Grundzüge des Arbeitsrechts - Wirtschafts

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Professor Dr. Axel Hunscha
Dezember 2015
Dezember 2015
Grundzüge des Arbeitsrechts
Literaturempfehlungen
1.
Zur Vorbereitung
Brox, Hans/Rüthers, Bernd/Henssler, Martin: Arbeitsrecht. 18. Aufl. 2011, Kohlhammer
Dütz, Wilhelm/Thüsing, Gregor: Arbeitsrecht. 19. Aufl. 2014, C. H. Beck
Junker, Abbo: Grundkurs Arbeitsrecht. 13. Aufl. 2014, C. H. Beck
Krause, Rüdiger: Arbeitsrecht. 3. Aufl. 2014, Nomos
2.
Nachschlagewerke
Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. Hrsg. v. Dieterich/Müller-Glöge/Preis/
Schaub. 15. Aufl. 2015, C. H. Beck
Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg): Arbeitsrecht Kommentar. 6. Aufl. 2014, Dr. Otto
Schmidt
Küttner, Wolfdieter: Personalbuch. 21. Aufl. 2014, C. H. Beck
3.
Zur fallbezogenen Wissenskontrolle
Krause, Rüdiger: Arbeitsrecht I, Individualarbeitsrecht. Rechtsfälle in Frage und
Antwort. 1. Aufl. 2007, C. H .Beck (Prüfe dein Wissen)
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Inhaltsübersicht
Allgemeiner Teil: Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses
§ 1 Das Arbeitsverhältnis S. 5
§ 2 Die Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Überblick S. 14
§ 3 Auf der Ebene des Gesetzesrechts stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen S. 18
§ 4 Auf der Ebene des Arbeitsvertrages stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen S. 28
§ 5 Der Tarifvertrag als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses und staatliche Ersatzhandlungen S. 44
§ 6 Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats und die Betriebsvereinbarung als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses S. 58
§ 7 Die Rangfolge der Gestaltungsfaktoren S. 70
§ 8 Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten S. 77
§ 9 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) S. 82
Besonderer Teil: Der Arbeitsvertrag
§ 10 Die Einstellung von Arbeitnehmern S. 90
§ 11 Das Zustandekommen des Arbeitsvertrags S. 97
§ 12 Teilzeitarbeitsverhältnisse S. 105
§ 13 Das befristete Arbeitsverhältnis S. 108
§ 14 Das Probearbeitsverhältnis S. 118
§ 15 Die arbeitsvertraglichen Pflichten des Arbeitnehmers S. 120
§ 16 Die arbeitsvertraglichen Pflichten des Arbeitgebers und die Rechtsfolgen ihrer
Verletzung S. 134
§ 17 Das Ausbleiben der Arbeitsleistung S. 152
§ 18 Lohn ohne Arbeit gemäß § 326 II 1 Altn. 1 BGB S. 155
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§ 19 Lohn ohne Arbeit gemäß § 615 BGB S. 156
§ 20 Lohn ohne Arbeit während eines Streiks? S. 160 I. bis III.
§ 21 Lohn ohne Arbeit gemäß § 616 BGB S. 165
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§ 22 Entgeltfortzahlung nach dem EFZG S. 168
§ 23 Entgeltfortzahlung im Mutterschutz S. 172
§ 24 Entgeltfortzahlung im Erholungsurlaub S. 175
§ 25 Die Rechtsfolgen der Nichterfüllung der Arbeitspflicht S. 176
§ 26 Die Schlechtleistung des Arbeitnehmers unter besonderer Berücksichtigung
seiner Haftung auf Schadensersatz S. 181
§ 27 Die Beschränkung der Haftung des Arbeitnehmers für Schäden bei betrieblich
veranlasster Tätigkeit S. 189
§ 28 Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses S. 196
§ 29 Der Kündigungsschutz im Überblick S. 205
§ 30 Der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG S. 209
§ 31 Die Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung S. 227
§ 32 Der Abfindungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung S. 229
§ 33 Die außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB S. 230
§ 34 Der Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 138, 242 BGB S. 236
§ 35 Die Änderungskündigung des Arbeitsvertrags S. 238
§ 36 Der Schutz des Arbeitnehmers bei Massenentlassungen S. 242
§ 37 Die Verwirklichung des Kündigungsschutzes durch Klageerhebung S. 245
§ 38 Der Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers S. 247
§ 39 Das Nachschieben von Kündigungsgründen S. 250
§ 40 Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung nach § 9 und § 13
KSchG sowie im Wege des § 12 KSchG S. 251
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§ 41 Die Kündigung durch den Arbeitnehmer S. 253
§ 42 Der Betriebsübergang nach § 613a BGB S. 257
§ 43 Die Arbeitnehmerüberlassung S. 268
§ 44 Ausschlussfristen/Verfallfristen
S. 278
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§ 1 Das Arbeitsverhältnis
I. Die individuelle und die kollektive Dimension des Arbeitsverhältnisses
Das Arbeitsrecht beschäftigt sich mit den für Arbeitsverhältnisse geltenden Rechtsregeln. Dabei geht es zum einen um diejenigen Regeln, die die individuelle vertragliche Beziehung des Arbeitnehmers (künftig: AN) zu seinem Arbeitgeber (künftig:
ArbG) betreffen. In ihrem Mittelpunkt steht der Arbeitsvertrag einschließlich der
auf ihn einwirkenden gesetzlichen, richterrechtlichen und kollektivvertraglichen
Bestimmungen. Man spricht insoweit vom Individualarbeitsrecht.
Das Arbeitsrecht ist darüber hinaus durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass es
Rechtsregeln gibt, die die Arbeitnehmerschaft als solche in ihrem Verhältnis zur
Arbeitgeberseite betreffen: Die Arbeitnehmerschaft insgesamt oder einer bestimmten Branche in einer bestimmten Region oder in Gestalt der Belegschaft eines bestimmten Betriebes. Es handelt sich dabei einerseits um das aus der grundgesetzlich
garantierten Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG abgeleitete Koalitions-, Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht, andererseits um das Mitbestimmungsrecht entweder auf betrieblicher Ebene durch einen Betriebsrat nach den Vorschriften des
Betriebsverfassungsrechts oder auf Unternehmensebene durch AN-Vertreter im
Aufsichtsrat großer Kapitalgesellschaften. Man spricht insoweit vom kollektiven
Arbeitsrecht.
Im Nachfolgenden geht es in der Hauptsache um das Individualarbeitsrecht. Das
kollektive Arbeitsrecht wird dabei insoweit mitbehandelt, als es für das Verständnis
des Individualarbeitsrechts unerlässlich ist.
II. Die rechtliche Einordnung des Arbeitsverhältnisses
1. Ein Arbeitsverhältnis liegt vor, wenn sich jemand einem anderen gegenüber
•
auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags,
der als Arbeitsvertrag in Anlehnung an den Dienstvertrag des Bürgerlichen Gesetzbuches
seine gesetzliche Grundlage in den §§ 611 bis 630 BGB gefunden hat,
(die Beamten, Richter und Soldaten stehen demgegenüber in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis; die Angestellten des öffentlichen Dienstes hingegen arbeiten aufgrund
eines privatrechtlichen Vertrages und sind AN, vgl. z.B. § 1 II 2 Nr.2, § 23 KSchG),
•
dazu verpflichtet hat, unselbständige Dienste zu leisten.
Die Bestimmungen der §§ 611 bis 630 BGB regelten ursprünglich nur den sog. freien Dienstvertrag
des selbständig Dienstleistenden, den z.B. der Rechtsanwalt mit seinem Mandanten, der Arzt mit
seinem Patienten und der Unternehmensberater mit seinem Kunden schließt. Als das BGB im Jahre
1900 in Kraft trat, steckte das Arbeitsrecht noch in den Kinderschuhen. Erst während der Weimarer
Republik begann es, als eigenständiges Rechtsgebiet in Erscheinung zu treten. Da der Gesetzgeber
aber kein spezielles Arbeitsvertragsrecht schuf, begann die Rechtsprechung, Vorschriften über den
Dienstvertrag, die sich als geeignet erwiesen, auch auf den Arbeitsvertrag anzuwenden. Im Laufe der
Zeit reicherte der Gesetzgeber die §§ 611 ff. BGB dann selbst um rein arbeitsrechtliche Bestimmungen an mit dem Ergebnis, dass das Dienstvertragsrecht des BGB nunmehr zwei Varianten abdeckt:
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den Dienstvertrag des selbständig Dienstleistenden mit seinem Auftraggeber und den Arbeitsvertrag
des Unselbständigen mit seinem ArbG. Auf das Arbeitsverhältnis sind ungeachtet der Wortwahl
des Gesetzgebers (Dienstverhältnis = Arbeitsverhältnis / Dienstverpflichteter = Arbeitnehmer /
Dienstberechtigter = Arbeitgeber / Dienstleistung = Arbeitsleistung) alle Bestimmungen der §§ 611
ff. BGB mit Ausnahme der §§ 621 und 627 BGB anwendbar.
2. Wie der Dienstvertrag, so ist auch der Arbeitsvertrag ein gegenseitiger Vertrag
(§§ 320 ff. BGB), weil die Leistungen der Vertragsparteien in einem Austauschverhältnis stehen. Jede Vertragspartei verspricht der anderen eine Leistung um deren Gegenleistung willen. In Ansehung der den Vertrag typisierenden gegenseitigen
Haupt(leistungs)pflichten ist darum jede Vertragspartei sowohl Gläubiger als auch
Schuldner der anderen Vertragspartei. So schuldet nach § 611 I BGB einerseits der
AN dem ArbG die Leistung von Arbeit (unten § 15) und andererseits der ArbG dem
AN die Gewährung der vereinbarten Vergütung (unten § 16). Anders gewendet ist
der ArbG der Gläubiger des gegen den AN gerichteten Anspruchs auf Arbeitsleistung und der AN der Gläubiger des gegen den ArbG gerichteten Anspruchs auf
Vergütung.
Darüber hinaus trifft beide Seiten eine Fülle unterschiedlicher Nebenpflichten, deren Vielzahl sich aus der Menge der Berührungspunkte erklärt, die das tägliche
Miteinander im Betrieb mit sich bringt. Es ist auf diese Weise eine „Verdichtung
des Pflichtengefüges“ eingetreten (Gernhuber, Das Schuldverhältnis, 1989, § 16 II
2a). Verletzt der AN seine Nebenpflichten, kann dieses Fehlverhalten genauso wie
die Verletzung einer Hauptpflicht zu seiner Abmahnung oder gar Kündigung durch
den ArbG führen. Im Übrigen kann es infolge von Nebenpflichtverletzungen durch
den AN wie durch den ArbG zu Schadensersatzansprüchen des einen gegen den anderen kommen. Etwas patriarchalisch nennt man die Nebenpflichten auf der Arbeitgeberseite Fürsorgepflichten (§ 16 IV.) und auf der Seite des AN Treuepflichten
(§ 15 V.).
3. Anders als der Kaufvertrag in seiner typischen Erscheinungsform ist der Arbeitsvertrag nicht auf einen einmaligen Leistungsaustausch gerichtet, sondern begründet ein Dauerschuldverhältnis über einen mehr oder weniger langen Zeitraum
hinweg. Aus diesem Grund weist das Arbeitsverhältnis spezifische Wesenszüge
auf, von denen auf drei ganz wesentliche Merkmale schon hier hinzuweisen ist.
a) Wie dies durch den vorstehenden Hinweis auf das dichte Gefüge von Nebenpflichten als Folge der vielfältigen Berührungspunkte im betrieblichen Alltag
bereits angedeutet wurde, bildet das Arbeitsverhältnis die Grundlage für das Entstehen menschlicher Beziehungen der AN untereinander und zu ihrem ArbG bzw.
seinen Repräsentanten, die das Arbeitsklima prägen und auf den Inhalt der gegenseitigen Rechte und Pflichten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben. So
fordert der Umgang miteinander ein besonderes Maß an kollegialer Rücksichtnahme und bildet sich normalerweise mit der Zeit zwischen dem ArbG und seinen
AN ein besonderes Vertrauensverhältnis heraus, das von beiden Seiten ein loyales Verhalten zu einander fordert.
b) Zum anderen folgt aus dem Dauerschuldcharakter des Arbeitsverhältnisses, dass
die Modalitäten der von einem AN im Laufe der Zeit zu erbringenden Arbeitsleistung unmöglich in allen Einzelheiten arbeitsvertraglich vorherbestimmt werden
können. Durch eine „offene Regelung“ muss den wechselnden Anforderungen des
Tagesgeschäfts und dem Bedürfnis nach einer Anpassung des Arbeitsverhältnisses
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an die sich wandelnden wirtschaftlichen Gegebenheiten Rechnung getragen werden. So kommt es z.B. zu dem in § 106 GewO beschriebenen Weisungsrecht des
ArbG, wonach er in bestimmten Grenzen berechtigt ist, Inhalt, Ort und Zeit der
Arbeitsleistung näher zu bestimmen (unten § 15 II.).
c) Was schließlich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis angeht, so bedarf es dazu besonderer rechtlicher Instrumente in Gestalt vor
allem der Vereinbarung einer Befristung, des Abschlusses eines Aufhebungsvertrages oder des Ausspruchs einer Kündigung (unten § 28).
III. Das Kriterium der Unselbständigkeit der Dienstleistung des Arbeitnehmers und seine soziale Schutzbedürftigkeit
1. AN ist, wer auf Grund eines Vertrages nach Maßgabe der §§ 611 ff. BGB einem
anderen unselbständige Dienste leistet.
a) Die Unselbständigkeit der Dienstleistung wird entscheidend durch die persönliche Abhängigkeit des AN von seinem ArbG gekennzeichnet. Sie beruht auf der
Tatsache, dass der Dienstverpflichtete (AN) dem Dienstberechtigten (ArbG)
•
im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses über einen mehr oder weniger
langen Zeitraum hinweg seine Arbeitskraft im Regelfall (Vollzeittätigkeit)
ausschließlich zur Verfügung stellt,
•
wobei er durch seine Eingliederung in den Betrieb des Dienstberechtigten
den organisatorischen Zwängen unterworfen ist, die sich daraus ergeben, dass
er im Zusammenwirken mit anderen einem fremdbestimmten Unternehmenszweck dient
•
und den Weisungen des Dienstberechtigten in Bezug auf Inhalt, Ort und Zeit
der Arbeitsleistung Folge zu leisten hat.
b) Die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem durch berufliche Tätigkeit erworbenen Entgelt ist kein Merkmal gerade des AN. Auch der Selbständige ist darauf
angewiesen, sich sein Geld zu erarbeiten und hängt wirtschaftlich davon ab, Kunden zu gewinnen. Die besondere Situation des Unselbständigen liegt allerdings darin, dass er sich nicht einer Vielzahl von Auftraggebern gegenüber frei verdingen
kann und auch nicht will, sondern in den Dienst eines Selbständigen treten muss,
der ihn in seinem Betrieb zu seinen Zwecken einsetzt. Der AN braucht einen Arbeitsplatz, damit er tätig werden kann. Dieses Angewiesensein auf die Bereitschaft
eines Betriebsinhabers, den Arbeitsuchenden bei sich gegen Entgelt zu beschäftigen, und das damit verbundene Unvermögen, seine Beschäftigungsbedingungen im
Einzelnen aushandeln sowie das Risiko seines Arbeitsplatzverlustes beherrschen zu
können. begründet eine Situation struktureller Unterlegenheit des AN gegenüber seinem ArbG, die als ein weiteres Kennzeichen gerade seiner persönlichen Abhängigkeit zu begreifen ist.
2. Aus all dem folgt jenes Maß an sozialer Schutzbedürftigkeit des AN, das zur
Entwicklung des Arbeitsrechts geführt hat. Dessen wesentliche Aufgabe ist es
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•
sozialverträgliche Mindestarbeitsbedingungen durch geeignete Rechtsvorschriften sowie ergänzendes Richterrecht sicherzustellen,
•
die Möglichkeit kollektiver Selbsthilfe der AN auf der Grundlage von Art. 9
III GG (Koalitionsfreiheit/Tarifautonomie/Arbeitskampffreiheit) zu ermöglichen l,
•
die Mitbestimmung der AN im Betrieb durch den Betriebsrat sowie in Unternehmen großer Kapitalgesellschaften durch AN-Vertreter im Aufsichtsrat
zu gewährleisten,
und dies alles unter der Kontrolle einer eigenständigen Arbeitsgerichtsbarkeit.
3. Ein besonderes Maß an sozialer Sicherheit genießt ein AN, wenn ihm der allgemeine Kündigungsschutz nach Maßgabe des KSchG zuteil wird (unten §§ 30 bis
32). Denn hiernach ist eine ordentliche, d.h. fristgemäße Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG nur dann zulässig, wenn sie aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt ist. Glaubt der AN, die
Kündigung wegen fehlender sozialer Rechtfertigung (aber auch wegen anderer
Unwirksamkeitsgründe) angreifen zu können, muss er innerhalb von drei Wochen
nach Zugang der Kündigung den ArbG vor dem Arbeitsgericht verklagen mit dem
Ziel, die Unwirksamkeit der Kündigung feststellen zu lassen.
Die Belastung des ArbG mit der Notwendigkeit, die Entlassung des AN unter sozialen Gesichtspunkten rechtfertigen zu müssen, um einem Prozessverlust zu entgehen, trägt dem Sozialstaatsgebot
der Art. 20 I, 28 I GG Rechnung und führt zu einem angemessenen Ausgleich zwischen den jeweils
in Gestalt der Berufsfreiheit des Art. 12 I GG geschützten Interessen einerseits des Unternehmers an
einer selbstbestimmten Unternehmensführung und andererseits des AN an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes. Trotzdem ist diese Form des Kündigungsschutzes nach wie vor Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. So wird oft behauptet, dass sie für das Entstehen von Arbeitslosigkeit mitverantwortlich sei, weil die Bereitschaft des ArbG, „zusätzliche“ Arbeitskräfte einzustellen,
durch die Aussicht, sie bei schlechter Wirtschaftslage nicht einfach entlassen zu können, deutlich
verringert werde.
Die Stichhaltigkeit dieser Argumentation ist zu bezweifeln. Normalerweise stellt der ArbG sowieso
nicht mehr AN ein, als er wirklich benötigt, aber auch nicht weniger, als er wirklich braucht. Keinesfalls wird er seinen Bedarf an qualifizierten AN nur deswegen nicht voll befriedigen, weil ihm später
etwa erforderlich werdende Kündigungen nicht so einfach gelingen, wie sie nach dem Prinzip des
„hire and fire“ möglich wären. Selbst in Zeiten einer Flaute ist der Unternehmer bestrebt, seine AN
zu behalten und wird zunächst einmal Kurzarbeit, ggf. auf null Arbeitsstunden reduziert, anordnen
(unten § 15 III.).
Bei nur kurzfristigem Personalbedarf insbesondere zur Erbringung einfacher Tätigkeiten kann sich
der ArbG mit befristeten Arbeitsverhältnissen oder durch den Einsatz von Leih-AN behelfen. Die
der Arbeitsleistung förderliche Identifikation des AN mit dem Betrieb wird allerdings nur bei Zugehörigkeit zur Stammbelegschaft eintreten.
IV. Das arbeitsrechtliche Unternehmerrisiko
Jeder Unternehmer trägt das Risiko, sich unter Einsatz eigenen und fremden Kapitals im Wettbewerb zu behaupten. Vor diesem Hintergrund werden die zum Schutz
des AN geltenden Regeln häufig als eine überreichlich zusätzliche Belastung betrachtet. Es ist jedoch zu bedenken, dass eine sozial ausgewogene Arbeitsrechtsord-
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nung eine wesentliche Voraussetzung erfolgreichen Wirtschaftens ist. Auf ihrer
Grundlage kann ein umsichtiges Management ein Arbeitsklima schaffen, das durch
Stärkung der Motivation seiner Mitarbeiter die Produktivität fördert und geeignet
ist, das arbeitsrechtliche Unternehmerrisiko zu verringern.
Abgesehen vom allgemeinen Kündigungsschutz des AN nach Maßgabe des
KSchG (unten §§ 30 bis 32), über den vorstehend unter III. 3. schon ein Vorgeschmack vermittelt wurde, bildet eine weitere spezifisch arbeitsrechtliche Komponente des Unternehmerrisikos die Doktrin vom Betriebsrisiko des ArbG, das ihn
als den Inhaber der betrieblichen Leitungsmacht trifft. Sie besagt zum einen, dass
der ArbG nach § 615 S. 3 BGB auch dann zur Zahlung des Arbeitslohns verpflichtet
ist, wenn er seine AN aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann
(unten § 19). Sie besagt zum anderen, dass der ArbG in entsprechender Anwendung
des § 254 BGB durch betrieblich veranlasste Tätigkeiten seiner AN herbeigeführte
Schäden in angemessenem Umfang mittragen muss (unten § 27).
Aus der Organisationsgewalt des ArbG über den Betrieb fließt aber auch sein Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko. Danach muss er z.B. bei Auftrags- oder Absatzmangel, fehlender Verleihmöglichkeit auf dem Gebiet der AN-Überlassung,
fehlenden Einsatzmöglichkeiten der ihm auf Abruf zur Verfügung stehenden AN
und ähnlichen wirtschaftlichen Flauten, in denen er nicht genug Arbeit hat, seinen
AN nach § 615 S. 1 BGB dennoch den Arbeitslohn zahlen. Auch dieses Risiko ist
als ein Ausdruck des Betriebsrisikos des ArbG zu begreifen (unten § 19, § 41 II.).
Von der aus § 615 BGB fließenden Vergütungspflicht kann sich der ArbG vorübergehend durch die Anordnung von Kurzarbeit befreien (unten § 15 III. 2./3.). Bei
unabsehbar langen Störfällen darf der ArbG als letztes Mittel zur betriebsbedingten
Kündigung greifen (unten §§ 30 bis 32).
V. Die Abgrenzung des Arbeitnehmers von anderen Beschäftigten
1. Nach § 5 I ArbGG sind AN im Sinne dieses Gesetzes Arbeiter und Angestellte
sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten entstammt dem Sozialversicherungsrecht. Arbeitsrechtlich kommt ihr keine Bedeutung mehr zu.
a) Zu den AN gehören auch die leitenden Angestellten. Eine einheitliche Begriffsbestimmung
fehlt. Das BetrVG enthält in § 5 III 2, IV BetrVG ins Einzelne gehende Kriterien. Sie sind AN, die
in gewissem Umfang Arbeitgeberfunktion ausüben und insoweit anders als die übrigen AN behandelt werden. So gilt für sie nach § 5 III 1 BetrVG nicht das BetrVG, sondern das Sprecherausschussgesetz (SprAuG). Nach § 3 I Nr. 2 MitbestG können sie aber als AN-Vertreter in den Aufsichtsrat eines vom MitbestG erfassten Unternehmens gewählt werden. Demgegenüber können
„Geschäftsführer, Betriebsleiter oder Personalleiter, soweit sie zur Einstellung von Arbeitnehmern in
den Betrieb berechtigt sind, oder Personen, denen Prokura oder Generalvollmacht erteilt ist“, nach §
22 II Nr. 2 ArbGG zu ehrenamtlichen Richtern nur aus dem Kreis der Arbeitgeber bestellt werden. Nach § 18 I Nr. 1 ArbZG gilt für leitende Angestellte das ArbZG nicht. Als AN genießen sie
nach § 14 II 1 KSchG im Grundsatz Kündigungsschutz; sofern sie aber „zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind“, kommt ihnen nach § 14 II 2 KSchG
kein Bestandsschutz, sondern nur ein Abfindungsschutz zugute, da der ArbG den Auflösungsantrag
nach § 9 I 2 KSchG ohne eine Begründung stellen darf , um den weiteren Verbleib des AN im Betrieb zu verhindern; denn auch eine unwirksame Kündigung zerstört in der Regel das hier erforderliche besondere Vertrauensverhältnis.
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b) Keine AN sind die Organmitglieder einer juristischen Person oder einer rechtsfähigen Personengesellschaft (§ 14 I KSchG, § 5 II Nr. 1 BetrVG, 5 I 3 ArbGG).
c) Keine AN sind der unabhängige und damit wirklich freie Mitarbeiter und der unabhängige
und damit wirklich selbständige Handelsvertreter, die als Selbständige „im Wesentlichen
frei…(ihre) Tätigkeit gestalten und…(ihre) Arbeitszeit bestimmen“ können; so die zur Anwendung
auch auf den freien Mitarbeiter geeignete Definition der Selbständigkeit des Handelsvertreters in §
84 I 2 HGB. Bei hoher wirtschaftlicher Abhängigkeit werden sie allerdings zu arbeitnehmerähnlichen Personen (nachfolgend unter d). Beim Vorliegen zugleich persönlicher Abhängigkeit sind sie AN.
d) Nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses tätig werden die sog. arbeitnehmerähnlichen
Personen. Nach § 5 I 2 ArbGG, § 2 Satz 2 BUrlG und § 12a I TVG versteht man hierunter Mitarbeiter, die Leistungen auf Grund eines freien Dienstverhältnisses oder eines Werkvertrages erbringen, aber infolge ihrer wirtschaftlichen (nicht zugleich persönlichen, da sonst AN) Abhängigkeit eines gewissen sozialen Schutzes bedürfen. Zu ihnen gehören die nachfolgend unter (1) bis (3)
aufgeführten Berufsgruppen.
Sie sind Selbständige, für deren Klagen gegen ihre Auftraggeber aber das Arbeitsgericht zuständig
ist, die Ansprüche auf bezahlten Erholungsurlaub haben, deren Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag geregelt werden können und die Arbeitsschutz nach Maßgabe des ArbSchG genießen.
Weitere arbeitsrechtliche Regelungen finden auf sie weder unmittelbar noch entsprechend Anwendung, also z.B. nicht der gesetzliche Mindestlohn nach dem MiLoG, der gesetzliche Kündigungsschutz: Anstelle der gesetzlichen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach Maßgabe des EFZG
kommt § 616 BGB zur Anwendung.
(1) Neben den in den §§ 1 und 2 des Heimarbeitsgesetzes (HAG) aufgeführten Beschäftigten zählt
zu den arbeitnehmerähnlichen Personen auch der selbständige Handelsvertreter, der als Einfirmenvertreter (§ 92a HGB) mit einem Kleinst-Verdienst in den (allerdings nicht mehr zeitgemäßen)
Grenzen des § 5 III ArbGG tätig wird. Steht er kraft umfassender Weisungsbefugnis seines Unternehmers allerdings auch in persönlicher Abhängigkeit, gilt er mangels Selbständigkeit nach § 84 II
HGB als AN.
(2) Zu den arbeitnehmerähnlichen Personen gehört auch der freie Mitarbeiter, der auf Dauer und
im Wesentlichen für nur einen Auftraggeber tätig ist, dessen Zahlungen seine Existenzgrundlage
bilden. Steht er zu seinem Auftraggeber kraft dessen Weisungsbefugnis allerdings auch in persönlicher Abhängigkeit, gilt er als AN.
(3) Auch der Franchisenehmer kann im Einzelfall von seinem Franchisegeber so stark wirtschaftlich und gelegentlich sogar persönlich abhängen, dass er als arbeitnehmerähnliche Person oder gar
als AN anzusehen ist.
2. Aufgrund der wirtschaftlichen Belastungen, die das Arbeitsrecht und das Sozialversicherungsrecht (fast hälftige Beteiligung an den Sozialversicherungsbeiträgen
des AN) dem ArbG aufbürden, sind Unternehmer gelegentlich versucht, AN wie
Selbständige einzusetzen, etwa als „beauftragte Werkunternehmer“. Sofern diese Personen aber nach dem Gesamtbild ihrer Tätigkeit die Kriterien abhängiger Arbeit erfüllen, nämlich in die Arbeitsorganisation des Unternehmers eingegliedert
nach seinen Weisungen tätig sind (§ 7 I 2 SGB IV), ihre Arbeitsleistung ausschließlich persönlich erbringen und ganz überwiegend nur diesem einen Unternehmer zur
Verfügung stehen, liegt ein Fall von Scheinselbständigkeit vor. Wird derlei durch
eine Betriebsprüfung deutlich oder weil der Scheinselbständige im Falle seiner
„Entlassung“ AN-Kündigungsschutz geltend macht, trifft den Unternehmer das Risiko der Nachzahlung der als ArbG vom Lohn des AN einzubehaltenden und an das
Finanzamt abzuführenden Lohnsteuer bis zur Grenze der regelmäßig vierjährigen
Festsetzungsverjährung sowie nach §§ 28d ff. SGB IV der Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Nach § 28g Satz 3 SGB IV darf ein bei dem Beschäftigten „unter-
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bliebener Beitragsabzug nur bei den drei nächsten Lohn- oder Gehaltszahlungen
nachgeholt werden, danach nur dann, wenn der Abzug ohne Verschulden des Arbeitgebers unterblieben ist“.
Markantes Schulbeispiel ist der Kellner, der als „gewerbsmäßiger Vermittler“ von Speisen und Getränken des Gastwirts oder als „gewerbsmäßiger Verkäufer“ der zuvor dem Gastwirt abgekauften
Speisen und Getränke auftritt. Geläufig ist auch der Fall des LKW-Fahrers, der mit dem von seinem
bisherigen ArbG gemieteten LKW nunmehr als „Selbständiger“ dessen Frachtaufträge ausführt.
Zu Einzelfällen siehe den „Katalog bestimmter Berufsgruppen zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit“ der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger
im Internet.
VI. Erscheinungsformen des Arbeitsverhältnisses
1. Die idealtypische Erscheinungsform des Arbeitsverhältnisses ist die für eine
unbegrenzte Zeitdauer, also unbefristet, eingegangene Vollzeitbeschäftigung
über etwa 35 bis 40 Stunden pro Woche. Hieran knüpft auch das Sozialversicherungsrecht an, das nur auf dieser Grundlage den Aufbau einer hinreichenden Altersrente gewährleisten kann.
2. Eine Abweichung hiervon bildet das befristete Arbeitsverhältnis (unten § 13).
a) Auf der Grundlage von § 14 TzBfG ist es zulässig, die Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses zu begrenzen. Das ist dort selbstverständlich, wo es dafür einen
sachlichen Grund gibt (§ 14 I TzBfG), so z.B. bei wirklich nur vorübergehendem
Beschäftigungsbedarf, wie etwa im Fall von Saisonarbeit, bei der Vertretung eines
erkrankten AN oder wenn in der Person des AN liegende Gründe die Befristung
rechtfertigen, wie etwa im Fall eines nur in der vorlesungsfreien Zeit zur Verfügung
stehenden Studenten.
b) Darüber hinaus macht § 14 II TzBfG es aber auch möglich, einen AN ohne
Sachgrund für zunächst einmal höchstens 2 Jahre befristet zu beschäftigen. Der
Gesetzgeber will es dem ArbG auf diese Weise schmackhaft machen, einen Arbeitsuchenden einzustellen, ohne sich damit zugleich kostenträchtige Kündigungsprobleme einzuhandeln. Dabei gibt sich der Gesetzgeber der Hoffnung hin, dass der AN
sich in der Zeit befristeter Beschäftigung so sehr bewährt, dass der ArbG ihn nach
Ablauf der Befristungsmöglichkeit in ein auf Dauer gerichtetes Arbeitsverhältnis
übernimmt.
3. Das (unbefristete oder befristete) Arbeitsverhältnis kann statt einer Vollzeitbeschäftigung auch nur eine Teilzeitbeschäftigung bieten (unten § 12 I./II.). Oft ist
das durchaus im Interesse des AN, der z.B. mehr Zeit für die Erziehung seiner Kinder haben will. Und dies vor allem dann, wenn der andere Elternteil gleichfalls in
Brot und Lohn ist. Aus diesem Grund gewährt § 8 TzBfG einem AN den Anspruch
auf eine Verringerung seiner vereinbarten Arbeitszeit, also von Vollzeit auf Teilzeit, aber auch von einer höheren Teilzeit auf eine geringere Teilzeit. Ein AN kann
aber auch von vornherein als nur Teilzeitbeschäftigter eingestellt werden. Beide Arten Teilzeitbeschäftigter haben nach § 9 TzBfG unter bestimmten Voraussetzungen
einen Anspruch auf die Verlängerung ihrer Arbeitszeit bis hin zur Vollzeit, sofern
ein entsprechender Arbeitsplatz im Betrieb frei wird.
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Eine besondere Art der Teilzeitbeschäftigung ist die geringfügige Beschäftigung
nach Maßgabe der § 8 SGB IV zu einem regelmäßigen Entgelt von nicht mehr als
monatlich 450 Euro.
Nach § 13 TzBfG können ArbG und AN vereinbaren, dass mehrere AN sich die Arbeitszeit an einem Vollzeitarbeitsplatz teilen („Job-sharing“). Es handelt sich dann um Teilzeitbeschäftigte in einem Gruppenarbeitsverhältnis.
Die Altersteilzeit nach Maßgabe des AltersteilzeitG soll älteren AN einen gleitenden Übergang vom
Erwerbsleben in die Altersrente ermöglichen.
