere Öffnung der Einkommensschere
Gemäss einer OECD-Studie haben sich die Einkommensunterschiede in den letzten
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Behinderung und Politik 4/08
zwanzig Jahren in allen Industrieländern vergrössert. In Ländern mit grossen Einkommensungleichheiten ist die Armut besonders gravierend und weit verbreitet. In
der Schweiz ist die Einkommensverteilung relativ gleichmässig. Der Anteil der Working Poor – d.h. der Menschen, die arbeiten und trotzdem nicht genügend zum Leben haben – ist im Vergleich zu allen OECD-Ländern am höchsten.
Mobile Arbeitskräfte
Noch nie waren Arbeitskräfte so mobil wie heute. Während ein Teil der Länder nach
wie vor ein grosses Bevölkerungswachstum aufweist und seinen EinwohnerInnen
nicht genügend Arbeitplätze bieten kann, haben andere Länder wegen sinkender
Geburtsraten einen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften. Im Gegensatz zu früher
verläuft die Arbeitsmigration heute vermehrt in verschiedene Richtungen. Das heisst,
nicht mehr nur von Süden nach Norden, sondern beispielsweise auch umgekehrt.
Zudem kehren immer mehr ArbeitsmigrantInnen wieder in ihre Herkunftsländer zurück.
Berücksichtigte Quellen (vom 20. August bis 3. November 2008): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le Temps, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen und Statistik.
Umsetzung 5. IVG-Revision
Von Ursula Schaffner
Seit dem 1. Januar 2008 ist die 5. IVG-Revision in Kraft. Dank ihr sollen mehr Menschen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten in der Arbeitswelt bleiben können, so
lautet das grosse Versprechen dieser Revision. Schweizweit ist denn auch in fast
allen Blättern zu lesen, wie erfolgreich man «auf Kurs» sei, dass «Chefs helfen, IVFälle früher zu erfassen», dass die «Antragstellenden in der Entscheidfindung zu
Partnern werden».
Medienpräsenz wie nie zuvor
Die IV-Stellen haben gemerkt, dass sie nach ihren grossen Versprechen in der Öffentlichkeit nun vermehrt zeigen und erklären müssen, was sie tun. In fast allen Tageszeitungen der Schweiz wird regelmässig über ihre Arbeit berichtet. Die IV-Stellen
unterstreichen dabei häufig die Bedeutung der Früherfassung. Das heisst, dass die
IV-Stellen selbst früher als bisher auf Menschen mit gesundheitlichen Problemen zugehen und diese, wenn möglich, «vor der Rentenfalle bewahren». Anhand von geschilderten Beispielen erfolgreicher beruflicher Wiedereingliederung wird ihre Tätigkeit konkret und nachvollziehbar.
Auch das BSV ist in den Medien auffallend präsent. Noch so gerne, betont es, dass
bis Mitte des Jahres bei den IV-Stellen schon 4700 Meldungen zur Früherfassung
eingegangen sind. Und zwar mehrheitlich von Arbeitgebern. Dagegen scheinen die
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Behinderung und Politik 4/08
Arbeitgeber, Instrumente wie Eingliederungszuschüsse oder Beiträge an die Sozialversicherung zu ihrer Entlastung bei der Anstellung von Menschen mit einem Handicap kaum in Anspruch zu nehmen. Das BSV meinte kürzlich an einer Tagung selbstkritisch, dass diese Instrumente in der Anwendung wahrscheinlich (noch) zu kompliziert seien.
Grosse Fragezeichen bei Behinderten
Den fast euphorisch anmutenden Erfolgsberichten von Seiten der IV-Stellen und des
BSV stehen die unbeantworteten Fragen der Behinderten und ihrer Organisationen
gegenüber. Denn bisher fehlen Angaben darüber, was mit den früh gemeldeten Personen effektiv geschieht. Auf Anfrage heisst es beim BSV dazu, dass diese Angaben
in so kurzer Zeit nicht verfügbar seien. Die einseitig wirkende Medienoffensive der
IV-Stellen und des BSV löst deshalb bei den Behinderten zwiespältige Reaktionen
aus: Finden tatsächlich mehr Menschen eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt oder haben die Eingliederungsspezialisten, wie sich die IV-Angestellten heute sehen, ihre
Lektion in verbesserter Öffentlichkeitsarbeit gelernt? Antworten auf beide Fragen gibt
es wohl erst in zwei bis drei Jahren.
