23.07.2008 Reizüberflutung Verblöden wir? Warum so hektisch? Machen uns Reizüberflutung und Internet dumm? Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten, denn da sind so viele Mails und Anrufe und Bilder zum Durchklicken .... Von Alex Rühle Oft kopiert, nie erreicht: Der "Dramatic Look" des berühmten Yotube-Präriehundes, die einzig annehmbare Form der Hektik im Netz. (Screenshot: www.youtube.de ) Also, die These von der Zerstreuung, dass der Mensch nicht mehr in der Lage ist, auf die vielen auf ihn einprasselnden... Moment, muss eine Mail beantworten - also, dass er in der Lage ist, die Dings, die Reize... wenn Sie mich nochmal entschuldigen, das Telefon - so, jetzt, ähm - ja, gleich, siehst doch, dass ich hier die Spalte fülle, - 'tschuldigung, was war nochmal die Frage? Die größte Kraft im Leben des postmodernen Menschen ist die Ablenkung. 70 Mails am Tag, Telefon, und ansonsten googelt und klickt man sich so durch den Tag, scannt hier was, überfliegt da was und am Ende der Woche hat man wieder nichts erledigt. Die große Frage: Liegt das nun am Internet? Oder ist das eine Art anthropologische Konstante? Schließlich beschrieb schon T. S. Eliot das Unglück des modernen Menschen damit, er werde ,,abgelenkt von der Ablenkung durch Ablenkung‘‘. Das Gehirn - ein nervöser Flipperautomat? Nicolas Carr hat kürzlich in einem eindrücklichen Aufsatz im Atlantic Monthly sein chronisch wachsendes Aufmerksamkeitsdefizit beschrieben. Carr glaubt, dass zum einen die Ablenkungskräfte durch das Internet immens zugenommen hätten. Vor allem aber meint er, dass sein Gehirn sich langsam aber sicher adaptiere und zu einer Art nervösem Flipperautomaten werde: "Mehr und mehr beschleicht mich das unangenehme Gefühl, dass irgendjemand oder irgendetwas an meinem Gehirn herumgebastelt hat. Als ob der Neuronenschaltkreis neu gepolt und die Erinnerung neu programmiert würde. Ich spüre das am stärksten beim Lesen. Früher fiel es mir leicht, mich in einem Buch zu verlieren. Heute kommt das kaum noch vor. Meine Geist schweift nach zwei Seiten ab. Ich werde zappelig, verliere den Faden, schaue mich nach einer anderen Beschäftigung um. Es ist, als müsste ich mein launisches Gehirn immer wieder zu dem Text zurückschleifen. Das konzentrierte Lesen, das mir früher leicht fiel, wurde zu einem anstrengen Akt.‘‘ Schuld daran ist in seinen Augen das Internet, das einen permanent mit kleinen, snackartig aufbereiteten Happen füttere. Die Folge: "Früher war ich ein Taucher im Ozean der Worte. Heute rausche ich auf der Oberfläche entlang wie ein Wasserskifahrer." Kurzum: Wer surft, verflacht. Es ist ein interessanter Streit um diesen Text im Netz entbrannt, für den hier kein Platz ist, der aber, sieht man sich den Scharfsinn der Debatte an, zwar nicht die Ablenkungs- aber doch die Verblödungstheorie in nuce widerlegt. Interessanter ist, dass Carrs subjektiver Befund von der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne durch mehrere medizinisch-psychologische Studien belegt wird: So hat der Psychologe Joseph Ferrari von der DePaul University in Chicago 4000 Menschen nach ihren Arbeitsmustern befragt und kam zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent von ihnen so stark an Zerstreuung, Zeitverschwendung und Aufschubtechniken leide, dass er darauf drängt, procrastination (chronisches Verschieben) als medizinischen Terminus einzuführen, schließlich würden darunter mehr Menschen leiden als an Depressionen. "Diese Leute brauchen eine Therapie" Oft werde das Verhalten als Marotte abgetan, so Ferrari. "Aber die sozialen und ökonomischen Folgen sind immens. Diese Leute brauchen eine Therapie." Procrastination verursache Depressionen, mindere das Selbstbewusstsein und könne zu Schlaflosigkeit führen. Der Psychologe David Meyer von der University of Michigan geht gar davon aus, dass Menschen, die in zerstreuungsförderlichen Berufen am Bildschirm arbeiten, ähnliche Burn-Out-Symptome entwickeln wie Fluglotsen. Interessant wäre es nun noch, gemeinsam durch einige Blogs wie Timesonline, Infothought blog oder Britannica blog zu flanieren, die sich an Carrs These abarbeiten, wir stünden an einem evolutionsgeschichtlichem Wendepunkt, da das tiefe, entspannte Denken, das Lesen eines langen Textes, dieses richtige Lesen, bei dem man das Buch über Tage mit sich herumträgt, ins Cafe, an den Fluss, ins Bett, und mit den Figuren zu leben beginnt, dass uns all das bald schon gar nicht mehr möglich sein werde, aber zum einen habe ich seit 20 Minuten keinen Youtube-Clip mehr angeschaut und Sie müssen ja sicher auch längst weiter. (SZ vom 23.7.2008/pak/rus)