4. Bei einem (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsverhältnis kann vereinbart werden, dass der AN seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat. Dann erbringt er die Arbeit auf Abruf durch den ArbG.
a) Handelt es sich um ein Teilzeitarbeitsverhältnis, ist normalerweise die gesamte
Arbeitszeit auf Abruf gestaltet. Dies ist der Fall, den § 12 TzBfG im Auge hat (unten § 12 III. 1.).
b) Bei einem Vollzeitarbeitsverhältnis ist es möglich, die Arbeitszeit in der Spitze
als Abrufarbeit zu gestalten. Dann kann die Arbeitszeit etwa im oberen Drittel einer
Wochenarbeitszeit des AN von z.B. 35 Stunden je nach Abruf durch den ArbG zwischen einer Mindestarbeitszeit von maximal minus 20 % von 35 und einer Höchstarbeitszeit von maximal plus 25 % von 35, also zwischen 28 und 43,75 Wochenstunden schwanken (unten § 12 III. 2. bis 4. sowie § 15 IV.).
c) Von der Arbeit auf Abruf im Sinne des § 12 TzBfG zu unterscheiden sind die
nach der Intensität der Inanspruchnahme des AN von der Vollarbeit abzugrenzenden Fälle der Arbeitsbereitschaft, des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft (unten § 15 I. 3. b).
5. Jedes Arbeitsverhältnis beginnt normalerweise mit einer Probezeit, deren rechtliche Bedeutung darin liegt, sich bei Nichtgefallen leichter und schneller sich von
einander trennen zu können (unten § 14). Zwei Gestaltungsmöglichkeiten bieten
sich an.
a) Die Probezeit kann zum einen Teil des Arbeitsverhältnisses sein. Dann dient
ein bestimmter Zeitraum am Anfang des Arbeitsverhältnisses der Probe mit der
Maßgabe, dass hier jeder Vertragsteil kurzfristig kündigen kann. Unterbleibt eine
Kündigung, setzt sich das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Probezeit ohne weiteres fort.
b) Nach § 14 I Nr. 5 TzBfG kann die Probezeit zum anderen dem Arbeitsverhältnis
als sachgrundbefristetes Probearbeitsverhältnis vorgeschaltet sein, nach dessen
Ablauf die Probezeit ohne weiteres endet. Die Möglichkeit einer vorzeitigen kurzfristigen Kündigung kann zusätzlich vereinbart werden. Die Fortführung des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der Probezeit hinaus bedarf eines neuen Vertragsschlusses.
6. Wenn der ArbG die Erlaubnis zur AN-Überlassung besitzt, kann er AN bei sich
einstellen mit der Maßgabe, sie Dritten zur Arbeitsleistung zu überlassen. Der ArbG
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wird vom AÜG als Verleiher, der AN als Leih-AN und der Dritte als Entleiher
bezeichnet. Der Arbeitsvertrag besteht zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN.
Nach ihm schuldet der Leih-AN dem Verleiher die Leistung von Arbeit im Betrieb
des vom Verleiher eingeworbenen Entleihers und der Verleiher dem Leih-AN die
Zahlung des Arbeitslohns.
Zwischen dem Verleiher und dem Entleiher besteht ein sog. ANÜberlassungsvertrag. Nach ihm schuldet der Verleiher die Überlassung seines AN
und der Entleiher die Zahlung einer Überlassungsvergütung. Das Rechtsverhältnis
zwischen dem Entleiher und dem Leih-AN ist dadurch gekennzeichnet, dass der
Entleiher die Arbeitsleistung unmittelbar vom Leih-AN einfordern kann und ihm
gegenüber weisungsbefugt ist. Im Gegenzug treffen den Entleiher dem Leih-AN
gegenüber die hierbei einschlägigen Schutzpflichten (unten § 41).
7. Ausbildungsverhältnisse sind atypische Arbeitsverhältnisse, die aber im
Grundsatz dem Arbeitsrecht unterstehen.
a) Das gilt zum einen für das Berufsausbildungsverhältnis des BBiG. Nach dessen § 10 II sind auf den Arbeitsvertrag des Auszubildenden die für das Arbeitsrecht
geltenden Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden, soweit sich „aus
seinem Wesen und Zweck“ und den im BBiG enthaltenen Sonderbestimmungen
nichts anderes ergibt.
Auf die Vergütung von zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten findet das MiLoG nach seinem §
22 III keine Anwendung. Die Höhe der Vergütung kann durch einen Tarifvertrag oder den Einzelarbeitsvertrag festgelegt werden. Nach § 17 I BBiG muss sie „angemessen“ sein und pro Ausbildungsjahr ansteigen. Die nach § 71 BBiG zuständigen Kammern geben diesbezüglich Empfehlungen. Ist
für den Ausbildungsbetrieb ein Tariflohn maßgebend, sollte die Vergütung der Auszubildenden ihn
nicht um mehr als 20 % unterschreiten.
b) Das gilt zum anderen für das echte Praktikum, das zum Erwerb von beruflichen Fertigkeiten, Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen führen soll. Es dient
Ausbildungszwecken, aber nicht in Gestalt einer systematischen Berufsausbildung
im Sinne des BBiG. Darum wird es nach § 26 BBiG als ein Rechtsverhältnis behandelt, auf das die §§ 10 bis 23 und 25 BBiG nur mit bestimmten Einschränkungen anwendbar sind. § 22 I 3 MiLoG enthält eine eigene Definition des Praktikanten, die aber die Rechtslage gegenüber § 26 BBiG nicht verändert (ErfK/Franzen §
22 MiLoG Rn. 7).
Nach § 22 I 2 MiLoG unterfallen Praktika i.S.d. § 26 BBiG im Grundsatz den Vorschriften
über den Mindestlohn (unten § 5 VI.). Findet § 26 BBiG keine Anwendung, weil zwischen dem
Ausbildungssuchenden und dem Inhaber des Betriebs ein normaler Arbeitsvertrag abgeschlossen
wurde, gilt das MiLoG ohnedies.
Von der Geltung des MiLoG ausgenommen sind nach § 22 I 2 Nr. 1 MiLoG jedoch Pflichtpraktika gemäß Schulrecht, einer Ausbildungsordnung, Hochschulrecht oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie; ferner die in § 22 I 2 Nr. 2 und Nr. 3 MiLoG
aufgeführten freiwilligen Praktika sowie die unter Nr. 4 genannten Maßnahmen.
Das vordergründig „Praktikum“ genannte unechte Praktikantenverhältnis, bei
dem ein fertig ausgebildeter Berufsanfänger übliche Arbeitsaufgaben wahrnimmt,
ist ein normales Arbeitsverhältnis mit vollem Lohnanspruch unter Beachtung des
MiLoG.
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§ 2 Die Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Überblick
(Einzelheiten zu den verschiedenen Gestaltungsfaktoren nachfolgend §§ 3 bis 6)
I. Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis
Das Arbeitsverhältnis ist ein Rechtsverhältnis zwischen dem ArbG und seinem AN,
das durch spezifische Rechte und Pflichten dieser Personen im Verhältnis zu einander gekennzeichnet ist. Im Unterschied zu der Rechtslage im sonstigen Privatrecht
ist im Arbeitsrecht neben dem (Arbeits-)vertrag und den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften vor allem des Vertragsrechts des BGB sowie zahlreicher arbeitsrechtlicher Sondergesetze eine ganze Reihe weiterer rechtlicher Regelungsinstrumente zu berücksichtigen, die den Inhalt der Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis mitgestalten. Hansjörg Otto a.a.O. vor Rn. 114 bezeichnet sie plastisch als die Bauelemente des Arbeitsrechts. Im Allgemeinen spricht man von den
Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses und meint die verschiedenen Quellen,
aus denen Rechte und Pflichten von ArbG und AN fließen.
1. Vertrag und Gesetz als grundlegende Gestaltungsfaktoren
Bei der Prüfung der Frage nach den Rechten und Pflichten von ArbG und AN steht
auch im Arbeitsrecht der zwischen den beiden abgeschlossene Vertrag, der Arbeitsvertrag nach § 611 BGB, im Mittelpunkt der Betrachtung. Da er regelmäßig
ein vom ArbG verfasster Formularvertrag ist, der für alle Betriebsangehörigen im
Wesentlichen gleichlautende Arbeitsbedingungen vorsieht, trägt er als „arbeitsvertragliche Einheitsregelung“ der Charakter von Allgemeinen Geschäftsbedingungen
im Sinne der §§ 305 ff. BGB (unten § 4 I.).
a) Der Vertrag ist ein Produkt der privatautonomen Gestaltung eines Rechtsverhältnisses. Schon von Anfang an ist dabei aber auch der Gesetzgeber im Spiel, insoweit er den Ordnungsrahmen vorgibt, innerhalb dessen die sich die Vertragsschließenden entfalten können.
Für jedes vertragliche Schuldverhältnis legt das Gesetz die Struktur des jeweiligen
Vertragstyps fest und stellt allgemeine Regeln über das Zustandekommen, die
Durchführung und die Beendigung des Rechtsverhältnisses auf. Für den Arbeitsvertrag sind dies zum einen die §§ 611 bis 630 BGB – mit Ausnahme der §§ 621 und
627 BGB – und zum anderen vor allem die allgemeinen Bestimmungen der §§ 104
bis 218 BGB über Rechtsgeschäfte sowie die allgemeinen Bestimmungen der §§
241 ff. BGB über Schuldverhältnisse, soweit sie sich zur Anwendung auf den vom
BGB ursprünglich nicht bedachten Arbeitsvertrag (oben § 1 II. 1.) eignen, und
schließlich § 670 BGB sowie einige Vorschriften aus dem Recht der ungerechtfertigten Bereicherung, §§ 812 ff. BGB und dem Recht der unerlaubten Handlungen
§§ 823 ff. BGB.
b) Darüber hinaus ist es aber das besondere Anliegen des Gesetzgebers im Arbeitsrecht, den AN vor sozial unverträglichen Arbeitsbedingungen zu schützen. Mangels
einer Gesamtkodifikation des Arbeitsvertragsrechts als Teil des BGB oder in einem
gesonderten „Arbeitsgesetzbuch“ geschieht dies durch zumeist zwingende Rechtsvorschriften in einer Vielzahl von nur punktuell eingreifenden, zu unterschiedlichen
Zeiten und aus begrenzten Anlässen entstandenen und kaum auf einander abge-
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stimmten besonderen AN-Schutzgesetzen (siehe die einschlägigen Gesetzessammlungen, insbesondere die Ausgabe „Arbeitsgesetze“, Beck-Texte im dtv).
c) Zur Bedeutung des Grundgesetzes und des supranationalen EU-Rechts für das
Arbeitsrecht siehe unten § 3 III. und IV.
Hinweis: Das Bestreben des Gesetzgebers, den AN vor sozial unverträglichen Arbeitsbedingungen
zu schützen, findet eine gewisse Parallele im Verbraucherschutz und im Mieterschutz des BGB.
2. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers als vertragsausfüllender Gestaltungsfaktor
Da der Arbeitsvertrag die Leistungspflichten des AN unmöglich in allen Einzelheiten im Voraus festlegen kann und es auch immer wieder erforderlich wird, den Einsatz des AN an die sich verändernden wirtschaftlichen Verhältnisse anzupassen, ist
der ArbG aufgrund der ihm als Betriebsinhaber zustehenden Leitungsmacht befugt,
durch Ausübung des ihm in den Grenzen des § 106 GewO zustehenden Weisungsbzw. Direktionsrechts eine fortlaufende Konkretisierung der Leistungspflichten
des AN herbeizuführen (unten § 4 IV. und vor allem § 15 II.).
3. Betriebliche Übung und Gesamtzusage als vertragsergänzende Gestaltungsfaktoren
Durch die von Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelten Regelungsinstrumente
zum einen der Betrieblichen Übung (unten § 4 II.), als der auf einem wiederholten tatsächlichen Verhalten des ArbG gegenüber der Belegschaft beruhenden Gewährung einer zusätzlichen geldwerten Leistung und zum anderen der Gesamtzusage (unten § 4 III.), als der von Seiten des ArbG der Belegschaft als Ganzes gegenüber erklärten Gewährung einer zusätzlichen geldwerten Leistung, erfährt der
Arbeitsvertrag eine inhaltliche Ergänzung.
In den Fällen, in denen der ArbG die Belegschaft auf Grund einer selbst geschaffenen Regel kollektiv „behandelt“, muss er dann aber beachten, dass der sog. allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz
I GG abgeleitete Rechtsnorm im Rang einer einfachgesetzlichen Vorschrift (unten § 3 III. 3.
ohne sachlichen Grund anders zu behandeln, hier also von Gewährungen auszunehmen oder sie
schlechter zu stellen.
4. Das Richterrecht als gesetzesähnlicher Gestaltungsfaktor
Abgesehen von dem Richterrecht, das sich bei der Anwendung gesetzlicher Vorschriften durch die Rechtsprechung zwangsläufig als Folge der Konkretisierung
unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln durch Auslegung der Vorschriften herausbildet, entsteht Richterrecht im Arbeitsrecht vor allem dadurch, dass
die Arbeitsgerichte im Wege ergänzender Rechtsfindung Gesetzgebungsdefizite
ausgleichen müssen, die in Gestalt unvollkommener oder fehlender gesetzlicher
Regelungen zutage treten (unten § 3 II.). Hierbei fällt dem Gericht die Aufgabe zu,
die grundgesetzlich geschützten Rechtspositionen und Interessen des ArbG und des
AN zu beachten und zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen (unten § 3 III.
2.).
Das gesetzesvertretende Richterrecht kann auch neue Ansprüche schaffen, z.B. den richterrechtlichen bzw. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten AN gegen den ArbG (unten
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§ 38 III.), den man als eine richterrechtliche Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 611 BGB
i.V.m. § 242 BGB begreift (unten § 38 III.). Das Richterrecht kann sogar das Gesetz korrigieren und
z.B. das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG auf drei Jahre begrenzen (unten § 13 III. 3.).
5. Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung als kollektivvertragliche Gestaltungsfaktoren
Bei der Festlegung von Arbeitsbedingungen muss der ArbG die dem übrigen Privatrecht fremde Kategorie der Kollektivverträge beachten. Bei ihnen handelt es
sich zum einen um die auf überbetrieblicher Ebene von einer Gewerkschaft mit einem ArbG-Verband (oder einem einzelnen ArbG) ausgehandelten Tarifverträge
über Mindestarbeitsbedingungen (unten § 5). Zum anderen geht es um die auf betrieblicher Ebene zwischen dem von der Belegschaft gewählten Betriebsrat und
dem ArbG ausgehandelten Betriebsvereinbarungen vor allem auf dem Gebiet der
sozialen Angelegenheiten des § 87 BetrVG, deren Bestimmungen bei der Ermittlung der Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis als zusätzliche Gestaltungsfaktoren zu beachten sind (unten § 6).
Auch dies sind privatrechtliche Verträge, in denen die Vertragsparteien innerhalb der vom Gesetzgeber durch das Tarifvertragsgesetz (TVG) und das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) gezogenen
Grenzen selbständig verbindliche Festlegungen treffen können. Man spricht von der Tarifautonomie
und kann im Bereich der Betriebsverfassung von einer Betriebsautonomie sprechen.
Da das Gesetz diesen Vereinbarungen die Qualität gibt, durch ihre Normen wie ein Gesetz unmittelbar und zwingend auf die Arbeitsverhältnisse einzuwirken die Betriebsvereinbarungen nach § 77
IV BetrVG auf die Arbeitsverhältnisse der Belegschaft eines Betriebes, die Tarifvereinbarungen
nach § 4 I TVG auf die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen AN und ArbG kommt ihnen als
sog. Normenverträgen (Gamillscheg Bd. I, S. 482: „Gesetzgebung durch Vertrag“) gegenüber dem
Arbeitsvertrag ein höherer Rang zu. Und im Verhältnis zu einander besitzt der Tarifvertrag als typisch überbetriebliches Instrument Vorrang vor der rein innerbetrieblichen Betriebsvereinbarung.
II. Die Rangordnung der Gestaltungsfaktoren im Überblick
Angesichts dieser Vielzahl von das Arbeitsverhältnis bestimmenden Gestaltungsfaktoren kommt der Rangordnung, in der sie zueinander stehen, besondere Bedeutung zu; denn wenn Rechte und Pflichten von verschiedenen Regelungen erfasst
sind, kann es zu Widersprüchen kommen. Für diesen Fall muss Klarheit darüber
herrschen, welche der anwendbaren Bestimmungen denn nun maßgebend sein sollen.
Im Grundsatz gilt, dass den auf der Ebene des Gesetzes bestehenden Rechtsregeln,
─ zu denen allen voran die arbeitsrechtlich einschlägigen Grundrechtsartikel der Verfassung gehören
(zum EU-Recht siehe unten § 3 IV.), sodann die einfachgesetzlichen Vorschriften des BGB und der
besonderen AN-Schutzgesetze einschließlich des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes sowie des Richterrechts ─
im Kollisionsfall der Vorrang vor den auf der Ebene des Arbeitsvertrages stehenden Regelungen
─ zu denen neben dem Arbeitsvertrag das Weisungsrecht des ArbG als vertragsausfüllendes Element und als vertragsergänzende Elemente die Betriebliche Übung und die Gesamtzusagen des
ArbG gehören─
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zukommt: Das Gesetz und das Richterrecht bilden den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen eine arbeitsvertragliche Gestaltung vorgenommen werden kann.
Was die Kollektivverträge angeht, so steht die Betriebsvereinbarung als Instrument des den Belegschaftsinteressen verpflichteten Betriebsrats über dem das Einzelarbeitsverhältnis begründenden Arbeitsvertrag und der Tarifvertrag als grundsätzlich überbetrieblicher Gestaltungsfaktor über der Betriebsvereinbarung, und
beide stehen natürlich im Rang unter dem Gesetz.
So wird schon hier eine Rangleiter (von unten nach oben) vom Arbeitsvertrag
(einschließlich der seinen Inhalt im Nachhinein konkretisierenden Arbeitgeberweisungen sowie der ihn ergänzenden Betriebsübung oder Gesamtzusage), über die Betriebsvereinbarung und den Tarifvertrag hin zu den auf der Ebene des Gesetzesrechts stehenden Regeln sichtbar.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die in § 105 S. 1 GewO enthaltene Bestimmung, dass die Freiheit von ArbG und AN, den Arbeitsvertrag nach ihren Vorstellungen zu gestalten, nur soweit geht,
wie nicht (von oben nach unten) „zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen“. Und ebenso wird klar,
warum § 106 GewO das Weisungsrecht des ArbG, die Arbeitsbedingungen zu konkretisieren, mit
den Worten begrenzt, „soweit diese Arbeitsbedingungen nicht [von unten nach oben] durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.“ Hierher gehört auch § 87 I Einleitungssatz BetrVG, der bestimmt, dass eine Betriebsvereinbarung in den dort aufgeführten sozialen Angelegenheiten nur soweit möglich ist, wie eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht.
Einzelheiten zur Rangfolge und zu dem davon abweichenden Günstigkeitsprinzip
unter werden unten § 7 behandelt.
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§ 3 Auf der Ebene des Gesetzesrechts stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen
I. Einfachgesetzliche Vorschriften
Das Arbeitsrecht gestaltende gesetzliche Vorschriften sind vor allem die auf der
Grundlage der Art. 72 I, 74 I Nr.12 GG erlassenen, nicht mit Verfassungsrang ausgestatteten und darum sog. einfachen Bundesgesetze sowie die nach Maßgabe von
Art. 80 GG erlassene Rechtsverordnungen, die sich im Arbeitsrecht vorwiegend
im Arbeitsschutzrecht sowie in den Wahlordnungen zum BetrVG und zu den Mitbestimmungsgesetzen finden. Rechtssetzungsakte eigener Art sind die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nach § 5 TVG (unten § 5 IV.), die Rechtsverordnungen des BMAS nach den §§ 7 und 7a AEntG (unten § 5 III.) und nach §
3a AÜG (unten § 43 II. 2. a) sowie die Rechtsverordnungen der Bundesregierung
nach § 1 II 2 MiLoG (unten § 5 VI.).
1. Zu den maßgebenden Bundesgesetzen gehören zum einen die einschlägigen
Bestimmungen des BGB.
Wie oben unter § 1 II. dargestellt, regeln die §§ 611 bis 630 mit Ausnahme der §§ 621 und 627 auch
den Arbeitsvertrag. Da er ein privatrechtlicher Vertrag ist, finden auf ihn auch die Bestimmungen
des Allgemeinen Teils des BGB über Rechtsgeschäfte, insbesondere die §§ 104 bis 218, und des
Allgemeinen Schuldrechts des BGB über Schuldverhältnisse, §§ 241 ff. BGB, Anwendung, soweit
sie den besonderen Bedürfnissen des Arbeitsrechts gerecht werden.
2. Darüber hinaus hat der Bundesgesetzgeber im Laufe der Zeit eine Vielzahl von
besonderen AN-Schutzgesetzen geschaffen, die den AN vor sozial unverträglichen Arbeitsbedingungen schützen sollen (vgl. z.B. die Textsammlung „Arbeitsgesetze“, Beck-Texte im dtv). In vielen Fällen beruhen diese Gesetze auf europarechtlichen Vorgaben in Gestalt von Richtlinien der Europäischen Union (nachstehend unter IV.).
II. Die Entstehung und Geltungskraft des Richterrechts
Richterrecht entsteht zum einen dadurch, dass es der Gesetzgeber selbst ist, der
durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln den Richter dazu auffordert, einen Rechtssatz durch konkretisierendes Ausfüllen dieser
Aussagen auf den Einzelfall anwendbar zu machen. Geläufige Beispiele im Bereich
des Arbeitsrechts sind § 106 Satz 1 GewO sowie § 315 BGB („nach billigem Ermessen“), § 1 I KSchG („sozial ungerechtfertigt“), § 626 BGB („aus wichtigem
Grund“), § 138 BGB („gute Sitten“) und § 242 BGB („Treu und Glauben“). In all
diesen Fällen bildet die Rechtsprechung eine ständig wachsende Menge von richtungweisenden Grundsätzen für die künftige Rechtsanwendung.
Abgesehen von diesem allgemeinen Vorgang der Bildung von Richterrecht durch
die Auslegung von Rechtsvorschriften, kommt dem Richterrecht gerade im Arbeitsrecht die Aufgabe zu, Defizite der Gesetzgebung auszugleichen. Da weite Bereiche des Arbeitsrechts gesetzlich überhaupt nicht oder nur punktuell durch zu unterschiedlichen Zeiten aus begrenzten Anlässen erlassene und unzureichend auf einan-
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der abgestimmte Einzelgesetze geregelt sind, ist die Rechtssprechung gemäß dem
aus dem Rechtsstaatsprinzips des Art. 28 I GG sowie der Rechtsweggarantie des
Art. 19 IV GG folgenden Anspruch der Parteien eines vor dem Gereicht geführten
Rechtsstreits auf effektiven Rechtsschutz zu ergänzender Rechtsfindung unter besonderer Beachtung der Grundrechtspositionen des ArbG und des AN (nachfolgend
unter III. 2.) verpflichtet. Auf diese Weise wird die Rechtsprechung zu einer Art
von Ersatzgesetzgeber und schafft (ähnlich dem anglo-amerikanischen „caselaw“) ein „gesetzesvertretendes Richterrecht“. Der Richter wird damit zum „eigentlichen Herrn des Arbeitsrechts“ (Franz Gamillscheg).
Eine ständige Rechtsprechung, die dazu geführt hat, dass eine allgemeine Überzeugung von der Richtigkeit eines richterrechtlichen Rechtssatzes besteht, wird zu
Gewohnheitsrecht und nimmt dann als Rechtsquelle den Rang eines Gesetzes ein;
z.B. der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz als gewohnheitsrechtliche
Umsetzung des Art. 3 I GG (siehe unten III. 3.). Ob die von der Rechtsprechung
entwickelten Rechtssätze z.B. zum faktischen Arbeitsverhältnis (unten § 11 IV.),
zur betrieblichen Übung (unten § 4 II.), zur Arbeitnehmerhaftung (unten § 27) und
zum Arbeitskampfrecht (unten § 5 III. sowie § 20) bereits zu Gewohnheitsrecht
geworden sind, ist allerdings umstritten. Wenn nicht, dann hat das Richterrecht jedenfalls der obersten Instanz, nämlich des BAG, nach noch immer herrschender
Meinung zwar nicht den Rang eines Gesetzes, äußert aber eine gesetzesähnliche
faktische Bindungswirkung, weil die Untergerichte (ArbG, LAG) der Rechtsprechung des BAG Folge leisten, und dies nicht aus blindem Gehorsam, sondern unterstützt von gerichtsverfahrensrechtlichen Vorschriften zur Wahrung einer möglichst einheitlichen und widerspruchsfreien Rechtsanwendung. Auf diese Weise
werden weite Teile des Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung so gestaltet, als wäre der Gesetzgeber tätig geworden. Zur Normenqualität des Richterrechts siehe vor
allem Rüthers/Fischer a.a.O. Rn. 235 ff.
III. Die Bedeutung des Grundgesetzes für das Arbeitsrecht
Zu den auf das Arbeitsrecht einwirkenden gesetzliche Vorschriften zählen in besonderem Maße die im Rang über den einfachen Bundesgesetzen und Rechtsverordnungen stehenden Vorschriften des Grundgesetzes (GG).
1. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit durch Art. 9 III GG
Zu den verfassungsgesetzlichen Vorschriften, die das Arbeitsrecht maßgeblich gestalten, gehören die Bestimmungen des Art. 9 III GG. Sie enthalten eine umfassende Gewährleistung der Koalitionsfreiheit als Kollektiv- und Individualgrundrecht, auf dessen Grundlage der AN, der als Einzelner dem ArbG regelmäßig machtlos gegenübersteht, von Rechts wegen die Möglichkeit erhält, gemeinsam
mit anderen AN als Gewerkschaft dem einzelnen ArbG bzw. dem jeweils zuständigen ArbG-Verband zum Aushandeln von Tarifverträgen eine machtvolle Interessenvertretung entgegenzustellen.
a) Als Kollektivgrundrecht garantiert Art. 9 III 1 GG die freie Bildung und Betätigung von Koalitionen (= sowohl ArbG- als auch AN-Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen), jeweils frei von
staatlicher Einflussnahme. Auf dieser Grundlage ruht die Tarifautonomie in Gestalt
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der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien sowie deren
Arbeitskampffreiheit zur Verwirklichung ihrer tariflich regelbaren Zielvorstellungen mittels gewerkschaftlich geführten Streiks und ggf. von der Arbeitgeberseite als
Gegenmaßnahme herbeigeführter Aussperrung.
b) Als Individualgrundrecht garantiert Art. 9 III 1 GG dem Einzelnen, einerlei
ob ArbG oder AN, nicht nur positiv, eine Koalition zu gründen, einer Koalition beizutreten, sich in ihr zu betätigen und in ihr verbleiben zu können, solange nicht grobes Fehlverhalten einen Ausschlussgrund bietet (positive Koalitionsfreiheit), sondern auch negativ, einer Koalition fernzubleiben oder sie zu verlassen, ohne deswegen Nachteile erleiden zu müssen (negative Koalitionsfreiheit).
Zum Schutz dieser Freiheiten enthält Art. 9 III 2 GG eine „unmittelbare Drittwirkung“, insoweit er Privatrechtssubjekten, wie einerseits dem ArbG und ArbGVerbänden und andererseits den Gewerkschaften, verbietet, die positive wie negative Koalitionsfreiheit des Art. 9 III 1 GG durch Absprachen und Maßnahmen einzuschränken oder zu behindern. Art. 9 III Satz 2 GG ist darum zugleich als ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB zu qualifizieren.
So verwehrt die positive Koalitionsfreiheit dem ArbG das Recht, einem AN die Einstellung zu
verweigern oder das Arbeitsverhältnis zu kündigen, weil er einer Gewerkschaft angehört und sie
nicht verlassen will. Als ihre notwendige Kehrseite gibt die negative Koalitionsfreiheit dem AN
das Recht, einer Gewerkschaft fernzubleiben, ohne dass er deswegen Gefahr laufen darf, bei einem
tarifgebundenen ArbG keine Anstellung zu finden; denn Tarifvertragsklauseln, die einen ArbG dahingehend binden, dass er nur Gewerkschaftsmitglieder soll beschäftigen dürfen („closed shop“),
sind hiernach verboten. Ebenso ist z.B. eine tarifvertragliche Differenzierungsklausel, die dem ArbG
verbietet, nichtorganisierten AN freiwillig eine durch Tarifvertrag festgelegte Vergünstigung zu gewähren, nichtig. Ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit liegt auch darin, dass die Satzung
der jeweiligen Koalition für den Austritt eines AN aus einer Gewerkschaft oder eines ArbG aus dem
ArbG-Verband eine Kündigungsfrist von mehr als 6 Monaten und/oder andere Erschwernisse vorsieht.
Kein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit liegt allerdings vor, wenn ein tarifgebundener
ArbG den ANn, die nicht der Gewerkschaft angehören, den Tariflohn vorenthält. Er wird dies zwar
aus guten Gründen nicht tun (unten § 5 II. 2.), doch wäre ein solches Verhalten nach § 4 I TVG berechtigt, weil es an einer beiderseitigen Tarifbindung fehlt und der Gleichheitssatz die Ungleichbehandlung von Ungleichem zulässt (nachfolgend unter 3.).
2. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte
Zu den verfassungsgesetzlichen Vorschriften, die auf das Arbeitsrecht einwirken,
zählen neben dem die Koalitionsfreiheit unmittelbar gewährleistenden Art. 9 III GG
(vorstehend unter 1.) die Grundrechte der Art. 1 bis 6, 12 und 14 GG. Hinzu
kommt das in den Art. 20 I und 28 I 1 GG niedergelegte Sozialstaatsprinzip, das
den Staat mit einem weiten Spielraum verpflichtet, eine hinlänglich gerechte Sozialordnung herzustellen und damit auch und gerade dem sozial Schwächeren das gebotene Maß an Schutz zuteilwerden zu lassen.
Diese Artikel entfalten eine unmittelbare Wirkung nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat (= im Bereich des Öffentlichen Rechts), und nicht im Verhältnis
der Bürger untereinander (= im Bereich des Privatrechts), und damit auch nicht
zwischen ArbG und AN: Als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat sollen sie dem Einzelnen einen Freiraum gewährleisten, den die Staatsgewalt achten
und schützen muss.
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Im Bereich des Privatrechts kommt ihnen aber auch eine „mittelbare Drittwirkung“ auf die Rechtsverhältnisse der Bürger im Verhältnis zu einander zu, und dies
vor allem im Arbeitsrecht. Da die Rechtsprechung (neben der Gesetzgebung und
der vollziehenden Gewalt in Gestalt der Behörden) als Teil der Staatsgewalt nach
Art. 1 III GG an die Grundrechte gebunden ist, muss sie dem objektiven Wertgehalt der Grundrechte in allen Bereichen des Rechts Geltung verschaffen. Hierzu
ist sie schon bei der Auslegung von Rechtsvorschriften, erst recht aber in den Fällen
aufgefordert, in denen ihr die Aufgabe ergänzender Rechtsfindung zufällt (Jarass/Pieroth a.a.O. Vorb. vor Art. 1 GG, Rn. 58 f.).
Bestehen wegen der Unbestimmtheit oder Unvollkommenheit der gesetzlichen
Vorgaben Unklarheiten über ihren Regelungsgehalt, sind bei der Rechtsfindung die
grundrechtlichen Wertentscheidungen als Auslegungsmaßstab heranzuziehen
und ist derjenigen Deutung der Vorzug zu geben, die mit der Verfassung am besten
übereinstimmt; denn es ist davon auszugehen, dass auch der Gesetzgeber eine solche Regelung gewollt hat. Fehlt es gar an gesetzlichen Vorgaben, muss der Richter
eine Lösung finden, die die Interessen des ArbG und des AN so zum Ausgleich
bringen, dass die geschützten Grundrechtspositionen jeder Seite unter besonderer
Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips möglichst weitgehend wirksam werden.
Die Grundrechte gelten zwar für AN und ArbG gleichermaßen, doch besteht angesichts der für das Arbeitsverhältnis typischen strukturellen Unterlegenheit des AN
gegenüber dem ArbG (oben § 1 III.) ein ungleich größeres Bedürfnis danach,
grundgesetzliche Wertungen gerade zum Schutz des AN heranzuziehen. Dabei sind
die geschützten Grundrechtspositionen beider Seiten im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen. Man spricht davon,
zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen von ArbG und AN eine praktische Konkordanz herzustellen.
Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung vor allem den nachfolgend aufgeführten Grundrechten wichtige Wertungen für die Entscheidung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten entnommen.
(1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf der Grundlage von Art. 2 I GG i.
V. m. Art. 1 I GG
Hierauf gestützt gewährt die Rechtsprechung z.B. dem AN über den Wortlaut des § 611 BGB hinaus
das Recht, vom ArbG zu verlangen, ihn nicht nur zu entlohnen, sondern auch tatsächlich mit vertraggemäßen Aufgaben zu beschäftigen (Beschäftigungsanspruch), damit er seine beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sich erhalten und weiterentwickeln kann. Aus den gleichen Erwägungen
hat die Rechtsprechung einen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des AN während der
Dauer des Rechtsstreits über die wirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch arbeitgeberseitige Kündigung oder durch Fristablauf entwickelt (vgl. BAG v.27.2.1985 – GS 1/84 – in NZA
1985, 702 ff.; unten § 38 III.).