Verschiedene Geschäfts- und Beratungsstellen der Behindertenhilfe stellen ihrerseits
eine Tendenz fest, dass Personen, die bereits vor dem 1. Januar 2008 bei einer IVStelle angemeldet waren, auf die weitere Bearbeitung ihres Dossiers warten müssen.
Dem Beschleunigungsgebot für Neu(an)meldungen steht offenbar ein Verlangsamungseffekt bei den Altmeldungen gegenüber. Eine weitere Beobachtung ist, dass
bei einzelnen IV-Stellen berufliche Massnahmen mit grösserer Zurückhaltung als in
früheren Jahren gesprochen werden, und zwar besonders bei schlecht qualifizierten
Personen. Damit kann zweifellos Geld gespart werden. Und zwar bei jenen Menschen, die eh schon wenig zum Leben haben. Auch dies sind konkrete Geschichten
und eines der Gesichter der Umsetzung der 5. IVG-Revision.
Ein Leben in Würde – für alle!
Simone Leuenberger
«Leben im Heim ist unzumutbar!» - «Im Heim gibt es nur Routine. Für jedes Kleinste,
das darüber hinausgeht, muss man kämpfen.» - «Pflege zuhause organisieren, entspricht einem viel besseren Preis-Leistungs-Verhältnis.» - «Ich will doch nicht bis 15
Uhr im Bett liegen bleiben und warten, bis die Spitex kommt».
Diese Aussagen stammen nicht etwa von politisch aktiven Menschen mit einer Behinderung, die ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern. Nein, sie stammen von
Leuten, die mit zunehmendem Alter auf Unterstützung angewiesen sind.
Die neuen Alten wollen nicht ins Heim
Man liest und hört es immer deutlicher: Die neuen Alten wollen nicht ins Heim. Sie
wollen ihre gewohnte Umgebung, ihr Einfamilienhaus nicht tauschen mit einem Zim14
Behinderung und Politik 4/08
mer in einem Heim, wo sie «durchaus zwei bis drei eigene kleine Möbel mitnehmen
können». Sie wollen daheim alt werden, auch wenn sie mehr und mehr auf fremde
Hilfe angewiesen sind. Diese Hilfe können die Angehörigen oft nicht leisten, sei es,
weil sie zu weit weg wohnen, sei es, weil sie selber Familie und Arbeit haben, sei es,
weil sie bereits ausgebrannt sind und keine Kraft mehr haben.
Aber die Wirtschaft schaut dem nicht untätig zu. Mehr und mehr Organisationen entstehen, die individuelle Pflege zuhause anbieten, zusätzlich zur Spitex. Nicht nur
Pflegeleistungen sind im Angebot, sondern der ganze Hilfsbedarf wird abgedeckt. So
ist es auch möglich, jemanden vermittelt zu bekommen, der zwei Stunden am Tag
mit auf einen Spaziergang kommt oder schaut, dass sich eine demenzkranke Person
nicht verirrt. Freizeitgestaltung gehört ebenso zum Angebotenen wie Wäsche, Putzen, Einkaufen, Kochen. Individuell und flexibel muss die Hilfe sein.
Die Illegalen kommen
Natürlich hat alles seinen Preis. Aber die Senioren können rechnen. Denn auch ein
Heimplatz kostet. Bloss: Nicht alle können sich ein Leben zuhause mit der Hilfe von
Pflegediensten leisten. Gerade wer eine 24-Stunden-Betreuung braucht, muss sich
andere Lösungen suchen. Und wählt oft den Gang in die Illegalität. 30'000 bis 40'000
illegale Pflegekräfte arbeiten in Schweizer Privathaushalten, so die Schätzung eines
Experten für Schattenwirtschaft. Nicht nur die Schweiz lässt sich von Illegalen pflegen. In Österreich titelte das Behindertenberatungszentrum und Zentrum für Selbstbestimmtes Leben BIZEPS bereits 2001 «6000 Pflegekräfte illegal in Österreich». In
Deutschland dürften es bis zu 100'000 sein. Sie wohnen in Privathaushalten, sind
rund um die Uhr da und bekommen nebst Kost und Logis 600 bis 1000 Euro pro Monat. In der Schweiz sind die «Löhne» ähnlich. Sozialversicherungen gibt es nicht,
denn es darf ja niemand wissen, dass da jemand arbeitet. Wer erwischt wird, wird
ausgeschafft und der Arbeitgeber gebüsst.
