Werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher

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Werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher?
Das Problem der Einkommensungleichheit in globaler Perspektive
Erich Weede, Universität Bonn
Zusammenfassung
Die Probleme Armut und Ungleichheit müssen unterschieden werden. Wo es ernst wird, geht das
Problem der Armut in Hungern und Verhungern über. Noch im zwanzigsten Jahrhundert sind um
die 60 Millionen Menschen (oder mehr) verhungert. Das Problem der Ungleichheit dagegen gibt
es auch noch in Gesellschaften, wo nicht mehr die Unterernährung, sondern die Fettleibigkeit
zum dominanten Gesundheitsproblem geworden ist. Gerade wenn man gleiche Lebensrechte
aller Menschen unterstellt, ist die Armut das größere Problem als die Ungleichheit. Außerdem
gibt es mindest zwei Dimensionen der Ungleichheit: erstens, die wirtschaftliche Ungleichheit
zwischen Besserverdienern und Besitzenden einerseits und Geringverdienern und Besitzlosen
andererseits, zweitens aber auch die zwischen Amtsinhabern und Machthabern einerseits und den
Normalbürgern andererseits, die weder mit Amts- noch sonstigen Machtbefugnissen ausgestattet
sind. Zumindest dann, wenn das Armutsproblem so gut wie in großen Teilen Europas gelöst ist
und niemand mehr Angst vor dem Verhungern haben muss, ist nicht klar, ob politische oder
wirtschaftliche Ungleichheit das größere Problem darstellt. Durch den Export der
wirtschaftlichen Freiheit aus dem Westen in große Teile des Rests der Welt – das ist vielleicht
der grundsätzlichste Aspekt der Globalisierung – und durch die Vorteile der Rückständigkeit, die
die Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern den armen Ländern vermittelt, sind in den
letzten 30 Jahren annähernd eine Milliarde Menschen aus der allerschlimmsten Armut befreit
worden, vor allem in Asien, wo die Mehrheit der Menschheit lebt. Selbst im ärmsten Kontinent,
in Afrika, hat sich in den letzten Jahrzehnten Gesundheit, Schulbildung und Wachstum deutlich
verbessert. Es kann zwar noch darüber gestritten werden, wie sich im Zeitalter der
Globalisierung die Ungleichheit der Einkommensverteilung unter den Menschen oder
Haushalten entwickelt hat, aber die plausibelste Zusammenfassung ist folgende: In vielen großen
Volkswirtschaften, einschließlich USA und China, hat die Ungleichheit im Lande zugenommen,
aber die Ungleichheit zwischen den (nach Bevölkerungszahl gewichteten) Ländern hat eindeutig
abgenommen, so dass es per Saldo zu einer leichten Abnahme der Ungleichheit unter den
Menschen gekommen ist. Ganz eindeutig ist die Reduktion der Ungleichheit, wenn man nicht
das Einkommen, sondern die Überlebenschancen der Menschen betrachtet. Nie waren die
Überlebenschancen so egalitär verteilt wie heute. Denn die Entwicklungsländer profitieren gleich
doppelt von der Existenz fortgeschrittener und reicher Länder. Erstens können sie von dort
1
Technologien übernehmen und dort kaufkräftige Märkte finden, was das Wachstum
beschleunigt. Zweitens profitieren sie von dem in reichen Ländern erreichten medizinischen
Fortschritt, der auf asiatischem Einkommensniveau heute ein längeres Leben ermöglicht als in
der europäischen Geschichte auf dem gleichen Niveau. Nicht nur die armen Länder profitierten
vom wirtschaftlichen Erfolg der reichen Länder, sondern umgekehrt profitieren auch die reichen
Länder jetzt vom stürmischen Wachstum Chinas und anderer Schwellenländer. Die Debatte um
Ungleichheit sollte diese grundsätzliche Interessenharmonie der Menschen in armen und reichen
Ländern nicht verdecken.
Do the Poor Get Poorer and the Rich Get Richer?
The Problem of Inequality in Global Perspective
Erich Weede, University of Bonn
Abstract
One should distinguish the problems of poverty and inequality. Where serious poverty prevails, there is
hunger and the risk of dying from it. Even in the 20th century 60 million people (or more) died from
starvation. Inequality, however, may persist even in societies where obesity has replaced malnourishment
as the biggest health problem. If one takes equal human rights to life for granted, then poverty is a more
serious problem than inequality. Moreover, there are at least two dimensions of inequality: first, economic
inequality between those who earn more and own property on the one hand and those who earn less and
own no property on the other hand, and second, inequality between those who hold political power or
some public office on the one hand and those who participate in no way in power or the privileges of
officialdom on the other hand. Once the problem of poverty has been solved as well as it has been in most
parts of Europe where nobody needs to worry about starving to death, it is not obvious whether economic
or political inequality is the bigger problem. Because of the export of economic freedom from the West to
much of the rest of the world – this may be the most fundamental aspect of globalization – and because of
the advantages of backwardness which result from the inequality between rich and poor countries, about
one billion people have been saved from near starvation and poverty, most of all in Asia where most of
mankind lives. Even in the poorest continent, in Africa, health, schooling, and economic growth rates
improved during the last decade. Although one may still debate how inequality between human beings or
households evolved during the current period of globalization, the most plausible summary is this one: In
many big economies, USA and China included, inequality within countries has increased, but inequality
between countries (weighted by population size) has decreased. Taking these effects together, inequality
between human beings decreased somewhat. The reduction of inequality becomes much clearer, if one
shifts the focus from income to longevity. Life expectancies were never distributed as equally as today.
Developing countries benefit in two ways from the existence of richer and more advanced countries. First,
2
they can borrow technologies from there, or find rich markets for their exports there, and therefore
increase their growth rates. Second, they benefit from medical progress in advanced countries. Therefore,
Asian income levels buy more longevity than the same income level did in European history. Just as poor
countries benefit from the economic success of rich countries, rich countries currently benefit from the
robust growth of China and other emerging economies. The debate about inequality should not hide the
fundamental common interest of people in rich and poor countries alike in each other’s success and
welfare.
1. Einleitung
Ungleichheit war immer ein linkes Thema, weil die Linke Ungleichheit immer als Ärgernis
empfunden hat. Nur die Ungleichheit zwischen Kadern und Volk wird gern übersehen,1 obwohl
gerade diese Art der Ungleichheit im Laufe des 20. Jahrhunderts unter kommunistischer
Herrschaft weltweit annähernd hundert Millionen Menschenleben gekostet hat (Courtois et al.
1998; Rummel 1994). Die meisten Opfer der Kaderherrschaft sind verhungert.
Anhänger einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wussten immer, dass die
Menschen sich in ihren Begabungen, ihrer Arbeitsbereitschaft und ihren Präferenzen
unterscheiden, dass deshalb eine Gleichheit der Resultate nicht zu erwarten sei. Ungleichheit
wurde teilweise als schlichte Tatsache bzw. Selbstverständlichkeit hingenommen, teilweise nicht
nur von Ökonomen, sondern sogar von Soziologen in der sog. funktionalistischen
Schichtungstheorie (Davis and Moore 1945) als notwendiger Anreiz gerechtfertigt.
Vor vierzig Jahren wurde die Diskussion der als Ärgernis verstandenen globalen Ungleichheit
von den Dependenz- und Weltsystemtheoretikern dominiert, die die Menschen und
Volkswirtschaften der Entwicklungsländer als chancenlose Opfer des kapitalistischen
Weltsystems
ansahen.