Hierauf gestützt hat die Rechtsprechung z.B. das Interesse des
ArbG an Informationen über den Stellenbewerber mit dem Interesse des Bewerbers am Schutz seiner
Privatsphäre dergestalt in Einklang gebracht, dass sie das Fragerecht des ArbG sachlich begrenzt
(unten § 10 IV.). Aus dem gleichen Grunde ist der ArbG nur höchst ausnahmsweise berechtigt, privates Verhalten des AN zum Anlass einer Kündigung zu nehmen. Da das dem AN nach § 83 I/II
BetrVG zustehende Recht auf Einsicht in seine Personalakte und auf Hereinnahme einer Gegendarstellung ihn nicht umfassend genug vor einer Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls und seines
beruflichen Fortkommens durch die Aufbewahrung unzutreffender oder wegen Zeitablaufs unerheb-
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lich gewordener Beanstandungen und Abmahnungen in seiner Personalakte schützt, gewährt ihm die
Rechtsprechung, gestützt auf Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG darüber hinaus in entsprechenden Anwendung des § 1004 BGB einen Anspruch auf die Entfernung solcher Bekundungen aus der Personalakte (BAG v.27.11.1985 – 5 AZR 101/84 – in NZA 1986, 227 ff).
(2) Auf der Grundlage der Gleichheitssätze des Art. 3 GG,
deren Aussagen sich in der Folgezeit zunehmend mit primärem (vor allem Art. 20 bis 26 EUGRCharta) und sekundärem Europarecht überschnitten haben, sind zahlreiche einfachgesetzliche
Rechtssätze in Gestalt von Gleichbehandlungsgeboten und Diskriminierungsverboten entstanden.
So hat die deutsche Arbeitsrechtsprechung aus Art. 3 I GG den allgemeinen arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz als einfachgesetzlichen Gleichheitssatz entwickelt (Jarass/Pieroth
a.a.O. Art. 3 GG, Rn. 63) und sind die Wertentscheidungen des Art. 3 GG in eine Reihe von einfachgesetzliche Vorschriften eingeflossen, die zum Teil in Umsetzung von EU-Richtlinien ergangen
sind. (nachfolgend unter 3).
(3) Die Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 I GG
Hierauf gestützt liegt die arbeitgeberseitige Weisung an eine Verkäuferin, bei der Arbeit kein islamisches Kopftuch zu tragen, unter Abwägung einerseits des Grundrechts des ArbG auf Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG und andererseits des Grundrechts der AN auf Glaubensfreiheit und ungestörte
Religionsausübung aus Art. 4 I und II GG, jedenfalls dann nicht mehr im Rahmen des „billigen Ermessens“ des § 315 BGB (siehe auch § 106 S. 1 GewO) und ist die wegen Nichtbefolgung dieser
Weisung ausgesprochene Kündigung unzulässig, wenn diese Art der Kleidung in Wahrheit weder
den Betriebsfrieden nachhaltig stört, noch den Umsatz fühlbar beeinträchtigt. Bloße Vermutungen
und Befürchtungen des ArbG sind unerheblich (BAG v.10.10.2002 – 2 AZR 472/01 – in NZA 2003,
483 ff.). Würden der Betriebsfrieden und/oder der Umsatz hierunter hingegen erkennbar leiden,
würde eine praktische Konkordanz der jeweils betroffenen Grundrechtspositionen verlangen, dass
der ArbG erst dann eine personenbedingte Kündigung aussprechen darf, wenn es für die AN in seinem Betrieb wirklich keinen anderen vertragsgerechten Arbeitsplatz gibt.
Demgegenüber ist ein
ArbG mit Rücksicht auf seine grundgesetzlich gewährleisteten Schutzrechte aus Art. 2 I, 12 I und 14
I GG nicht verpflichtet, durch Art. 4 I und II GG geschützte Gebetspausen muslimischer AN während der Arbeitszeit hinzunehmen, wenn hierdurch eine Störung der Betriebsabläufe eintritt (LAG
Hamm v.18.1.2002 – 5 Sa 1782/01 – in NZA 2002, 675 ff.). Hierauf gestützt, gewährt die Rechtsprechung dem AN das Recht, sich gegenüber der Zuweisung von Arbeiten, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, auf das Leistungsverweigerungsrecht des § 275 III BGB zu berufen. Demzufolge ist eine vom ArbG wegen Arbeitsverweigerung ausgesprochene verhaltensbedingte
Kündigung unzulässig. So z.B. im Fall eines als Leiter der Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens beschäftigten Mediziners, der sich weigerte, den bei seiner Einstellung nicht vorhersehbaren Einsatz zur Entwicklung einer militärisch nutzbaren Substanz zu befolgen (BAG v.24.5.1989 – 2
AZR 285/88 – in NZA 1990, 144 ff.). Der ArbG ist vielmehr verpflichtet, dem AN eine andere im
Rahmen seines Arbeitsvertrags liegende Tätigkeit zuzuweisen. Unterlässt er dies, behält der AN
nach § 615 S. 1 BGB seinen Lohnanspruch (unten § 19). Besteht für den AN jedoch keine andere
Beschäftigungsmöglichkeit, gerät der ArbG nicht in Annahmeverzug; denn der AN ist nun allein auf
Grund seiner Gewissensentscheidung außerstande, die vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen
(§ 297 BGB), deren Ernsthaftigkeit gerade darin zum Ausdruck kommt, dass der AN bereit ist, um
ihretwillen finanzielle Nachteile in Kauf zu nehmen. Keinesfalls ist der ArbG in solchen Fällen mit
der Gegenleistungsgefahr (Lohn ohne Arbeit) belastet. In dieser Situation kann der ArbG personenbedingt kündigen, da es ihm nicht zumutbar ist, ein mangels Leistungsverpflichtung des AN inhaltsleeres Arbeitsverhältnis dauerhaft weiterzuführen. Im Übrigen wird in einer solchen Situation meist
schon der AN von sich aus gekündigt haben.
(4) Meinungsfreiheit nach Art. 5 I GG
Hierauf gestützt ist der ArbG nicht berechtigt, auf politische Meinungsäußerungen im Betrieb (anders in einem Tendenzbetrieb; unten § 6 V. 3./4.) oder auf Kritik an innerbetrieblichen Umständen
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mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu reagieren, sofern sie nicht ernstlich den Betriebsfrieden stören
oder das Erscheinungsbild des Betriebes in der Öffentlichkeit beschädigen.
(5) Der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG
Hierauf gestützt sind u.a. sog. Zölibatsklauseln, nach denen der Arbeitsvertrag durch Eheschließung
des AN auflösend bedingt oder arbeitgeberseitig kündbar ist, unwirksam. Derlei war in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in Arbeitsverträgen z.B. von Stewardessen im Flugverkehr anzutreffen.
(6) Die Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG
Art. 12 I GG schützt die Berufsfreiheit aller natürlichen und juristischen Personen (über seinen
Wortlaut hinaus auch nichtdeutscher Rechtssubjekte), also sowohl des AN wie des ArbG.
Art. 12 I GG schützt einerseits die Freiheit des Unternehmers, die grundlegenden Entscheidungen über die Unternehmensführung eigenverantwortlich zu treffen, wie z.B. über die Gründung
oder Schließung, Erweiterung oder Verkleinerung des Unternehmens, seine innere Organisation sowie Fragen der Produktion und der Anzahl und Auswahl seiner Mitarbeiter. Andererseits schützt
Art. 12 I GG die Freiheit des AN, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem von ihm gewählten Beruf aufzunehmen, ein bestehendes Arbeitsverhältnis beizubehalten oder aufzugeben (vgl.
BVerfG v.27.1.1998 – BvL 15/87 – in E 97, 169, 175 f.). So ist z.B. die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 1 II KSchG („sozial ungerechtfertigt“, „durch dringende betriebliche Erfordernisse … bedingt“) durch die Rechtsprechung von dem Bestreben gekennzeichnet, die unternehmerische Freiheit des ArbG in dem Maße zu begrenzen, wie dies erforderlich ist, um gleichzeitig
dem Interesse des AN an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes angemessen Rechnung zu tragen.
Ebenso sind Kündigungen außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG (siehe §§ 1 I, 23 I 2, 3
KSchG) nach Maßgabe der §§ 138, 242 BGB im Lichte des Art. 12 I GG i.V.m. dem SozialstaatsPrinzip des Art. 20 I GG zu überprüfen und dürfen die Belange besonders schutzwürdiger AN, wie
z.B. allein erziehender oder älterer AN, nicht völlig außer Acht lassen. Andererseits darf das KSchG
nicht in der Weise interpretiert werden, dass es dem ArbG verwehrt ist, Betriebseinschränkungen
und Betriebsstilllegungen durchzuführen.
Art. 12 I GG schützt aber auch das Mobilitätsinteresse des AN, indem er übermäßige Bindungen
des AN an den Arbeitsplatz verhindert. So begrenzt er über § 242 BGB z.B. arbeitsvertragliche Regelungen, die den AN zur Rückzahlung von Aus- oder Fortbildungskosten verpflichten, wenn er sein
Arbeitsverhältnis vor Ablauf der vereinbarten Verweildauer kündigt (BAG v.11.4.2006 – 9 AZR
610/05 – in NZA 2006, 1042 ff.). Ebenso dürfen Wettbewerbsverbote für die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses sowie Nebentätigkeitsverbote während der Dauer des Arbeitsverhältnisses die Berufsfreiheit des AN nicht übermäßig einschränken.
(7) Der Schutz des Eigentums nach Art. 14 I GG
Im Arbeitsrecht spielt der Eigentumsschutz nach Art. 14 GG im Vergleich zur Berufsfreiheit nach
Art. 12 I GG eine nur untergeordnete Rolle. Der Schutz des Eigentums des ArbG ist im Arbeitskampfrecht von Bedeutung, insoweit Betriebsbesetzungen und Betriebsblockaden im Lichte des
Art. 14 I GG nach § 823 I BGB als Eingriffe in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
Schadensersatzansprüche des ArbG gegen streikende AN und/oder die streikführende Gewerkschaft
begründen können. Ebenso können Anwartschaften des AN z.B. auf betriebliche Altersversorgung
Eigentumsschutz genießen, so dass die Absenkung von Versorgungsleistungen nur unter strikter Beachtung des Vertrauensschutzes und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig ist.
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3. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz
Den Gleichheitssätzen des Art. 3 GG kommt im Arbeitsrecht eine besondere Bedeutung zu. Im Unterschied zu den im Vorangehenden aufgeführten Grundrechten
haben sie im Arbeitsrecht häufig eine konkrete Ausprägung in Gestalt von speziellen Bestimmungen im Range einfacher Bundesgesetze gefunden, so dass es
grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist, auf das Grundgesetz zurückzugreifen
(BAG v.23.8.1995 – 5 AZR 942/93 – in NZA 1996, 579 f.).
In der Gestalt von Diskriminierungsverboten enthält das AGG besonders normierte Gleichbehandlungsgebote zum Schutz von Stellenbewerbern und Beschäftigten vor Benachteiligungen wegen eines der in § 1 AGG genannten Gründe (unten § 9). Ebenso verbietet § 4 TzBfG eine sachlich nicht
gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten (unten § 12 II.) sowie von befristet gegenüber unbefristet Beschäftigten (unten § 13 I. 1.). Ferner werden durch § 75 I BetrVG die grundrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 3 GG für die Behandlung der Betriebsangehörigen verbindlich gemacht.
Im Arbeitsrecht hat sich der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz entwickelt, der als gewohnheitsrechtliche Umsetzung des Art. 3 I GG
den Rang einer eigenständigen zwingenden einfachgesetzlichen Vorschrift besitzt.
Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz erfasst die Fälle, in
denen der ArbG die Belegschaft aufgrund einer selbst geschaffenen Regel kollektiv „behandelt“, insbesondere durch die Gewährung einer freiwilligen Leistung in Gestalt etwa einer Lohnerhöhung, einer Zulage, einer Gratifikation oder
Versorgungszusage. Man spricht von einer „verteilenden Entscheidung des
ArbG“ (BAG v.3. 12. 2008 – 5 AZR 74/08 – in NZA 2009, 367 ff. Rn. 16), meistens in Gestalt einer zusätzlichen arbeitsvertraglichen Einheitsregelung, auf der
Grundlage einer Gesamtzusage oder des eine Betriebliche Übung begründenden
Verhaltens des ArbG (unten § 4 II./III.). In diesen Fällen darf der ArbG einzelne
AN oder Teilgruppen von AN nicht ohne sachlichen Grund von der Begünstigung
ausnehmen oder schlechter stellen. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet die sachfremde Ungleichbehandlung einzelner AN im
Verhältnis zu anderen AN in vergleichbarer Lage ebenso wie die sachfremde Unterscheidung zwischen Gruppen von AN (BAG a.a.O.).
Entsprechendes gilt, wenn der ArbG eine belastende Regel aufstellt, wie etwa die Anordnung von
Kurzarbeit, eine Kürzung des Weihnachtsgeldes oder die Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf
die übertarifliche Vergütung, und von ihrer Anwendung einzelne AN oder Teilgruppen von AN ausnimmt.
Das Problem liegt in der Feststellung der Vergleichbarkeit. Nur im Wesentlichen Gleiches muss gleich behandelt werden, Ungleiches hingegen darf ungleich
behandelt werden. Als gedankliches Hilfsmittel für die Feststellung der Vergleichbarkeit der begünstigten mit den benachteiligten AN dient die Frage, ob die benachteiligten AN für die Besserstellung dieselben Gründe in Anspruch nehmen
können, wie die begünstigten AN.
Beispiele: Viele Fälle ranken sich um das Weihnachtsgeld. So ist es z.B. zulässig, bei der Höhe des
Weihnachtsgeldes nach der Länge der Betriebszugehörigkeit oder der Menge der jährlichen Fehlzeiten (unter Beachtung von § 4a EFZG) zu differenzieren.
Gewährt der ArbG seinen kaufmännischen Angestellten ein 13. Monatsgehalt, seinen gewerblichen AN hingegen (abhängig von der Betriebszugehörigkeit) nur 20 bis 50 % eines Monatsgehalts, so ist eine solche Differenzierung nur
dann zulässig, wenn der ArbG dadurch eine besonders qualifizierte Mitarbeitergruppe stärker an sein
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Unternehmen binden will: Hier die auf seine Kosten über 2 Jahre hinweg im Wege einer internen
Ausbildung speziell geschulten kaufmännischen Angestellten im Gegensatz zu den gewerblichen
AN, die Tätigkeiten verrichten, die sie ohne besondere Vorkenntnisse in wenigen Tagen angelernt
ausüben können (BAG v.19.3.2003 – 10 AZR 2003/215 – in NZA 2003, 724). Erhalten die 70 Innendienstmitarbeiter eines Zeitungsverlages zu Weihnachten ein 13. Monatsgehalt, die meist teilzeitbeschäftigten Zusteller jedoch nicht, weil sie von den Abonnenten auf der Grundlage der vom
Verlag gestellten Glückwunschkarten ein reichliches Trinkgeld bekommen, wird eine Ungleichbehandlung verneint werden können.
Sollte der ArbG im Streitfall seine Differenzierungsgründe erst vor dem Arbeitsgericht offenbaren,
geht der Anschein, eine zunächst willkürliche Differenzierung im Nachhinein zu rechtfertigen zu
versuchen, im Zweifel zu seinen Lasten (BAG a.a.O.).
Nichtorganisierte AN können nicht unter Berufung auf Art. 9 III GG vom ArbG tarifliche Leistungen verlangen, weil die Tarifbindung nach §§ 3 I, 4 I TVG einen sachlichen Grund für die unterschiedliche Behandlung bildet. Wenn der ArbG aber wie im Regelfall den Nichtorganisierten
freiwillig tarifliche Leistungen gewährt, darf er unter ihnen nicht sachfremd differenzieren.
Verstößt der ArbG gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, ist im Regelfall nicht
die ganze Vergünstigungsregelung unwirksam, sondern der von der Vergünstigung
bisher ausgeschlossene AN den Begünstigten für die Vergangenheit gleichzustellen. Wenn die Gruppe der Ausgeschlossenen groß ist, kann das allerdings zu einer
erheblichen finanziellen Belastung des ArbG führen, so dass es geboten erscheint,
derlei auf für den ArbG ohne weiteres erkennbare Gleichheitsverstöße zu beschränken (Brox/Rüthers/Henssler Rn. 328; a.A. HWK/Thüsing § 611 Rn. 211). Eine Anpassung nach oben soll in den Fällen unterbleiben dürfen, in denen die Anzahl der
Begünstigten im Verhältnis zur Gesamtzahl der betroffenen AN sehr gering ist
(BAG v. 13.2.2002 – 5 AZR 713/00 – in NZA 2003, 215, 221 ff.: unter 5 % der Belegschaft). Hatte der ArbG die beanstandete Regelung noch nicht angewendet, darf
er die Ungleichbehandlung durch eine gleichbehandelnde Neuverteilung der ihm
zur Verfügung stehenden Mittel ersetzen. Im Übrigen ist für die Zukunft davon
auszugehen, dass der ArbG eine entsprechende Neuordnung vornehmen kann
(Krause § 4 Rn. 17).
Dem ArbG ist es jedoch nicht verwehrt, mit einzelnen AN als individuelle Maßnahme eine Begünstigung oder Schlechterstellung arbeitsvertraglich zu vereinbaren, z.B. ein höheres Entgelt trotz gleicher Tätigkeit, aber selbst ein niedrigeres
Entgelt, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen (§ 105
GewO). Insoweit herrscht Vertragsfreiheit. Der ArbG darf hierbei nur nicht gegen ein besonderes Gleichbehandlungsgebot verstoßen, weil er generell und damit
planmäßig etwa nach Geschlecht, Alter oder Teilzeit differenziert. Der allgemeine
arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gilt nur für eine kollektive
Maßnahme des ArbG (vgl. unten § 16 I. 1.).
.
IV. Supranationales EU-Recht
Zu den auf das Arbeitsrecht einwirkenden gesetzlichen Vorschriften zählt ferner das
supranationale EU-Recht, das dem nationalen Arbeitsrecht vorgeht, es sei denn,
dass sich eine Kollision durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der
nationalen Rechtsvorschrift vermeiden lässt.
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Das primäre Unionsrecht in Gestalt des Vertrags über die Europäische Union
(EUV), des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und
die Charta des Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) bilden die
Grundlage für das sekundäre Unionsrecht, das die Organe der EU unter Beachtung des in Art. 5 I 1 EUV niedergelegten Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung sowie des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des Art. 5 I 2,
III, IV EUV erlassen: Der Rat (Art. 16 EUV) regelmäßig auf Vorschlag der Kommission (Art. 17 EUV) gemeinsam mit dem Europäischen Parlament (Art. 14
EUV), wobei sie von dem Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 13 IV EUV) beratend unterstützt werden. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist in Art. 294
AEUV geregelt.
Arbeitsrechtlich bedeutsame Normen des primären Unionsrechts sind die Art.
157, 45, 49 und 56 AEUV (ursprünglich Art. 141, 39, 43, 49 EGV) über die Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben, die Freizügigkeit der AN, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit sowie der Kompetenzkatalog
des Art. 153 AEUV (ursprünglich Art. 137 EGV).
Das sekundäre Unionsrecht besteht vor allem aus Verordnungen und Richtlinien
der EU (Art. 288 AEUV). Die Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar und zwingend. Auf dem Gebiet des Arbeitsrechts sind sie allerdings selten.
Von gewisser Bedeutung sind die VO 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft und die VO 1408/71 über die soziale Sicherheit der
Wanderarbeiter in der Gemeinschaft.
Das europäische Arbeitsrecht beruht im Wesentlichen auf Richtlinien der EU
(künftig: RL). Die RL sind im Grundsatz kein unmittelbar geltendes Recht, sondern
geben den Mitgliedstaaten der EU verbindliche Regelungsziele vor, die von ihnen
durch nationale Gesetzgebung in unmittelbar geltendes Recht umzusetzen sind.
So beruht z.B. das TzBfG im Wesentlichen auf der RL 1997/81/EG zu der von UNICE, CEEP und
EGB [Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände, Europäischer Zentralverband der öffentlichen
Wirtschaft und Europäischer Gewerkschaftsbund] geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge und der RL 1999/70/EG zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über
Teilzeitarbeit. § 613a BGB beruht im Wesentlichen auf der sog. Betriebsübergangs-RL 77/187
EWG und deren Neufassung durch die RL 2001/23/EG. Das AGG beruht im Wesentlichen auf sechs
RL, die unter Berücksichtigung der ihnen nachfolgenden Rechtsprechung des EuGH in der RL
2006/54/EG zusammengeführt worden sind.
Die Texte dieser RL und anderer europarechtlicher Bestimmungen zum Arbeitsrecht enthält die
Textsammlung „EU-Arbeitsrecht“, Beck-Texte im dtv).
Zur Sicherstellung einer gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsanwendung in allen Mitgliedstaaten der EU sind nach Art. 267 AEUV (ursprünglich Art. 234 EGV)
nationale Gerichte berechtigt und in letzter Instanz verpflichtet, Fragen der Auslegung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts zwecks „Vorabentscheidung“ dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorzulegen.
Der Vorabentscheidung kommt besondere Bedeutung in Ansehung von nationalen
Gesetzen zu, die aus der Umsetzung einer Richtlinie der EU entstanden sind. Wird
erkennbar, dass der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung des in Gestalt einer
Richtlinie erlassenen sekundären Gemeinschaftsrechts in nationales Recht die Zielvorstellungen des supranationalen Richtliniengebers nicht erfüllt hat und scheitert
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eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Rechtsvorschrift an rechtsmethodischen Schranken, droht dem Mitgliedstaat eine Haftung gegenüber den durch
die Richtlinie Begünstigten auf Schadensersatz (Herdegen, Europarecht § 8 Rn. 43,
§ 10 Rn. 10). Zur Abwendung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach § 258
AEUV ist der betreffende Mitgliedstatt gehalten, die misslungene Umsetzung der
Richtlinie in nationales Recht nachzubessern.
Neben dem EuGH entwickelt sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu einem Gestaltungsfaktor der Arbeitsrechtsprechung. So
etwa bezüglich der Kündigung kirchlicher Mitarbeiter (unten § 6 V 4.) und der Erweiterung der Zulässigkeitsgrenzen des Whistleblowing (unten § 33 III. 2. b).
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§ 4 Auf der Ebene des Arbeitsvertrags stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen
I. Der Arbeitsvertrag als privatautonomer Gestaltungsakt
Durch den Abschluss eines Vertrags besitzen die Vertragsparteien die Möglichkeit
zur privatautonomen (= selbstbestimmten) Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse. Im
Wege der Einigung können sie im Verhältnis zueinander Rechte und Pflichten begründen, die von der Rechtsordnung als verbindlich anerkannt werden und in Ansehung ihrer Durchsetzung gerichtlichen Schutz genießen. Im Arbeitsrecht kommt es
jedoch eigentlich nie dazu, dass die Vertragschließenden die Arbeitsbedingungen
im Einzelnen aushandeln. Es ist vielmehr die Regel, dass der ArbG dem Stellenbewerber einen bereits vorgefertigten Arbeitsvertrag zur Unterschrift vorlegt, auf dessen Inhalt dieser keinen Einfluss mehr nehmen kann. Die Privatautonomie wird nur
vom ArbG in Anspruch genommen.
Der Grund hierfür liegt in dem Interesse des ArbG an betriebseinheitlichen Arbeitsbedingungen. Eine solche Regelung ist zwar vernünftig und kann auch nur vom
ArbG getroffen werden, gibt ihm aber zugleich die Möglichkeit zu eigennütziger
Inhaltsgestaltung zum Nachteil der wohlverstandenen Interessen des AN. Dem Arbeitssuchenden bleibt regelmäßig nichts weiter übrig, als den Arbeitsvertrag so hinzunehmen, wie ihn der ArbG formuliert hat.
1. Grenzen der privatautonomen Gestaltungsfreiheit durch zwingendes Recht
Wegen der im Regelfall strukturellen Unterlegenheit des AN und seiner daraus folgenden sozialen Schutzbedürftigkeit (oben § 1) ist die Möglichkeit des ArbG, den
Arbeitsvertrag nach eigenem Ermessen inhaltlich zu gestalten, in vielen Bereichen
durch zwingende gesetzliche Vorschriften und ähnlich stark bindendes Richterrecht eingeschränkt, die unabdingbar festlegen, welche Rechte dem AN mindestens zustehen sollen und welche Pflichten ihn höchstens treffen dürfen (oben § 3).
Darüber hinaus sind die zwingenden Vorgaben eines Tarifvertrags und einer Betriebsvereinbarung zu beachten (unten § 5 und § 6); und das alles mit dem Ziel,
sozialverträgliche Mindestarbeitsbedingungen zu gewährleisten.
In diesem Zusammenhang ist schon jetzt darauf hinzuweisen, dass es gesetzliche Vorschriften gibt,
die, obwohl im Grundsatz zwingend, es ausnahmsweise zulassen, dass in einem Tarifvertrag (oder
auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebsvereinbarung) Abweichungen auch und gerade zu
Ungunsten des AN vereinbart werden können. Man spricht in diesen Fällen von „tarifdispositivem
Gesetzesrecht“. So z.B. die Regelungen in § 7 und § 12 ArbZG, § 13 I 1 und 2 BUrlG, § 4 IV
EFZG, § 622 IV BGB, § 12 III und § 14 II 3 TzBfG (unten § 7 I. 2.).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, das eigentlich nur die Begründung des Arbeitsverhältnisses und die Beschreibung der vom AN fachlich geschuldeten Tätigkeit, der freien Vereinbarung unterliegen (Brox/Rüthers/Henssler Rn.119). Der Abschluss des Arbeitsvertrags ist ein Akt der Selbstgestaltung des Rechtsverhältnisses
daher im Grunde genommen lediglich insoweit, als sich die Vertragschließenden
durch ihn dem geltenden Arbeitnehmerschutzrecht unterwerfen. Sofern sie allerdings arbeitsvertragliche Regelungen treffen, die den AN besser stellen, als er nach
Maßgabe der zu seinem Schutz bestehenden Vorschriften mindestens gestellt sein
muss, gibt es keine rechtlichen Schranken. Es gilt das Günstigkeitsprinzip (siehe
dazu unten § 7 I.).
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2. Die richterliche Inhaltskontrolle des Arbeitsvertrags nach Maßgabe des
AGB-Rechts
a) Die Ausgangssituation
Abgesehen von den nach dem vorerwähnten Günstigkeitsprinzip möglichen Abweichungen von einseitig zwingenden Normen zu Gunsten des AN, bestünde ein privatautonomer Gestaltungsspielraum allerdings immer noch zum einen im Bereich des nachgiebigen (= dispositiven) Gesetzesrechts. Das sind diejenigen gesetzlichen Vorschriften, die abweichende vertragliche Bestimmungen zulassen. Sie
sind zwar in den besonderen AN-Schutzgesetzen kaum vertreten, wohl aber in dem
vom Grundsatz der Vertragsfreiheit beherrschten Schuldrecht des BGB, auch soweit es auf das Arbeitsverhältnis angewendet werden kann. Sehr viel mehr Gelegenheit zu privatautonomer Gestaltung gäben allerdings die infolge des Fehlens einer Gesamtkodifikation vorzufindenden Bereiche, in denen keine oder nur lückenhafte gesetzliche Regelungen bestehen.
Der den Parteien des Arbeitsvertrages in den vorerwähnten Bereichen zur Verfügung stehende Regelungsspielraum wird aber angesichts der vorstehend aufgezeigten Sachlage auch wieder nur vom ArbG dafür in Anspruch genommen, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Gerade in diesen Bereichen sind es darum die Vorschriften der §§ 305 ff. BGB über die richterliche Inhaltskontrolle Allgemeiner
Geschäftsbedingungen, die dem AN einen zusätzlichen Schutz vor unangemessenen Vertragsbedingungen geben.
Betriebseinheitlich vorformulierte Arbeitsbedingungen, die der ArbG den Stellenbewerbern bei Abschluss des Arbeitsvertrags als unverhandelbar zur Unterschrift
stellt oder während des Laufs des Arbeitsverhältnisses in Gestalt von „Zusätzen
zum Arbeitsvertrag“ ins Spiel bringt, sind als „Vertragliche Einheitsregelungen“
Allgemeine Geschäftsbedingungen i.S.d. § 305 I BGB (AGB). Im Arbeitsrecht
werden sie oft als Allgemeine Arbeitsbedingungen bezeichnet.
Da die Vermutung naheliegt, dass sie die Interessen des AN nicht angemessen berücksichtigen, führt ihre Verwendung zur Anwendung der Vorschriften der §§ 307
bis 309 BGB, die im Fall eines Rechtsstreits über die Wirksamkeit der einen oder
anderen Vertragsklausel zum Schutze des AN eine besondere richterliche Inhaltskontrolle dieser Klauseln auf Angemessenheit und Transparenz ermöglichen.
Auf diese Weise wird die Freiheit der inhaltlichen Gestaltung des Arbeitsvertrages
über die schon bestehenden Beschränkungen durch zwingende Normen (vorstehend
unter 1.) hinaus noch ein weiteres Mal eingeengt. Diese Vorschriften haben in weiten Teilen die Rolle übernommen, die vor deren Geltungserstreckung auf das Arbeitsrecht den aus den §§ 138, 242 BGB hergeleiteten Klauselverboten zukam.
Da das AGB-Recht erst seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts am
1.1.2002 auf das Arbeitsrecht anwendbar ist, das seinerseits aber schon lange vorher ein spezifisches
AN-Schutzrecht entwickelt hatte, bestimmt § 310 IV 2 BGB zum einen, dass die Anwendung des
AGB-Rechts auf Arbeitsverträge unter angemessener Berücksichtigung der im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten stattfindet. Damit soll insbesondere mit Blick auf die in § 309 BGB enthaltenen „Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit“ einer den Zwecken des Arbeitsrechts angepassten Anwendung der jeweiligen Klauselverbote der Weg geebnet werden, wie z.B. betreffend das
Verbot der Vereinbarung einer Vertragsstrafe nach § 309 Nr. 6 BGB (unten § 25 IV. 1.). Zum anderen finden die Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 II und III BGB keine Anwendung, da
insoweit bereits das NachwG den notwendigen Schutz des AN gewährleistet.
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Da AN natürliche Personen sind, die den Arbeitsvertrag zu einem Zweck abschließen, „der weder
ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“, sind
die als Verbraucher i.S.d. § 13 BGB anzusehen (BAG v. 25.5.2005 – 9 AZR 203/10 – in NZA
2005, 1111; BVerfG v. 23.11.2006 – 1 BvR 1909/06 – in NZA 2007, 85 ff.). Aus diesem Grunde
finden nach § 310 III Nr. 2 BGB die §§ 305c II, 306 bis 309 BGB sowie Art 46b EGBGB „auf vorformulierte Vertragsbedingungen auch dann Anwendung, wenn diese nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind und soweit der Verbraucher auf Grund der Vorformulierung auf ihren Inhalt
keinen Einfluss nehmen konnte“.
b) Allgemeine Regeln
(1) Bevor es zur Inhaltskontrolle der „Allgemeinen Arbeitsbedingungen“ nach
Maßgabe der §§ 307 bis 309 BGB kommt, ist die Vorschrift des § 305b BGB zu
beachten, wonach individuelle Vertragsabreden den Vorrang vor AGB haben.
Das heißt: Werden zwischen ArbG und AN ausnahmsweise in freier Vereinbarung
mündlich – auch konkludent (= durch schlüssiges Verhalten) – oder schriftlich
Abreden getroffen, die den als AGB zu qualifizierenden Vertragsbedingungen widersprechen, gilt ausschließlich das frei Vereinbarte. Allerdings hat der AN, der
sich gegenüber dem ArbG als dem Verwender der AGB auf eine von den AGB abweichende mündliche Vereinbarung beruft, ein Beweisproblem.
In vielen Arbeitsverträgen findet sich die Vereinbarung einer doppelten Schriftformklausel. Sofern
der ArbG damit den Zweck verfolgt, die Wirksamkeit mündlicher Nebenabreden mit einem AN auszuschließen, steht dem § 305b BGB entgegen, sofern der AN die Tatsache der mündlichen Nebenabrede beweisen kann (unten § 11 III.). Das Entstehen einer Betrieblichen Übung hingegen kann durch
eine doppelte Schriftformklausel verhindert werden, weil die Betriebliche Übung nicht auf einer Individualvereinbarung beruht (nachfolgend unter II. 4.).
(2) Auch die Vorschrift des § 305c I BGB ist gegenüber der Inhaltskontrolle
vorrangig. Nach ihr sollen überraschende AGB-Bestimmungen erst gar nicht
Vertragsbestandteil werden. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie „nach dem
äußeren Erscheinungsbild des Vertrags so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders der AGB mit ihnen nicht zu rechnen braucht“. Es handelt
sich dabei vor allem um Klauseln, denen ein „Überrumpelungseffekt“ innewohnt,
weil sie z.B. unter einer nichtssagenden oder irreführenden Überschrift „versteckt“
sind und vom AN darum nicht ausreichend beachtet werden.