Was geht uns das an?
Was sollen wir davon halten? Es ist beruhigend zu merken, dass auch ältere Menschen ihre Selbstbestimmung mit der vermehrten Pflegebedürftigkeit nicht abgeben
wollen, genau so wie wir Menschen mit einer Behinderung. Es ist aber beunruhigend,
dass in der immer noch reichen Schweiz das Geld für menschenwürdige Pflege fehlt.
Entweder lebt, wer Pflege braucht, unwürdig in einem Heim, oder man stellt Leute zu
unwürdigen Bedingungen an, um ein würdiges Leben trotz Pflegebedarf zu führen.
Dies ist ein Grund mehr, für eine anständige Assistenzentschädigung zu kämpfen,
eine Assistenzentschädigung, mit welcher Menschen mit einem Bedarf an persönlicher Hilfe ein würdiges Leben führen und ihren Angestellten würdige Löhne bezahlen
können, damit auch diese in Würde leben können. Schön, dass immer mehr Leute
genau das wollen!
(Quellen: Tagespresse letzte Wochen)
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Behinderung und Politik 4/08
Gleichstellung
Engagierter Einsatz für die Umsetzung des Gleichstellungsrechts
Eva Aeschimann, Sekretärin Gleichstellungsrat Égalité Handicap
«Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser», so das geflügelte Wort des deutschen
Schriftstellers Theodor Fontane. Für die zehn Mitglieder des Gleichstellungsrats von
Égalité Handicap müsste dieser Aphorismus umgeschrieben werden:«Courage ist
gut, Ausdauer ist gut, beides kombiniert ist besser».
Zehnmal behinderungsübergreifend denken und handeln
Dreimal jährlich treffen sich die Mitglieder des Gleichstellungsrats (GR) zu einer Sitzung. Unter anderem dienen diese Treffen dazu, sich gegenseitig auf den neusten
Stand zu bringen, wer sich wo und wie für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung stark macht.
Die zehn Mitglieder des Gleichstellungsrats vertreten dabei in erster Linie die Interessen und Erfahrungen je einer Behinderungsgruppe. Derzeit sind dies Körperbehinderte, speziell Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, dann Sehbehinderte, Geistigbehinderte, Menschen mit Schwerhörigkeit, Gehörlose, ältere Menschen mit Behinderung und psychisch Behinderte (speziell Menschen mit Depressionen oder Psychose-Erfahrung und Psychiatrie-Erfahrung). In zweiter Linie vertreten
sie ihre Sprachregion, ihre Altersgruppe und – im Falle von weiblichen Mitgliedern –
die speziellen Anliegen von Frauen und Mädchen mit Behinderung.
Weiter zeichnen sich die Mitglieder des Gleichstellungsrats durch ihre Fähigkeit aus,
behinderungsübergreifend zu denken und in ihrem Engagement auch die Bedürfnisse anderer Behinderungsarten zu berücksichtigen. An der Sitzung Ende Oktober
wurde dies einmal mehr verdeutlicht.
Gleichstellung in der Praxis
Unter anderem informierten die einzelnen GR-Mitglieder über ihren aktuellen, persönlichen Einsatz für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Lorenzo
Giacolini, Vertreter für Körperbehinderte ohne Rollstuhl, erläuterte beispielsweise
seinen Einsatz für die Gründung einer Aussenstelle der Fachstelle Égalité Handicap
im Tessin. Eine Anlaufstelle, die mit ihren Dienstleistungen allen behinderten oder
chronisch kranken Menschen sowie Menschen mit altersbedingten Beeinträchtigungen zu Gute kommen würde, die Benachteiligungen oder sogar Diskriminierungen
ausgesetzt sind.
Klara Reber wiederum beschäftigt sich, als Vertreterin für ältere Menschen mit Behinderung, aktuell mit dem Thema Solidarität zwischen SeniorInnen mit Behinderung
und generell Menschen mit Behinderung. Und ganz handfest testet Helen Zimmermann als blinde Frau zurzeit Angebote, mit denen Unternehmen und Behörden in die
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung investieren. So die Bancomaten der
Credit Suisse, Steuererklärungs-Formulare im Kanton Zürich aber auch andere Angebote, die die Zugänglichkeit ermöglichen sollen. Eine erste Auswertung von Helen
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Behinderung und Politik 4/08
Zimmermann lässt aufhorchen, sie stellt zwar eine steigende Sensibilisierung bezüglich Zugänglichkeit fest, aber viele der angebotenen Lösungen seien nicht wirklich
durchdacht und praktikabel.