Dieser
Angriff
auf
eine
freiheitliche
oder
kapitalistische
Weltwirtschaftsordnung kann als abgewehrt gelten, nicht in erster Linie weil er in historischen
und ökonometrischen Studien widerlegt worden ist (zusammenfassend: Weede 1996, Kapitel 5;
2012a, 2012b), sondern weil das stürmische Wirtschaftswachstum in Asien, wo diese
theoretische Verwirrung im Gegensatz zu Lateinamerika nie Einfluss auf die Wirtschaftspolitik
gewann, unübersehbar wurde. Wo Hunderte von Millionen Menschen dank des dort schleichend
1
Eine Ausnahme ist der Soziologe Ralf Dahrendorf (1974), für den die Ungleichheit zwischen
Herrschenden bzw. an Herrschaft Partizipierenden und Anderen fundamental ist. Ein richtiger Linker ist
Dahrendorf sicher nicht. Zuweilen wird er als links-liberal bezeichnet.
3
eingeführten Kapitalismus in wenigen Jahrzehnten bitterste Armut überwunden haben – in China
sogar unter der andauernden Herrschaft einer kommunistischen Partei – kann man nicht gut
behaupten, dass die Armen im Kapitalismus chancenlos seien. Der Schwerpunkt der
zeitgenössischen Kapitalismuskritik liegt jetzt bei der tatsächlich in vielen reichen Ländern des
Westens zunehmenden Ungleichheit, die als Folge der Globalisierung bzw. der zunehmenden
Verbreitung der wirtschaftlichen Freiheit in der Welt aufgefasst wird. Man kann zunächst einmal
feststellen, dass die Kritik am globalen Kapitalismus damit abgemildert wird. Früher ging es um
die Frage, ob die Menschen in der dritten Welt genug zu essen haben, jetzt geht es eher um die
Probleme der Armen in reichen Ländern, beispielsweise bei der Gebrauchtwagenfinanzierung.
Es geht jetzt weniger um Armut und mehr um die Ungleichheit der Einkommensverteilung.
Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man sich immer vergegenwärtigen, dass die
Probleme der Armut und der Ungleichheit in keiner Weise identisch sind. Mehr Gleichheit kann
man relativ leicht dadurch herstellen, dass man den Reichen viel weg nimmt. Wegen der damit
verbundenen Beeinträchtigung der Arbeits- und Investitionsanreize kann es durchaus
vorkommen, dass
die Verteilungsmasse, die den Armen danach zugute kommen könnte,
dadurch nicht zunimmt, sondern abnimmt. Dann hätte man gleichzeitig die Ungleichheit
reduziert und die Armut verschlimmert.
2. Wirtschaftliche Freiheit und die Überwindung der Massenarmut
Wo die Menschen die Freiheit der Wahl haben, da herrscht wirtschaftliche Freiheit oder
Kapitalismus. Je freier eine Gesellschaft ist, desto mehr Menschen können zumindest einige ihrer
materiellen Ziele erreichen. Dazu gehört auch, dass einige Eigentum erwerben und andere das
gar nicht wollen oder bei ihren Erwerbsbemühungen scheitern. Manche Menschen erwerben
sogar Eigentum an Produktionsmitteln. Friedrich Engels, ein Mitverfasser des kommunistischen
Manifests (Marx und Engels 1848/1966, Fussnote 1), und einer der frühesten und
konsequentesten Kritiker des Sozialismus, Ludwig von Mises (1922/1932/2007), stimmen darin
überein,
dass
Wirtschaftliche
Privateigentum
an
Freiheit
also
führt
Produktionskapital
schnell
zur
den
Kapitalismus
Ungleichheit
zwischen
kennzeichnet.
denen,
die
Produktionskapital besitzen, und denen, die das nicht tun, also zum Kapitalismus. Wie fast alle
klassisch Liberalen vertrete ich die Auffassung, dass wirtschaftliche Freiheit den Lebensstandard
der Menschen erhöht.2
2
Grundsätzlich ist meine theoretische Perspektive der Institutionenökonomik zuzurechnen. Danach
bestimmt die Politik die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens bzw. die Institutionen. Dazu gehören
Eigentums- und Verfügungsrechte, Gesetze, Vorschriften und soziale Normen. Von diesen hängen die Arbeits- und
4
Bei der letzten Gottfried-von-Haberler-Konferenz 2012 hier in Liechtenstein hatte ich diese
These mit fünf Argumenten begründet. Erstens verdanken wir den ökonomischen Klassikern
Smith (1776/1990), Mises (1922/1932/2007) und Hayek (1945, 1960/1971) die Einsichten, dass
Privateigentum
ein
notwendiger
Arbeitsanreiz,
eine
notwendige
Voraussetzung
für
Knappheitspreise und die Mobilisierung des auf Millionen Köpfe verteilten Wissens ist. Ohne
Privateigentum und dezentrale Entscheidungen kann es keine rationale Ressourcenallokation
geben. Zweitens stützt der Vergleich der Volkswirtschaften geteilter Länder die These vom
Nutzen wirtschaftlicher Freiheit. Kollektivistische Volkswirtschaften waren selten so erfolgreich
wie die DDR, die es immerhin geschafft hat, ihrer Bevölkerung ein Pro-Kopf-Einkommen von
ungefähr einem Viertel bis einem Drittel des Wertes der BRD zu ermöglichen. Nordkorea schafft
nur ein Siebzehntel der südkoreanischen Pro-Kopf-Produktion (The Economist 2013a). Drittens
gibt es quasi-experimentelle Evidenz zum Wert der Freiheit. Während des ‘großen Sprungs nach
Vorn’ ab 1959 in China wurde die individuelle und wirtschaftliche Freiheit in riesigen
Volkskommunen soweit wie möglich abgeschafft. Das Ergebnis dieses Menschenversuchs wird
auf 45 Millionen Tote (von damals ca. 650 Millionen Chinesen) geschätzt, meist Hungertote
(Dikötter 2010). Nur Weltkriege haben ähnlich viele Menschenleben wie dieses sozialistische
Experiment gekostet. Viertens kann man den Aufstieg des Westens, die historisch erstmalige
Überwindung der Massenarmut oder die Erfindung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung im
politisch fragmentierten Europa durch wirtschaftliche Freiheit erklären (Jones 1981/1991;
Landes 1998; North 1990; Pipes 1999; Weede 2012a, 2012b). Fünftens bekräftigen auch
ökonometrische Studien den Wert der Freiheit (zusammengefasst bei Weede 2012a): Je mehr
wirtschaftliche Freiheit es gibt, desto wohlhabender sind die dadurch gekennzeichneten Länder,
desto wahrscheinlicher wachsen sie schnell, desto höher ist auch das Einkommen der ärmsten 10
Prozent der Bevölkerung (Gwartney, Hall and Lawson 2012: 24). Das Ausmaß der
wirtschaftlichen Freiheit führt aber nicht zu mehr Ungleichheit der Einkommen (Mehlkop 2002;
Gwartney, Hall, and Lawson 2012: 23). Besser noch: Wirtschaftliche Freiheit nützt nicht nur
Investitionsanreize ab, damit letztlich auch Wohlstand und Wachstum. Durchaus nicht identische Varianten der
Institutionenökonomik werden vertreten von Acemoglu and Robinson (2012) oder North, Wallis und Weingast
(2011). Eine ausführliche Darstellung meines eigenen Standpunktes findet man in Weede (2012b).