So in Bezug auf eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist/Verfallfrist unten § 44 II. 1.
(3) Von besonderer Bedeutung ist die Unklarheitenregel des § 305c II BGB, wonach bei mehrdeutigen Klauseln Zweifel bei der Auslegung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu Lasten des Verwenders der AGB gehen. Dies beruht auf
der Erkenntnis, dass „derjenige, der die Vorteile der Vertragsgestaltungsfreiheit für
sich in Anspruch nimmt, auch deren Nachteile tragen“ muss (Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10 Aufl. 2006, 305c BGB Rn. 75). Der Verwender soll dadurch zu einer klaren, unmissverständlichen Ausdrucksweise veranlasst werden. Die Unklarheitenregel kann darum als ein besonderer Anwendungsfall des Transparenzgebots des § 307 I 2 BGB (nachfolgend unter c) (3). verstanden werden.
Voraussetzung für die Anwendung des § 305c II BGB ist, dass bei objektiver, „am Wortlaut der
vorformulierten Vertragsteile und seinem Verständnis aus der Sicht der typischerweise beteiligten
Verkehrskreise“ (Ulmer a.a.O. Rn. 73) orientierter Auslegung der AGB-Klausel mindestens zwei
Ergebnisse als vertretbar erscheinen, von denen keinem der Vorzug gegeben werden kann, so dass
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ein nicht behebbarer Zweifel darüber verbleibt, was wirklich gelten soll. In diesem Fall ist zunächst
die arbeitnehmerfeindlichste Auslegungsvariante zu wählen und zu prüfen, ob sie gegen ein
Klauselverbot der §§ 307 bis 309 BGB verstößt. Ist die Frage zu bejahen, bleibt es trotz Mehrdeutigkeit bei der Unwirksamkeit der Klausel. Erst wenn diese Frage zu verneinen ist, ist nach § 305c II
BGB die kundenfreundlichste Auslegungsvariante maßgebend.
c) Die Inhaltskontrolle auf Angemessenheit und Transparenz
(1) Gegenstand der richterlichen Inhaltskontrolle ist in erster Linie die Vereinbarkeit der vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen mit den ausdrücklichen
Klauselverboten zunächst des § 309 BGB (= Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit) und sodann des § 308 BGB (= Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit
wegen der Verwendung ausfüllungsbedürftiger unbestimmter Rechtsbegriffe, wie
z.B. „un/angemessen“ oder „zumutbar“). Die Beachtung der Klauselverbote der §§
309, 308 BGB führt zu einer auf bestimmte typische Tatbestände beschränkten und
deswegen besonderen Angemessenheitskontrolle.
(2) Sofern weder § 309 noch § 308 BGB greift, kommt als Auffangtatbestand eine allgemeine Angemessenheitskontrolle auf der Grundlage der Generalklausel
des § 307 I 1 BGB wegen unangemessener Benachteiligung „entgegen den Geboten von Treu und Glauben“ in Betracht. Hierzu enthält § 307 II BGB gesetzliche
Regelbeispiele, die das Fehlen eines angemessenen Interessenausgleichs vermuten
lassen („im Zweifel“). So wird in Nr. 1 als Maßstab auf die Leitbildfunktion des
dispositiven Gesetzesrechts (= wesentliche Grundgedanken der gesetzlichen Regelung) und in Nr. 2 auf die Bedeutung der Kardinalpflichten (= wesentliche Vertragspflichten) abgestellt.
(3) Zu einer unangemessenen Benachteiligung kann es auch wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB kommen. Das ist der Fall, wenn die
strittige Vertragsklausel so unklar abgefasst oder so unübersichtlich aufgebaut ist,
dass für den durchschnittlichen AN die Gefahr besteht, ihre Tragweite nicht zu erkennen mit der Folge, dass er davon abgehalten wird, seine vertraglichen Rechte
geltend zu machen.
d) Schranken der Inhaltskontrolle
Bei der Anwendung des AGB-Rechts muss bedacht werden, dass nach § 307 III 1
BGB Gegenstand der richterlichen Inhaltskontrolle im Grundsatz nur solche
Vertragsbestimmungen sind, „durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen“ herbeigeführt werden.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rechtsvorschriften in diesem Sinne auch „die
dem Gerechtigkeitsgebot entsprechenden allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze, d.h. auch alle ungeschriebenen Rechtsgrundsätze, die Regeln des Richterrechts oder die auf Grund ergänzender Auslegung nach den §§ 157, 242 BGB [=
gemäß Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte] und aus der Natur
des jeweiligen Schuldverhältnisses zu entnehmenden Rechte und Pflichten“ (BAG
v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06 – in NZA 2007, 853 R. 16; BAG v. 18.1.2012 – 10
AZR 612/10 – in NZA 2012, 561 Rn.20). Auf diese Weise unterliegen vorformulierte Arbeitsbedingungen auch und gerade in Bereichen, in denen keine oder nur
lückenhafte gesetzliche Regelungen bestehen, einer Angemessenheitskontrolle
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(nachfolgend unter (3). Im Übrigen gilt für sie (wie auch für leistungsbeschreibende
Klauseln, nachfolgend unter (2)) in jedem Fall das Transparenzgebot (nachfolgend
unter (3).
Arbeitsrechtliche Kollektivverträge (Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen) sind nach § 310 IV 1
BGB von einer Anwendung der 305 ff. BGB ausgenommen, weil durch eine die Autonomie vor
allem der Tarifvertragsparteien (= Grundsatz der Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme) in
Frage gestellt werden würde. Außerdem ist davon auszugehen, dass Regelungen in einem Tarifvertrag und einer Betriebsvereinbarung die Interessen der AN angemessen berücksichtigen.
(1) AGB, die die jeweils einschlägige gesetzliche oder tarifvertragliche Regelung
lediglich korrekt wiederholen, wortwörtlich oder sinngemäß (= deklaratorische
Klauseln), sind kontrollfrei.
(2) Sofern AGB die gegenseitigen Hauptleistungen festlegen, hier also einerseits
die vom AN geschuldete Tätigkeit und die vom ArbG dafür gewährte Vergütung (=
leistungsbeschreibende Klauseln), weichen sie allerdings nicht von Rechtsvorschriften ab, doch unterliegen sie (= andere Bestimmungen i.S.v. § 307 III 2 BGB)
auf jeden Fall der Transparenzkontrolle nach § 307 I 2 BGB.
(3) AGB, die in einem Bereich ergehen, in dem es keine gesetzlichen Vorgaben
gibt, können aber von – den Rechtsvorschriften gleichstehenden – allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen abweichen und darum der Angemessenheitskontrolle
nach §§ 307 I 1, 308 und 309 BGB unterliegen. Im Übrigen unterliegen sie (= andere Bestimmungen i.S.v. § 307 III 2 BGB) der Transparenzkontrolle nach § 307 I 2
BGB.
e) Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die §§ 309, 308, 307 BGB
Benachteiligt die strittige AGB-Klausel den AN hiernach unangemessen, ist sie
unwirksam. Nach § 306 I BGB bleibt der Arbeitsvertrag im Übrigen jedoch bestehen, anderenfalls die Inhaltskontrolle ihn rechtlos stellen würde. An die Stelle der
unwirksamen AGB-Klausel tritt nach § 306 II BGB das insoweit unveränderte dispositive Gesetzesrecht. Fehlt es an gesetzlichen Vorgaben, fällt die unwirksame
AGB-Klausel einfach ersatzlos weg.
In den Fällen, in denen die hierdurch entstehende Lücke zu einem vor allem für den
ArbG unzumutbaren Ergebnis führen würde, kann sie im Wege der ergänzenden
Vertragsauslegung nach § 157 BGB ausgefüllt werden. Siehe dazu das Rechtsprechungsbeispiel unten § 15 IV. (Bandbreitenregelung).
Eine gerichtliche Korrektur der unwirksamen AGB-Klausel durch Rückführung auf
den gerade noch zulässigen Inhalt – eine sog. geltungserhaltende Reduktion –
wird zu Recht abgelehnt, weil der ArbG sonst keinen Anreiz hätte, sich von vornherein um angemessene Vertragsbedingungen zu bemühen. Ist die AGB-Klausel allerdings sinnvoll teilbar, kann der für sich unbedenkliche Teil wirksam bleiben
(Krause a.a.O. § 7 Rn.11).
f) Seit das AGB-Recht auch im Arbeitsrecht gilt, hat die Rechtsprechung in zunehmendem Maße von ihrer Befugnis zur Inhaltskontrolle der vom ArbG vorformulierten Arbeitsbedingungen Gebrauch gemacht. In der nachfolgenden Darstellung des Arbeitsrechts wird dies immer wieder deutlich werden. Dabei geht es
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vor allem um die Ausübung der allgemeinen Angemessenheitskontrolle auf der
Grundlage der Generalklausel des § 307 I 1 BGB sowie um die Durchführung der
Transparenzkontrolle nach Maßgabe des § 307 I 2 BGB. Folgende Kontrollgegenstände sind hervorzuheben:
(1) Der Freiwilligkeitsvorbehalt, den der ArbG verwendet, um das Entstehen einer Betrieblichen
Übung (dazu unter § 4. II. 1.) zu verhindern ► § 4 II. 3.
(2) Der Freiwilligkeitsvorbehalt, den der ArbG verwendet, um sich die Möglichkeit zu eröffnen,
die Zahlung von Zusatzentgelten die er seinen AN vertraglich zugesagt hat (dazu unter § 16 II. 3. bis
3. b)), ggf. einstellen zu können ► § 16 II. 2. a).
(3) Der Widerrufsvorbehalt, den der ArbG verwendet, um sich die Möglichkeit zu eröffnen, die
Zahlung von Zusatzentgelten, die er seinen AN vertraglich zugesagt hat (dazu unter § 16 II. 3. bis 3.
b)), ggf. einstellen zu können ► § 16 II. 2. b).
(4) Die einfache und doppelte Schriftformklausel für Ergänzungen zum Arbeitsvertrag ► § 4 II.
4. sowie § 11 I. 3.).
(5) Eine gegenläufige Betriebliche Übung durch eine dreijährige unwidersprochene Hinnahme eines dem Entstehen einer Betrieblichen Übung nachfolgenden Freiwilligkeitsvorbehalts? ► § 4 II. 5.
(6) Die Versetzungsklauseln, die der ArbG verwendet, um sich die Möglichkeit zu verschaffen, eine Versetzung des AN durch Ausübung seines Weisungsrechts nach Maßgabe von § 106 GewO anzuordnen ► § 15 II. 2. b)
(7) Die Bandbreitenregelung bei der Vereinbarung kapazitätsorientierter variabler Arbeitszeit
(KAPOVAZ) ► § 15 IV.
(8) Vertragsstrafeklauseln, die den AN verpflichten, bei Nichtantritt seiner Arbeitsstelle oder vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne hinreichenden Grund sowie in Fällen der Verletzung von Nebenpflichten eine Geldstrafe zu entrichten ► § 15 VI.
(9) Die Stichtagsklausel, durch die der ArbG den Anspruch des AN auf eine Jahressonderzahlung
davon abhängig macht, dass das Arbeitsverhältnis bis zum 31.12. des Bezugsjahres oder noch darüber hinaus besteht, ggf. in noch ungekündigtem Zustand ► § 16 II. 3. c).
(10) Die Ausgleichsquittung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ► § 16 VI. 5.
(11) Abdingbarkeit des § 615 BGB? ► § 19 IV.
(12) Ausschluss- bzw. Verfallfristen von Ansprüchen des AN gegen den ArbG und umgekehrt, die
an die Stelle der gesetzlichen Verjährungsfristen der §§ 195, 199 BGB in Arbeitsverträgen vereinbart werde. ► § 44
II. Die Betriebliche Übung als vertragsergänzender Gestaltungsfaktor
1. Der Gegenstand der Betrieblichen Übung
a) Es kommt nicht selten vor, dass der ArbG seiner Belegschaft eine Leistung
oder Vergünstigung regelmäßig zukommen lässt, ohne dazu verpflichtet zu sein:
weder kraft Gesetzes, noch auf Grund eines Tarifvertrags, einer Betriebsvereinbarung, des Arbeitsvertrags oder einer Gesamtzusage. In diesem Fall stellt sich die
Frage, ob in dem Verhalten des ArbG die Rechtsgrundlage für eine auf Dauer eingegangene Verpflichtung liegen kann. Das Arbeitsrecht bejaht dies mit der Feststellung, dass die AN, denen die Zuwendung über einen längeren Zeitpunkt hinweg
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vorbehaltlos zuteil geworden ist, von Rechts wegen annehmen dürfen, vom ArbG
auf Dauer bedacht zu werden. Es wird darauf abgestellt, dass der ArbG durch sein
Verhalten eine vertragliche Bindung in Gestalt einer „Betrieblichen Übung“
eingegangen ist, als deren Rechtsfolge die AN einen Anspruch auf die fortgesetzte
Gewährung der üblich gewordenen Zuwendung erworben haben.
Merke: Möglich wird das Entstehen einer den Arbeitsvertrag ergänzenden Verpflichtung des ArbG im Wege der Betrieblichen Übung vor allem durch den Umstand, dass der Arbeitsvertrag, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu seiner Gültigkeit nicht der Schriftform bedarf (unten § 11 I. 1.). Deshalb ist es nur folgerichtig, dass eine arbeitsvertraglich vereinbarte (doppelte) Schriftformklausel das Entstehen einer Betrieblichen Übung verhindern kann (nachfolgend unter 4.).
Beachte: Im Regelfall erbringt der ArbG zusätzliche Leistungen allerdings nicht
auf die soeben beschriebene Weise. Vielfach sind sie in einem Tarifvertrag oder
einer nach § 88 BetrVG freiwilligen Betriebsvereinbarung festgelegt. Häufiger
noch werden sie vom ArbG auf arbeitsvertraglicher Grundlage zugesagt. Letzterenfalls kommt es in Ansehung von Änderungsvorbehalten des ArbG zu vergleichbaren Rechtsfragen (unten § 16 II. 3. und III.).
Verhaltensweisen des ArbG, die die Gestaltung und Leitung des Betriebes, seine
innere Ordnung und sein Funktionieren betreffen, können sich nicht zu einer den
ArbG bindenden Betrieblichen Übung verfestigen. Das verbietet schon die nach
Art. 12 I GG grundgesetzlich garantierte Freiheit des Unternehmers zu einer eigenverantwortlichen Unternehmensführung (oben § 3 III. 2 (6). Darum kann auch die
Ausübung des Weisungsrechts des ArbG nicht durch eine Betriebliche Übung
eingeschränkt werden.
Der für das Handeln einer Behörde maßgebende Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
lässt das Entstehen einer Betrieblichen Übung nicht zu. Leistungen oder Vergünstigungen eines
staatlichen Arbeitgebers an seine Angestellten bedürfen stets einer Rechtsgrundlage. Eine infolge
fehlerhafter Rechtsanwendung erfolgte Zuwendung muss eingestellt werden.
b) Die Betriebliche Übung ist gesetzlich nicht geregelt. Sie ist vielmehr ein Produkt von Rechtslehre und Rechtsprechung, die dieses Rechtsinstitut zum Schutz des
Vertrauens der AN in die Beständigkeit eines im Betrieb eingespielten Gewährungsverhaltens des ArbG entwickelt haben. Da sich die daraus folgende Bindungswirkung nur auf solche Verhaltensweisen des ArbG bezieht, die einen Erfüllungsanspruch des AN begründen (Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611
BGB Rn.468), wird eine dem AN nachteilige Betriebliche Übung nicht entstehen
können.
Wie schon die Bezeichnung als „betriebliche“ Übung deutlich macht, enthält das
Rechtsinstitut ein kollektives Element: Es bezieht sich stets auf eine Vielzahlt von
AN, mindestens aber auf eine abgrenzbare Gruppe von ihnen (BAG v. 11.4.2006 –
9 AZR 500/05 – in NZA 2006, 1089 Rn.15 ff.: BAG v. 21.4.2010 – 10 AZR 163/09
– in NZA 2010, 808 Rn.11). Will der ArbG die Gewährung auf eine bestimmte
Gruppe von AN beschränken, bedarf er allerdings eines sachlichen Grundes, andernfalls in der Abgrenzung ein Verstoß gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz liegt (oben § 3 III. 3.).
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c) Die Betriebliche Übung kann jede Leistung oder Vergünstigung des ArbG
erfassen, die auch arbeitsvertraglich geregelt werden könnte. Es geht im Wesentlichen um Geldzahlungen oder sonstige geldwerte Zuwendungen. Das Vertrauen der AN in den Fortbestand der Gewährung ist umso schutzwürdiger, je größer
das finanzielle Gewicht der Zuwendung für sie ist. Bloße Annehmlichkeiten, wie
etwa die bezahlte Arbeitsbefreiung zu einem besonderen Sportereignis, dürften
auch bei mehrfacher Wiederholung kaum eine Betriebliche Übung begründen.
Häufig handelt es sich um jährliche Sondervergütungen in Gestalt etwa eines Urlaubs- oder Weihnachtsgeldes sowie von Prämien oder Boni, aber auch um Zuschläge zum Monatslohn, wie etwa die
Gewährung einer Leistungs- oder Erschwerniszulage. Gegenstand einer Betrieblichen Übung kann
ferner die Anwendung des auf den Betrieb anwendbaren Tarifvertrages auf Außenseiter sowie die
Nichtanrechnung von Tariflohnerhöhungen auf den übertariflichen Lohn sein. Weitere typische Beispiele sind die Leistung einer Trennungsentschädigung, eines Essenszuschusses, von Fahrkostenzuschüssen, die Erstattung von Fortbildungskosten, die Bereitstellung eines kostenlosen Werksverkehrs, die Übernahme der Reinigung von Dienstkleidung, die Gewährung von Personalrabatten sowie die Vergütung von Betriebspausen als Arbeitszeit. Es kann auch um Versorgungsleistungen gehen, wie etwa ein 13. Ruhegehalt.
Über welchen Zeitraum hinweg die Zuwendung wiederholt bzw. getätigt worden sein muss, um für den ArbG eine Verpflichtung auf Dauer entstehen zu lassen,
hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Art der Zuwendung und ihrer Häufigkeit. In Ansehung jährlich zahlbarer Sonderzuwendungen,
wie z.B. eines Urlaubs- oder Weihnachtsgeldes, entsteht nach herrschender Meinung eine Bindung des ArbG für die Zukunft, wenn er seinen AN die gleiche Zahlung in drei aufeinander folgenden Jahren geleistet hat.

d) Dass der ArbG seinen AN Leistungen oder Vergünstigungen einfach ohne eine
ihn dazu verpflichtende Rechtsgrundlage zukommen lässt, kann bedeuten, dass er
angesichts der Freiwilligkeit seines Tuns jede Art von Festlegung vor allem in Bezug auf die zeitliche Dauer der Gewährung vermeiden will, um sich die Dispositionsfreiheit über die Zuwendung zu erhalten. Ob diese Vermutung wirklich zutrifft,
würde allerdings erst dann deutlich werden, wenn er die über einige Zeit hinweg regelmäßig erbrachte Zuwendung plötzlich einstellt oder kürzt. Dann aber könnte bereits eine Betriebliche Übung entstanden sein, die ihm einen einseitigen Abbau der
Gewährung verbietet. So z.B., wenn der ArbG, der erstmals im Oktober 2011 ein
zusätzliches Monatsgehalt als Weihnachtsgeld ohne nähere Erläuterung zahlt, auch
in den Jahren 2012 und 2013 so verfährt, eine entsprechende Zahlung in 2014 aber
nicht mehr leistet. Ein solcher Fall ist heutzutage allerdings in hohem Maße unrealistisch, weil kaum eine Rechtsprechungsregel des Arbeitsrechts im Arbeitsleben
eine solche Bekanntheit erlangt hat, wie die Begründung eines Anspruchs auf Gratifikation durch eine dreimalige vorbehaltlose Zahlung (BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR
606/07 – in NZA 2008, 1173 Rn.28).
Der ArbG ist dem Entstehen einer Betrieblichen Übung keineswegs hilflos ausgeliefert. Wenn er sich schon ohne eine bestehende Verpflichtung dazu entschließt,
seinen AN regelmäßig wiederholt eine zusätzliche Leistung oder Vergünstigung
zukommen zu lassen, muss er im Grundsatz auch die Möglichkeit haben, sich die
Dispositionsbefugnis über seine Zuwendung erhalten zu können. Das Arbeitsrecht
stellt ihm hierzu den Freiwilligkeitsvorbehalt zur Verfügung, der bei einer mit
dem AGB-Recht vereinbaren Verwendung das Entstehen einer Betrieblichen
Übung verhindert. Näheres dazu nachfolgend unter 3.
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Beachte: Auf andere Weise als der Freiwilligkeitsvorbehalt führt die zwischen dem
ArbG und seinen AN zusammen mit der Zuwendung getroffene Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie ist allerdings nicht geeignet, das Entstehen einer Betrieblichen Übung zu verhindern, sondern setzt im
Gegenteil das Bestehen einer Leistungsverpflichtung des ArbG gerade voraus, sonst
gäbe es ja nichts zu widerrufen. Sie gibt dem ArbG jedoch die Befugnis, diese Bindung unter bestimmten Voraussetzungen zu beenden. Näheres dazu unten § 16
III.
Merke: Der ArbG hat also zwei Möglichkeiten, sich in Ansehung einer freiwilligen
Leistung seine Dispositionsbefugnis zu erhalten. Will er das Entstehen einer Verpflichtung auf Grund Betrieblicher Übung verhindern, muss er seine Leistung von
Anfang an unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt stellen. Stattdessen kann er sich seinen AN gegenüber von Anfang an zu einer Leistung verpflichten, die er aber von
vorn herein mit einem Widerrufsvorbehalt verbindet. Eine Betriebliche Übung
kommt dann nicht in Betracht, weil die Leistungsverpflichtung des ArbG schon besteht. Er kann seine Verpflichtung zur Leistung aber unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen.
2. Zur rechtsdogmatischen Begründung der Betrieblichen Übung
a) In dem Bestreben, das Entstehen einer Betrieblichen Übung rechtsgeschäftlich zu erklären, liegt nach ständiger Rechtsprechung in dem regelmäßig und
gleichförmig wiederholten Gewährungsverhalten des ArbG nach Ablauf einer vertrauensbildenden Zeitspanne das (durch schlüssiges Verhalten manifestierte =)
konkludente Angebot auf Abschluss einer Vereinbarung über eine auf Dauer
gerichtete Zuwendung. Diese Annahme beruht auf der von der „vorherrschenden
Rechtsgeschäftslehre“ (ErfK/Preis § 611 BGB Rn.220a) entwickelten Erkenntnis,
dass in einem Verhalten eine Willenserklärung liegen kann, wenn derjenige, dem
das Verhalten gilt, es bei objektiver Betrachtung unter Berücksichtigung aller Begleitumstände nach „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ (§ 242
BGB) als eine bestimmte Willenserklärung verstehen darf und der Handelnde dies
hätte erkennen und vermeiden können.
Sollte dem ArbG trotz der Bekanntheit des Rechtsinstituts der Betrieblichen Übung das Bewusstsein,
eine Erklärung dieses Inhalts abgegeben zu haben, aktuell gefehlt haben, muss er sich jedoch ein
„potentielles“ Erklärungsbewusstsein als Folge seiner „Erklärungsfahrlässigkeit“ zurechnen lassen.
Dennoch verbietet sich eine Anfechtung wegen eines Inhaltsirrtums nach § 119 I BGB angesichts der Besonderheit des Rechtsinstituts der Betrieblichen Übung und wird auch von der Rechtsprechung folgerichtig ignoriert; vergleiche die Rechtslage beim Schweigen auf ein kaufmännisches
Bestätigungsschreiben.
Das bedeutet für die AN: Aus rechtlicher Sicht enthält das regelmäßige Gewährungsverhalten für die AN nach Treu und Glauben irgendwann den Erklärungswert,
dass der ArbG sie auf Dauer berechtigen will. Damit kommt dem Vertrauensschutz
eine entscheidende Bedeutung für das Entstehen einer vertraglichen Bindung zu.
Das über eine bestimmte Zeitspanne hinweg praktizierte Gewährungsverhalten des
ArbG wird zu dem konkludenten Angebot auf Abschluss einer Vereinbarung über
eine dauerhafte Leistung. Dadurch dass die AN dieses Angebot des ArbG durch die
regelmäßige Entgegennahme seiner Zuwendung ebenso konkludent annehmen ─
der Zugang der Annahmeerklärung ist nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ─ ist eine
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Betriebliche Übung entstanden und damit der Anspruch der AN auf die Fortsetzung
der Gewährung begründet.
Ob man die Bindungswirkung der Betrieblichen Übung rechtsdogmatisch mehr aus dem Vertragsrecht (Vertragstheorie) oder mehr aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes (Vertrauenstheorie)
herleitet, ist eine eher akademische Frage und spielt im Ergebnis keine Rolle. Rechtsdogmatisch
werden Elemente aus beiden Bereichen beansprucht. Die Betriebliche Übung ist eben ein „eigenständiges Institut des Arbeitsrechts“ (Krause a.a.O. § 8 Rn.5).
b) Die Bindungswirkung ergreift auch in den Betrieb neu eintretende AN, und
zwar auf der Grundlage des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (oben § 3 III 3.); bei jährlichen Sonderleistungen, wie z.B. Gratifikationen, anteilig nach den Monaten der Betriebszugehörigkeit im laufenden Jahr. Kein
Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz soll allerdings
dann vorliegen, wenn alle Neulinge nach ihren Arbeitsverträgen von bestimmten
eingespielten Sonderleistungen ausgenommen werden. Eine damit etwa verbundene
Veränderung des betrieblichen Vergütungssystems kann allerdings zur Anwendung
des § 87 I Nr. 10 BetrVG führen (unten § 16 I. 4. sowie BAG. v. 28.2.2006 – 1
ABR 4/05 – in NZA 2006, 1426).
c) Keine Bindungswirkung für die Zukunft entsteht, wenn der ArbG erkennbar
jeweils nur eine Einzelfallentscheidung treffen wollte.
Beispiele: Trotz mehrjähriger freiwilliger Anpassung der Löhne an den jeweils neuen Tarifvertrag
durch den mangels Mitgliedschaft im ArbG-Verband nicht tarifgebundenen ArbG besteht kein Anspruch der AN auf Anpassung auch an künftige Tariflohnerhöhungen, die der ArbG nicht mehr hinnehmen kann oder will. Vielmehr besteht ein Anspruch nur auf Fortzahlung der letzten freiwilligen
Erhöhung, denn ein nicht tarifgebundener ArbG hat sich seine Entscheidungsfreiheit über die Lohnentwicklung gerade erkennbar vorbehalten. ─ Keine Bindungswirkung bei mehrjähriger freiwilliger
Sonderzahlung nach Gutdünken des ArbG in jeweils unterschiedlicher Höhe. ─ Ein mehrjähriger
Verzicht des ArbG darauf, eine ausdrücklich vorbehaltene Anrechnung von Tariflohnerhöhungen
vorzunehmen, nimmt ihm nicht die Befugnis dazu. Also keine Betriebliche Übung durch ein die AN
begünstigendes Unterlassen des ArbG, von einer ihm vertraglich eingeräumten Anrechnungsbefugnis Gebrauch zu machen.
3. Der Freiwilligkeitsvorbehalt des Arbeitgebers
a) Für den Fall, dass der ArbG eine Betriebliche Übung nicht entstehen lassen will,
kann er versuchen, die Zuwendung unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt stellen. Seit
er als eine vom ArbG einseitig gestellte Vertragsbedingung der Geltung des
AGB-Rechts unterliegt (vorstehend unter I. 2. a) am Ende), ist zu beobachten, dass
seine Verwendung in der neueren Rechtsprechung des BAG zunehmend kritisch
gesehen wird und mehr denn je Gefahr läuft, als unangemessen i.S.d. § 307 I 1
BGB wegen Verstoßes gegen die Gebote von Treu und Glauben oder als unangemessen i.S.d. des § 307 I 2 BGB wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot angesehen zu werden.
b) Der Freiwilligkeitsvorbehalt ist eine auf die Zuwendung bezogene einseitige
Erklärung, durch die der ArbG verhindert, dass sich eine Betriebliche Übung
bildet. Das hindert zwar nicht die Rechtswirksamkeit des jeweils vollzogenen Gewährungsakts, schließt jedoch das Entstehen einer in die Zukunft gerichteten
Bindung des ArbG von Anbeginn aus, weil er klarstellt, dass ihm dazu der
Verpflichtungswille fehlt. Der ArbG behält daher die Freiheit, sich immer wieder
neu für die Gewährung zu entscheiden, sie also auch unterbrechen, einschränken
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oder aufgeben zu können. Voraussetzung ist nur, dass er den Freiwilligkeitsvorbehalt unmissverständlich formuliert kundtut. Folgende Wendung hat sich durchgesetzt: „Diese Leistung erfolgt freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.
Ein Anspruch für die Zukunft wird hierdurch nicht begründet.“
Der bloße Hinweis des ArbG darauf, dass seine Leistung freiwillig erfolgt, ist kein wirksamer Vorbehalt, weil er auch so zu verstehen ist, dass er sich zur Erbringung einer Leistung verpflichtet, die er
nicht schon aus anderen Gründen schuldet. Ebenso ist die Wendung „freiwillig und unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs“ nach § 307 I 2 i.V.m. § 305c BGB unwirksam, weil sie zwei nach
ihrer Rechtsfolge unterschiedliche Vorbehalte mit einander verbindet und jeder der Vorbehalte noch
dazu unzureichend formuliert ist.
Ein schon im Arbeitsvertrag vorsorglich enthaltener allgemeiner pauschaler
Freiwilligkeitsvorbehalt bezüglich „aller in diesem Vertrag nicht vereinbarten
Leistungen des ArbG an den AN“ stößt auf Bedenken. Auch die Rechtsprechung
steht dieser Möglichkeit neuerdings zweifelnd gegenüber (BAG v. 14.9.2011 – 10
AZR 526/10 – in NZA 2012, 81 Rn.29 ff, 36 bis 41; BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR
848/12 – in NZA 2014, 368 Rn.39). Da diese Vertragsklausel, vom ArbG vorformuliert, den Charakter Allgemeiner Geschäftsbedingungen trägt, kann sie daran
scheitern, dass sie wegen eines infolge ihrer Anwendungsbreite unzulässig miterfassten Falles, der z.B. laufendes Arbeitsentgelt (siehe nachfolgend unter c)) oder
eine nach § 305b BGB vorrangige Individualvereinbarung betrifft, gegen die Vorschrift des § 307 I 1 BGB verstößt. Problematisch ist ferner, dass der Pauschalvorbehalt auch Gesamtzusagen (nachfolgend unter III.) erfasst. Ein mit vielen Anwendungsausnahmen gespickter Pauschalvorbehalt könnte demgegenüber an den
Transparenzanforderungen des § 307 I 2 BGB scheitern.
Auch ein nur das Entstehen Betrieblicher Übungen vorsorglich ausschließender Freiwilligkeitsvorbehalt im Arbeitsvertrag begegnet Zweifeln. Auf jeden
Fall müsste er den Fall laufenden Arbeitsentgelts ausdrücklich ausnehmen (siehe
nachfolgend unter c)). Darüber hinaus aber erhebt sich die Frage, ob allein ein solcher einmaliger Vorbehalt ausreicht, den Erklärungswert einer über einen längeren
Zeitraum hinweg ohne wiederholte Hinweise auf diese Regelung erbrachten Leistung so zu erschüttern, dass der AN das Gewährungsverhalten des ArbG nicht als
Angebot zu einer dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann (BAG v.
13.11.2013 a.a.O. Rn.31).
Es ist daher geboten, den Freiwilligkeitsvorbehalt von Anfang an stets mit der
konkreten Zuwendung zu verbinden. So ist z.B. der am „Schwarzen Brett“ bzw.
im Intranet des Betriebes oder auf dem Gehaltsnachweis des AN befindliche Hinweis des ArbG auf die für ein bestimmtes Jahr gezahlte Sondervergütung stets mit
einem Freiwilligkeitsvorbehalt zu versehen. Auf diese Weise ist sie als eine „Einmalzahlung mit Freiwilligkeitshinweis“ wahrzunehmen (Preis/Sagan in NZA 2012,
697 ff. unter II. m.w.N.).
In Ansehung von Zuwendungen oder Vergünstigungen, die der ArbG seinen AN
das ganze Jahr über ohne eine ihn dazu verpflichtende Rechtsgrundlage regelmäßig
zukommen lässt, bietet es sich an, zu Beginn der Leistung und sicherheitshalber
jährlich wiederholt auf dem betriebsüblichen Kommunikationsweg darauf hinzuweisen, dass sie freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erbracht und
hierdurch ein Anspruch für die Zukunft nicht begründet wird.
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c) Wird eine als laufendes Arbeitsentgelt einzustufende Zuwendung, wie z.B. eine
monatliche Leistungszulage, unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt, ist dieser allerdings wegen Verstoßes gegen § 307 I 1 i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB unwirksam. Das hierzu ergangene Urteil des BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06 – in
NZA 2007, 853 ff. bezieht sich zwar auf den Fall einer im Arbeitsvertrag unter
Freiwilligkeitsvorbehalt ausdrücklich zugesagten monatliche Leistungszulage (unten § 16 III.). Doch ist die dort vertretene Rechtsauffassung auch für das hier in
Rede stehende Gewährungsverhalten des Arbeitgebers maßgebend (so auch Krause
a.a.O. § 8 Rn.8).