Aufmerksam bezüglich Gleichstellungsfragen ist auch Jörg Frey, dies etwa in Zusammenhang mit der Umsetzung der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) im Kanton Bern, wo Jörg Frey
arbeitet. Frey beobachtet zudem, dass mit der Umsetzung der 5. IVG-Revision für
Menschen mit Behinderung bei den IV-Stellen eine erheblich schärfere Gangart angeschlagen worden ist.
Dass die Umsetzung von Gleichstellung auch auf rechtlichen Grundlagen beruht,
machte Daniel Hadorn klar. Der Vertreter für die Gehörlosen informierte über verschiedene ablehnende Bundesgerichtsentscheide zur Finanzierung von Gebärdendolmetschern für Gehörlose im Beruf. (Lesen Sie dazu auch den entsprechenden
Artikel und Kommentar von Daniel Hadorn auf der Website von AGILE.)
Auch das Co-Präsidium des Gleichstellungsrats, Olga Manfredi und Cyril Mizrahi,
engagiert sich ausserhalb des Rates laufend in Sachen Gleichstellung. Olga Manfredi letzthin beispielsweise als Beraterin eines Internet-Bildungspool bezüglich Hindernisfreiheit, Cyril Mizrahi bei einer neuen Fussgängerbrücke im Genfer Ort Vernier,
die für mobilitätsbehinderte Menschen nicht zugänglich ist.
Courage und Ausdauer kombinieren
Die Mitglieder des Gleichstellungsrats belegen mit ihren Engagements die Notwendigkeit des Einsatzes für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Sie versuchen zusammen mit der Fachstelle Égalité Handicap, die Verankerung des Gleichstellungsgesetzes und die notwendigen Reformen
voranzutreiben. Nicht nur an ihren drei Sitzungstagen, sondern an 365 Tagen im
Jahr. Und manchmal, wie 2008, sogar an 366 Tagen. Mit Courage und Ausdauer.
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Behinderung und Politik 4/08
Arbeit
Back to work in Freiburg
Von Catherine Corbaz, Verantwortliche Back to work
Rund 35 Personen aus 25 KMU der Region nahmen am 10. September 2008 an einer Veranstaltung in den Räumlichkeiten der KGV in Granges-Paccots/Freiburg teil.
Thema der verschiedenen Referenten und eines Runden Tischs war die Anstellung
und Weiterbeschäftigung von Menschen mit Behinderung. Der Anlass wurde auf Initiative von AGILE durchgeführt mit Unterstützung der Handelskammer Freiburg.
Gérald Métroz, selbstständiger Unternehmer im Rollstuhl, sprach mit viel Humor über
die wichtigen Fragen der beruflichen Eingliederung der Menschen mit Behinderung.
Seine persönlichen Erfahrungen, die er mit dem Publikum teilte, liessen niemanden
unberührt.
Ein Vertreter der IV-Stelle des Kantons Freiburg und der Direktor von «IPT – Integration für alle Freiburg» erläuterten, welche Leistungen sie für die Unternehmen anbieten. Nach den Referaten wurden am Runden Tisch zwei praktische Fälle vorgestellt.
Beim ersten handelt es sich um einen unter Allergien und psychischen Problemen
leidenden Mann, der von einem Freiburger Unternehmen angestellt worden war. Das
zweite Beispiel war eine Person mit einer physischen Behinderung, die bei der öffentlichen Verwaltung ein Praktikum absolviert.
Trotz der sehr unterschiedlichen Biografien haben die beiden Beispiele gezeigt, wie
wichtig es ist, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, seien es physische oder psychische, eine Chance zu geben. Ihre Vorgesetzten stellten klar, dass
ihre Eingliederung nicht unbedingt eine spezifische Vorbereitung von Seiten der Kolleginnen und Kollegen voraussetzt. Natürlich ist jede Situation unterschiedlich, aber
Vorurteile nehmen eben genau durch die Begegnung im Alltag ab.
Die folgende Diskussion befasste sich mit verschiedenen Themen, beispielsweise
mit der Frage, ob die Behinderung im Lebenslauf erwähnt werden soll oder welche
Art von Coaching die IV-Stelle anbieten kann.