Hauptunterschiede zwischen den zitierten und meinen Auffassungen besteht im größeren Optimismus der
amerikanischen Autoren in Bezug auf die Fähigkeit westlicher Demokratien, Rent-Seeking-Probleme in den Griff zu
bekommen, und in meinem Versuch, die asiatischen (vor allem: chinesischen) Erfahrungen stärker zu
berücksichtigen. Obwohl Banerjee and Duflo (2011: 243) im Gegensatz zu mir das Armutsproblem von unten und
aus einer Mikroperspektive behandeln, kann ich ihrer Schlussfolgerung zustimmen: “It is not always necessary to
fundamentally change institutions to improve accountability and reduce corruption.“ Das (2012) illustriert das am
indischen Beispiel.
5
denen, die sie genießen, sondern auch denen, die sie noch entbehren. Die wirtschaftliche Freiheit
der Einen wird damit zu den Vorteilen der Rückständigkeit der Anderen (Weede 2006, 2012b).
3. Die Angleichung der Lebensbedingungen in der Welt durch wirtschaftlicher Freiheit
Mit den Vorteilen der Rückständigkeit, einer der in ökonometrischen Studien robustesten
Determinante des Wirtschaftswachstums (Bleaney and Nishiyama 2002; Sala-i-Martin,
Doppelhofer, and Miller 2004), bin ich bei den Vorzügen der Globalisierung, die man auch als
zunehmende Verbreitung der wirtschaftlichen Freiheit in der Welt auffassen kann. Wenn der
Westen nicht vor den anderen großen Zivilisationen der Welt wirtschaftliche Freiheit
durchgesetzt hätte, dann wäre das schnelle Wachstum anderswo – vor allem in Asien – gar nicht
möglich geworden. Auch die Asiaten, die (beispielsweise in China oder Vietnam) noch wenig
Freiheit genießen, können sich an westlichen Vorbildern orientieren, westliche Technologien
übernehmen und westliche Märkte beliefern.
Obwohl der Kapitalismus auch vor dem ersten Weltkrieg schon mal eine Globalisierungsphase
durchgemacht hatte und diese erste Phase mit mehr Freizügigkeit für Arbeitskräfte verknüpft war
als das heute der Fall ist (Hatton and Williamson 2006), will ich mich auf die Diskussion der
zweiten Globalisierungsphase beschränken. Jedes konkrete Anfangsdatum muss irgendwie
willkürlich sein. Die schrittweise Öffnung des volkreichsten Landes der Welt, Chinas, für etwas
wirtschaftliche Freiheit, Knappheitspreise, Auslandsinvestitionen und den Welthandel mit Deng
Xiaopings Reformen ab 1979 ist ein denkbares Datum für den Beginn dieser zweiten
Globalisierungsphase. Globalisierung bedeutet zunehmende internationale Arbeitsteilung, mehr
zwischenstaatlichen
Handel,
mehr
internationale
Kapitalbewegungen,
mehr
Auslandsinvestitionen und damit grenzüberschreitende Fertigungsketten und auch zunehmenden
Wissens- und Technologietransfer über die Grenzen hinweg. Globalisierung reduziert die
Bedeutung
von
Entfernung
und
Grenzen.
Entfernungen
werden
durch
sinkende
Kommunikations- und Transportkosten weniger wichtig, Grenzen durch den Abbau von tarifären
und nicht-tarifären Handelsschranken.
Weil sich beim freiwilligen Tausch in der Regel beide Seiten besser stellen als ohne
Tauschmöglichkeit,
impliziert
mehr
Durchlässigkeit
von
Grenzen
zunächst
einmal
Verbesserungschancen, vor allem mehr Freiheit für die Konsumenten, die zwischen inländischen
und ausländischen Anbietern wählen können. Die Produzenten müssen sich einem verschärften
Wettbewerb stellen. Thomas Friedman (2007: 8) hat deshalb die Auswirkungen der
6
Globalisierung als Verflachung der Welt und zunehmende Chancengleichheit unter den
arbeitenden Menschen der Welt beschrieben, Mahbubani (2013) verweist auf die „große
Konvergenz“, vor allem zwischen Asien und dem Westen. Grundsätzlich kann man davon
ausgehen, dass die Vorteile für die Konsumenten größer als die Nachteile für die Summe aller
Produzenten sind, wobei natürlich die Produzenten nicht gleichmäßig betroffen werden. Denn
der durch Globalisierung verschärfte Wettbewerb kann für einige Betriebe den Bankrott und für
deren Beschäftigte Arbeitsplatzverlust bedeuten, für andere dagegen Exportchancen und
steigende Profite und Arbeitseinkommen.3 Der verschärfte Wettbewerb führt zu Ambivalenzen
und Ressentiments. Hinter der Globalisierungskritik steht oft eine Ablehnung von
Wettbewerbsmärkten und der damit verbundenen schöpferischen Zerstörung. Weil der
Wettbewerb letztlich aus den unkoordinierten Entscheidungen von Millionen Verbrauchern
resultiert, lässt er sich nur durch die Beschneidung der Freiheit der Verbraucher „überwinden“.
Nach Apolte (2006: 155) „gibt es keine Möglichkeit, eine freie Gesellschaft bewusst in diese
oder jene Richtung zu steuern.“ Wer es dennoch versucht, läuft Gefahr auf dem „Weg zur
Knechtschaft“ (Hayek 1944/1976) zu landen.
Globalisierung impliziert, dass die Märkte immer größer und umfassender werden, dass ein
Weltmarkt entsteht. Seit Adam Smith (1776/1990) wissen wir, dass die Größe des Marktes das
Ausmaß der Arbeitsteilung bestimmt, auch dass Arbeitsteilung die Produktivität und damit den
Wohlstand erhöht. Dazu einige empirische Belege, wobei ich mich auf die größten oder
volkreichsten
Gesellschaften
beschränken
muss:
Für
die
USA
wurden
die
Globalisierungsgewinne pro Kopf und Jahr zwischen 500 und 3.300 Dollar geschätzt (Scheve
and Slaughter 2007: 36; Hufbauer 2008: 18; Edwards and Lawrence 2013: 236), wobei
allerdings die neueren auch die niedrigeren Schätzungen darstellen. Wenn man neben den
Löhnen auch andere Leistungen der Arbeitgeber (z.B. Krankenversicherungsbeiträge)
berücksichtigt, dann sind die Arbeitsentgelte in den USA im letzten Jahrzehnt um 22 Prozent
gestiegen (Griswold 2007: 1; vgl. auch Lawrence 2008). Globalisierungsgewinne für die
Amerikaner, vor allem in ihrer Eigenschaft als Verbraucher, sind natürlich mit der etwa von
3
Der Wettbewerb zwischen Arbeitskräften in armen und reichen Ländern ist allerdings eher punktuell und
sollte nicht überschätzt werden. Denn die Exportprodukte armer Länder in reiche Länder werden oft in den reichen
Ländern gar nicht mehr hergestellt oder dort werden nur noch wesentlich bessere und viel teurere Produkte
derselben Art hergestellt. Auf Heckscher-Ohlin und Stolper-Samuelson aufbauende Theorien gehen von
unrealistischen Prämissen aus und überschätzen deshalb leicht die Konkurrenz, der unqualifizierte Arbeiter in
reichen Ländern durch Importe aus armen Ländern ausgesetzt sind. Nach Edwards and Lawrence (2013: 235)
können nicht mehr als 2% aller amerikanischen Entlassungen durch den Außenhandel mit armen Ländern erklärt
werden.
7
Spence (2011) oder Stiglitz (2012) beklagten zunehmenden Ungleichheit innerhalb der USA
kompatibel.