Entscheidend für die Gleichbehandlung beider Fälle ist der gleichartige Charakter der Zulage als
eine unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit. In beiden Fällen widerspricht der Vorbehalt darum dem Grundgedanken des Arbeitsvertrags als eines gegenseitigen Vertrags; denn er erlaubt dem Arbeitgeber, über den monatlichen Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers zu disponieren, obwohl der Arbeitnehmer stets die vollständige Erbringung seiner Arbeitsleistung schuldet. In
dem entschiedenen Fall handelte es sich um Zulagen von insgesamt 400 Euro bei einem Grundgehalt
von 1050 Euro! Aber selbst eine geringere monatliche Leistungszulage ist eine unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit, auf deren Bezug sich der Arbeitnehmer einrichtet. Schließlich muss
er „auf die Beständigkeit der monatlich(en)…Zahlung einer Vergütung, die nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft ist, vertrauen“ (BAG a.a.O. Rn.17) dürfen, einerlei, ob sie auf Grund einer
im Arbeitsvertrag abgegebenen Zusage oder auf einer regelmäßig wiederholten tatsächlichen Gewährung beruht. „Behält sich der Arbeitgeber vor, monatlich neu über die Vergütung zu entscheiden, weicht dies von dem in § 611 BGB gekennzeichneten Wesen eines Arbeitsvertrags ab. Dies gilt
nicht nur für die Grundvergütung, sondern auch für zusätzliche regelmäßige Zahlungen, die von den
Parteien als Teil der Arbeitsvergütung und damit als unmittelbare Gegenleistung für die vom Arbeitnehmer zu erbringende Arbeitsleistung vereinbart“ sind (BAG a.a.O. unter Rn.17) oder ─ wie hier ─
bei verständiger Würdigung als eine unmittelbare Gegenleistung zu begreifen sind.
d) Wenn die Zuwendung des ArbG nicht als unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit, sondern als zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbrachte
Leistung oder Vergünstigung gilt, hält der Freiwilligkeitsvorbehalt einer Angemessenheitskontrolle nach § 307 BGB stand.
Die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen ist nicht leicht zu treffen, weil alles,
was der AN vom ArbG erhält, Entgeltcharakter trägt. Entscheidend ist jedoch, dass
der eigentliche Vertragszweck als der Kern des Arbeitsvertrags in der Verknüpfung
der täglichen Arbeitsleistung mit der Zahlung des Monatslohns liegt. Beide Leistungen sind die den Arbeitsvertrag typisierenden, in einem Austauschverhältnis stehenden gegenseitigen Hauptleistungspflichten. Hiernach sind alle anderen Leistungen „Nebenleistungen“, auch wenn sie noch so werthaltig sind. Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 BGB Rn.860 sprechen von „Gegenleistungen
aus dem Arbeitsverhältnis“, die „zur Arbeitsleistung nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen“. Werden sie unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt,
verletzt dies nicht den „wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung“
des Arbeitsvertrags als eines gegenseitigen Vertrags (§ 307 II Nr. 1 BGB).
Hierzu gehören z.B. alle Zuwendungen des ArbG an seine AN, die im Wesentlichen auf den Ersatz von Aufwendungen gerichtet sind, die der AN im Allgemeinen
selbst tragen muss (BAG v.12.1.2005 – 5 AZR 364/04 – in NZA 2005, 465 ff. unter
I. 4. D), wie z.B. die Leistung von Fahrkostenzuschüssen, von Essenszuschüssen,
einer Trennungsentschädigung, der Bereitstellung eines kostenlosen Werksverkehrs,
der Erstattung von Fortbildungskosten, der Übernahme der Reinigung von Dienstkleidung sowie die Bereitstellung eines kostenlosen Parkplatzes.
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Zu den einem Freiwilligkeitsvorbehalt zugänglichen „Nebenleistungen“ zählen
auch die jährlichen Sondervergütungen, die der ArbG seinen AN ohne besondere
leistungsbezogene Absprache zukommen lässt. Das folgt u.a. aus § 4a EFZG, der
diese Zuwendungen ausdrücklich als Leistungen bezeichnet, „die der Arbeitgeber
zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt“ und darum eine Vereinbarung
über ihre Kürzung für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des AN infolge Krankheit in
Grenzen für zulässig erklärt.
In Bezug auf eine Weihnachtsgratifikation hat das BAG v. 20.2.2013 – 10 AZR 177/12 – in NJW
2013, 2844 angenommen, dass ein an die im Arbeitsvertrag enthaltene verbindliche Zusage einer
Sondervergütung anschließender Satz über einen Freiwilligkeitsvorbehalt regelmäßig gegen das
Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB verstößt, da diese Kombination dem AN zu Zweifeln darüber Anlass gibt, was nun wirklich gilt: Hat er einen dauerhaften Anspruch auf die jährliche Zahlung
einer Weihnachtsgratifikation erworben oder nur eine vom freien Willen des ArbG abhängige Chance? Diese Zweifel gehen nach § 305c II BGB zu Lasten des ArbG.
Derlei kann jedoch nicht geschehen, wenn der ArbG nichts verspricht, sondern ─ wie hier ─ eine
Weihnachtsgratifikation zum Jahresende ohne eine ihn dazu verpflichtende Rechtsgrundlage einfach zahlt und diese Zahlung mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt verbindet, um im Wiederholungsfall das Entstehen einer Betrieblichen Übung zu verhindern (Kock in NJW 2013, 2846 in einer Anmerkung zu dem vorbezeichneten Urteil des BAG; Preis/Sagan in NZA 2012 unter II. 1. am Ende
unter Bezugnahme auf BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – in NZA 2012, 81 Rn.41). Näheres
dazu unten § 16 III. 2 a) (2).
Ob die nach § 3 i.V.m. § 2 Nr.6 NachwG geltende Pflicht des ArbG, eine Änderung der wesentlichen Vertragsbedingungen den AN binnen Monatsfrist schriftlich
mitzuteilen, auch seine ohne Rechtgrundlage freiwillig gewährten Zuwendungen
und den damit verbundenen Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst, kann fraglich sein, solange eine den ArbG für die Zukunft bindende vertragliche Leistungsverpflichtung
nicht entstanden ist. Auf jeden Fall aber erfüllt es den Informationszweck des
Nachweisgesetzes, wenn sich der ArbG der für die Anzeige freiwilliger Zuwendungen betriebsüblicher Kommunikationsmittel, wie der Kundgabe am „Schwarzen
Brett“, im Intranet des Betriebs oder auf dem Gehaltszettel bedient.
4. Keine Betriebliche Übung bei doppelter Schriftformklausel
Die im Arbeitsvertrag häufig anzutreffende einfache Schriftformklausel, nach der
Änderungen und Ergänzungen zu ihrer Wirksamkeit (also konstitutiv) der Schriftform bedürfen, kann die Entstehung einer Betrieblichen Übung nicht ausschließen,
da die Vertragsparteien das für die Vertragsänderung vereinbarte Schriftformerfordernis jederzeit formlos aufheben können, auch stillschweigend durch schlüssiges
Handeln, wie z.B. durch tatsächliche Leistungsgewährung, die regelmäßig gleichförmig wiederholt eine Betriebliche Übung begründet. Der Formzwang i.S.d. §§
126 II, 125 S. 2 BGB, dem sie sich in freier Entscheidung der im Gesetz nicht vorgesehenen Schriftform unterworfen haben, besteht also nur so lange und soweit,
wie sie die Schriftformklausel nicht ebenso frei und einverständlich wieder außer
Kraft setzen (BGH v. 2.6.1976 – VIII ZR 97/74 – in NJW 1976, 1395 unter 1.;
BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02 – in NZA 2003, 1145 unter II. 2. c) bb) (3));
BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 819/06 – in NJW 2007, 3739 unter Rn.25; BAG v.
20.5.2008 – 9 AZR 382/07 – in NZA 2008, 1233 Rn.17; anderer Ansicht
MüKoBGB/Einsele § 125 Rn.70).
Diese Möglichkeit entfällt jedoch im Fall einer doppelten Schriftformklausel, die
bestimmt, dass auch die Aufhebung der Schriftformklausel zu ihrer Wirksamkeit
(also konstitutiv) der Schriftform bedarf: Sie kann nicht formlos abbedungen wer-
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den, also auch nicht durch schlüssiges Handeln (BGH v. 2.6.1976 a.a.O. unter 2.;
BAG v. 24.6.2003 a.a.O.; BAG v. 20.5.2008 a.a.O. Rn.18). Diese Rechtsauffassung
trägt der Tatsache Rechnung, dass die Vertragschließenden durch die Verwendung
der doppelten Schriftformklausel ihrer Wirksamkeit eine besondere Bedeutung
beimessen. Ein Verstoß hiergegen führt nach § 125 S. 2 BGB zur Nichtigkeit des
auf Änderung oder Ergänzung des Arbeitsvertrages gerichteten formlosen Rechtsgeschäfts (BAG v. 20.5.2008 a.a.O.). Damit ist die doppelte Schriftformklausel ein
geeignetes Mittel, das Entstehen einer Betrieblichen Übung zu verhindern
(BAG v.24.6.2003 a.a.O.).
Da der Arbeitsvertrag und damit auch die Schriftformklausel aber regelmäßig den
Charakter Allgemeiner Geschäftsbedingungen tragen (oben § 4 I.), könnte allerdings § 305b BGB entgegenstehen, wonach „individuelle Vertragsabreden“ den
Vorrang vor AGB haben. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Entstehen einer Betriebliche Übung gerade nicht der Fall einer Individualvereinbarung zwischen ArbG und AN ist, sondern auf wiederholten gleichförmigen kollektiven Akten des ArbG gegenüber der Belegschaft beruht (BAG v. 24.6.2003 a.a.O. unter II.
2. c) cc)); BAG v. 20.5.2008 a.a.O. Rn.30).
Damit die doppelte Schriftformklausel nun aber nicht an § 307 I BGB scheitert,
weil sie den unzutreffenden Eindruck erweckt, auch eine wirkliche (mündliche) Individualabrede solle entgegen § 305b BGB unwirksam sein (so BAG v. 20.5.2008
a.a.O. Rn.31 ff.), ist es geboten, die Geltung der Schriftformklausel einzugrenzen,
etwa mit dem Zusatz: „Hiervon unberührt bleibt der Vorrang individueller Vereinbarungen i.S.v. § 305b BGB (Karlsfeld in ArbRB 2008, 222 f.; HWK/Thüsing, §
611 BGB Rn.232a; Krause § 8 Rn.8).
Als einziges Bedenken verbleibt das Risiko, dass die Rechtsprechung, wie schon
vorstehend unter 3. b) bezüglich eines das Entstehen einer Betrieblichen Übung
vorsorglich ausschließenden Freiwilligkeitsvorbehalts im Arbeitsvertrag angesprochen, die Auffassung vertreten könnte, dass eine im Arbeitsvertrag enthaltene doppelte Schriftformklausel nicht ausreicht, den Erklärungswert einer über einen längeren Zeitraum hinweg erbrachten Leistung so zu erschüttern, dass der AN das Gewährungsverhalten des ArbG nicht als Angebot zu einer dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann (BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – in NZA 2012, 81
Rn.31). Der ArbG sollte darum auf die Klausel über die doppelte Schriftform jährlich wiederholt auf einem der betriebsüblichen Kommunikationswege hinweisen.
5. Keine gegenläufige Betriebliche Übung
Die Entstehung einer Betriebliche Übung zu Ungunsten des AN ist ausgeschlossen
(vorstehend unter 1.b). Die Rechtsprechung kannte jedoch den Sonderfall einer gegenläufigen Betrieblichen Übung. Sie sollte dadurch entstehen können, dass der
ArbG ein bislang vorbehaltlos gewährtes Weihnachtsgeld, das zur Betrieblichen
Übung geworden ist, künftig nur noch unter einem Freiwilligkeitsvorbehalt leistet,
den die AN drei Jahre lang widerspruchslos hinnehmen, weil sie in diesem Zeitraum noch die gewohnte Sonderzahlung erhalten (BAG v. 26.3.1997 – 10 AZR
612/96 – in NZA 1997, 1007; BAG v. 4.5.1999 10 – AZR 290/98 – in NZA 1999,
1162).
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Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Aufhebung einer Betrieblichen Übung eine
Änderung des Arbeitsvertrags erfordert, hätte das Schweigen der AN auf das im
Freiwilligkeitsvorbehalt des ArbG liegende Angebot auf Vertragsänderung als Zustimmung gewertet werden müssen. Seit die AGB-Bestimmungen des BGB auch
im Arbeitsrecht anwendbar sind, verstößt jedoch ein vom ArbG als AGBVerwender dem AN im Zusammenhang mit einer Betrieblichen Übung einseitig gestelltes Änderungsangebot, dessen Annahme ihm aufgrund seines Schweigens unterstellt werden soll, gegen das Verbot des § 308 Nr. 5 BGB von AGB-Klauseln
mit Erklärungsfiktionen zu Lasten des Verwendungsgegners (BAG v. 25. 11. 2009
– 10 AZR 779/08 – in NZA 2010, 283).
6. Die Beseitigung einer mangels Vorbehalt entstandenen Betrieblichen Übung
Die Beseitigung einer Betrieblichen Übung, die durch vorbehaltlose Gewährung
entstanden ist, kann nur durch eine mit dem AN vereinbarte Änderung des Arbeitsvertrages, einseitig hingegen nur im Wege einer Änderungskündigung durch
den ArbG (unten § 35) herbeigeführt werden.
Ohne Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip, wonach sich die niederrangige Norm gegenüber der
höherrangigen durchsetzt, kann eine Betriebliche Übung durch eine (höherrangige) Betriebsvereinbarung abgelöst werden, wenn dadurch die bisherige Vergünstigung nicht abgeschafft oder wesentlich eingeschränkt, sondern lediglich umstrukturiert wird, so dass die neue Regelung bei kollektiver Betrachtung nicht ungünstiger ist als die bisherige, weil der ArbG insgesamt nicht weniger
Geld aufwenden muss als vorher und die Neuverteilung der Mittel niemanden unverhältnismäßig
benachteiligt (sog. kollektiver Günstigkeitsvergleich). So z.B. wenn vorher die 10 Innendienstmitarbeiter eine Weihnachtsgratifikation in Höhe eines vollen Monatsgehalts von 4.000 Euro brutto (=
4.000 Euro) und die 40 Außendienstmitarbeiter eine Weihnachtsgratifikation in Höhe der Hälfte ihres Monatsgehalts von 2.000 Euro brutto (= 1.000 Euro) erhielten, nunmehr aber alle Mitarbeiter
drei Viertel ihres Monatsgehalts als Weihnachtsgratifikation erhalten.
III. Die Gesamtzusage als vertragsergänzender Gestaltungsfaktor
1. Der Arbeitsvertrag erfährt eine inhaltliche Ergänzung durch eine sog. Gesamtzusage des ArbG.
Eine Gesamtzusage liegt vor, wenn der ArbG der Belegschaft gegenüber in einem kollektiven Akt die ausdrückliche Erklärung abgibt, ihr eine bestimmte zusätzliche Leistung oder Vergünstigung erbringen zu wollen: mündlich auf einer
Betriebsversammlung, durch schriftliche Kundgabe am „Schwarzen Brett“ bzw. im
Intranet des Betriebs. Sie ist als ein Angebot des ArbG an jeden seiner AN zu verstehen, die es nach § 151 Satz 1 BGB durch schlüssiges Verhalten (= konkludent)
annehmen. Anders als bei der Betrieblichen Übung entsteht sofort eine vertragliche Verpflichtung des ArbG im Umfang des Zugesagten: als einmalige Leistung, als befristete Leistung oder als auf unbestimmte Zeit zugesagte Leistung, in
diesem Fall ggf. versehen mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt oder mit einem Widerrufsvorbehalt.
Nach § 151 BGB ist nur die Annahmeerklärung des einzelnen AN nicht empfangsbedürftig, wohl
aber das Angebot des ArbG. Für sein Wirksamwerden reicht es jedoch aus, dass die Verlautbarung
des ArbG gegenüber der Belegschaft den einzelnen AN typischerweise in die Lage versetzt, von
dem Angebot Kenntnis zu nehmen (BAG v.15.2.2005 – 9 AZR 116/04 – in NZA 2005, 1117, 1122
unter B.III.2.). Das gilt auch für nachträglich in den Betrieb eintretende AN. Dem AN, der von der
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Gesamtzusage wirklich nichts wissen sollte, würde aufgrund des allgemeinen arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatzes anspruchsberechtigt werden (Junker a.a.O. Rn.78).
Gegenstand der Gesamtzusage können alle denkbaren Sozial- oder Geldleistungen sein, die auch auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages zugesagt werden können (vorstehend unter II. 1. b)).
Will der ArbG die zusätzliche Leistung nur einer bestimmten Gruppe von AN
gewähren, bedarf es eines sachlichen Grundes; sonst liegt ein Verstoß gegen den
allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vor (oben § 3 III. 3.).
Nach § 3 i.V.m. § 2 Nr. 6 NachwG muss der ArbG die Zusage einer nicht nur einmaligen Leistung an seine AN in geeigneter Weise dokumentieren.
2. Da die Gesamtzusage für den ArbG zu der gleichen Verbindlichkeit führt wie ein
von ihm im Arbeitsvertrag oder einer späteren Ergänzung zum Arbeitsvertrag abgegebenes Leistungsversprechen, gehört die Frage nach möglichen Änderungsvorbehalten des ArbG in den unten § 16 III. 2. behandelten Sachzusammenhang.
Vorbehaltlos zugesagte Zuwendungen können nur durch eine mit den AN vereinbarte Änderung des Arbeitsvertrags oder im Wege der Änderungskündigung
durch den ArbG (unten § 35) beseitigt werden.
IV. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers
Als vertraglicher Gestaltungsfaktor ist vor allem das Weisungsrecht des ArbG (Direktionsrecht) von Bedeutung. Es berechtigt den Arbeitgeber, die Arbeitspflichten
in den Grenzen des Arbeitsvertrags, einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren
Tarifvertrags oder gesetzlicher Vorschriften nach billigem Ermessen (§ 106 GewO;
vgl. ferner § 315 BGB) zu konkretisieren, sowie die arbeitsrechtliche Ordnung im
Betrieb festzulegen. Zu Umfang und Grenzen des Weisungsrechts siehe unten §
15 II.
Beachte: Gerade der Umstand, dass der AN einer Weisung des ArbG nicht Folge leistet, begründet
häufig den Tatbestand einer Pflichtverletzung, die zu einer Abmahnung des AN und im Wiederholungsfall zu einer verhaltensbedingten Kündigung führen kann.
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§ 5 Der Tarifvertrag als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor
des Arbeitsverhältnisses und staatliche Ersatzhandlungen
I. Der Tarifvertrag als Mittel koalitionsgemäßer Betätigung
1. Nach dem gemäß Art. 9 III GG verfassungsrechtlich verbürgten System der
Tarifautonomie gehört die Kompetenz zur Regelung der Arbeitsbedingungen im
Grundsatz weder in die Hand staatlicher Stellen noch in die Hände der Parteien des
Arbeitsvertrages, sondern in die Hände der durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gebildeten Sozialpartner. Es ist ihre Aufgabe, durch den Abschluss von
Tarifverträgen die Arbeitsbedingungen auszuhandeln, zu denen die im ArbGVerband organisierten oder selbständig als Tarifvertragspartei auftretenden ArbG
(siehe nachfolgend unter 4.) ihre gewerkschaftlich organisierten AN kraft Tarifgebundenheit nach §§ 3, 4 TVG zu beschäftigen haben. Dieses Verfahren sichert dem
AN eine angemessene Beteiligung an dem unter Einsatz von Kapital und Arbeit erwirtschafteten Gewinn eines Unternehmens und steht darum im Mittelpunkt koalitionsgemäßer Betätigung (Gamillscheg a.a.O. Bd. I, S. 284).
Für die Arbeitgeberseite bewirkt der Tarifvertrag für die im gleichen Arbeitgeberverband organisierten ArbG untereinander eine einheitliche Belastung durch die mit dem Faktor Arbeit verbundenen
Kosten. Dem Tarifvertrag kommt insoweit eine Kartellwirkung zu, die den Wettbewerb der einzelnen ArbG neutralisiert (Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 34 II. 2. b). Zur Allgemeinverbindlichlicherklärung eines Tarifvertrags zum Schutz einerseits der AN vor unangemessenen Arbeitsbedingungen
und andererseits der organisierten ArbG vor der Konkurrenz durch ArbG mit niedrigeren Arbeitskosten siehe nachfolgend unter IV. 2. Wirtschaftlich schwache Unternehmen können dadurch allerdings vom Markt verdrängt werden. Und der AN verliert die Möglichkeit, sich einen Arbeitsplatz
durch Lohnverzicht zu erkaufen.
Die tarifvertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen werden als Mindestarbeitsbedingungen bezeichnet, weil sie nach § 4 I TVG nicht unterschritten werden
dürfen. Das heißt aber nicht, dass sie den AN nur ein Minimum an Lebensqualität
verschaffen. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Hochlohnland
ist, beruht im Wesentlichen auf dem tarifvertraglichen Lohnniveau. Der Tariflohn
liegt fast immer ganz deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn nach dem MiLoG. Hinzu kommt, dass die ArbG in vielen Fällen auch noch übertarifliche Zusatzleistungen erbringen (unten § 16).
Sollte ein Tariflohn ausnahmsweise den nach § 1 I, II MiLoG ab dem 1.1.2015 geltenden gesetzlichen Mindestlohn von zurzeit brutto 8,50 € je Zeitstunde unterschreiten, ist die tarifliche Vergütungsvereinbarung nach § 3 S. 1 MiLoG unwirksam. An ihre Stelle tritt die Vergütungsregelung des
§ 612 II BGB. Sollte auch die hiernach maßgebende ortsübliche Vergütung den Mindestlohn unterschreiten, gilt dieser (nachfolgend unter VI.). Für das AEntG und das AÜG gilt die Übergangsregelung des § 24 I MiLoG.
2. Sofern infolge Mitgliederschwundes bei den Gewerkschaften, aber auch bei den
Arbeitgeberverbänden, die Handlungsfähigkeit der Sozialpartner abnimmt und damit die Tarifbindung nachlässt, die Branchentarifbindung von Beschäftigten ist
in den Jahren 2000 bis 2012 in der alten Bundesrepublik von 63 auf 53 % und im
Beitrittsgebiet von 47 auf 36 % gesunken; Firmentarifverträge gelten im Jahr 2012
für 7 % der AN im Westen und rd. 12 % der AN im Osten (IAB-Betriebspanel v.
3.6.2013)
kann es zu unangemessenen Arbeitsbedingungen mit Billiglöhnen
kommen.
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a) Eine mit dem System der Tarifautonomie vereinbare Gegenmaßnahme bildet
die Einführung von tarifgestützten Mindestarbeitsbedingungen im Wege der Geltungserstreckung tarifvertraglicher Regelungen durch Rechtsverordnung des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf Antrag der Tarifvertragsparteien.



Hierbei geht es zum einen um den Fall der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags
nach § 5 TVG (nachfolgend unter IV.).
Auch § 3 AEntG ermöglicht die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG eines Tarifvertrags, der die Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG erfüllt. Als Alternative kann es auf gemeinsamen Antrag der Parteien eines Tarifvertrags i.S.v. §§ 4 bis 6 AEntG zu branchenbezogenen
Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung des BMAS nach § 7 oder § 7a AEntG
kommen (nachfolgend unter V.).
Abweichend von den Verfahrenswegen des § 3 AEntG kann nach § 3a AÜG das BMAS auf
Vorschlag von Tarifvertragsparteien, die auch in der AN-Überlassung aktiv sind, die Übernahme
tariflicher Mindeststundenentgelte für alle in Deutschland beschäftigten Leih-AN durch Rechtsverordnung bestimmen (unten § 43 II. 2. a)).
b) Außerhalb des Systems der Tarifautonomie steht als Gegenmaßnahme der
staatlich festgesetzte Mindestlohn nach Maßgabe des MiLoG.
Nach § 1 MiLoG hat jeder AN kraft Gesetzes Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns, der nach § 1 II MiLoG ab dem 1.1.2015 brutto 8,50 € je Zeitstunde
beträgt. Auf Vorschlag der Mindestlohnkommission, die aus je drei Mitgliedern aus den Kreisen
der Vereinigungen der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN sowie einem von der Bundesregierung auf Vorschlag der Spitzenorganisationen berufenen Vorsitzenden besteht, kann die Bundesregierung durch Rechtsverordnung die Höhe des Mindestlohnes alle zwei Jahre anpassen (nachfolgend unter VI.).
3. Die Gewerkschaft ist ein auf Dauer angelegter freiwilliger Zusammenschluss
privaten Rechts in Gestalt eines rechtsfähigen oder – aus historischen Gründen – eines nichtrechtsfähigen Vereins (der entgegen § 54 BGB heutzutage im Wesentlichen wie der rechtsfähige Verein behandelt wird) von AN zur Wahrung und Förderung ihrer Arbeitsbedingungen. Sie besitzt eine vom Mitgliederwechsel unabhängige körperschaftliche Organisation mit demokratischer Willensbildung, die
gegnerfrei und gegnerunabhängig (von der Arbeitgeberseite) in personeller, finanzieller und organisatorischer Hinsicht sein muss. Darüber hinaus sollte sie überbetrieblich aufgestellt sein. Die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderliche soziale
Durchsetzungsfähigkeit muss sie sich erarbeiten.
Die räumliche (Tarifgebiet), betrieblich-fachliche (Wirtschaftszweig) und fachlich-persönliche (Art
der Tätigkeit) Tarifzuständigkeit der einzelnen im Deutschen Gewerkschaftsbund, dem DGB als
ihre Spitzenorganisation, zusammengefassten Gewerkschaften richtet sich nach dem in ihrer Satzung
unter Abstimmung mit den anderen DGB-Gewerkschaften festgelegten Geschäftsbereich. Da sie
überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind, erfassen sie alle AN eines Wirtschaftszweiges, einerlei, welche Art der Tätigkeit sie in ihrem Betrieb verrichten. Für einen Betrieb
der Metallindustrie ist z.B. regelmäßig nur die IG Metall zuständig. Der von ihr ausgehandelte Tarifvertrag gilt für alle organisierten Beschäftigten des Betriebes, natürlich differenziert nach Fachgruppen und Entgeltstufen. (Ein Betrieb eine Gewerkschaft ein Tarifvertrag“). „Die IG Metall
ist die Gewerkschaft für den Metallbetrieb, nicht der Metallarbeiter“ (Gamillscheg a.a.O. Bd. I, S.
213).
Das Berufsverbandsprinzip hingegen ist durch den Zusammenschluss von AN einer bestimmten
Berufsgruppe unabhängig von der Branchenzugehörigkeit gekennzeichnet. Diese Gewerkschaften
entwickeln zunehmend eigene tarifpolitische Aktivitäten, ohne sich mit den DGB-Gewerkschaften
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abzustimmen. Ihre Mitglieder machen zwar oft nur einen geringen Teil der Belegschaft eines Betriebes aus, haben aufgrund ihrer Funktion meist aber ein besonderes Gewicht, so dass sie gegenüber
der Arbeitgeberseite bei Tarifauseinandersetzungen ein hohes Druckpotential aufbauen können, um
Arbeitsbedingungen durchzusetzen, die die großen Industriegewerkschaften nicht erreichen. Das gilt
z.B. für den Marburger Bund (MB) als die Gewerkschaft der angestellten Ärzte, die Vereinigung
Cockpit (VC) für Kapitäne, Flugoffiziere und -ingenieure, die „Unabhängige Flugbegleiter Organisation“ (UFO) für das Kabinenpersonal, die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) für Fluglotsen,
Vorfeldlotsen u.ä. Personal sowie die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL).
Sind AN eines Betriebes teils industrieverbandsmäßig, teils berufsverbandsmäßig organisiert, so
dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse innerhalb desselben Betriebes verschiedene Tarifverträge
gelten, kommt es zu einer Tarifpluralität, die das BAG bisher nach dem Grundsatz der Tarifeinheit behandelt hat. Danach gilt im Betrieb nur der Tarifvertrag einheitlich, der dem Betrieb räumlich, betrieblich-fachlich und fachlich-persönlich am sachnächsten steht. Das war regelmäßig der Industrieverbands-Tarifvertrag. Weil hierdurch aber die Tarifautonomie der konkurrierenden Gewerkschaft(en) verletzt wird, hat das BAG diese Rechtsprechung aufgegeben (BAG v.23.6.2010 –
10 AS 2/10 – in NZA 2010, 778; BAG v.7.7.2010 – 4 AZR 549/08 – in NZA 2010, 1068 ff.). Der
hierdurch ermöglichte Koalitionspluralismus birgt allerdings die Gefahr vermehrter Arbeitskämpfe.
Der aus dem Koalitionspluralismus folgende Tarifpluralismus kann wegen unterschiedlich Tarifabschlüsse für unterschiedlich organisierte AN-Gruppen zu innerbetrieblichen Spannungen führen. Das
Entstehen vieler kleiner, von Partikularinteressen beherrschter AN-Organisationen könnte das Gewerkschaftswesen zersplittern und schwächen, das Gleichgewicht der Arbeitskampfgegner zu Lasten
der bestreikten Unternehmen stören und bei Arbeitskämpfen in den Bereichen der Daseinsvorsorge
(z.B Luftfahrt, Bahn, Krankenhäuser) die Allgemeinheit unverhältnismäßig belasten (vgl. NZA, Beilage 3/2010). Der BDA und der DGB haben einen gemeinsamen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit vorgelegt (abgedruckt bei Papier/Krönke in ZfA 2011, S. 814). Das am
22.5.2015 vom Bundestag verabschiedete Tarifeinheitsgesetz ist am 10.7.2015 in Kraft getreten.
Durch den in das TVG eingefügten § 4a sollen künftig Tarifkollisionen vermieden werden. Mehrere
Spartengewerkschaften haben gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde erhoben.
Sind hingegen für ein und dasselbe Arbeitsverhältnis mehrere Tarifverträge einschlägig, weil beide
Arbeitsvertragsparteien zugleich an mehrere Tarifverträge normativ (nicht etwa nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel) gebunden sind, liegt ein Fall der Tarifkonkurrenz vor, für den nach
der Rechtsprechung des BAG der Grundsatz der Spezialität gilt (nicht etwa das Günstigkeitsprinzip, weil es sich hier um ranggleiche Normen handelt), wonach der dem Betrieb räumlich, betrieblich-fachlich und fachlich-persönlich nähere Tarifvertrag dem sachferneren vorgeht: Der Firmentarifvertrag dem Verbandstarifvertrag, der regionale Tarifvertrag dem bundesweit gültigen Tarifvertrag, der fachspezifische dem fachübergreifenden Tarifvertrag, der kraft Tarifgebundenheit geltende
Tarifvertrag gegenüber dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. Lässt sich eine Spezialität nicht
feststellen, gilt der Tarifvertrag, der die meisten Arbeitsverhältnisse im Betrieb erfasst.
Eine besondere Regelung enthält § 8 II AEntG (nachfolgend unter V 2. c), wonach ein Tarifvertrag
nach den §§ 4 bis 6 AEntG, der durch Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder durch
Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG auf nicht an ihn gebundene ArbG und AN erstreckt
wird, vom ArbG auch dann einzuhalten ist, wenn er nach § 3 TVG oder kraft Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG (nachfolgend unter IV.) an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist.
4. Die Arbeitgeberverbände sind regelmäßig rechtsfähige Vereine und nach dem
Industrieverbandsprinzip organisiert.
5. Tarifvertragsparteien (= Koalitionen) sind nach § 2 I TVG auf der einen Seite
die jeweils tarifzuständige Gewerkschaft und auf der anderen Seite der jeweils tarifzuständige ArbG-Verband (Verbandstarifvertrag) oder der einzelner ArbG
(Firmentarifvertrag, Haustarifvertrag). Der einzelne ArbG ist schon deswegen tariffähig und tarifzuständig, damit er sich nicht durch Verzicht auf eine Mitgliedschaft
im ArbG-Verband dem Tarifvertragssystem entziehen kann. Wenn er nach seiner
Beschäftigtenzahl arbeitsmarktpolitische Bedeutung besitzt und ein nicht unbedeutender Teil seiner Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist, wird ihn die Ge-
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werkschaft an den Verhandlungstisch zwingen können, äußerstenfalls durch einen
Streik.
Manche ArbG schließen trotz ihrer Mitgliedschaft im ArbG-Verband einen Firmentarifvertrag ab,
damit ihren spezifischen Belangen besser Rechnung getragen werden kann. Besteht neben dem Firmentarifvertrag ein Verbandstarifvertrag über denselben Regelungsgegenstand, geht ersterer vor.
Manche ArbG-Verbände lassen auch solche ArbG Mitglieder werden, die durch die vom Verband
abgeschlossenen Tarifverträge nicht gebunden sind, sog. OT-Mitglieder (= Mitglieder ohne Tarifbindung).