Der Apéro zum Abschluss der Veranstaltung gab Gelegenheit zum Austausch von
Erfahrungen und von Visitenkarten. Da und dort war den Gesprächen zu entnehmen,
dass der grösste Teil der Arbeitgeber noch wenig über die Leistungen der IPT oder
der IV-Stellen weiss.
Übersetzung: Susanne Alpiger
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Behinderung und Politik 4/08
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr
Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre
Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich
behindertengerechter öffentlicher Verkehr.
BöV-Nachrichten
Bildung
Kurswechsel bei AGILE
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz schlägt im Bereich Bildung eine neue Richtung ein. Einerseits ist AGILE derzeit daran, ein innovatives Weiterbildungs-Angebot
in einer neuen methodischen Form zu entwickeln. Andererseits bietet die Dachorganisation ihr Know-How den Mitgliedorganisationen neu auch direkt an.
Mit der langjährig erarbeiteten Kompetenz im Weiterbildungssektor unterstützt die
Bereichsleiterin Bildung interessierte Mitgliedorganisationen bei der Planung, Organisation und Durchführung von massgeschneiderten und individuellen Weiterbildungsangeboten. Damit will AGILE dem raschen thematischen Wandel auf der sozialpolitischen Agenda und im Weiterbildungssektor noch besser entsprechen.
Mit Blick auf diesen Kurswechsel schreibt AGILE derzeit keine langfristig geplanten,
eigenen Kurse aus. Dies ergibt die Möglichkeit, flexibel und bedarfsorientiert auf aktuelle Kursanfragen der Mitgliedorganisationen und anderer Interessierter einzugehen.
Haben Sie einen Weiterbildungsbedarf in Ihrer Organisation? Brauchen Sie dabei
fachlich-, sachlich-, sozial- und umsetzungs-kompetente Unterstützung? Dann wenden Sie sich an die Bereichsleiterin Bildung bei AGILE: Catherine Corbaz,
([email protected])
Über allfällige Kurs-Angebote halten wir Sie auf unserer Website, im Newsletter und
in unserer Zeitschrift auf dem Laufenden. Oder rufen Sie uns an, und melden Sie
Ihren Wunsch nach Unterstützung bei der Durchführung eines Kurses direkt an.
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Behinderung und Politik 4/08
Behindertenszene
Ein Vierteljahrhundert Selbsthilfe über Landesgrenzen hinweg
Martin Straub, Präsident Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft SNaG
Die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft wurde 1983 als Selbsthilfe-Organisation gegründet. Seit jeher ist es unser Ziel, Betroffene und deren Angehörige zu unterstützen und Ideen für Lösungen im alltäglichen Leben aufzuzeigen. Heute zählen
wir rund 160 Mitglieder und alle unsere Vorstandsmitglieder arbeiten ehrenamtlich.
Narkolepsie als Krankheit bekannt machen
Oftmals ist es für Aussenstehende schwierig, die Krankheit zu verstehen. Denn häufig ist die Erkrankung auf den ersten Blick nicht erkennbar. Deshalb ist es uns ein
Anliegen, die Narkolepsie auch in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und auf die
speziellen Probleme dieser Erkrankung hinzuweisen.
Die Narkolepsie Gesellschaft verfügt über regionale Gruppen, welche jährlich einige
Anlässe organisieren. Diese stehen jeweils allen Interessierten offen und bieten auch
eine gute Gelegenheit, dass sich Betroffene und Angehörige in ungezwungener Atmosphäre treffen und austauschen können. Weiter pflegt die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft Kontakte mit Narkolepsie Selbsthilfeorganisationen im Ausland.
Vor allem mit Deutschland und Österreich.
Meilenstein in der Vereinsgeschichte
Vom 16. – 18. Mai 2008 durfte die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft ihr 25Jahr-Jubiläum feiern. Ein Meilenstein in unserer Geschichte, auf den wir stolz sein
können. Ist es doch für eine kleine Selbsthilfeorganisation, wie wir es sind, nicht immer einfach, alle anstehenden Aufgaben zu meistern.
Der Anlass fand im Tagungszentrum Leuenberg statt, oberhalb von Hölstein (BL).
Rund 65 Personen trafen sich, davon gut ein Viertel Teilnehmer aus dem deutschsprachigen Ausland, um dieses Jubiläum mit uns zu feiern.