Das Ausmaß der Ungleichheit in den USA ist höher als in Europa und es nimmt zu.4 Die
Aufstiegschancen nehmen ab. Leitende Manager (CEOs) bei großen Unternehmen verdienen
mehr als das zweihundertfache des Durchschnittsverdiensts. Früher mussten sie sich mit dem
dreißigfachen bescheiden. Stiglitz erklärt die zunehmende Ungleichheit damit, dass in Amerika
Wettbewerbsmärkte und unverzerrte Preise zunehmend durch Rent-Seeking verdrängt werden,
dass Ungleichheit oft das Resultat von politischen Maßnahmen, einschließlich der Umverteilung
von unten nach oben, ist. Er betont, dass privilegierte Interessengruppen es oft schaffen, sich
Regulierungsbehörden dienstbar zu machen, wobei die Beeinflussung des Denkens von
Administration und Legislative eine wichtige Rolle spielt. Stiglitz macht die technologische
Entwicklung und die Globalisierung für die Besserstellung der hoch Qualifizierten und die
Schlechterstellung der Unqualifizierten auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich, hält sich aber bei
der Gewichtung dieser Faktoren zurück.5 Mit Stiglitz bin ich der Auffassung, dass
einkommensschwache Gruppen den Verteilungskampf um Renten bisher nicht gewonnen haben.
Im Gegensatz zu ihm sehe ich nicht, wie man das ändern kann. Die Gründe für meinen
Pessimismus hatte ich hier in Liechtenstein auf der Gottfried-von-Haberler-Konferenz 2012
dargelegt. Einen Kampf um Renten oder Privilegien können die Massen nie gewinnen. Während
Stiglitz eine progressive Umverteilungspolitik empfiehlt, vertrete ich die Auffassung, dass
weniger Staatseingriffe und mehr wirtschaftliche Freiheit gerade den einkommensschwachen
Massen mehr nützt.
Außerdem sollte man nicht nur die Verfestigung der Ungleichheit in reichen Ländern beklagen,
sondern auch deren Gründe berücksichtigen. Kenworthy (2012: 98-99) beklagt, dass ein
Amerikaner, der zwischen den 60er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ins unterste
Einkommensquintil hineingeboren wurde, nur eine 30%ige Chance hatte, in eins der oberen drei
Einkommensquintile aufzusteigen. Chancengleichheit wäre für ihn eine 60%ige Chance.
Kenworthy führt auch Gründe für das Chancendefizit von Unterschichtskindern an: uneheliche
Geburt, Ehescheidung der Eltern, die Tatsache, dass Männer und Frauen derselben Schicht
4
Meyer and Sullivan (2012) vertreten eine optimistischere Perspektive zur Ungleichheit in den USA als
Spence (2011) oder Stiglitz (2012).
5
Der Economist (2008a: 25) versucht zwischen den Auswirkungen der Globalisierung und des
technologischen Wandels auf die Veränderung der Einkommensverteilung zu unterscheiden. In
Entwicklungsländern sieht er gegenläufige Effekte. Danach trägt der technologische Wandel stark zu mehr
Ungleichheit bei und die Globalisierung als solche etwas schwächer zu mehr Gleichheit.
8
einander heiraten, womit manche Kinder gleich doppelt privilegiert werden und andere gar nicht.
Ohne massive Eingriffe in die persönliche Freiheit der Menschen oder zumindest der
Elternrechte wird man daran nichts ändern können.6 Mit Eberstadt (2012) könnte man auch die
Flucht
vieler
Männer,
besonders
Arbeitsunfähigkeitsrenten
beklagen.
in
den
USA,
Kenworthy
aus
selbst
dem
Arbeitsmarkt
empfiehlt
und
in
kompensatorische
Erziehungsmaßnahmen, die der Staat durchzusetzen hätte. Wenn man sich das Elend vieler
öffentlicher Schulen in vielen Ländern vor Augen führt, dann kann man Zweifel an der
Leistungsfähigkeit des Staates, ja an der fast überall im Erziehungswesen dominierenden
Planwirtschaft, nicht unterdrücken. Wegen des fast überall im Westen dominierenden Einflusses
des Staates im Bildungsbereich, von der Grundschule bis zur Hochschule, fehlen hier die
positiven Auswirkungen des Wettbewerbs mit nicht-staatlichen Schulträgern (vgl. dazu etwa
Coleman 1988; Doncel, Sainz, and Sanz 2012; West and Wössmann 2010)7.
Es ist zwar politisch inkorrekt, aber für die zuständigen Fachwissenschaftler, die Psychometriker,
ist selbstverständlich, dass ein Teil der Intelligenz und Leistungsunterschiede zwischen den
Menschen erblich ist. Auf die Debatte darüber, ob die Erblichkeit eher für 40 oder eher für 80%
der Unterschiede unter den Mitgliedern westlicher Gesellschaften verantwortlich ist, kann ich
hier nicht eingehen. Aber es ist wichtig zu betonen, dass der Abbau von Zugangshindernissen zu
guten Schulen für Kinder aus benachteiligten Familien nur die Konsequenz haben kann, dass die
erbliche Komponente der dann verbleibenden Unterschiede immer stärker wird. Herrnstein and
Murray (1994: 106-109) haben das so ausgedrückt: “If, one hundred years ago, the variations in
exposure to education were greater than they are now (as is no doubt the case), and if education
is one source of variation in IQ, then, other things equal, the heritability of IQ was lower then
than it is now ... the heritability of success is going to increase rather than diminish ... when a
society makes good on the ideal of letting every youngster have equal access to the things that
allow latent cognitive ability to develop, it is in effect driving the environmental component of
IQ variation closer and closer to nil.” Durch politische oder Bildungsmaßnahmen wird es nicht
möglich sein, die Menschen kognitiv gleich leistungsfähig zu machen. Schon in der
6
Die Auffassung, dass man benachteiligten Kindern durch vorschulische Betreuung helfen kann und soll,
wird von dem Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Heckman (2013) vertreten. Zweifel an der
Wirksamkeit der von Heckman befürworteten Eingriffe äußern Murray und McCluskey im gleichen Buch.
7
Das Ausmaß des Staatsversagens bei der Humankapitalbildung wird am deutlichsten in
Entwicklungsländern sichtbar. Nach Tooley schicken in Afrika oder Indien sogar viele Slumbewohner ihre Kinder
in kostenpflichtige Privatschulen, um der Misere des staatlichen Schulwesens zu entkommen. Vgl. auch Banerjee
and Duflo (2011, 4. Kapitel). Das (2012: 27) schreibt, dass jedes zweite Kind in indischen Städten eine private
Schule besucht.