Nach § 2 II TVG können Zusammenschlüsse von Gewerkschaften (Deutscher Gewerkschaftsbund DGB) und ArbG-Verbänden (Bundesverband Deutscher Arbeitgeberverbände Spitzenorganisationen
im Namen der ihnen angeschlossenen Verbände Tarifverträge abschließen, wenn sie hierzu bevollmächtigt sind, werden ihrerseits aber nicht Tarifvertragspartei.
6. Die Regelung der Arbeitsverhältnisse erfolgt meist nicht in einem einzigen „Einheitstarifvertrag“, sondern durch mehrere, verschiedenen Gegenständen gewidmete
Tarifverträge mit ein und derselben Gewerkschaft. Geläufig ist die Unterscheidung
zwischen einerseits Mantel- oder Rahmentarifverträgen, die regelmäßig für einen längeren Zeitraum die allgemeinen Arbeitsbedingungen festlegen, wie z.B.
Kündigungsfristen in den Fällen des § 622 IV BGB, Ausschluss- bzw. Verfallfristen für die Geltendmachung tariflicher Ansprüche, die Einstufung der AN in Entgeltgruppen, die Wochenarbeitszeit, Urlaubsregelungen, Voraussetzungen für die
Anordnung von Überarbeit und Kurzarbeit etc. und andererseits Einzeltarifverträge, insbesondere Entgelttarifverträge, die regelmäßig eine kürzere Laufzeit aufweisen.
7. Nach § 1 II TVG bedarf der Tarifvertrag der Schriftform (§§ 126, 125 BGB).
Keine Wirksamkeitserfordernisse sind hingegen seine Eintragung in das Tarifregister § 6 TVG) und seine Bekanntmachung in den Betrieben, für die er gilt (§ 8
TVG). Nach § 2 I Nr. 10 NachwG ist ein in allgemeiner Form gehaltener Hinweis
auf den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag in die Niederschrift der
Vertragsbedingungen aufzunehmen.
Der Tarifvertrag wird für einen bestimmten Zeitraum befristet abgeschlossen,
wenn er nicht zuvor von einer der Vertragsparteien wirksam gekündigt oder von
beiden Vertragsparteien einvernehmlich aufgehoben worden sein sollte. Um Regelungslücken zu verhindern, gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrages (normativer
Teil des Tarifvertrags; siehe nachfolgend II. 1.) gemäß § 4 V TVG weiter, „bis sie
durch eine andere Abmachung ersetzt werden“ (Nachwirkung).
Den nachwirkenden Rechtsnormen kommt jedoch keine zwingende Wirkung mehr zu. Sie können in der Zwischenzeit durch abweichende Abmachungen in Gestalt einer Betriebsvereinbarung (in
den Grenzen des § 77 III BetrVG) oder einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung, die der ArbG auch
im Wege der Änderungskündigung erreichen kann, ersetzt werden.
II. Inhalt und Wirkungen des Tarifvertrages
1. Der Tarifvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag eigener Art, dessen Besonderheit vor allem darin liegt, nach § 1 I TVG nicht nur einen schuldrechtlichen, son-
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dern auch einen normativen Teil aufzuweisen. Er wird darum auch – genauso wie
die Betriebsvereinbarung (unten § 6) – als „Normenvertrag“ bezeichnet.
► Im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages sind die Rechte und Pflichten
der Tarifvertragsparteien (Arbeitgeberverband und Gewerkschaft oder ArbG
und Gewerkschaft) geregelt.



Jedem Tarifvertrag wesenseigen ist die Friedenspflicht, die es den Tarifvertragsparteien
verbietet, während der Laufzeit des Tarifvertrages Kampfmaßnahmen gegen seinen Bestand durchzuführen oder zuzulassen. Sie ist ihrer Natur nach relativ, da sie sich nur auf
solche Gegenstände bezieht, die durch den Tarifvertrag ausdrücklich oder sinngemäß geregelt sind. Eine während der Laufzeit des Tarifvertrages geltende absolute Friedenspflicht
müsste im Tarifvertrag ausdrücklich vereinbart werden, wird in Deutschland aber nicht
praktiziert.
Jedem Tarifvertrag wesenseigen ist ferner die Durchführungspflicht, die es den Tarifvertragsparteien aufgibt, die tarifvertraglichen Absprachen zu erfüllen. Ist arbeitgeberseitig ein
ArbG-Verband Tarifvertragspartei, trifft ihn die Verpflichtung, auf seine Mitglieder, nämlich die bei ihm organisierten ArbG, entsprechend einzuwirken.
Die Tarifvertragsparteien können zusätzliche Vereinbarungen treffen, z.B. über ein
Schlichtungsverfahren, ggf. verbunden mit einem bis zum Scheitern der Schlichtung befristeten Arbeitskampfverbot. Besondere Bedeutung kommt Vereinbarungen über Notdienst- und Erhaltungsarbeiten im Arbeitskampf zu.
Jede Tarifvertragspartei kann die andere wegen einer Pflichtverletzung auf Erfüllung (Unterlassung des vertragswidrigen Verhaltens, Vornahme der vertraglich geschuldeten Handlung oder Einwirkung auf ihre Mitglieder, den Tarifvertrag zu beachten) in Anspruch nehmen. Bei
verschuldeter Pflichtverletzung (für eigenes Verschulden der Tarifvertragspartei durch Handeln
ihrer Organe und satzungsmäßigen Vertreter gemäß §§ 31, 276 BGB, für fremdes Verschulden
durch Handeln ihrer Funktionäre gemäß § 278 BGB) kommt ein Anspruch der geschädigten
Partei auf Schadensersatz nach § 280 I BGB in Betracht, ggf. eine fristlose Kündigung des Tarifvertrages aus wichtigem Grund (§ 314 BGB). Vgl. auch unten § 20 II. 2.
► Der normative Teil des Tarifvertrages enthält bestimmte Rechtsnormen, die
wie ein Gesetz unmittelbar gelten, so dass die darin enthaltenen Regelungen
auf das Arbeitsverhältnis ohne weiteres einwirken. Die tarifvertraglichen
Rechtsnormen gelten darüber hinaus zwingend mit der Maßgabe, dass § 4 Abs.
III TVG Abweichungen nur gestattet, wenn die Tarifvertragsparteien sie
durch sog. Öffnungsklauseln ausdrücklich zulassen oder die Abweichung den
AN günstiger stellt (unten § 7 II.).
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Individualnormen: Sie regeln die individuellen Arbeitsbedingungen betreffend „den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen“, vor allem Fragen der
Arbeitszeit und des Arbeitsentgelts, und gelten darum nach § 4 I TVG „zwischen den
beiderseits Tarifgebundenen“. Das sind nach § 3 I TVG auf der einen Seite die AN, die
der vertragsschließenden Gewerkschaft angehören, und auf der anderen Seite die dem vertragsschließenden ArbG-Verband angehörenden ArbG oder der ArbG, der selbst Tarifvertragspartei ist.

Kollektivnormen: Sie regeln „betriebliche Fragen“, die den Betrieb als ganzes betreffen,
wie etwa die Einrichtung von Waschräumen und einer Betriebskantine, ferner seine innere
Ordnung in Gestalt von Torkontrollen, technischen Überwachungseinrichtungen, Kleiderordnungen u.ä., sowie „betriebsverfassungsrechtliche Fragen“, z.B. auf der Grundlage
der §§ 3, 38 I 5, 47 IV, 55 IV BetrVG oder in Gestalt der Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates. Sie gelten nach § 3 II TVG für all diejenigen Betriebe, bei
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denen wenigstens der ArbG tarifgebunden ist, weil sie zwangsläufig die ganze Belegschaft betreffen.
2. Der tarifgebundene ArbG ist seinen nicht tarifgebundenen AN gegenüber
weder nach Tarifvertragsrecht noch auf Grund des allgemeinen arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatzes zur Gewährung tarifvertraglicher Leistungen verpflichtet. Für das erste fehlt es an der notwendigen Beiderseitigkeit der Tarifbindung, im zweiten besteht für die Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund (oben §
3 III. 3.). In der Praxis stellt er jedoch regelmäßig alle seine AN freiwillig gleich,
schon um die nicht Tarifgebundenen nicht in die Gewerkschaft zu treiben, vor allem aber aus organisatorischen Gründen, zumal ihm die Gewerkschaftszugehörigkeit seiner AN oft nicht bekannt ist und er durch Ungleichbehandlung seiner AN in
der Belegschaft nicht Unfrieden stiften will. Hiergegen auf Veranlassung der Gewerkschaft gerichtete tarifvertragliche Differenzierungsklauseln gegen die als
„Trittbrettfahrer“ missliebigen Außenseiter („Tarifliche Leistungen nur für organisierte AN“) scheitern regelmäßig an Art. 9 III 2 GG („negative Koalitionsfreiheit“)
und überschreiten darüber hinaus die Grenzen der Tarifmacht der Tarifvertragsparteien.
Aus der vom ArbG freiwillig herbeigeführten Erstreckung des für seinen Betrieb
geltenden Tarifvertrages auf seine nicht tarifgebundenen AN kann für diese eine
Betriebliche Übung entstehen. Normalerweise jedoch nimmt der tarifgebundene
ArbG auf den im Betrieb für die beiderseits Tarifgebundenen bereits normativ geltenden Tarifvertrag schon in den Arbeitsverträgen seiner AN ausdrücklich Bezug, regelmäßig im Wege der dynamischen Verweisung auf den Tarifvertrag in seiner jeweils geltenden Fassung (sog. kleine dynamische Verweisung). In beiden Fällen wird der Regelungsgehalt des Tarifvertrages für die nicht tarifgebundenen AN
allerdings nicht kraft §§ 3, 4 TVG, sondern nur durch arbeitsvertragliche (= schuldrechtliche) Vereinbarung Inhalt des Arbeitsvertrags. Seine Geltung kann deshalb
durch eine (einverständliche) Änderung des Arbeitsvertrags oder im Wege der Änderungskündigung aufgehoben und durch eine andere Regelung ersetzt werden.
3. Ist der ArbG nicht tarifgebunden, weil er weder dem zuständigen ArbGVerband angehört, noch von der Gewerkschaft zum Abschluss eines Haustarifvertrag gezwungen wird, unterliegt er ferner nicht einem nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag (nachfolgend unter IV.), darüber hinaus im Bereich des AEntG auch nicht der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages, der nach § 3 AEntG die Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG erfüllt, oder einer Erstreckungsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG (nachfolgend unter V.) oder als
Leih-ArbG der Verpflichtung, die Lohnuntergrenze des§ 3a AÜG einzuhalten (unten § 43 II. 2. a), ist er keinem seiner AN zur Gewährung tariflicher Leistungen
verpflichtet. In diesem Fall schuldet er seinen AN aber auf jeden Fall die Zahlung
des Mindestlohns nach dem MiLoG (nachfolgend unter VI.).
Wendet der nicht tarifgebundene ArbG den Tarifvertrag, der für ihn gelten würde, wenn er tarifgebunden wäre, freiwillig gegenüber seinen AN an oder geht er noch darüber hinaus, dann zumeist aus Gründen des Wettbewerbs um qualifizierte Kräfte. Verwendet der ArbG dabei nicht eine
arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf den Tarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung, sondern
passt er die Löhne in jeweils freier Entscheidung an den jeweils neuen, für ihn mangels Tarifgebundenheit nicht verbindlichen Tarifvertrag an, entsteht keine Betriebliche Übung auf Übernahme
des jeweils neuen Tarifvertrages; denn durch sein Fernbleiben vom ArbG-Verband hat der ArbG
sich seine Entscheidungsfreiheit über die künftige Lohnentwicklung gerade erkennbar vorbehalten.
Ist der neue Tarifvertrag für ihn zu teuer, darf er seine Übernahme unterlassen.
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III. Der Arbeitskampf als Instrument der Tarifautonomie
1. Die Kampfsituation
Im Regelfall gelingt es den Sozialpartnern, sich im Verhandlungswege über den Inhalt eines Tarifvertrages zu einigen. Kommt eine Einigung nicht zustande, kann die
Tarifautonomie nur noch auf die Weise verwirklicht werden, dass den Verhandelnden zum Zweck der Selbsthilfe das Recht auf Kampfmaßnahmen gewährt wird
(Gamillscheg a.a.O. Bd. 1, S. 910 f.). Auf Seiten der Gewerkschaft handelt es sich
um die Verweigerung der Arbeit im Wege des Streiks. Das kaum praktizierte Gegenstück auf der Arbeitgeberseite besteht in der Vorenthaltung von Beschäftigung
und Lohn im Wege der Aussperrung.
Unter der Voraussetzung eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses zwischen den kämpfenden Parteien (Kampfparität; dazu Näheres unten § 20), erzeugen
die im Arbeitskampf der jeweils anderen Seite zugefügten Nachteile jenes Maß an
wirtschaftlichem und sozialem Druck, der die Streitenden alsbald zu einem Kompromiss zwingt.
Der Nachteil, den der bestreikte ArbG erleidet, besteht in der Hauptsache im Produktionsausfall
und der damit verbundenen Gefahr, Marktanteile zu verlieren. Er muss den streikenden AN zwar
keinen Lohn zahlen und ist auch von der Entlohnung der arbeitswilligen AN befreit, wenn deren Beschäftigung wegen des Streiks betrieblich-technisch nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht
mehr zumutbar ist oder wenn der ArbG den Betrieb wegen des Streiks stillgelegt hat. Seine anderen
fixen Kosten laufen indessen weiter.
Der Nachteil, den die Gewerkschaft durch die Führung eines Streiks erleidet, besteht in ihrer finanziellen Belastung durch die Zahlung von Streikgeld an ihre streikenden Mitglieder. Nicht zu unterschätzen ist weiterhin der politische und soziale Druck, der ihr aus der Tatsache erwächst, dass sie
den Arbeitskampf eröffnet hat. Sie wird deswegen vor allem von den nicht gewerkschaftlich organisierten AN, die durch den Streik beschäftigungslos geworden sind und nach § 160 III 1 Nr. 1 SGB
III in dieser Situation auch nicht Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, als für ihre Einkommensverluste zumindest mitverantwortlich angesehen. Und auch die Gewerkschaftsmitglieder sind finanziell
belastet, weil das Streikgeld, das sie erhalten, nur einen Teil des Arbeitslohnes beträgt..
Es ist eigentlich die Aufgabe des Gesetzgebers, die für den Arbeitskampf erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die rechtspolitische Brisanz dieses Bereichs hat ihn allerdings bisher davon abgehalten, tätig zu werden. Aus Art. 9 III
GG folgt lediglich, dass der Arbeitskampf ein legitimes Mittel koalitionsgemäßer
Betätigung ist. Einzelne Rechtsregeln sind ausschließlich im Rahmen gelegentlich
durchgeführter Gerichtsverfahren als gesetzesvertretendes Richterrecht entstanden.
Hier ein Überblick über einige wesentliche Erkenntnisse. Zu den Rechtsfolgen eines Streiks im Einzelnen siehe unten § 20.
2. Die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines Streiks
Aus dem Zweck des Streiks, den Abschluss eines Tarifvertrages zu erzwingen, folgen die Voraussetzungen für die Zulässigkeit seines Einsatzes als ein Mittel des Arbeitskampfes auf Seiten der AN.
► Gewerkschaftliche Führung: Ein Streik ist nur dann rechtmäßig, wenn er von
einer Gewerkschaft geführt wird; denn nur sie besitzt die zum Abschluss eines Tarifvertrages erforderliche Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit. Eine von AN ohne
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gewerkschaftliche Führung organisierte Arbeitsniederlegung ist als sog. wilder
Streik rechtswidrig. Die Gewerkschaft kann den wilden Streik jedoch übernehmen.
Dadurch wird er rückwirkend zu einem rechtmäßigen Streik, sofern er die weiteren
Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllt. An dem Streik dürfen nicht nur die Mitglieder der Gewerkschaft, die zu dem Streik aufgerufen hat, teilnehmen, sondern
auch Nichtmitglieder.
► Tariflich regelbares Ziel: Das Ziel des Streiks muss der Abschluss eines Tarifvertrags sein. Das setzt zugleich voraus, dass die von der Gewerkschaft erhobene
Forderung in einem Tarifvertrag zulässigerweise geregelt werden kann. So
darf die Forderung z.B. weder gegen das TVG noch gegen sonst zwingendes Recht
verstoßen, etwa gegen das Günstigkeitsprinzip oder die Koalitionsfreiheit.
Rechtswidrig ist ein politischer Streik, mit dem z.B. Forderungen an das Parlament, die Regierung
oder ein Gericht erhoben werden. Richtigerweise muss auch ein Sympathiestreik rechtswidrig sein,
weil mit ihm kein eigener Tarifvertrag erkämpft wird (a.A. neuerdings BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR
396/06 – in NZA 2007, 1055 ff.). Nach dem Urteil des LAG Hessen v. 9.9.2015 in ArbRAktuell
2015, 512 kann die Verhinderung des Eurowings-Konzepts der Lufthansa nicht Gegenstand eines
Arbeitskampfes sein. Die Entscheidung, einen neuen Standort aufzubauen und dort Personal zu anderen Bedingungen zu beschäftigen, gehört zu dem nach Art. 12 I GG grundgesetzlich geschützten
Kernbereich der unternehmerischen Freiheit.
► Ablauf der Friedenspflicht: Die tarifvertragliche Friedenspflicht (im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages; vorstehend unter II. 1.) verbietet während der
Laufzeit eines Tarifvertrages einen Arbeitskampf über die durch den Tarifvertrag
geregelten Angelegenheiten. Durch besondere tarifvertragliche Absprache (im
schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages) kann die Friedenspflicht bis zum Scheitern darin vorgesehener Schlichtungsverhandlungen verlängert werden (befristetes
Kampfverbot).
► Verhältnismäßigkeit: Das zum Zweck des Abschlusses eines Tarifvertrages
eingesetzte Mittel des Streiks ist hiernach ein geeignetes Instrument koalitionsgemäßer Betätigung, wenn es als letztes Mittel erforderlich geworden ist und von
ihm in angemessener Weise Gebrauch gemacht wird.



Die Erforderlichkeit ist Ausdruck des Ultima-ratio-Prinzips. Danach darf erst nach Ausschöpfung aller Verhandlungsmöglichkeiten zum Streik übergegangen werden. Nach der neueren Rechtsprechung soll dafür aber ausreichend sein, dass die Gewerkschaft nachweist, eine tarifvertraglich regelbare Forderung erhoben zu haben, über die bisher ergebnislos verhandelt
worden ist. Ein Scheitern der Verhandlungen braucht nicht mehr ausdrücklich erklärt zu
werden. Laufende Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite kann die Gewerkschaft nach ihrer
freien Einschätzung durch einen Streik unterbrechen. Das gilt auch für einen kurzfristigen
Warnstreik, mit dem der Arbeitgeberseite die Entschlossenheit der Gewerkschaft demonstriert
werden soll, notfalls einen unbefristeten Arbeitskampf zu führen.
Das satzungswidrige Unterlassen einer Urabstimmung vor Streikbeginn soll nach h.M. die
Rechtswidrigkeit eines Streiks nicht begründen können, weil es sich dabei um eine interne
Verbandsangelegenheit ohne Außenwirkung handelt. Es ist aber zu bedenken, dass die Urabstimmung als demokratischer Akt der verbandsinternen Willensbildung für die Legitimation
gewerkschaftlicher Aktivität von entscheidender Bedeutung ist.
Die Angemessenheit betrifft die Art und Weise der Kampfführung. Dem hieraus folgenden
Gebot fairer Kampfführung widerspricht zum einen die verdeckte Leistungsbeschränkung in
Gestalt des Bummelstreiks, weil der ArbG darauf nicht adäquat reagieren kann. Außerdem besteht für eine Maßnahme dieser Art angesichts des Arbeitkampfmittels der offenen Arbeitsnie-
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derlegung auch keine Notwendigkeit. Entgegen dem Urteil des BAG v. 22.9.2009 – 1 AZR
972/08 – in NZA 2009, 1347 muss das gleiche für Flashmob-Aktionen (= „BlitzpöbelAktionen“) gelten, bei denen gewerkschaftlich aufgerufene Teilnehmer z.B. ihre Einkaufswagen mit geringwertigen Waren befüllen und dann im Verkaufsraum stehen lassen, um den Betriebsablauf im Einzelhandel stören. Betriebsbesetzungen sind ein rechtswidriger Eingriff in
Besitz- uns Eigentumsrechte des ArbG, ferner Betriebsblockaden, durch die der Zugang zum
Betrieb nicht nur von Streikposten kontrolliert, sondern gesperrt wird. Ebenso sind Boykottaufrufe an Kunden des ArbG, dessen Leistungen nicht abzunehmen, unangemessen. Die Gewerkschaft hat dafür Sorge zu tragen, dass derlei unterbleibt und die Streikenden keine strafbaren Handlungen begehen. Exzesse Einzelner machen aber nicht den Arbeitskampf insgesamt rechtswidrig, sondern führen nur zu einer Schadensersatzpflicht des Täters, aber auch der
streikführenden Gewerkschaft, wenn sie ihre Überwachungspflichten verletzt hat. Außerdem
muss sie die erforderlichen Notdienst- und Erhaltungsarbeiten ermöglichen.

Rechtmäßig sind nicht nur Flächenstreiks, die alle AN eines Tarifgebiets erfassen, sondern
auch Schwerpunkt- oder Teilstreiks gegen ausgewählte Unternehmen, Betriebe oder Betriebsabteilungen; dies auch in Gestalt der sog. Wechselstreiks, bei denen die Gewerkschaft
die betroffenen Unternehmen laufend austauscht, oder von kurzfristigen Wellenstreiks innerhalb eines Unternehmens.
Zu den Rechtsfolgen eines rechtmäßigen und eines unrechtmäßigen Streiks siehe unten § 20.
3. Die Aussperrung der AN durch die Arbeitgeberseite
Die Eröffnung des Arbeitskampfes durch die Arbeitgeberseite mittels einer Angriffsaussperrung der AN, um von der Gewerkschaft die Zustimmung zum Abbau
tariflicher Leistungen zu erzwingen, kann zwar im Einzelfall zulässig sein, hat bisher jedoch in der Praxis keine Rolle gespielt. Der Arbeitskampf wird im Regelfall
von der Arbeitnehmerseite eröffnet. Dann aber muss es dem ArbG möglich sein,
hierauf ggf. mit einer Abwehraussperrung zu antworten, etwa um ein durch besondere Streiktaktiken, wie z.B. Teil- oder Schwerpunktstreiks gegen ausgewählte
ArbG, herbeigeführtes Verhandlungsübergewicht der Gewerkschaft zum Zweck der
Wiederherstellung der Kampfparität auszugleichen.
IV. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages gemäß § 5 TVG
1. Mit Hilfe der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG wird ein von den
Tarifvertragsparteien für einen bestimmten Zeitraum ausgehandelter Tarifvertrag
auf ihr Betreiben im Einvernehmen mit einem von den Spitzenorganisationen der
Sozialpartner paritätisch besetzten Tarifausschuss durch ministeriellen Erlass auf
die im Geltungsbereich dieses Tarifvertrags befindlichen Außenseiter erstreckt, also
auf die bisher nicht tarifgebundenen ArbG und AN (§ 5 IV TVG). Da der Vollzug
der beantragten Allgemeinverbindlicherklärung der Stimmenmehrheit im Tarifausschuss bedarf, liegt das Schwergewicht der Entscheidung hier
anders als bei
der Geltungserstreckung tarifvertraglicher Normen durch Rechtsverordnung nach
Maßgabe der §§ 7, 7a AEntG (nachfolgend V. 2.) bei den Sozialpartnern und
nicht bei einer staatlichen Stelle (vgl. vorstehend unter I. 1.).
2. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung ist der Schutz des AN vor unangemessenen Arbeitsbedingungen in Kleinbetrieben, z.B. des Einzelhandels, des
Handwerks und des Baugewerbes, deren Inhaber ebenso wie ihre AN im Regelfall
keiner Koalition angehören und wegen ihrer geringen wirtschaftlichen Größe für
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eine Gewerkschaft auch nicht erreichbar sind. Mit der Allgemeinverbindlicherklärung werden zugleich die organisierten ArbG davor geschützt, dass nicht organisierte ArbG wegen niedrigerer Arbeitskosten ihre Leistungen am Markt preisgünstiger anbieten können.
Sofern für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertragsnormen auf Arbeitsverhältnisse stoßen, die bereits einem kraft Tarifgebundenheit geltenden Tarifvertrag unterliegen (Tarifkonkurrenz), geht letzterer jenen vor (Grundsatz der Spezialität; siehe vorstehend unter I. 2. am Ende). In den Fällen der
§§ 3 ff. AEntG ist jedoch § 8 AEntG zu beachten.
3. Nach § 5 I 1 TVG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
(BMAS) einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der
Spitzenorganisationen der ArbG und der AN bestehenden Tarifausschuss (der
sich also mit einer Mehrheit von mindestens vier Stimmen für die Allgemeinverbindlicherklärung ausgesprochen hat), auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären.
Dazu muss der Sache nach feststehen, dass die Allgemeinverbindlichkeit im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Das ist regelmäßig der Fall,

„wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder

die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die
Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung
verlangt“.
Nach § 5 II TVG ist „vor der Entscheidung über den Antrag Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die
von der Allgemeinverbindlichkeit betroffen werden würden, den am Ausgang des Verfahrens interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber sowie den obersten Arbeitsbehörden
der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben.“
Statistisches: Von den rd. 70.000 gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind am 1.
4. 2015 502 allgemeinverbindlich (BMAS unter www.bmas.bund.de/Arbeitsrecht).
Unter den Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG gilt gemäß § 3 AEntG die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG auch gegenüber einem ArbG mit Sitz
im Ausland (nachfolgend unter V. 2.).
Nach § 5 V 3 TVG endet die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages
mit dessen Ablauf, doch gilt auch hier seine Nachwirkung. Für die beiderseits Tarifgebundenen beendet der Folgetarifvertrag die Nachwirkung (§ 4 V TVG). Für die
Außenseiter bleibt es bei der Nachwirkung.
V. Die Geltungserstreckung tarifvertraglicher Normen nach Maßgabe des
AEntG
1. Zweck des AEntG von 1996 war es, zu verhindern, dass AN zu den am Auslandssitz ihres ArbG herrschenden und im Vergleich zu den deutschen Verhältnissen wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen in Deutschland eingesetzt werden
und dadurch die Beschäftigungsmöglichkeiten inländischer Anbieter verschlechtern
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(„Sozialdumping“). Darum sollten auch für ArbG mit Sitz im Ausland und ihre in
Deutschland beschäftigte AN sowie die von ausländischen ArbG in Deutschland
eingesetzten Leih-AN den deutschen Verhältnissen entsprechende Mindestarbeitsbedingungen gelten.
Um dem Vorwurf zu begegnen, dass dieses Gesetz wegen Diskriminierung europäischer ArbG gegen die europarechtliche Dienstleistungsfreiheit der Art. 49 ff. EGV
verstößt, wurde es im Nachhinein (1998) ausdrücklich auch auf ArbG mit Sitz im
Inland (Deutschland) erstreckt. Diese Erweiterung trug zugleich der Tatsache
Rechnung, dass in zunehmendem Maße nicht mehr nur die Entsendung von AN aus
dem Ausland deutsche ArbG unter Wettbewerbsdruck und deutsche AN unter
Lohndruck setzten, sondern auch die in Deutschland nachlassende Tarifbindung
mit zunehmend untertariflichen Arbeitsbedingungen. Darum war es geboten,
auch zugunsten inländischer AN die Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen unter staatlicher Mitwirkung zu erreichen (ErfK/Schlachter § 1 AEntG Rn. 1).
Im Jahre 2009 trat eine (schwer verständliche) Neufassung des AEntG in Kraft, das
jetzt „Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen“ heißt, aber immer noch Arbeitnehmer-Entsendegesetz genannt wird.
2. Nach § 3 AEntG finden die Rechtsnormen eines bundesweiten Tarifvertrages,
der die Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG erfüllt, sowohl auf Arbeitsverhältnisse zwischen inländischen Vertragsparteien, als auch auf Arbeitsverhältnisse
zwischen einem ArbG mit Sitz im Ausland (EU, aber auch Drittstaat) und seinen
im Inland beschäftigten AN zwingend Anwendung, wenn dieser Tarifvertrag
entweder nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt ist (vorstehend unter
IV.) oder seine Rechtsnormen kraft Erstreckungsverordnung nach § 7 oder § 7a
AEntG Anwendung finden Damit ist auf die eine oder die andere Weise die Möglichkeit geschaffen, für alle im Inland beschäftigten AN – einerlei, ob ihr ArbG
im Ausland oder im Inland sitzt – branchenbezogen einen tarifvertraglichen
Mindestlohn einzuführen. Nach § 8 AEntG sind die von dieser Regelung betroffenen ArbG verpflichtet, ihren AN „mindestens die in dem Tarifvertrag für den Beschäftigungsort vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen [§ 5 Nr. 1 und 2] zu gewähren sowie einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien die ihr nach § 5
Nr. 3 zustehenden Beiträge zu leisten.“
Für den Bereich der AN-Überlassung (Leiharbeit/Zeitarbeit) sieht § 3a AÜG in einem den Vorschriften des § 7 AEntG entsprechenden Verfahren die Bildung einer einheitlichen „Lohnuntergrenze“ für Verleihzeiten und verleihfreie Zeiten vor, wobei die Mindeststundenentgelte nach dem
jeweiligen Beschäftigungsort „differenzieren“ können (unten § 41 II. 2.).
Sind in der betreffenden Branche mehrere Tarifverträge zumindest teilweise betrieblich/fachlich anwendbar, kann der in § 1 AEntG beschriebene Gesetzeszweck
nur erreicht werden, wenn ein Tarifvertrag nach den §§ 4 bis 6 AEntG, der durch
Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder durch Erstreckungsverordnung
nach § 7 oder § 7a AEntG auf nicht an ihn gebundene ArbG und AN erstreckt wird,
die konkurrierenden Tarifverträge im Sinne des § 8 II AEntG überlagert. Um
dadurch nicht die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie der anderen Sozialpartner zu verletzen, bestimmen die §§ 7 II, 7a II AEntG, dass „der Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung…im Rahmen einer Gesamtabwägung ergänzend zu
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den in § 1 genannten Gesetzeszielen die Repräsentativität der jeweiligen Tarifverträge zu berücksichtigen“ hat. Außerdem können andere Tarifverträge im nicht von
§ 5 Nr. 1 bis 3 AEntG erfassten Bereich zwingende Normen und im Bereich von §
5 Nr. 1 bis 3 AEntG günstigere Normen schaffen (ErfK/Schlachter § 7 AEntG Rn.
3).
Im Gegensatz zur Regelung des § 5 V 3 TVG tritt die Rechtsverordnung nicht mit
dem Ablauf des ihr zugrunde liegenden Tarifvertrags außer Kraft. Sie ist jedoch
durch das BMAS aufzuheben, sobald der Tarifvertrag abgelaufen ist.
3. Zu beachten ist die Kettenhaftung beim Einsatz von Subunternehmern nach
§ 14 AEntG. Danach haftet ein Unternehmer (Generalunternehmer, vor allem im
Bereich der Baubranche), der einen anderen Unternehmer (als Subunternehmer) mit
der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, die eigentlich ihm obliegen, für die Verpflichtungen dieses Unternehmers, eines Nachunternehmers oder
eines von dem Unternehmer oder einem Nachunternehmer beauftragten ANVerleihers zur Zahlung des Netto-Mindestentgelts an AN oder von Beiträgen an eine gemeinnützige Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 8 AEntG verschuldensunabhängig wie ein selbstschuldnerischer Bürge. Gegen dieses Risiko wird
der Generalunternehmer sich durch die Vereinbarung von Informations-, Kontrollund Kündigungsrechten sowie Freistellungsregeln zu schützen versuchen, äußerstenfalls durch den Einbehalt von Entgeltbestandteilen oder durch eine Bankbürgschaft der Sub- oder Nachunternehmer (ErfK/Schlachter § 14 AEntG Rn.1).
Kraft dieser Regelung trägt der Generalunternehmer auch das Insolvenzrisiko des von ihm beauftragten Subunternehmers und eventueller weiterer Unternehmer in der Auftragskette. Mehrere Auftraggeber haften dabei nach §§ 771, 426 BGB als Gesamtschuldner zu grundsätzlich gleichen Teilen. Der AN hat die Wahl, welchen Unternehmer er in Anspruch nimmt.
4. Nach § 23 Nr. 1 AEntG handelt der ArbG bußgeldbewehrt ordnungswidrig,
wenn er eine der nach § 5 TVG oder im Wege der nach § 7 I oder § 7a I AEntG geltungserstreckten Arbeitsbedingungen nicht gewährt oder sonstige Verpflichtungen
aus § 8 I 1 AEntG nicht einhält.
5. Zum Verhältnis des AEntG zum MiLoG siehe §§ 1 III, 24 I MiLoG (nachfolgend
unter VI.).
VI. Mindestlohn durch Rechtsverordnung nach dem MindestlohnG (MiLoG)
1. Nach §§ 1 I, II 1 MiLoG hat jeder AN gegen seinen ArbG ab dem 1.1.2015
Anspruch auf Zahlung einer Arbeitsvergütung in Höhe von mindestens brutto 8,50
€ je Arbeitszeitstunde.