Den Auftakt bildete am Freitagnachmittag ein Begrüssungs-Apéro mit angeregten
Gesprächen. Nach dem Abendessen wurde in zwei Vorträgen über verschiedene
Aspekte der Narkolepsie berichtet.
Am Samstagmorgen wurden dann Workshops zu verschiedenen Themen durchgeführt. Zur Auswahl standen folgende Themen:

Sexualität und Narkolepsie, unter der Leitung von Dr. med. Evelina Jecker, Klinische Dozentin, Universitätsspital Zürich

Krisenbewältigung, unter der Leitung von Maria Slanzi, Sozialpädagogin, Zürich

Beruf und Narkolepsie, unter der Leitung von Hanspeter Locher, Mitglied der
SNaG

Hilfsstrategien, unter der Leitung von Madeleine Grieder, Mitglied der SNaG
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Behinderung und Politik 4/08
Nach einer ausgiebigen Mittagspause wurden die interessanten Resultate der einzelnen Workshops präsentiert.
Am Samstagabend fand die Jubiläumsveranstaltung statt, begleitet von einem exzellenten Abendessen und als Höhepunkt einem anschliessenden Unterhaltungsabend. Dieser dauerte bis um 4 Uhr in der Früh.
Viel zu schnell verging die Zeit und nach dem abschliessenden, ausgiebigen Frühstück am Sonntag traten die Besucher ihre Heimreise an. Alle um viele Erfahrungen
und Informationen reicher.
Medien
Herzsache
für Sie gelesen von Bettina Gruber
Eine Herzsache ist etwas, was uns nicht kalt lässt, was uns im Innersten berührt.
Das Marfan-Syndrom tut dies. Es konfrontiert die Betroffenen ein Leben lang mit den
Einschränkungen, die es ihnen auferlegt. Und es hat etwas Unheimliches, weil Marfan lebensbedrohende Situationen herbeiführen kann. Die Betroffenen können ihre
Krankheit darum schwer ignorieren. Und sie sind mit einer Umwelt konfrontiert, die
Fragen stellt, zu ihrem grossen Wuchs vielleicht Bemerkungen macht, aber letztlich
wenig weiss. Immer erklären müssen, obwohl man doch lieber nicht ständig an die
Krankheit denken möchte? Für Aussenstehende ist ein Leben mit Marfan schwer
vorstellbar. Wer allerdings das vor kurzem erschienene Buch der Marfan Stiftung
Schweiz liest, wird hinterher mit mehr Wissen und Verständnis auf Betroffene zugehen können.
Das vorliegende Buch mit den Untertitel «Gesundheitskompetenz und Empowerment
bei chronischen körperlichen Beeinträchtigungen am Beispiel des Marfan-Syndroms»
will grundsätzlich die Problematik von seltenen Krankheiten aufzeigen und tut dies
anhand reichhaltiger Information zum Marfan-Syndrom sowie Zeugnissen Betroffener. Es gliedert sich in sechs Hauptteile, in welchen Beiträge verschiedener AutorInnen aus dem jeweiligen Fachgebiet enthalten sind.
Der erste Teil befasst sich mit der grundsätzlichen Problematik seltener Krankheiten.
Anhand europäischer Statistiken wird die Gesundheitsversorgung von Menschen mit
seltenen Krankheiten verglichen. Ein grosses Problem bei seltenen Krankheiten stellt
die Diagnoseverzögerung dar. Oft konsultierten Betroffene während Jahren verschiedene Ärzte und Ärztinnen, bis die richtige Diagnose gestellt wurde. Bei Marfan kann
es tödliche Folgen haben, wenn auf Alarmzeichen nicht rechtzeitig mit geeigneten
Massnahmen reagiert wird. Fundiertes Wissen beim medizinischen Personal und
Betroffenen ist daher äusserst wichtig. Wer aufgrund dieser Schwierigkeiten vermuten würde, Marfan-Patienten beurteilten ihre Lebensqualität als niedrig, dürfte aller21
Behinderung und Politik 4/08
dings durch die beigebrachten Tabellen überrascht werden und ein differenziertes
Bild erhalten. Ein ermutigendes Ergebnis, um in der Lektüre fortzuschreiten.