9
Vergangenheit haben Europa und der Westen bewiesen, dass Hunger und Armut überwindbar
sind. Mit Ungleichheit wird die Menschheit immer leben müssen. 8
Als Deng Xiaoping in den späten 1970er Jahren China geöffnet und den schleichenden
Kapitalismus eingeführt hatte, war die chinesische Agrarproduktion schnell gestiegen. Am
Anfang der Reformphase war sogar eine der wichtigsten Determinanten der Ungleichheit in
China, der Abstand zwischen städtischen und ländlichen Einkommen, vorübergehend
zurückgegangen (Lin, Cai und Li 2003: 145). Hunderte von Millionen Chinesen sind der
absoluten Armut entkommen. China wurde bald zum Magneten für ausländische Investoren. In
den ersten zwei Reformjahrzehnten hatte sich das Pro-Kopf-Einkommen Chinas vervierfacht, bis
2005 sogar versiebenfacht (Pei 2006: 2). Wenn man die Armutsschwelle bei 1,25 US-Dollar pro
Tag und Person ansetzt, dann hat China seit 1981 allein 660 Millionen Menschen von bitterster
Armut befreit (Economist 2012: 64). Mahbubani (2013: 136) verweist sogar auf eine Studie,
wonach die chinesische Mittelklasse in 20 Jahren von 174 auf 800 Millionen Menschen
gewachsen ist. Ob man schon Menschen als Mitglieder einer globalen Mittelklasse ansehen soll,
die materiell schlechter leben als viele Sozialtransferempfänger im Westen, kann man sicher
hinterfragen. Aber der Fortschritt ist unbestreitbar. Dabei will ich gern zugeben, dass der
schleichende Kapitalismus bzw. die langsame Zunahme der wirtschaftlichen Freiheit in China
auch zu zunehmender Einkommensungleichheit geführt hat. Ich halte allerdings den Kampf
gegen Hunger und Armut für wichtiger als die Verhinderung von Reichtum für Wenige und
damit mehr Ungleichheit. Obwohl sich die Sicherheit der Eigentums- und Verfügungsrechte, die
ein wichtiger Teil der wirtschaftlichen Freiheit sind, in China seit den 1960er oder 1970er Jahren
dramatisch verbessert hat, bleibt das Ausmaß ihrer Sicherheit immer noch so unbefriedigend,
dass man das rasante Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft seit mehr als drei Jahrzehnten
nicht leicht erklären kann.
Feng, Ljungwall und Guo (2012) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Dezentralisierung
Chinas, also die Verlagerung vieler Kompetenzen vom Zentralstaat auf Provinzen, Bezirke,
Gemeinden. Die auch von Feng, Ljungwall und Guo (2012) herangezogene Theorie vom ‚Markt
erhaltenden Föderalismus’ (Weingast 1995) behauptet, dass der Wettbewerb dieser unteren
politischen Einheit in einem gemeinsamen Markt die regionalen Machthaber zwingt, Investoren
8
Natürlich kann sich die Basis der Ungleichheit ändern. Man kann die Macht des Kapitals brechen. Aber
schon bevor die Kommunisten das mit entsetzlichen Folgen (Rummel 1944) getan haben, hatte der Soziologe
Robert Michels (1905/1970), dass damit nur eine Oligarchie eine andere ablösen würde, also Machtungleichheit
weiter bestünde.
10
so zu behandeln, als ob die Machthaber die Eigentumsrechte der Investoren achten wollten – was
für Kader, die sich immer noch Kommunisten nennen, keine Selbstverständlichkeit ist. Bessere
Karrierechancen für die Leiter erfolgreicher als erfolgloser Regionen haben auch zum
schonenden Umgang der Kader mit Unternehmern beigetragen. Das ist sicher ein wichtiger Teil
der Erklärung dafür, dass China bei rechtlich so unsicheren Eigentumsrechten so schnell
wachsen konnte.9 Mit Huang (2008, S. 6) könnte man auch den Zugriff der Chinesen auf
westliche Institutionen hervorheben, von der Übernahme westlicher Rechtsinhalte oder
Regulierungen bis hin zur Registrierung mancher festländischer Unternehmen (Beispiel:
Lenovo) im stärker verwestlichten Hongkong. Walter and Howie (2011) sind radikaler und
schreiben westlichen Investmentbankern einen großen Teil des Verdiensts an der gelungenen
Restrukturierung von chinesischen Staatsbetrieben zu.10
Unabhängig davon, ob man der in China durchaus betriebenen Industriepolitik positiv (Lin 2012)
oder skeptisch (Huang 2008) gegenübersteht, ist klar, dass die Volksrepublik China seit Deng
Xiaoping bewusst eine Strategie der Weltmarktorientierung gewählt hat. Die Globalisierung
wurde als Chance und nicht als Gefahr angesehen. Man orientierte sich an den komparativen
Kostenvorteilen der eigenen Volkswirtschaft, die in den 1980er Jahren durch viele
unterbeschäftigte und wenig qualifizierte, aber preiswerte Arbeitskräfte gekennzeichnet war.
Man importierte Wissen und Technologie und exportierte arbeitsintensiv hergestellte Produkte.
Die noch unter Mao Zedong herrschende Schwerindustrialisierungspolitik, die die komparativen
Kostenvorteile eines kapitalarmen Landes ignorierte, gab man auf. Mit Mancur Olson (1987)
würde ich zwar hervorheben, dass Industriepolitik gerade in Entwicklungsländern die schwachen
administrativen Kapazitäten überfordert, dort Planwirtschaft also mehr noch als in höher
entwickelten Gesellschaften misslingt,11 aber wenn der Staat schon lenkend eingreift, dann
müssen die Chinesen seit 1979 mit ihrer Exportorientierung und Ausnutzung der komparativen
Kostenvorteile der eigenen Volkswirtschaft vieles richtig gemacht haben. Sonst hätte ihr Pro9
Die interessanteste Alternative (oder Ergänzung) zum von mir und anderen vertretenen institutionenökonomischen Erklärungsansatz für das chinesische Wirtschaftswunder stammt von dem indischen Ökonomen
Bhalla (2012). Nach dessen Auffassung hat die Unterbewertung des chinesischen Yuan die Profitabilität von
Investitionen in China wesentlich erhöht und damit das Wirtschaftswachstum angeheizt. Bhalla spricht auch von
‚gestohlenem’ Wachstum, weil offensichtlich nicht alle Länder den Kampf um eine möglichst weit unterbewertete
Währung gewinnen können. Man kann den Währungskrieg auch als globale Variante des Rent-Seeking auffassen,
wobei mit China zwar ein armes Land gewonnen hat, viele ärmere afrikanischen Staaten mit lange oft
überbewerteten Währungen aber zu den Verlierern gehörten.
10
Sogar die Einkindpolitik, die China künftig große Probleme bereiten wird, könnte in der Vergangenheit
hilfreich gewesen sein. Denn die niedrige Kinderzahl und die außergewöhnliche Spar- und Investitionstätigkeit in
China hängen vielleicht zusammen (Banerjee and Duflo 2011: 121).
11
Das’ (2012) Analyse der indischen Wirtschaft bestätigt, dass Planung, Regulierung und Bürokratisierung
in Indien viele Gelegenheiten für Korruption geschaffen haben. Deshalb belegte Indien 2011 im weltweit
vergleichenden ’Doing Business Report’ den zweitschlechtesten Platz (Das 2012: 241).
11
Kopf-Produkt nicht in wenig mehr als 30 Jahren um den Faktor 14 wachsen können (Lin 2012:
183).
Auch in Indien haben marktwirtschaftliche Reformen im Zuge der Globalisierung in zwei
Jahrzehnten zu einer Verdoppelung der Pro-Kopf-Einkommen geführt und schon bis zur
Jahrtausendwende ungefähr 200 Millionen Inder aus bitterster Armut herausgeholt (Das 2002:
360). Das Hauptproblem in Indien ist, dass im Gegensatz zu China nicht genug Arbeitsplätze in
der verarbeitenden und export-orientierten Industrie geschaffen worden sind und deshalb
Millionen als kleinste Selbständige ein karges Leben fristen müssen. 12 Obwohl in Indien
ungefähr jedes zweite Kind mangelernährt und jedes vierte schwer mangelernährt ist (Banerjee
and Duflo 2011: 30), sind weder zu wenig Nahrungsmittel, noch die Ungleichheit der
Einkommensverteilung eine ausreichende Erklärung für diese Probleme. Denn in Indien gehen
ca. die Hälfte des Weizens und ein Drittel der Reisernte auf dem Weg zum Verbraucher verloren
und werden teilweise von Ratten gefressen (Banerjee and Duflo 2011: 20). Außerdem geben
sogar die Armen einen Teil ihres kargen Einkommens für Unterhaltungszwecke oder besser
schmeckende Nahrung aus, mit zu wenig Rücksicht auf das, was schwangere Frauen und kleine
Kinder brauchen. Bei den Gesundheitsausgaben ist typisch, dass zu wenig für Prävention, die
sich sogar die Armen leisten können, und zuviel für akute Krankheiten ausgegeben wird, was die
Armen fast immer finanziell überfordert.