Zur Vermeidung von Umgehungsmöglichkeiten schafft das MiLoG neue Regeln nicht nur für diejenigen AN, die lediglich den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Es wird nämlich überwiegend davon
ausgegangen, dass der Anspruch auf den Mindestlohn eine untere Teilmenge eines jeden Vergütungsanspruchs bis zur Einkommensschwelle von 2.958 € brutto ist. Um den Bürokratieaufwand zu
begrenzen, wird durch die ab dem 1.8.2015 geltende MindestdokumentationspflichtenVO diese
Einkommensschwelle dahingehend ergänzt, dass die den ArbG belastende Aufzeichnungspflicht bereits dann entfällt, wenn das verstetigte regelmäßige Monatsentgelt mehr als 2.000 € brutto beträgt
und jeweils für die letzten tatsächlich abgerechneten 12 Monate nachweislich gezahlt wurde.
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Weiterhin soll der Mindestlohn im Transitverkehr durch Deutschland, dessen Zahlung seit Februar
2015 ausgesetzt ist, zusammen mit der EU-Kommission geklärt werden.
Da der Mindestlohn die Vergütung der vom AN monatlich zu erbringenden „Normalleistung“ betrifft, dürften Zahlungen, die nicht in diesem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, auf den Mindestlohn
nicht anrechenbar sein. Dazu gehören vom ArbG zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt geleistete
Sonderzahlungen, wie z.B. das Weihnachts- und Urlaubsgeld (vgl. oben § 4 II. 3. d)). In der Praxis
finden sich allerdings zunehmend arbeitsvertragliche Bestimmungen, nach denen diese Vergütungen
zusammen mit einem „Grundgehalt“ in monatlichen Beträgen als zusätzliches Entgelt für geleistete
Dienste unter Anrechnung auf den Mindestlohn ausgezahlt werden. Eine höchstrichterliche Klärung
steht noch aus.
2. Wie im Fall des § 23 Nr. 1 AEntG, ist die Nichtzahlung des Mindestlohns nach
§§ 20, 21 I MiLoG eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit. ArbG, die ihren
AN vor Inkrafttreten des MiLoG weniger als den Mindestlohn gezahlt haben, müssen zum 1.1.2015 eine Angleichung der Arbeitsverträge vornehmen.
3. Von der Geltung des MiLoG ausgenommen sind nach § 22 I 2 MiLoG bestimmte Praktika,
nach § 22 II MiLoG Personen unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung, nach § 22 III MiLoG Auszubildende und ehrenamtlich Tätige und nach § 22 IV MiLoG Langzeitarbeitslose i.S.d. § 18 I SGB
III in den ersten 6 Monaten ihrer Beschäftigung
Nach § 24 I MiLoG bleiben tarifgestützte Mindestarbeitsentgelte nach dem AEntG (vorstehend unter V.) oder nach dem AÜG (unten § 43…), die den Mindestlohn nach dem MiLoG unterschreiten,
für eine Übergangszeit bis zum 31.12.2016 bestehen. Übergangszeiten für Zeitungszusteller enthält
§ 24 II MiLoG.
4. Mit Wirkung vom 1.1.2015 sind nach § 3 S. 1 MiLoG „Vereinbarungen, die
(den) Anspruch auf den Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung
beschränken oder ausschließen,…insoweit unwirksam.“ Das gilt nicht nur für arbeitsvertragliche Vereinbarungen, sondern auch für mindestlohnwidrige Tarifabreden. An die Stelle einer hiernach unwirksamen Vergütungsvereinbarung tritt nun
aber nicht der Mindestlohn, sondern die Vergütungsregelung des § 612 II BGB, die
den AN u.U. besserstellt. Nach ihr ist nämlich „die (orts)übliche Vergütung als vereinbart anzusehen“, wenn „die Höhe der Vergütung nicht bestimmt“ ist. Üblich ist
eine Vergütung, die in dem betreffenden Wirtschaftsgebiet für eine vergleichbare
Tätigkeit in dem betreffenden Wirtschaftszweig überwiegend gezahlt wird, häufig
auf der Grundlage eines räumlich und fachlich einschlägigen Tarifvertrags. Nur
wenn das ortsübliche Entgelt den Mindestlohn unterschreiten sollte, ist der Mindestlohn des MiLoG maßgebend.
Die Anwendung des § 138 BGB zur Feststellung der Nichtigkeit einer Vergütungsabrede, die einen mehr als 1/3 unter dem ortsüblichen Lohnniveau des betreffenden
Wirtschaftszweiges liegenden Arbeitslohn enthält, wird durch § 3 MiLoG weitgehend verdrängt.
Anwendbar ist § 138 BGB noch in den Fällen, in denen z.B. der vom ArbG gezahlte Lohn von 9 €
die Grenze zur Sittenwidrigkeit unterschreitet, weil der in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlte Lohn bei 14 € liegt. Dann verstößt der ArbG zwar nicht gegen § 3 MiLoG, doch
sind Arbeitslöhne, die unter 9,33 € liegen, sittenwidrig und entsprechende Abreden nach § 138 BGB
nichtig. Der AN kann darum nach § 612 II BGB die ortsübliche Vergütung von 14 € verlangen
(Bayreuther in NZA 2014, 865 ff. unter III. 2.).
5. Für die nach § 8 I Nr. 1 SGB IV geringfügig Beschäftigten liegt der zulässige
Entgelthöchstsatz bei monatlich 450 €. Wird er als Festbetrag gezahlt, ohne dass
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ein Stundensatz oder eine konkrete Arbeitszeit vereinbart worden ist, sind vom AN
unter Beachtung des Mindeststundenlohnes von 8,50 € monatlich höchstens 52,9
Arbeitsstunden geschuldet, also 52 Stunden und 54 Minuten.
Der ArbG ist dann nach § 17 I MiLoG verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen und die Dokumentation für eine mögliche Kontrolle innerhalb der nächsten zwei
Jahre aufzubewahren.
6. Von besonderer Bedeutung ist § 13 MiLoG, wonach § 14 AEntG (vorstehend
V. 3) entsprechende Anwendung findet. Danach haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit eigentlich ihm obliegenden Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, für die Verpflichtung dieses Unternehmers, eines beauftragten
Nachunternehmers oder beauftragten AN-Verleihers verschuldensunabhängig wie
ein selbstschuldnerischer Bürge zur Zahlung des Netto-Mindestlohns oder der
Differenz dazu an die AN. Er soll sich eben seinen eigenen Verpflichtungen aus
dem MiLoG nicht dadurch entziehen können, dass er eine Werk- oder Dienstleistung nicht selbst erbringt, sondern durch andere Unternehmer, die er nicht weiter
kontrolliert (ErfK/Franzen § 13 MiLoG Rn.2).
7. Über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns befindet die Mindestlohnkommission nach §§ 4 ff. MiLoG. Sie wird alle fünf Jahre neu berufen. Sie besteht
aus einem Vorsitzenden und je drei Mitgliedern, die auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN aus Kreisen der Vereinigungen von ArbG und
Gewerkschaften von der Bundesregierung berufen werden. Der Vorsitzende wird
auf gemeinsamen Vorschlag der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN berufen. Auf deren Vorschlag beruft die Bundesregierung ferner je ein beratendes Mitglied aus Kreisen der Wissenschaft.
Die Bundesregierung kann die von der Mindestlohnkommission vorgeschlagene
Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung ohne Mitwirkung des
Bundesrate für alle ArbG und AN verbindlich machen.
Eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns ist nach § 9 I MiLoG erstmals zum 1.1.2017 möglich
und danach alle zwei Jahre. Nach § 23 MiLoG ist das Mindestlohngesetz im Jahre 2020 zu evaluieren.
Für die Kontrolle und Durchsetzung des Mindestlohns sind die Behörden der Zollverwaltung zuständig.
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§ 6 Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates und die Betriebsvereinbarung als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses
I. Die Wahl des Betriebsrates
In einem Betrieb kann ein Betriebsrat gewählt werden, wenn die Belegschaft es
für geboten hält, ein Gremium zu schaffen, dessen Aufgabe es ist, ihren spezifischen Interessen gegenüber dem ArbG im Wege betrieblicher „Mitwirkung und
Mitbestimmung“ (Zwischenüberschrift vor § 74 BetrVG) nach Maßgabe des BetrVG Geltung zu verschaffen. Die Befugnis des ArbG, die betrieblichen Verhältnisse nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und durch Ausübung seines Weisungsrechts die Arbeitsbedingungen näher zu bestimmen, wird dadurch in nicht unerheblichem Umfang eingeschränkt.
Bei allen Entscheidungen, die der ArbG nach Individualarbeitsrecht in zulässiger
Weise treffen darf, ist im Fall eines mitbestimmten Betriebes daher stets zu prüfen,
ob und auf welche Weise der Betriebsrat daran beteiligt werden muss und welche
Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung der Regeln des Betriebsverfassungsrechts drohen.
Für die betriebliche Praxis von besonderem Gewicht sind die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in den sozialen Angelegenheiten des § 87 BetrVG, in den personellen Einzelmaßnahmen der §§ 99 und 102 BetrVG sowie bei Betriebsänderungen nach §§ 111 ff. BetrVG.
Es ist davon auszugehen, dass etwa 10 % aller betriebsratsfähigen Betriebe einen Betriebsrat haben.
Je größer der Betrieb ist, umso eher verfügt er über einen Betriebsrat. Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten sind zu etwa 86 % mitbestimmt (vgl. v. Hoyningen-Huene a.a.O. § 6 Rn. 2).
Der Begriff des Betriebs ist im BetrVG nicht definiert. So wie im Fall des § 23 KSchG (dazu unten §
30 I.) ist es auch hier geboten, auf die Funktion abzustellen, die dem Betrieb an dieser Stelle zukommt. Hiernach ist Betrieb im Sinne des BetrVG eine Organisationseinheit, die über einen Leitungsapparat verfügt, der die mitbestimmungsrelevanten Entscheidungen vor allem in personellen und sozialen Angelegenheiten trifft; denn das ist der Ort, an dem Mitbestimmung ausgeübt werden soll (Junker a.a.O. Rn. 657). Unter den Voraussetzungen des § 4 BetrVG können auch Betriebsteile einen selbständigen Betrieb bilden. Ein Unternehmen besteht mindestens aus einem, ggf. aus
mehreren Betrieben im Sinne des BetrVG. Bestehen in einem Unternehmen mehrere Betriebsräte, so
ist nach § 47 BetrVG ein Gesamtbetriebsrat zu errichten. Für einen Konzern nach § 18 I AktG
kann gemäß § 54 BetrVG ein Konzernbetriebsrat errichtet werden.
Gemäß § 1 I BetrVG wird in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen und nach § 7 BetrVG wahlberechtigten AN, von denen drei nach § 8 BetrVG wählbar sein müssen, nach § 17 II, III
BetrVG in einer Betriebsversammlung von der Mehrheit der anwesenden AN ein Wahlvorstand
gewählt, der nach § 18 BetrVG die Wahl eines Betriebsrates vorbereitet und durchführt. Kommt
keine Betriebsversammlung zustande oder wählt die Betriebsversammlung keinen Wahlvorstand, so
bestellt ihn nach § 17 IV BetrVG das Arbeitsgericht auf Antrag von mindestens 3 wählbaren AN oder einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft. Geht die Belegschaft jedoch nicht zur Wahlurne,
kommt es nicht zur Bildung eines Betriebsrats. Andererseits hat der ArbG aber auch keine Handhabe, die Wahl eines Betriebsrats zu verhindern. Nach § 20 I BetrVG darf niemand die Wahl eines Betriebsrats behindern. Außerdem genießen die Mitglieder des Wahlvorstands vom Zeitpunkt ihrer Bestellung an und die Wahlbewerber vom Zeitpunkt der Aufstellung des Wahlvorschlags an nach § 15
III KSchG Kündigungsschutz. Das gleiche gilt nach § 15 IIIa KSchG für AN, die zu einer Betriebsoder Wahlversammlung einladen oder die Bestellung eines Wahlvorstandes beantragen. Nach § 20 I
BetrVG kann auch der AN, der im Vorfeld für ein bestimmtes Wahlprogramm wirbt, deswegen
nicht gekündigt werden.
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Die Kosten der Wahl trägt nach § 20 III BetrVG der ArbG ebenso, wie er nach § 40 BetrVG die
durch die Tätigkeit des Betriebsrates entstehenden Kosten zu tragen hat, soweit sie im Zeitpunkt ihrer Verursachung für erforderlich gehalten werden durften. Eine Beteiligung der AN an diesen
Kosten ist nach § 41 BetrVG unzulässig. Erhebungen für das Jahr 2004 lassen erkennen, dass sich
die durchschnittlichen Gesamtkosten, die dem ArbG aus der Einrichtung eines Betriebsrats erwachsen, einschließlich der Entgeltfortzahlung für von ihrer Arbeitsverpflichtung freigestellte Mitglieder
des Betriebsrates und für die AN, die zur Betriebsversammlung gehen oder die Sprechstunde des Betriebsrates besuchen (§§ 37 ff., 44 BetrVG), einschließlich ferner der Kosten der Einigungsstelle (§
76a BetrVG) und des Aufwandes von ArbG und Management, auf rund 650 Euro pro Jahr und AN
belaufen (Hoyningen-Huene a.a.O. § 9 Rn. 32). Sie dürften jetzt deutlich darüber hinausgehen.
Ein Verstoß gegen das Verbot der Wahlbehinderung oder Wahlbeeinflussung kann zur Wahlanfechtung nach § 19 BetrVG, zu einer Bestrafung nach § 119 BetrVG, zur Nichtigkeit diesbezüglicher rechtsgeschäftlicher Maßnahmen nach § 134 BGB und zu Schadensersatzansprüchen des Benachteiligten nach § 823 II BGB i.V.m. § 20 BetrVG führen.
II. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats
1. Das Verhältnis der Betriebsrats zum Arbeitgeber
Der Betriebsrat ist keine Einrichtung der Gewerkschaft, sondern ein von den AN
des Betriebs aus ihrer Mitte gewähltes Vertretungsorgan zur Wahrnehmung der
ihnen vom BetrVG eingeräumten Rechte, sich an den betrieblichen Entscheidungen
des ArbG zu beteiligen. Der Betriebsrat ist auch nicht der soziale Gegenspieler
des ArbG. Vielmehr sollen ArbG und Betriebsrat nach § 2 I BetrVG „unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den
im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl
der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammenarbeiten.“
Diese Aussage findet ergänzende Bestätigung in § 74 BetrVG, wonach ArbG und
Betriebsrat verpflichtet sind, „über strittige Fragen mit dem ersten Willen zur Einigung zu verhandeln und Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu machen“, wonach Arbeitskämpfe zwischen ihnen unzulässig sind und sie
„jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen“ haben. ArbG und Betriebsrat werden darum gemeinhin als „Betriebsparteien“ oder „Betriebspartner“
bezeichnet.
2. Bereiche und Mittel der Beteiligung des Betriebsrats im Überblick
Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats erstrecken sich schwerpunktmäßig auf die
im Vierten Teil des BetrVG (§§ 74 bis 113) behandelten Bereiche. Nach einer Beschreibung der allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates in § 80 BetrVG und seiner Befugnisse im Rahmen des Mitwirkungs- und Beschwerderechts der AN nach
Maßgabe der §§ 81 bis 86a BetrVG, geht es über die Beteiligung des Betriebsrates
an sozialen Angelegenheiten nach §§ 87 ff. BetrVG, an der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung nach §§ 90, 91 BetrVG sowie an
personellen Angelegenheiten nach § 92 ff., 96 ff. und 99 ff. BetrVG bis zu seiner
Beteiligung an wirtschaftlichen Angelegenheiten nach §§ 106 ff. BetrVG.
In diesen Bereichen sind Beteiligungsrechte des Betriebsrates von unterschiedlicher Stärke angesiedelt. Grundlegend für ihre Ausübung ist das Informationsrecht des Betriebsrats, vom ArbG über das Betriebsgeschehen rechtzeitig und um-
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fassend unterrichtet zu werden. Beispielhaft ist auf § 80 II BetrVG hinzuweisen.
Auch an vielen anderen Stellen des BetrVG werden die „Unterrichtungsrechte“ des
Betriebsrats bzw. die „Unterrichtungspflichten“ des ArbG hervorgehoben. Wo dies
nicht ausdrücklich geschehen ist, folgt das Informationsrecht des Betriebsrats aus
der Natur der Sache.
Eine Vielzahl der Informationsrechte des Betriebsrats lässt die Entscheidungskompetenz des ArbG unberührt. Häufig sind sie jedoch zugleich mit mehr oder weniger
starken Möglichkeiten der Einflussnahme auf die betrieblichen Entscheidungen des
ArbG verbunden. Nach dem Sprachgebrauch des BetrVG geht es dabei um die
Mitwirkungsrechte des Betriebsrats (nachfolgend unter 3.) bis hin zu den Fällen
der echten, eigentlichen Mitbestimmung, bei denen der Betriebsrat beim Ausbleiben einer Einigung mit dem ArbG die Möglichkeit besitzt, seinen Regelungsvorschlag auch gegen den Willen des ArbG über eine Entscheidung der Einigungsstelle durchzusetzen (nachfolgend unter 4.).
In einigen Fällen hängen die Beteiligungsrechte des Betriebsrats von der Größe der Belegschaft ab.
Die Anwendung der §§ 99 und 111 BetrVG erfordert mehr als 20 „wahlberechtigte“ AN, die Anwendung des § 106 I BetrVG mehr als 100 „ständig beschäftigte“ AN und die Anwendung des § 95
II BetrVG einfach mehr als 500 AN.
3. Beteiligung des Betriebsrats durch Mitwirkungsrechte
Hierher gehören zunächst einmal die Fälle der Vorschlags- und Beratungsrechte
des Betriebsrats vor allem des § 90 BetrVG (Planung von Bauten, technischen
Anlagen, Arbeitsverfahren u. -abläufen sowie Arbeitsplätzen), des § 92 BetrVG
(Personalplanung) des § 92a BetrVG (Beschäftigungssicherung), des § 96 BetrVG
(Förderung der Berufsbildung) und § 97 I BetrVG (Einrichtungen der Berufsbildung). Von besonderer Bedeutung ist das Beratungsrecht des Betriebsrats bei geplanten Betriebsänderungen nach § 111 BetrVG, das sich mit dem Konsultationsverfahren des § 17 II KSchG berührt (unten § 36 II.) sowie das Beratungsrecht des
Wirtschaftsausschusses in wirtschaftlichen Angelegenheiten nach § 106 I 2 BetrVG.
Zu den starken Mitwirkungsrechten zählt das Recht des Betriebsrats auf Anhörung über die vom ArbG beabsichtigte Kündigung eines AN. Unterlässt der ArbG
die nach § 102 I BetrVG vor jeder Kündigung erforderliche Anhörung des Betriebsrates, ist die Kündigung ohne weiteres unwirksam (unten § 28 IV. 3.).
Von großer Bedeutung ist das Widerspruchsrecht des Betriebsrates gegen die
ordentliche Kündigung des AN nach § 102 III BetrVG. Wenn der ArbG den Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung angehört hatte, verhindert hierbei ein gegen
die Kündigung gerichteter Widerspruch des Betriebsrats zwar nicht die Kündigung,
doch kann er unter den Voraussetzungen des § 102 V BetrVG die Weiterbeschäftigung des AN über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bewirken (unten § 38
II.).
Noch stärker ist das Mitwirkungsrecht des Betriebsrates, (1) in den Fällen des § 99
II BetrVG, die Zustimmung zu personellen Einzelmaßnahmen des ArbG (Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung eines AN) aus bestimmten Gründen verweigern zu können, (2) im Fall des § 103 BetrVG die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eines Mitglieds des Betriebsrates zu
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verweigern sowie (3) im Fall des § 104 BetrVG, wonach der Betriebsrat ggf. durch
arbeitsgerichtliche Einscheidung vom ArbG die Entfernung betriebsstörender
AN verlangen kann. In diesen Fällen hat auf Antrag des ArbG das Arbeitsgericht
das letzte Wort.
4. Beteiligung des Betriebsrats durch erzwingbare Mitbestimmung
a) Der Begriff der erzwingbaren Mitbestimmung
Eine echte, erzwingbare Mitbestimmung des Betriebsrats besteht in den Fällen,
in denen die Regelung einer betriebliche Angelegenheit eine Einigung zwischen
ArbG und Betriebsrat erfordert, bei deren Ausbleiben jede Seite die nach § 76 BetrVG gebildete Einigungsstelle anrufen kann. Ihr Spruch ersetzt die Einigung zwischen ArbG und Betriebsrat und kann zu einer Regelung gegen den Willen des
ArbG, aber auch gegen den Willen des Betriebsrats führen.
Die vor der Einigungsstelle geführte Auseinandersetzung zwischen dem ArbG und
dem Betriebsrat über die inhaltliche Ausgestaltung einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit wird als Regelungsstreit bezeichnet. Der Spruch der Einigungsstelle ergeht „unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebes und
der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen“ (§ 76 V 3 BetrVG). Er unterliegt nur insoweit der Nachprüfung durch das Arbeitsgericht, als die Einigungsstelle die Grenzen ihres Ermessens überschritten hat (§ 76 V 4 BetrVG).
Ist zwischen den Betriebsparteien hingegen strittig, ob und in welchem Umfang dem Betriebsrat ein
Beteiligungsrecht nach dem BetrVG überhaupt zusteht, handelt es sich nicht um einen Regelungsstreit, sondern um einen um einen Rechtsstreit, der von vornherein vor dem Arbeitsgericht im Beschlussverfahren zu entscheiden ist (unten § 8 II.1.).
b) Die wichtigsten Fälle im Überblick
Die wichtigsten Fälle der erzwingbaren Mitbestimmung sind die im Katalog des
§ 87 I BetrVG aufgeführten 13 Bereiche sozialer Angelegenheiten, ferner das Regelungsgebiet des § 94 BetrVG betreffend Personalfragebögen und Beurteilungsgrundsätze, § 95 BetrVG betreffend Richtlinien über die personelle Auswahl bei
Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen sowie § 112 BetrVG betreffend den Sozialplan. Es geht dabei um die allgemeine Regelung kollektiver Tatbestände. Gelegentlich kann es aber auch zur Regelung eines Einzelfalls kommen, wie etwa in § 87 I Nr. 5 bezüglich der „Festsetzung der zeitlichen
Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer“ und Nr. 9 BetrVG bezüglich der Zuweisung und Kündigung einer Werkswohnung.
Alle Fälle der erzwingbaren Mitbestimmung sind daran zu erkennen, dass sie bezüglich der Entscheidung der Einigungsstelle stets die gleiche Formulierung enthalten: „Kommt eine Einigung nicht
zustande, so entscheidet die Einigungsstelle. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung
zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.“ Siehe die entsprechenden Passagen der vorstehend benannten §§ 87 II, 94 I 2/3, 95 I 2/3, 95 II 2/3 und 112 IV BetrVG.
c) Das Initiativrecht des Betriebsrats
Die erzwingbare Mitbestimmung erfasst betriebliche Entscheidungen, die auf einer
Initiative des ArbG beruhen. Damit der ArbG dem Betriebsrat die Mitbestim-
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mungsmöglichkeit nun aber nicht dadurch nehmen kann, dass er keinen Regelungsvorschlag macht, sehen einige Vorschriften ausdrücklich auch ein Initiativrecht
des Betriebsrats vor; so z.B. § 95 II 1 BetrVG. Darüber hinaus kann das Initiativrecht des Betriebsrats sich auch aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung ergeben, wie dies für eine Reihe von Mitbestimmungstatbeständen in sozialen Angelegenheiten des § 87 I BetrVG angenommen wird. Im Übrigen dürfte ein umfassendes Initiativrecht des Betriebsrats im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung aus
§ 76 V 1 BetrVG folgen.
d) Die Betriebsvereinbarung als Mittel der erzwingbaren Mitbestimmung
In den Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung kommt es wegen des Bedürfnisses
nach einer dauerhaften und im Betrieb normativ geltenden Regelung üblicherweise
zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung. Sie beruht entweder auf einer Vereinbarung der Betriebspartner oder auf einem Spruch der Einigungsstelle.
Die Betriebsvereinbarung ist das zum Tarifvertrag parallele Instrument auf der
Ebene des Betriebes. Zum einen begründet sie Rechte und Pflichten im Verhältnis der Betriebspartner zueinander, wobei es nach § 77 I BetrVG grundsätzlich
Aufgabe des ArbG ist, die Betriebsvereinbarung durchzuführen. Zum anderen
kommt der Betriebsvereinbarung nach § 77 IV BetrVG ähnlich dem Tarifvertrag
normative Wirkung zu, insoweit ihre Regelungen im Betrieb „unmittelbar und
zwingend“ gelten, so dass der ArbG sie nicht erst mit arbeitsvertraglichen Mitteln
in die einzelnen Arbeitsverhältnisse umsetzen muss. Man bezeichnet die Betriebsvereinbarung dar
„Normenvertrag“
und ihre Regelungen als Individualnormen oder Kollektivnormen.
Die Betriebsvereinbarung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform des § 126 BGB. Die Verpflichtung des ArbG, sie an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung. Nach § 2 I Nr. 10 NachwG ist ein in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf die auf das
Arbeitsverhältnis anwendbaren Betriebsvereinbarungen in die Niederschrift der Vertragsbedingungen aufzunehmen.
Neben der stets formbedürftigen Betriebsvereinbarung kennt die Praxis auch die
formlose und damit schon mündlich gültige Einigung über zumeist einmalige Vorgänge, wie etwa die Verlegung der Arbeitszeit wegen eines Fußballspiels. Man
spricht gemeinhin von einer Regelungsabrede. Sie besitzt keine normative Wirkung, sondern begründet ausschließlich schuldrechtliche Ansprüche zwischen ArbG
und Betriebsrat auf Einhaltung der getroffenen Vereinbarung.
e) Die Regelungssperre des Einleitungssatzes des § 87 I BetrVG
Für den Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung ist die Regelungssperre durch
den im Einleitungssatz des § 87 I BetrVG ausgesprochenen Gesetzes- und Tarifvorrang zu beachten. Danach hat der Betriebsrat (in sozialen Angelegenheiten,
ebenso aber auch in den anderen Bereichen der erzwingbaren Mitbestimmung!) nur
insoweit mitzubestimmen, wie „eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht“. Eine tarifliche Regelung steht dem Mitbestimmungsrecht dann entgegen,
wenn sie für den Betrieb infolge Tarifgebundenheit des ArbG gilt (unten § 7 II.
1. a). In diesem Fall ist dann aber auch eine freiwillige Betriebsvereinbarung über
eine an sich mitbestimmungspflichtige Angelegenheit unwirksam.
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Enthält der Tarifvertrag allerdings eine Öffnungsklausel für „ergänzende“ Betriebsvereinbarungen, ist der Tarifvorrang insoweit entfallen. Das sagt zwar der
Einleitungssatz des § 87 I BetrVG nicht so ausdrücklich wie § 77 III 2 BetrVG
(nachfolgend unter IV.), ist aber folgerichtig und kann auch aus § 4 III TVG hergeleitet werden.
Die Regelungssperre des § 77 III 1 BetrVG gilt nicht für den Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung (unten § 7 II. 1. a).
III. Einzelheiten zur Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten nach § 87 I
BetrVG
Die erzwingbare Mitbestimmung im Bereich der sozialen Angelegenheiten betrifft
nach § 87 I BetrVG im Wesentlichen kollektive Tatbestände durch allgemeine
Regelungen. Es kann zwischen den aufgeführten Bereichen zu Überschneidungen
kommen. Die Aufzählung ist abschließend.
Nr. 1: Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der AN im Betrieb.
Das Mitbestimmungsrecht erfasst die Gestaltung des Zusammenlebens der AN
im Betrieb. Es geht z.B. um die Regelung von Alkohol- und Rauchverboten im Betrieb, des Gebrauchs von Stechuhren und biometrischen Zugangskontrollen, von
Anwesenheitskontrollen, von Tor- und Taschenkontrollen, der Belegung von Parkplätzen, von Fragen der Arbeitskleidung, des Tragen von Namensschildern, ferner
um die Einführung von Ethik-Richtlinien (unten § 9 II. 2. b) und die Schaffung einer Betriebsbußenordnung.
Nr. 2: Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, Verteilung der Arbeitszeit
auf die Wochentage, Pausen.
Es geht nicht um die Arbeitszeit als Maßstab für die geschuldete Arbeitsleistung,
sondern um die Lage der täglichen Arbeitszeit und die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage, ferner um die Aufstellung von
Dienstplänen, die Einrichtung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst (unten §
15 I 3. b), die Regelung von Schichtarbeit, Gleitzeit und variabler Arbeitszeit (unten § 12 III. und § 15 IV.) sowie die Regelung von Arbeitszeitkonten.
Nr. 3: Vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen
Arbeitszeit.
Hierher gehört vor allem die Einführung von Kurzarbeit oder Überstunden (unten §
15 III.)
Nr. 4: Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Arbeitsentgelte.
Nr. 5: Ausstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans sowie
die Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne AN, wenn zwischen dem ArbG und den beteiligten AN kein Einverständnis erzielt wird.
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Diese Vorschrift erfasst jede Form des Urlaubs, auch den Bildungs- und Sonderurlaub sowie jede bezahlte oder unbezahlte Freistellung von der Arbeit. Die allgemeinen Urlaubsgrundsätze betreffen auch die Einführung von Betriebsferien.
Nr. 6: Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der AN zu überwachen.
Die erzwingbare Mitbestimmung auf diesem Gebiet soll den AN davor schützen,
durch den Einsatz anonymer Kontrolleinrichtungen in seinem Persönlichkeitsrecht
verletzt zu werden. Aus diesem Grund wird diese Vorschrift über ihren Wortlaut
hinaus auch auf technische Einrichtungen erstreckt, die zur Überwachung objektiv und unmittelbar nur geeignet sind.
Es geht z.B. um Videoanlagen, Fernsehmonitore, elektronische Zeiterfassungsgeräte, Produktographen zur Messung der Produktivität am Arbeitsplatz, gesetzlich
nicht vorgeschriebene Fahrtenschreiber, Telefonanlagen sowie Datenverarbeitungsanlagen einschließlich Bildschirmgeräten mit Überwachungsmöglichkeit, biometrische Zugangskontrollen, Fotokopiergeräte mit persönlicher Code-Nummer des Benutzers, Personalinformationssysteme zur Erarbeitung AN-bezogener Aussagen.
Nr. 7: Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften.
Das Mitbestimmungsrecht betrifft die Maßnahmen des ArbG zur Konkretisierung
einer Rahmenvorschrift zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten
und Gesundheitsschäden.
Nr. 8: Form, Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen, deren
Wirkungsbereich auf den Betrieb, das Unternehmen oder den Konzern beschränkt ist.
Zu diesen Einrichtungen zählen z.B. Werkskantinen, Erholungseinrichtungen,
Sportanlagen, Werksbüchereien, Kindergärten, Ferienheime und Einrichtungen der
betrieblichen Altersversorgung wie Pensions- und Unterstützungskassen sowie Pensionsfonds. Die Schaffung dieser Einrichtungen kann durch den Betriebsrat nicht
erzwungen werden. Dies ist allein Sache des ArbG.
Nr. 9: Zuweisung und Kündigung von Wohnräumen, die den AN mit Rücksicht auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses vermietet werden, sowie die
allgemeine Festlegung der Nutzungsbedingungen.
Nr. 10: Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere der Aufstellung
von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen
Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung.
(1) Es geht hierbei nicht unmittelbar um die Lohnhöhe, mittelbar im Ergebnis jedoch schon.
(2) Die Mitbestimmung bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung ist der
Oberbegriff. Sie bezieht sich auf die für den Betrieb allgemein festgelegten Vergü-
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tungsregelungen = abstrakt-generelle Grundsätze der Lohnfindung. Entlohnungsgrundsätze und Entlohnungsmethoden sind beispielhaft aufgeführte Unterfälle
der betrieblichen Lohngestaltung. Das Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung
bzw. Einführung, Anwendung und Änderung dieser Grundsätze und Methoden soll
eine durch Angemessenheit und Durchsichtigkeit des Lohngefüges gekennzeichnete
innerbetriebliche Lohngerechtigkeit gewährleisten.
(a) Die Entlohnungsgrundsätzen betreffen das System, nach dem das Entgelt
bemessen wird, z.B. als Zeit- Akkord- oder Prämienlohn und die Bildung von Entgeltgruppen nach Art der Ausbildung und der Tätigkeit des AN (Gamillscheg Bd. II
S. 936).
(b) Die Entlohnungsmethode bezeichnet die Art der Bewertung der Arbeitsleistung, etwa nach einem Punktesystem, einem Leistungsgruppensystem oder einem
REFA-System (v. Hoyningen-Huene § 12 Rn.78).
(3) Im Laufe der Rechtsprechung ist dieser Anwendungsbereich der Mitbestimmung immer mehr verfeinert und ausgeweitet worden. Gamillscheg (Bd. II S. 938)
stellt dazu fest, dass „die Rechtsprechung aus dem Begriff der Lohngestaltung eine
Generalklausel gemacht (hat), aus der eine ‚umfassende Mitbestimmung‘ in Lohnfragen“ überall dort abgeleitet wird, wo „Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräume“ bestehen.