Nicht nur im Zusammenhang mit Marfan sind die Seiten über Gesundheitsförderung,
Gesundheitsorientierung (Salutogenese), Empowerment, Autonomie und Fürsorge
oder Gesundheits- und Patientenkompetenz spannend zu lesen. Mündige Patienten
sind heute gefragt, und diesen Anspruch, beteiligt zu sein an den Entscheidungen,
die das eigene Leben, die eigene Gesundheit betreffen, erheben wir ja heute gegenüber medizinischen Fachpersonen. Umso mehr erscheint mir hier die Warnung von
Betroffenen hilfreich, nicht zu hohe Ansprüche an Patienten, auch an uns selber zu
stellen. Es kann nicht sein, dass die Patienten in gute und schlechte aufgeteilt werden – die Kompetenten und die Anderen. Es muss den Betroffenen auch zugestanden werden, zuweilen ängstlich, wütend, verunsichert und mutlos zu sein, nicht alles
in seiner vollen Tragweite sofort zu begreifen und nicht immer eine souveräne Reaktion auf heikle Situationen an den Tag zu legen.
In einem zweiten Teil geht es um die Herausforderungen, welche die Diagnose Marfan an die Betroffenen und ihr Umfeld stellt. Ausführlich wird dabei auf genetisches
Wissen und seine Problematik eingegangen. Danach geht es um Selbstwertgefühl,
Verarbeitung in Partnerschaft und Familie, die Beziehung zum Arzt, die Kommunikation und ihre Tücken oder auch um Wert und Grenzen von Selbsthilfegruppen. Diese
rund 70 Seiten kann ich zur Lektüre wärmstens empfehlen. Nicht nur im Zusammenhang mit Marfan. (Die zahlreichen Tabellen, Schemata und Kästchen hier und im
ersten Teil erschweren zwar den Lesefluss, geben aber eine reichhaltige Palette an
Zusatzinformationen; sich durchzubeissen lohnt sich.)
Im dritten Teil wird es dafür wieder etwas leichter. Hier machen wir Bekanntschaft mit
sechs Betroffenen und ihren Familien. Leichter, nicht weil hier alles Friede-FreudeEierkuchen wäre, sondern weil die Lebensgeschichten wirklich zu fesseln vermögen.
Sie geben Zeugnis von Mut und Lebenswillen, auch Lebensfreude, ohne die dunklen
Momente zu verschweigen.
Mit dem Eindruck, über Marfan und davon Betroffene schon eine ganze Menge erfahren zu haben, wird der Leser, die Leserin nun im Teil vier in die medizinischen
Aspekte eingeführt. (Eine geschickte Entscheidung, diesen Teil nicht an den Anfang
zu stellen. Denn mit den zahlreichen Symptomen, die eine Marfan-Erkrankung hervorrufen kann, wäre man sonst fast erschlagen.) Dem Laien wird auf verständliche
Art erklärt, was diese Bindegewebsschwäche für das Herz, die Gefässe, das Skelett
und die Augen für Auswirkungen haben kann, wie die Diagnosestellung aussieht und
welche Therapien angewendet werden. Gerade bezüglich der Risiken für die Gefässe, namentlich die Aorta, ist eine fundierte Information der Betroffenen im wahrsten Sinn des Wortes lebenswichtig.
Der fünfte Teil schliesst mit rechtlichen Aspekten an. Speziell versicherungstechnische Fragen zu Leistungen von IV und Krankenversicherung werden in einem kurzen
Überblick erörtert. Im konkreten Fall helfen die aufgeführten Beratungsstellen in dieser komplizierten Materie weiter.
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Behinderung und Politik 4/08
Der sechste Teil liefert ein Fazit aus Betroffenensicht. Menschen mit Marfan sowie
Angehörige haben das Buchprojekt begleitet und z.B. aufgrund ihrer Kritik ein abgewandeltes Kompetenzmodell erstellt.
Ein ausführliches Glossar im Anhang hilft durch den Dschungel von Fachwörtern.
Und hier findet sich auch ein Überblick über Marfan-Organisationen und ihre Geschichte. Dass der Tod eines Fünfzehnjährigen seine Eltern vor 20 Jahren zu Mitbegründern der Marfan Stiftung Schweiz werden liess, zeigt die tragische Seite der Geschichte dieser Vereinigung, aber auch, wie stark das Engagement von Wenigen
aufgrund persönlicher – leidvoller – Betroffenheit eine Sache voranbringen kann.