In der ganzen Welt hatten 1981 noch 52% der Menschheit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag,
2008 waren es nur noch 22% (FAZ 2012: 14).13 Bei einer noch niedrigeren Armutsschwelle, die
sich an den offiziellen Schwellen in vielen besonders armen Ländern orientiert, bei 0,99 Dollar
pro Tag, waren schon 2005 nur noch 13% der Weltbevölkerung arm (Banerjee and Duflo 2011:
ix). Sogar in Afrika südlich der Sahara ist die Armutsquote unter 50% gefallen.
Weil Indien und China allein fast 40 Prozent der Menschheit und die Hälfte der Bevölkerung der
Entwicklungsländer umfassen, hat das Wirtschaftswachstum in diesen beiden und anderen
volkreichen Ländern Asiens vielleicht schon zu einer Egalisierung der weltweiten
Einkommensverteilung unter den Menschen oder ihren Haushalten beigetragen (Berger 2009: 7.
Vgl. dazu Banerjee and Duflo (2011: 226): “Perhaps many businesses of the poor are less a testimony to
their entrepreneurial spirit than a symptom of the dramatic failure of the economies in which they live to provide
them with something better.“ Mehr als hundert Millionen Chinesen haben Arbeitsplätze in der verarbeitenden
Industrie, aber nur sieben Millionen Inder (Luce 2006: 48-49).
13
Sehr ähnliche Zahlen kann man auch in der NZZ (2013: 25) nachlesen. Danach waren 1990 noch 43% der
Weltbevölkerung arm in dem Sinne, dass sie von weniger als 1,25 Dollar pro Tag leben mussten, jetzt nur noch
21%.
12
12
Kapitel; Bhalla 2002; Sala-i-Martin 2007). Allerdings müssen alle empirischen Studien auf einer
problematischen Datenbasis und teilweise fragwürdigen Annahmen aufbauen, so dass man mit
Anand and Segal (2008) zu der Schlussfolgerung kommen kann, dass wir nicht wirklich wissen,
in welche Richtung sich die globale Einkommensverteilung unter den Menschen in den letzten
drei oder vier Jahrzehnten entwickelt hat. Wenn man zu einer noch unsicheren
Trendeinschätzung kommen will, dann kann man von Anand and Segals (2008: 63-64)
Zusammenstellung ausgehen. Unter den Analysen, die kaufkraftbereinigte Daten verwenden und
den Zeitraum 1970 bis 1999 oder 2000 betrachten, berichten sechs einen Rückgang, aber nur drei
eine Zunahme der Ungleichheit. Die empirische Forschung kann die These, dass die Armen
immer ärmer und die Reichen immer reicher werden jedenfalls in globaler Hinsicht nicht stützen.
Eher gibt es Hinweise für einen schwachen Trend zur Egalisierung der globalen
Einkommensverteilung, weil die Angleichung der nationalen Durchschnittseinkommen die
zunehmende innerstaatliche Ungleichheit in vielen Gesellschaften überkompensiert. Gleichzeitig
gibt es einen starken Trend zur Überwindung der Massenarmut.
Trotz
der
Unsicherheit
aller
Einschätzungen
der
globalen
Veränderung
der
Einkommensverteilung unter den Menschen kann man diese mit Bhalla (2002: 187) so
illustrieren. Er bezeichnet die Menschen, die täglich zwischen 10 und 40 Dollar Einkommen
haben, als globale Mittelklasse. 1960 bestand die so definierte Mittelklasse vorwiegend aus
Weißen. Nur 6 Prozent waren Asiaten, wobei zu berücksichtigen ist, dass in Asien schon lange
deutlich mehr als die Hälfte der Menschheit lebt. 2000 waren schon 52 Prozent der Mitglieder
der globalen Mittelklasse Asiaten. Vor der Krise von 2008 sah es so aus, als ob die bitterste
Armut außerhalb Afrikas in den nächsten ein bis zwei Dekaden überwunden werden könnte.
Lange sah es so aus, als ob der afrikanische Anteil an bitterer Armut bis 2015 von 36 auf 90
Prozent steigen könnte (Bhalla 2002: 172).14
Zugegebenermaßen ist es in vielen Volkswirtschaften – beispielsweise in den USA und in China
– in der gegenwärtigen Globalisierungsphase zu einer Steigerung der Ungleichheit der
Diesen Zahlen liegt eine Armutsschwelle von 2 Dollar pro Tag und Person zugrunde. – Neuere Analysen
(Chen and Ravallion 2008) arbeiten mit besseren Daten und einer neuen Armutsschwelle. Danach sieht China zwar
ärmer als früher angenommen aus, aber der Rückgang der Armut dort wird noch eindrucksvoller als bei
Zugrundelegung der alten Daten. Allerdings scheint China bei der Armutsbekämpfung vor der Mitte der 1990er
Jahre erfolgreicher als danach gewesen zu sein (Zhang and Wan 2008). Auch für die Welt im Ganzen werden
revidierte Ausmaße an Armut ermittelt. Die Weltbank hat kürzlich eine Armutsschwelle auf 1,25 Dollar pro Tag
angehoben und danach 1,4 Milliarden Arme in der Welt ermittelt. Die Armutsschwelle wurde deshalb angehoben,
weil die Lebenshaltungskosten der Armen höher als früher eingeschätzt werden. Arbeiten der asiatischen
Entwicklungsbank rechtfertigen allerdings Zweifel an der Befürchtung, dass die Armen so hohe
Lebenshaltungskosten haben (Economist 2008b).
14
13
Einkommensverteilung im Lande gekommen.15 Deshalb wird die Legitimität von Kapitalismus
und Globalisierung in vielen Ländern hinterfragt. Sogar in Amerika wurden die Rufe nach
Protektionismus schon vor der Finanz- und Wirtschaftkrise 2008 immer lauter (Scheve and
Slaughter 2007; Woo 2008). Aber die Globalisierungskritiker vergessen, dass der internationale
Handel weniger die Zahl der Arbeitsplätze in einem Lande beeinflusst als wo die Menschen
arbeiten (Baumol, Blinder and Wolff 2003; Griswold 2007: 3; Irwin 2002). Man sollte die
Folgen fehlender Anpassungsbereitschaft bzw. von institutioneller Sklerose im Westen nicht der
Globalisierung anlasten. Wer nur Wachstum und Verteilung betrachtet, wird die Vorzüge der
Globalisierung unterschätzen. Wie Goklany (2007: Kapitel 2 und 3) aufgezeigt hat, bedeutet
dasselbe
kaufkraftbereinigte
Pro-Kopf-Einkommen
heute
einen
höheren
materiellen
Lebensstandard, niedrigere Kindersterblichkeit, weniger Mangelernährung, ein gesünderes
Leben und weniger Kinderarbeit als in früheren Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Arme und
unterentwickelte Länder profitieren vom wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt der
reichen Länder. Weil die Menschen in den Entwicklungsländern eine zunehmende
Lebenserwartung haben, ist auch in dieser Hinsicht die Ungleichheit unter den Menschen
rückläufig (Becker, Philipson, and Soares 2005).