Herzsache – ein Buch, das etwas zu sagen hat. Mit seiner roten Farbe, die wirklich
den «fil rouge» durch die 299 Seiten darstellt, signalisiert es auf eindrückliche Weise
die Kraft, die Betroffene zu einem Leben mit zahlreichen Einschränkungen
aufbringen, aber auch die Bedrohungen, die von der möglichen Herzschwäche und
der Anfälligkeit der Hauptschlagader ausgehen. Das Blut als bedrohte Lebenskraft.
Und dann eben die BeHERZtheit, mit der Betroffene ihren Alltag meistern. Ein
Zeugnis von Angst und Mut, Kampf und Kraft. Mitten aus dem Leben.
Herzsache. Gesundheitskompetenz und Empowerment bei chronischen körperlichen
Beeinträchtigungen am Beispiel des Marfan-Syndroms, Marfan Stiftung Schweiz,
2008, ISBN 978-3-033-01587-6.
Zum Preis von 44.80 Franken plus Versandkosten zu beziehen bei:
Marfan Stiftung Schweiz, Marktgasse 31, CH-3011 Bern, Tel. 031 312 11 22, Fax
031 312 11 20 www.marfan.ch Email: [email protected]
Eine Ausgabe mit extra grosser Schrift für Personen mit Sehbehinderung kann
ebenfalls bei der Marfan Stiftung Schweiz bezogen werden.
«Ich sehe was, was Du nicht siehst»
EA/Das erfolgreiche Theaterprojekt mit Blinden und Sehenden unter der Leitung von
Regisseurin Heinke Hartmann ist nun auch als DVD erhältlich. Die Hörfilm-Fassung
einer Vorstellung in St. Gallen ist ein überraschendes und unterhaltendes Weihnachtsgeschenk, aber auch ein sinnvolles Lehrmittel für Schulen, Aus- und Weiterbildung.
Das Theaterprojekt «Ich sehe was, was Du nicht siehst» handelt von der Wahrnehmung der Welt. Sieben blinde respektive sehbehinderte und acht sehende Menschen
haben sich auf den Weg gemacht, ihre Welt-Erfahrung zu untersuchen und zu vergleichen.
Theater ist auf Bildhaftigkeit, auf das Visuelle angelegt. Deshalb dürfte Theaterarbeit
für Blinde von vorneherein eher uninteressant sein, dürften viele denken, bevor sie
die SchauspielerInnen erlebt, gesehen und gehört haben. Genau diese Spannung,
dieser Widerspruch hat die Projektgruppe um Regisseurin Heinke Hartmann faszi23
Behinderung und Politik 4/08
niert. Aus dieser Faszination ist eine Forschungsreise in Form eines Theaters über
das Sehen und die Wahrnehmung entstanden. Der Theaterabend macht Sichtbares
für Nicht-Sehende hörbar und erlebbar. Und er öffnet den Sehenden die Augen für
das Unsichtbare. Denn es wird reflektiert, getanzt, gefragt, gesungen, gesprochen,
gespielt, erzählt, gestrickt, gerapt, gerochen und geschmeckt. Es wird provoziert, es
werden die Rollen getauscht. Und es gibt eine Liebesgeschichte, die die Grenzen
überwindet.
Im Feuilleton verschiedener Zeitungen wurde das Theaterprojekt als sensibel und
intelligent gewürdigt. Die Mixtur aus Texten, Szenen und Slapstick habe das Zeug
zur Abendunterhaltung mit Mehrwert.
Die DVD enthält eine Hörfilm-Fassung und ein akustisch unterlegtes Menü für Blinde
und Sehbehinderte. Dazu interessantes Bonus-Material. Dank der ins Theaterstück
integrierten Audiodeskription kann sie von Blinden und Sehenden sehr gut gemeinsam angehört und angesehen werden.
Kurz: «Ich sehe was, was Du nicht siehst» ist sehens- und hörenswert!
Die DVD kann beim Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen bestellt werden.
Sie kostet 25 Franken zuzüglich Versandkosten.
Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen SZB
Schützengasse 4
9000 St. Gallen
Tel. 071 223 36 36
[email protected]
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Behinderung und Politik 4/08
Impressum
agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form –
der «BÖV Nachrichten»)
Herausgeberin:
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
Effingerstrasse 55, 3008 Bern
Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35
Email: [email protected]
Redaktion:
Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe
Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe
Bettina Gruber Haberditz
Simone Leuenberger
Ursula Schaffner
Lektorat:
Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe)
Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe)
Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von
«agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche
gekennzeichnet.
Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht!
Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected]
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