Kenny (2011) stellt fest, dass es lange gleichzeitig eine Divergenz zwischen den reichen Ländern
und den aufsteigenden Ländern Asiens einerseits und zurückbleibenden Entwicklungsländern
anderswo beim Pro-Kopf-Einkommen gegeben hat, aber dennoch eine Konvergenz bei der
Lebensqualität. Kenny wendet sich gegen die weit verbreitete Neigung, Geldeinkommen und
dessen Wachstum allzu hoch zu bewerten. Die Divergenz beim Wachstum illustriert er mit dem
Vergleich zwischen den USA und dem Senegal. Noch 1960 betrug das amerikanische Pro-KopfEinkommen nur wenig mehr als das Siebenfache des senegalesischen, 2004 war es ungefähr 26
mal so hoch. Auch Brasilien ist zurückgefallen, von ca. 30% des amerikanischen Pro-KopfEinkommens 1975 auf ca. 20% 2003. Wenn man dagegen andere Indikatoren der Lebensqualität
betrachtet, sieht die Welt ganz anders aus. Seit 1960 hat sich nach Kenny die globale
Säuglingssterblichkeit halbiert. Von 1962 bis 2002 ist in Nordafrika und dem Nahen Osten die
Lebenserwartung schneller als irgendwo sonst gestiegen: von 48 auf 69. Sogar Haiti oder der
Kongo haben heute eine geringere Säuglingssterblichkeit als irgendein Land ca. 1900 erreichte.
Zwischen 1970 und 1999 ist die Analphabetenrate in Afrika südlich der Sahara von zwei auf ein
Drittel gefallen. Außerdem ist die malthusianische Falle überwunden worden. Bei Verdoppelung
der Weltbevölkerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit schrumpfender
15
Das gilt nicht für alle wohlhabenden Länder. Die Schweiz ist eine Ausnahme (Schaltegger und Gorgas
20012).
14
Anbaufläche pro Kopf hat sich die Pro-Kopf-Versorgung mit Kalorien um 25% erhöht. Global
gesehen hat sich die Lebenserwartung im 20. Jahrhundert von 31 auf 66 Jahre verbessert, was
nicht ohne eine Angleichung der Lebenserwartung in armen und reichen Ländern möglich
gewesen wäre. Eine Konvergenz gibt es auch beim Schulbesuch. Anfang des 20. Jahrhunderts
gingen Kinder in den reichsten Ländern ungefähr 40 mal so lange in eine Schule wie in den
ärmsten, am Ende des Jahrhunderts nur noch 4 mal so lange.16 Auch politische und bürgerliche
Freiheitsrechte breiten sich aus. Kriege werden seltener. Wie ist es möglich, dass die Welt sich
selbst bei stagnierenden Einkommen pro Kopf in vielen armen Ländern so schnell bessert?
Kennys Antwort: Die wichtigsten Dinge im Leben können preiswert sein. In Costa Rica werden
die Menschen älter als in den USA, bei einem Fünftel des Pro-Kopf-Einkommens und 5% der
Gesundheitsausgaben pro Kopf. Die Lebenserwartung der Vietnamesen entspricht 91% der
amerikanischen bei weniger als einem halben Prozent der Pro-Kopf-Kosten. Manche Impfungen,
Hygiene-Maßnahmen (wie Hände waschen) oder Behandlungen (wie Zucker-Salz-Lösungen bei
Cholera und Durchfällen) sind einfach preiswert. Ideen und Technologien, die zu mehr
Gesundheit, Bildung und sogar Demokratie beitragen, verbreiten sich schneller von dem reichen
zu den armen Ländern als solche, die das Einkommenswachstum fördern.
Bei der Beurteilung der Frage, ob Wirtschaftswachstum und Globalisierung den Armen in der
Welt helfen, muss man sich mit dem Problem der Datenqualität auseinandersetzen. Gerade in
den ärmsten Ländern und auf dem ärmsten Kontinent ist die Datenlage besonders schlecht. Als
Faustregel würde ich nennen: Je ärmer, je kleiner, je weniger demokratisch ein Land ist, desto
schlechter sind seine Daten. Anhand von ’Demographic and Health Survey’-Daten über
Gesundheit und Mortalität, Schulbesuch, Behausungen und Besitz von haltbaren Konsumgütern
(wie Telefonen oder Fahrrädern) hat Young (2012) versucht, das Wachstum afrikanischer
Volkswirtschaften (südlich der Sahara) ab 1990 neu abzuschätzen. Entgegen der dominanten
Auffassung (z.B. Collier 2007) kommt er zu dem Ergebnis, dass Afrika genauso schnell wie
andere Entwicklungsländer gewachsen ist. In Anbetracht der besonderen Belastung Afrikas
durch AIDS und Bürgerkriege kann man mit Young geradezu von einem “African Growth
Miracle“ sprechen. Wenn im Zeitalter der Globalisierung auch Afrika nicht weiter abgehängt
wird, sondern wächst, dann kann man die globale ökonomische Entwicklung nur positiv sehen
und auf lange Sicht etwa mit Hoffmann (2012) ein „Ende der Armut“ erwarten.
16
Bei den Schulen in Entwicklungsländern ist Staatsversagen häufig. Nach Banerjee and Duflo (2011: 74,
83-84) ist ungefähr jeder zweite Lehrer nicht bei den Kindern, die er unterrichten sollte. Anwesenheit der Lehrer
und Schülerleistung sind in privaten Schulen besser. Die gibt es tatsächlich auch in Slums!
15
In den allerletzten Jahren sind die afrikanischen Volkswirtschaften auch nach den üblichen Daten
und Messungen schnell gewachsen, waren 6 der 10 am schnellsten wachsenden
Volkswirtschaften afrikanische (Economist 2011: 13), ist Afrika sogar der am schnellsten
wachsende Kontinent geworden (The Economist 2013b: 10). Das hängt zwar auch mit der
wachsenden asiatischen Nachfrage nach afrikanischen Rohstoffen zusammen, aber nicht nur.
Jedenfalls konnte der Economist (2013c: 3) die afrikanische Entwicklung so zusammenfassen:
“Secondary-school enrolment grew by 48% between 2000 and 2008 after many states expanded
their education programmes and scrapped school fees. Over the past decade malaria deaths in
some of the worst-affected countries have declined by 30% and HIV infections by up to 74%.
Life expectancy across Africa has increased by about 10% and child mortality rates in most
countries have been falling steeply. A booming economy has made a big difference. Over the
past ten years real incomes per person has increased by more than 30%, whereas in the previous
20 years it shrank by nearly 10%. …FDI (foreign direct investment) has gone from $ 15 billion
in 2002 to $ 37 billion in 2006 and $ 46 billion in 2012.”
Natürlich gab und gibt es immer wieder auch Rückschläge. Wegen der Wirtschaftskrise und
gestiegener Nahrungsmittelpreise könnten jährlich einige hunderttausend Kinder zusätzlich an
Mangelernährung gestorben sein (Economist 2009: 61). Wenn man den Prozess der
Globalisierung als zunehmende Verbreitung wirtschaftlicher Freiheit oder als globale Expansion
des Kapitalismus auffasst, dann sollte man grundsätzlich erwarten, dass wirtschaftliche Freiheit
und deren Verbesserung im internationalen Vergleich mit Verringerung der Armut
zusammenhängt. Das gilt auch tatsächlich, unabhängig davon ob man Armut über eine EinDollar-Schwelle pro Person und Tag oder eine Zwei-Dollar-Schwelle oder den Armutsindex der
Vereinten Nationen erfasst (Norton and Gwartney 2008: 31). Um den Abbau der Armut zu
beschleunigen, hat deshalb der Economist (2013b: 10) für den immer noch ärmsten Kontinent
der Erde folgendes gefordert: “Africa needs a reborn liberation movement – except this time the
aim is to free Africans from civil servants rather than colonial masters.“ Es geht nicht um die
Abwehr Fremder, sondern um das Containment der eigenen Obrigkeit und wirtschaftliche
Freiheit.
Die Globalisierung kann auch zur Überwindung von Vorurteilen über angeblich begrenzte
Fähigkeiten von Menschengruppen – etwa Frauen, Ethnien oder Rassen – führen. Am Beispiel
der Diskriminierung gegen Frauen auf Arbeitsmärkten hat Bhagwati (2004: 75-76) gezeigt, dass
16
globaler Wettbewerb den Preis mancher Vorurteile so hoch treiben kann, dass Unternehmer sich
die
Vorurteile
einfach
nicht
mehr
erlauben
können.
Obwohl
es
außerhalb
der
Wirtschaftswissenschaften kaum bekannt ist: Wettbewerb ist eine wirksame Maßnahme gegen
Diskriminierung.
4. Abschließende Überlegungen
Man kann die Ungleichheit unter den Menschen als natürliche Tatsache hinnehmen oder als
Ärgernis politisch bekämpfen. Die größten ‚Erfolge’ im Kampf gegen die auf Märkten spontan
entstehende Ungleichheit haben bisher die Kommunisten gehabt. Mit zwei Effekten: Erstens
wurde die Ungleichheit zwischen den Verlierern und den Gewinnern auf dem Markt ersetzt
durch die Ungleichheit zwischen den Kadern und dem Volk. Zweitens gelang die Abschaffung
des Reichtums besser als die Überwindung der Armut. Deshalb sollte man nicht die
Überwindung der Einkommensungleichheit, sondern die Überwindung der Armut zum Ziel
erklären.
Zur
Überwindung
der
Armut
trägt
Wirtschaftswachstum
bei.
Zum
Wirtschaftswachstum tragen wirtschaftliche Freiheit, sichere Eigentumsrechte und Freihandel –
also auch Globalisierung – bei.17 Die Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern trägt
wesentlich zu den Vorteilen der Rückständigkeit bei. Hätte nicht zuerst der Westen
wirtschaftliche Freiheit zugelassen bzw. den Kapitalismus erfunden, dann wäre das asiatische
Wirtschaftswunder, das in den letzten Jahrzehnten Hunderte von Millionen aus bitterster Armut
befreit hat, gar nicht möglich gewesen. Denn Asiens Wirtschaftswunder beruht auf der
Übernahme westlicher Technologien und Organisationsmodelle sowie der Belieferung
kaufkräftiger westlicher Märkte. Weil die Globalisierung nicht nur Chancen eröffnet, sondern die
schöpferische Zerstörung auf globalen Märkten immer auch Verlierer erzeugt, besteht die Gefahr
konterproduktiver protektionistischer Reaktionen gerade auch in reichen Ländern, die
Arbeitsplätze retten sollen. Wer Gebrauchtwagen für Menschen in den reichen Ländern für
wichtiger hält als Nahrung für alle Menschen auf Erden, kann das für richtig halten.
Protektionismus dient allerdings nicht mal den Interessen wenig qualifizierter Arbeitskräfte in
reichen Ländern.
17
Bhallas (2012) ökonometrisch wohl fundiertes Werk widerspricht meiner Auffassung. Warum halte ich
daran fest, obwohl ich im Gegensatz zu den meisten ‚Österreichern’ der Ökonometrie positiv gegenüberstehe?
Erstens lehrt die ökonometrische Erfahrung, dass nur wenige ökonometrische Befunde robust bleiben, wenn sich
eine Vielzahl von Forschern mit einem Thema beschäftigt hat. Wegen der Neuigkeit von Bhallas Thesen kann erst
die Zukunft die Robustheit seiner Befunde beweisen. Zweitens ist mir bei seinen Analysen im achten Kapitel
aufgefallen, dass er eine suboptimale Messung von Humankapital verwendet, die dann auch keine
Wachstumseffekte hat. Wie die Berücksichtigung besserer Messungen der Humankapitalausstattung von
Gesellschaften die Beurteilung seiner These verändern würde, wonach Abwertungen das Wachstum beschleunigen,
lässt sich nur durch künftige ökonometrische Analysen klären.
17
Denn man darf nicht vergessen, dass auch Arbeiter mit Niedriglöhnen oder Sozialhilfeempfänger
Konsumenten sind, dass gerade diese einkommensschwachen Gruppen die Produkte aus
Niedriglohnländern kaufen (Broda and Romalis 2008). Außerdem darf man den Wettbewerb
wenig qualifizierter Arbeitskräfte aus armen und reichen Ländern nicht überschätzen (Edwards
and Lawrence 2013). Nur selten stellen arme Länder (wie China) und reiche Länder (wie die
USA) wirklich gleichartige Produkte her. Deshalb überschätzen auf Heckscher-Ohlin und
Stolper-Samuelson aufbauende Erklärungsansätze für zunehmende Arbeitslosigkeit oder
Ungleichheit in reichen Ländern auch den Beitrag des Außenhandels. Nach Edwards and
Lawrence (2013: 235) ist der für nicht mehr als 2% der Entlassungen in den USA verantwortlich.
Nicht nur die armen Länder profitierten vom wirtschaftlichen Erfolg der reichen Länder, sondern
umgekehrt profitieren auch die reichen Länder jetzt vom stürmischen Wachstum Chinas und
anderer
Schwellenländer.
Die
Debatte
um
Ungleichheit
sollte
diese
grundsätzliche
Interessenharmonie der Menschen in armen und reichen Ländern nicht verdecken.
Man darf auch nicht vergessen, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit und Freihandel zwar nicht
den Frieden garantieren, aber wesentlich zur Kriegsverhütung beitragen (zusammenfassend:
Weede 2011). Globalisierung trägt auch zur Verringerung von politischer Repression und mehr
noch zur Vermeidung von Bürgerkriegen bei (Flaten and de Soysa 2012: 240)18. Wer mit dem
Kampf gegen Armut, Hunger und Not zufrieden ist, kann auf wirtschaftliche Freiheit setzen.19
Obwohl ein gleichzeitig freiheitlicher und effizienter Staat, der Eigentumsrechte und Verträge
durchsetzen kann, wünschenswert bleibt, gilt für viele Entwicklungsländer immer noch, was Das
(2012) am Beispiel Indiens gezeigt hat. Das Land wächst nachts, wenn die Regierung schläft und
die Wirtschaft nicht behindert. Wer Ungleichheit überwinden will, kann bestenfalls
wirtschaftliche Ungleichheit durch politische Ungleichheit ersetzen, wird dabei gleichzeitig aber
Freiheit und Wohlstand verspielen statt den Armen zu helfen.
Die Autoren finden sogar: ”Globalization is a stronger predictor of peace than is per capita income, which
is argued to be one of the best predictors of conflict onset.“
19
Wenn man davon ausgeht, dass diejenigen, die in den USA in Volkswirtschaft promoviert haben, im
allgemeinen eine positive Einstellung zur wirtschaftlichen Freiheit und zum Abbau von Handelshemnissen haben,
dann ist es interessant anzumerken, dass Länder mit mehr derartigen Absolventen offener als andere für den freien
Welthandel sind (Weymouth and MacPherson 2012).
18
18
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