(4) In vielen Fällen enthalten Tarifverträge ins Einzelne gehende, abschließende
Vergütungsregelungen, die wegen der Regelungssperre des Einleitungssatzes des
§ 87 I BetrVG abweichenden oder ergänzenden Betriebsvereinbarungen keinen
Raum bieten. Nur eine tarifvertragliche Öffnungsklausel könnte dies ermöglichen
(vorstehend unter II. 4. e).
(5) Einen großen Anwendungsbereich der Mitbestimmung nach Nr. 10 bilden die
freiwilligen Leistungen des ArbG, wie z.B. Zulagen, Gratifikationen, Treueprämien und Weihnachtsgeld (unten § 16 II. 3.), zu deren Gewährung er nicht schon
durch Gesetz, Tarifvertrag oder auf arbeitsvertraglicher Grundlage verpflichtet ist.
Mitbestimmungsfrei ist allerdings die Frage, ob der ArbG überhaupt eine freiwillige Leistung gewährt und die Höhe der von ihm dafür zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel. Auch die Beendigung der Leistung, etwa gestützt auf einen Freiwilligkeitsvorbehalt oder durch Ausübung eines Widerrufsrechts, oder die Bestimmung ihrer Anrechenbarkeit auf den Tariflohn ist allein seine Sache. Die erzwingbare Mitbestimmung des Betriebsrats setzt erst dort ein, wo die damit verbundene
Aufstellung von Verteilungsgrundsätzen einen Regelungsspielraum eröffnet
(Gamillscheg Bd. II S. 933; nachfolgend unter IV.).
Nr. 11: Festsetzung der Akkord- und Prämiensätze und vergleichbarer leistungsbezogener Entgelte, einschließlich der Geldfaktoren.
Nr. 12: Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen.
Es geht um Verbesserungsvorschläge des AN auf technischem, kaufmännischem
oder organisatorischem Gebiet. Für patent- oder gebrauchsmusterfähige Erfindungen des AN gilt hingegen ausschließlich das ArbNErfG. Qualifizierte technische
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Verbesserungsvorschläge i.S.d. § 3 ArbNErfG werden durch das ArbNErfG z.T abschließend geregelt und unterliegen dann nicht der Mitbestimmung mit Ausnahme
rein organisatorischer Fragen.
Bei den in § 87 I Nr.12 BetrVG genannten „Grundsätzen“ handelt es sich insbesondere um Fragen der Organisation und des durchzuführenden Verfahrens: Wie ist
der Verbesserungsvorschlag einzureichen, wie zu prüfen, welche Bewertungsmethoden sind dabei anzuwenden und wie ist bei Streitigkeiten zu verfahren? Die Behandlung des Verbesserungsvorschlags soll für die AN durchschaubar sein.
Die Entscheidung über die Annahme oder Nichtannahme eines Verbesserungsvorschlags und dessen Bewertung im Einzelfall sowie die Frage, ob und in welcher
Höhe ein vom ArbG nicht verwerteter Verbesserungsvorschlag vergütet werden
soll, obliegt allein dem ArbG; ebenso die Festlegung der Umfang der finanziellen
Mittel, die der ArbG für die Entlohnung zur Verfügung stellt.
Nr. 13: Grundsätze über die Durchführung von Gruppenarbeit; Gruppenarbeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn im Rahmen des betrieblichen
Arbeitsablaufs eine Gruppe von AN eine ihr übertragene Gesamtaufgabe im
Wesentlichen eigenverantwortlich erledigt.
IV. Die freiwillige Betriebsvereinbarung
Außerhalb der Tatbestände der erzwingbaren Mitbestimmung können sich die
Betriebspartner nach § 88 BetrVG freiwillig des Mittels der Betriebsvereinbarung zur Gestaltung sozialer Angelegenheit bedienen. Ein Streit über die inhaltliche Ausgestaltung der freiwilligen Betriebsvereinbarung kann allerdings nur einvernehmlich vor die Einigungsstelle gebracht werden.
Auch hierbei ist eine Regelungssperre zu beachten. Diesmal in Gestalt des Tarifvorbehalts des § 77 III 1 BetrVG. Hiernach können „Arbeitsentgelte und sonstige
Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden,…nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein“. Nach § 77 III 2
BetrVG gilt dies jedoch nicht im Fall einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel,
„wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt“.
„Durch Tarifvertrag geregelt“ sind Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen schon dann, wenn ihre Regelung in einem Tarifvertrag enthalten ist, in dessen räumlichen, betrieblich-fachlichen und fachlich-persönlichen Geltungsbereich
der Betrieb fällt. Auf die Tarifgebundenheit des ArbG kommt es nicht an. Auch
die Tarifüblichkeit kann eine Sperrwirkung entfalten, etwa wenn nach Ablauf eines solchen Tarifvertrags ein tarifloser Zustand besteht; ferner in den Fällen, in denen es sich um Arbeitsbedingungen handelt, die in für den räumlichen, betrieblichfachlichen und fachlich-persönlichen Bereich des Betriebs repräsentativen Tarifverträgen typischerweise geregelt zu werden pflegen (D/K/K/Berg § 77 BetrVG
Rn.71), m.a.W. sich „eingebürgert“ haben (Gamillscheg Bd. II S. 782). Enthält der
Tarifvertrag keine Öffnungsklausel, verbleibt für eine mitbestimmungsfreie Betriebsvereinbarung also nur ein kleiner Regelungsbereich. In der Praxis wird die
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Regelungssperre des § 77 III 1 BetrVG allerdings oft nicht beachtet, ohne dass die
Gewerkschaft die Missachtung beanstandet (unten § 7 II. 1. b).
§ 88 BetrVG führt unter den Nrn. 1 bis 4 ausdrücklich eine Reihe von Angelegenheiten auf, die durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung geregelt werden können.
Die Aufzählung ist jedoch nicht abschließend, so dass alle möglichen nicht schon
von § 87 I BetrVG erfassten sozialen Angelegenheiten zum Gegenstand einer freiwilligen Betriebsvereinbarung gemacht werden können. Auch § 102 VI BetrVG
enthält einen derartigen Regelungsgegenstand. In der Praxis geht es oft um freiwillige Leistungen des ArbG (siehe vorstehend III. unter Nr.10 sowie unten § 16 II.
3.).
V. Einschränkungen des Geltungsbereichs der Betriebsverfassung
1. Nach § 130 BetrVG findet das BetrVG keine Anwendung im Bereich des öffentlichen Dienstes. An seiner Stelle gilt dort das Personalvertretungsgesetz (PersVG).
2. Nach § 118 II BetrVG findet das BetrVG keine Anwendung auf Tendenzbetriebe in Gestalt von
 Religionsgemeinschaften und
 ihre privatrechtlich (z.B. als Verein, Stiftung oder GmbH) organisierten karitativen (z.B. konfessionelles Krankenhaus) und erzieherischen (z.B. Konfessionsschule) Einrichtungen (andere Einrichtungen nicht! Diese können aber unter
§ 118 I BetrVG fallen).
Karitative und erzieherische Einrichtungen sind dann Einrichtungen z.B. der Kirche, wenn zwischen der Einrichtung und der Kirche eine institutionelle Verbindung besteht, die der Kirche
das Maß an Einfluss verschafft, dessen sie bedarf, um auf Dauer eine Übereinstimmung der Tätigkeit der Einrichtung mit ihren religiösen Vorstellungen sicherstellen zu können. Ist das nicht
der Fall, kommt § 118 I BetrVG zur Anwendung.
Die Nichtgeltung des BetrVG folgt aus Art. 140 GG, 137 III WRV (Weimarer
Reichsverfassung). Die beiden großen christlichen Kirchen haben auf freiwilliger
Grundlage dem BetrVG ähnliche Regelungen getroffen (z.B. das Mitarbeitervertretungsgesetz EKD 1992 i.d.F. vom 1.1.2004).
3. Nach § 118 I BetrVG findet das BetrVG mit Einschränkungen Anwendung
auf Tendenzbetriebe ohne religionsgemeinschaftliche Trägerschaft.
Der Grund für diese Restriktion liegt darin, den ArbG, der mit seinem Unternehmen eine bestimmte geistig-ideelle Zielsetzung („Tendenz“) verfolgt, davor zu schützen, durch andersdenkende
oder fachfremde AN-Vertreter im Betriebsrat seines Unternehmens in der freien Entfaltung seiner
Vorstellungen und Absichten behindert zu werden. So sind es vor allem Presse und Verlage, die vor
einer Beeinträchtigung der freien Meinungsäußerung, sowie politische Parteien, Gewerkschaften und
ArbG-Verbände, die vor einer unmittelbaren Einflussnahme durch politische Gegner bewahrt werden sollen. Im Übrigen soll die Entscheidung über die wissenschaftliche oder künstlerische Befähigung eines AN allein dem ArbG überlassen bleiben. (Gamillscheg a.a.O. Bd. II, § 53 S 1159).
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Der Katalog der geschützten Ziele wird als abschließend begriffen, so dass z.B. ein Sportverband
als ArbG von ihm nicht erfasst ist. Im Übrigen sind Einschätzungsprobleme nicht zu vermeiden. §
118 I BetrVG nennt als Zielsetzungen:









politische: z.B. bei einer politischen Partei, einem Vertriebenenverband, einer Menschenrechtsorganisation oder politischen Stiftung als ArbG;
koalitionspolitische: z.B. bei einer Gewerkschaft, einem Arbeitgeberverband, ferner bei deren
Schulungsheimen als ArbG;
konfessionelle: z.B. bei einem nicht in kirchlicher Trägerschaft stehenden Missionsverein
oder einem konfessionellen Jugendverband als ArbG; andernfalls § 118 II BetrVG gilt;
karitative: z.B. beim Deutschen Roten Kreuz, bei der Deutsche Gesellschaft zur Rettung
Schiffbrüchiger, der Bergwacht, dem Müttergenesungswerk, der Arbeiterwohlfahrt, dem
Reichsbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, einem privaten Krankenhaus oder Altersheim ohne Gewinnerzielungsabsicht als ArbG;
erzieherische: z.B. bei einer Privatschule, einem Internat, einem Fernlehrinstitut oder dem Berufsbildungswerk als ArbG;
wissenschaftliche: z.B. bei einem wissenschaftlichen Institut, einer wissenschaftlichen Bibliothek, einem wissenschaftlichen Verlag, einem Versuchsgut, einem Museum als ArbG;
künstlerische: z.B. bei einem Theater, Orchester, Opernhaus, Filmstudio, Buchverlag oder einer Kunstausstellung als ArbG;
Berichterstattung und Meinungsäußerung: z.B. bei einem Buch-, Zeitschriften- oder Zeitungsverlag, einem privaten Rundfunk- oder Fernsehsender, bei einer Nachrichtenagentur als
ArbG.
Aus der Einschränkung in § 118 I 1 Hs. 2 BetrVG („soweit“) folgt u.a., dass der Betriebsrat z.B. in den Fällen der §§ 99, 102 und 103 BetrVG vom ArbG über die beabsichtigte personelle Maßnahme zwar ordnungsgemäß zu unterrichten ist, er sie
aber nicht nach § 99 II oder § 103 BetrVG durch Zustimmungsverweigerung blockieren darf und nicht der ordentlichen Kündigung nach § 102 III BetrVG widersprechen und damit die Rechtfolgen des § 102 V BetrVG auslösen kann, sofern die
personelle Maßnahme einen als Tendenzträger beschäftigten AN betrifft, also z.B.
den Zeitungsredakteur, Gewerkschaftssekretär, Lehrer z.B. in einer konfessionellen
Bildungsanstalt, Bühnenangehörigen oder Musiker, nicht aber den Pförtner oder
Buchhalter einer Tendenzeinrichtung.
4. Hinweis: In den von § 118 I und II BetrVG erfassten Tendenzbetrieben gelten
auch für die Einstellung und Entlassung von tendenztragenden AN Besonderheiten. So ist die Identifikation des als Tendenzträger einzustellenden Bewerbers
mit der Tendenz seines künftigen ArbG eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne von § 8 I AGG. Und eine nicht ausreichende oder gar
fehlende Identifikation des als Tendenzträger beschäftigten AN mit der Tendenz
seines ArbG kann seine personenbedingte Kündigung im Sinne von § 1 I KSchG
rechtfertigen.
Allerdings korrigierte der EGMR in seinem Urteil vom 29. 3. 2010 – 1620/03 – in NZA 2011, 279
die deutsche Rechtsprechung, die die Kündigung eines bei der katholischen Kirche seit 19 Jahren
angestellten Organisten und Chorleiters, der sich vor Jahren von seiner Ehefrau getrennt hatte und
eine außereheliche Beziehung eingegangen war, bejaht hatte.
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VI. Der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten
Die gesetzliche Interessenvertretung der leitenden Angestellten auf betrieblicher
Ebene ist der Sprecherausschuss nach Maßgabe des Sprecherausschussgesetzes
(SprAuG). Nach § 1 I SprAuG werden in Betrieben mit in der Regel zehn leitenden
Angestellten (Definition in § 5 III BetrVG) Sprecherausschüsse gewählt.
Im Unterschied zum Betriebsrat hat er keine echten, erzwingbaren Mitbestimmungsrechte. Das
SprAuG kennt nur Unterrichtungs- und Beratungsrechte bei Änderungen der Gehaltsgestaltung
und sonstiger allgemeiner Arbeitsbedingungen sowie bei Einführung oder Änderung allgemeiner
Beurteilungsgrundsätze und der beabsichtigten Einstellung oder personellen Veränderung eines leitenden Angestellten (§§ 30, 31 I SprAuG).
In Ansehung von Kündigungen bestimmt § 31 II SprAuG ähnlich § 102 I BetrVG, dass der
Sprecherausschuss vor jeder Kündigung eines leitenden Angestellten zu hören ist, wobei der ArbG
ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen hat. „Eine ohne Anhörung des Sprecherausschusses
ausgesprochene Kündigung ist unwirksam“. Entgegen § 102 V BetrVG können die gegen eine ordentliche Kündigung gerichteten „Bedenken“ des Sprecherausschuss jedoch nicht zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Gekündigten führen.
Anstelle von Betriebsvereinbarungen kann nach § 28 SprAuG der ArbG mit dem Sprecherausschuss
Richtlinien über den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit leitenden Angestellten vereinbaren, die aber nur dann unmittelbar und zwingend gelten, soweit dies vereinbart worden ist. Dann sind abweichende Vereinbarungen über denselben Regelungsgegenstandausgeschlossen, nach § 28 II 2 SprAuG zugunsten leitender Angestellten aber ausdrücklich zulässig.
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§ 7 Die Rangfolge der arbeitsrechtlichen Gestaltungsfaktoren
I. Das Verhältnis des einfachen Gesetzesrechts zu nachrangigen Regelungen
1. Wie schon oben unter § 2 II. hervorgehoben, besteht zwischen den auf das Arbeitsverhältnis einwirkenden Gestaltungsfaktoren ein Rangverhältnis, aufsteigend
von den auf der Ebene des Arbeitsvertrages angesiedelten Regelungsinstrumenten,
über die Betriebsvereinbarung und den Tarifvertrag bis hin zum Gesetzesrecht. In
solchen Fällen gilt gemeinhin das Rangprinzip, wonach die höherrangige Regelung
der niederrangigen vorgeht. Da die im Rang unter dem primären Unionsrecht und
dem deutschen Verfassungsrecht stehenden einfachgesetzlichen Vorschriften aber
fast durchgängig nur Mindestarbeitsbedingungen gewährleisten sollen, die nicht
zum Nachteil des AN unterschritten werden dürfen, ist offenkundig, dass ihr
Schutzzweck nicht durch eine nachrangige Regelung verletzt werden kann, die den
AN günstiger stellt. Sie sind darum nicht nach jeder Seite hin unnachgiebig, sondern nur einseitig zwingend in dem Sinne, dass von ihnen nur nicht „nach unten“,
nämlich zu Ungunsten des AN, wohl aber „nach oben“, d.h. zu Gunsten des AN
abgewichen werden kann. Die Vorschriften der §§ 12 EFZG und 13 I 3 BUrlG tun
dies ausdrücklich kund, doch gilt auch ohne solche „Unterschreitungsverbote“ für
die meisten einfachgesetzlichen Vorschriften des Arbeitsrechts das Günstigkeitsprinzip.
Es können also die Normen eines Tarifvertrages, einer Betriebsvereinbarung oder
Regelungen auf der Ebene des Arbeitsvertrages von zwingenden arbeitsgesetzlichen
Normen abweichen, wenn sie den AN günstiger stellen.
Nur wenige arbeitsrechtliche Vorschriften sind beidseitig zwingend, wie dies z.B. bei Formvorschriften der Fall ist, etwa dem § 623 BGB, bei denen sich die Frage nach der Günstigkeit gar nicht
stellen kann; oder in den Fällen, in denen ein allgemeines Interesse an der strikten Einhaltung der
gesetzlichen Bestimmungen besteht, wie etwa beim Beschäftigungsverbot des § 6 I MuSchG, das
nicht nur die Schwangere vor sich selbst, sondern auch das werdende Kind, die Familie und das Interesse der Allgemeinheit an gesundem Nachwuchs schützt. Beidseitig zwingend ist auch § 626 BGB.
2. Nachgiebiges (= dispositives) Gesetzesrecht unterliegt nicht dem Günstigkeitsprinzip. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin, Abweichungen von den gesetzlichen
Normen auch und gerade zu Ungunsten des AN zu ermöglichen. Darum ist es im
Arbeitsrecht selten. Zwei Erscheinungsformen kommen in Betracht:

Zum einen das tarifdispositive Gesetzesrecht, das es nur den Parteien des Tarifvertrages gestattet, von einer gesetzlichen Vorschrift auch zu Ungunsten des AN abzuweichen, wie etwa in
den Fällen von § 7 und § 12 ArbZG, § 13 I 1 und 2 BUrlG, § 4 IV EFZG, § 622 IV BGB, § 12
III TzBfG, § 14 II 3 TzBfG.
Hintergrund für diese Regelung ist die Absicht, den Tarifvertragsparteien für ihre Verhandlungen ein größeres Maß an Beweglichkeit zu geben verbunden mit der Überzeugung, dass die
Gewerkschaften auch ohne gesetzliche Hilfestellung in der Lage sind, die wohlverstandenen Interessen der AN im Ergebnis angemessen zu vertreten.

Zum anderen das uneingeschränkt dispositive Gesetzesrecht, das der Veränderung durch
Normen eines Tarifvertrags, einer Betriebsvereinbarung und Bestimmungen auf der Ebene des
Arbeitsvertrags ohne weiteres zugänglich ist. Es ist im Arbeitsrecht die große Ausnahme, so etwa in den Fällen der §§ 613, 614, 616 BGB.
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3. Welche Geltungskraft einer gesetzlichen Vorschrift (einschließlich des ergänzenden Richterrechts) zukommt, ergibt sich entweder aus ihrem Wortlaut oder ist
ihr im Wege der Auslegung zu entnehmen.
II. Das Verhältnis der Normen eines Tarifvertrages zu nachrangigen Regelungen
1. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG
Die im Rang unter dem (einfachen) Gesetzesrecht stehenden Normen eines Tarifvertrags sind nach § 4 I TVG zwingendes Recht. Da der Tarifvertrag aber ebenso
wie die meisten Arbeitsgesetze zum Schutz des AN vor Übervorteilung nur Mindestarbeitsbedingungen sicherstellen soll, sind auch seine Normen lediglich einseitig zwingend, so dass auch für ihn das Günstigkeitsprinzip gilt. Diese Erkenntnis hat in der Vorschrift des § 4 III Altn. 2 TVG ihren gesetzlichen Ausdruck gefunden, wonach „abweichende Abmachungen…zulässig (sind), soweit sie eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.“
Dabei geht es zum größten Teil um gegenüber dem Tarifvertrag günstigere Regelungen auf der Ebene des Arbeitsvertrages, etwa durch die Gewährung höherer
Löhne und von mehr Urlaub sowie die Vereinbarung längerer Kündigungsfristen
und den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen. Im Verhältnis der Normen
eines Tarifvertrags zu denen einer Betriebsvereinbarung hingegen kommt das
Günstigkeitsprinzip aufgrund der Regelungssperren des § 87 I Einleitungssatz
BetrVG (nachfolgend unter a) und des § 77 III BetrVG (nachfolgend unter b) im
Grundsatz nicht zum Zug.
a) Der Gesetzes- und Tarifvorrang des § 87 I Einleitungssatz BetrVG als Regelungssperre für erzwingbare Betriebsvereinbarungen
(siehe auch oben § 6 II. 4. e)
Für einen Gegenstand der erzwingbaren Mitbestimmung steht § 87 I BetrVG Einleitungssatz (als eine dem Tarifvorbehalt des § 77 III BetrVG vorgehende Spezialvorschrift) auf dem Standpunkt, dass die Betriebspartner über ihn nur dann verhandeln und streiten können, „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht
besteht.“ Das heißt: Sofern das Gesetz (einschließlich des gesetzesvertretenden
Richterrechts; HWK/Clemenz § 87 BetrVG Rn.8) oder ein für den Betrieb infolge
Tarifgebundenheit des ArbG geltender Tarifvertrag eine Angelegenheit der erzwingbaren Mitbestimmung abschließend regelt, ohne dem ArbG noch die Möglichkeit einer einseitigen Entscheidung zu lassen, bei der der Betriebsrat dann mitzubestimmen hätte (BAG v.18.4.1989 – 1 ABR 100/87 – in BAGE 61, 296, 304),
besteht für eine Betriebsvereinbarung kein Raum. Die Sperre des § 87 I Einleitungssatz will einfach vermeiden, „dass über betriebliche Dinge gestritten wird,
über die es nichts zu streiten gibt.“ (Gamillscheg a.a.O. Bd. II S. 870). Die Interessen der AN sind durch die tarifvertragliche Regelung ausreichend gewahrt.
In diesem Fall ist auch eine „freiwillige“ Betriebsvereinbarung über eine an sich
mitbestimmungspflichtige Angelegenheit unwirksam. Enthält der Tarifvertrag allerdings eine Öffnungsklausel für „ergänzende“ Betriebsvereinbarungen, ist der
Tarifvorrang insoweit entfallen.
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b) Der Tarifvorbehalt des § 77 III BetrVG als Regelungssperre für nach § 88
BetrVG freiwillige Betriebsvereinbarungen
(siehe auch oben § 6 IV.)
Im Verhältnis der Normen eines Tarifvertrags zu denen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung besteht zur Sicherung der Tarifautonomie und zum Schutz der
Gewerkschaften vor einer Konkurrenz der Betriebsräte als „beitragsfreie Ersatzgewerkschaften“ (Peter Hanau) eine Sperre durch den Tarifvorbehalt des § 77
III 1 BetrVG. Danach können „Arbeitsentgelte und sonstige [individuelle] Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden,…nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.“ Während gegenüber einem Tarifvertrag ungünstigere Betriebsvereinbarungen am Vorrang eines (für den
Betrieb infolge Tarifgebundenheit des ArbG geltenden!) Tarifvertrags scheitern,
verhindert der Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG die Korrektur eines Tarifvertrages durch eine für den AN günstigere Betriebsvereinbarung.
„Durch Tarifvertrag geregelt“ sind Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen schon dann,
wenn der Betrieb in den räumlichen, betrieblich fachlichen und fachlich-persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrages fällt. Anders als beim vorstehend unter a) behandelten Tarifvorrang des § 87 BetrVG ist dazu eine Tarifgebundenheit des ArbG nicht erforderlich.
Zur Tarifüblichkeit siehe schon oben § 6 IV.
Entgegen § 77 III 1 BetrVG dennoch abgeschlossene Betriebsvereinbarungen sind unwirksam,
doch gibt es in der Praxis unzählige Verstöße, die nicht gerügt werden. Die Gewerkschaft wagt es
oft nicht, gegen eine günstigere Betriebsvereinbarung vorzugehen, weil sie den Unmut ihrer in diesem Betrieb beschäftigten Mitglieder fürchtet. Selbst gegen eine wegen unzulässigen Gesamtvergleichs (nachstehend unter IV.) ungünstige Betriebsvereinbarung, die schon gegen das Rangprinzip
verstößt, wird sie sich deswegen häufig nicht wehren. Vollends verwirren muss die Erkenntnis, dass
der ArbG z.B. eine freiwillige Leistung in Gestalt einer zusätzlichen Vergütung auf der Grundlage
einer freiwilligen Betriebsvereinbarung nur soll gewähren dürfen, wenn der konkurrierende Tarifvertrag eine entsprechende Öffnungsklausel aufweist (§ 77 III 2 BetrVG), dies jedoch ohne weiteres im
Wege einer Gesamtzusage oder einer arbeitsvertraglichen Einheitsregelung verwirklichen darf.(Zur
Kritik an §§ 77 III BetrVG siehe vor allem Gamillscheg a.a.O. Bd. II, S. 784 ff. unter d).
Nach § 77 III 2 BetrVG gilt der Tarifvorbehalt des Satzes 1 „nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.“ Eine solche Öffnungsklausel kann Abweichungen von den Normen eines
Tarifvertrages durch Normen einer Betriebsvereinbarung zu Gunsten, aber auch
zu Ungunsten des AN gestatten (nachfolgend unter 2.). Obwohl § 77 III 2 BetrVG
von einer Öffnung des Tarifvertrages für „ergänzende“ Betriebsvereinbarungen
spricht, geht die h.M. von einer uneingeschränkten Regelungsbefugnis der Betriebsparteien aus (nachstehend unter 2.).
Eine Ausnahme vom Tarifvorbehalt besteht auch für den in seiner Wirkung einer Betriebsvereinbarung gleichkommenden Sozialplan, auf den nach § 112 I 4 BetrVG die Vorschrift des § 77 III
BetrVG keine Anwendung findet. Für ihn gilt uneingeschränkt das Günstigkeitsprinzip des § 4 III
Altn. 2 TVG; im Übrigen auch § 4 III Altn. 1 TVG, so dass im Falle der Tariföffnung für einen Sozialplan dessen Bestimmungen von Normen eines Tarifvertrages nicht nur zu Gunsten, sondern auch
zu Ungunsten des AN abweichen dürfen.
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2. Tarifvertragliche Öffnungsklauseln nach § 4 III Altn. 1 TVG und § 77 III 2
BetrVG
Abweichungen von den nach § 4 I TVG zwingenden Normen des Tarifvertrages
durch Regelungen auf niederrangiger Ebene sind nicht nur nach § 4 III Altn. 2 TVG
aufgrund des Günstigkeitsprinzips möglich (vorstehend unter 1.). Nach § 4 III
Altn. 1 TVG sind „abweichende Abmachungen“ vielmehr auch dann „zulässig,
soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind.“
Da dem AN günstige Abweichungen vom Tarifvertrag auf der Ebene des Arbeitsvertrages schon nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG zulässig
sind, geht es bei der Öffnung des Tarifvertrages für arbeitsvertragliche Regelungen
vorwiegend darum, für den AN ungünstige Abweichungen vom Tarifvertrag zu ermöglichen.
In Ansehung von Normen einer Betriebsvereinbarung hingegen sind wegen des
Tarifvorbehalts des § 77 III 1 BetrVG Öffnungsklauseln nicht nur für ungünstige,
sondern auch für günstige Abweichungen vom Tarifvertrag erforderlich. Das könnte schon aus § 4 III Altn. 1 TVG folgen, doch ist für die Zulässigkeit von Abweichungen durch eine Betriebsvereinbarung auf die speziellere Vorschrift des § 77 III
2 BetrVG abzustellen, die die Regelungssperren sowohl des § 77 III 1 BetrVG als
auch des § 87 I Einleitungssatz BetrVG beseitigt.
Es ist Sache der Tarifvertragsparteien, zu bestimmen, in welchem Umfang sie
den Tarifvertrag öffnen. So können sie die Öffnung auf arbeitsvertragliche Regelungen beschränken oder nur für Normen einer Betriebsvereinbarung, nicht aber des
Arbeitsvertrags gestatten. Sie können die Öffnung auf bestimmte Tarifnormen beschränken, von bestimmten sachlichen Voraussetzungen abhängig machen und die
Abweichungen inhaltlich begrenzen.
Ungünstige Abweichungen von einem Tarifvertrag dienen vor allem der Absenkung des Tarifstandards in wirtschaftlichen Notlagen durch Arbeitszeitverlängerung und/oder untertarifliche Entlohnung mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Darum werden sie häufig mit einem längerfristigen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen verbunden. In diesen Fällen tritt das bei der Anwendung des Günstigkeitsprinzips auftretende Problem des „Gesamtvergleichs“ (nachfolgend unter
IV.) nicht auf. Weitere Beispiele ungünstiger Abmachungen sind z.B. besondere Einstellungstarife
für Langzeitarbeitslose oder Berufsanfänger, um in wirtschaftlich schwachen Gebieten eine Zunahme der Beschäftigung zu erreichen; ferner die Schaffung erhöhter Flexibilität in Bezug auf Sonderzuwendungen u.Ä.
III. Das Verhältnis der Normen einer Betriebsvereinbarung zu nachrangigen
Regelungen
Für das Verhältnis von Normen einer Betriebsvereinbarung zu den im Rang darunter liegenden arbeitsvertragliche Regelungen gilt das Günstigkeitsprinzip.
Zum sog. kollektiven Günstigkeitsvergleich siehe oben § 4 II. 6.
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IV. Der Günstigkeitsvergleich
bereitet in Ansehung des Vergleichsgegenstandes und -maßstabs Schwierigkeiten.
Sofern die arbeitsvertragliche Regelung von dem Tarifvertrag nur in einem Punkt abweicht, wie etwa bei Gewährung eines den Tariflohn übersteigenden Entgelts, gibt es keine Probleme. Wenn die
arbeitsvertragliche Regelung aber teils günstigere und teils ungünstigere Arbeitsbedingungen als der
Tarifvertrag aufweist, lässt sich die Frage, was für den AN wirklich günstiger ist, nicht so ohne weiteres beantworten. Das BAG v. 20.4.1999 in NZA 1999, 887, 892 f. steht auf dem Standpunkt, dass
jedenfalls ein Gesamtvergleich zwischen Arbeitsvertrag und Tarifvertrag mit dem Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG nicht vereinbar ist. Damit sind als „Bündnisse für Arbeit“ im Einvernehmen von ArbG, AN und Betriebsrat auf der Ebene des Arbeitsvertrages oder ─ soweit nach §
77 III 2 BetrVG zulässig ─ durch Betriebsvereinbarung zur Bewältigung einer wirtschaftlichen Krise geschlossene Beschäftigungspakte mit der Abrede, entgegen dem geltenden Tarifvertrag die tarifliche Vergütung abzusenken und/oder die Arbeitszeit anzuheben, wenn gleichzeitig betriebsbedingte
Kündigungen ausgeschlossen werden, nicht zulässig.
Die h.M. lässt nur einen „Sachgruppenvergleich“ zu, wonach sachlich zusammengehörige Regelungen der einen wie der anderen Seite miteinander bei objektiver Betrachtung aus der Sicht eines vernünftigen AN zu vergleichen sind. Danach ist z.B. die arbeitsvertragliche Urlaubsregelung
über 30 Urlaubstage und 300 € Urlaubsgeld für den AN günstiger als die des Tarifvertrags über 25
Urlaubstage und 325 € Urlaubsgeld (Brox/Rüthers/Henssler Rn.686). Ebenso ist z.B. die gesetzliche
Kündigungsfrist von 7 Monaten zum Ende eines Kalendermonats nach § 622 Nr. 7 BGB günstiger
als eine arbeitsvertraglich vereinbarte Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Quartalsende (BAG v.
4.7.2001 – 2 AZR 469/00 – in NZA 2002, 380). Im Einzelnen ist vieles strittig. Die Frage, ob hierunter die Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit bei Gewährung eines entsprechenden Mehrverdienstes gehört, wird nicht einheitlich beantwortet. Keinesfalls jedoch kann untertariflicher Lohn
durch übertariflichen Urlaub ausgeglichen werden, wohl aber ggf. eine Gesamtvergütung durch eine
Grundvergütung mit Leistungszulagen.
Bündnisse für Arbeit können hiernach wirksam nur durch Tarifvertrag geregelt werden, durch Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung jedenfalls nicht in Übereinstimmung mit dem vorherrschenden Verständnis vom Günstigkeitsprinzip, wohl aber bei einer entsprechenden Öffnungsklausel im
Tarifvertrag, und zwar in Bezug auf eine Betriebsvereinbarung gemäß § 77 III 2 BetrVG, in Bezug
auf einen Arbeitsvertrag gemäß § 4 III Altn. 1 TVG (nachfolgend unter 2.).
V. Fazit
1. Vor dem Hintergrund der vorstehend unter I. bis IV. enthaltenen Ausführungen
ist folgende Rangordnung aufzustellen.
(1) Unmittelbar geltendes EU-Recht in Gestalt vor allem des primären Gemeinschaftsrechts sowie der Rechtsverordnungen des sekundären Gemeinschaftsrechts;
Die Richtlinien der EU sind im Grundsatz kein unmittelbar geltendes Recht, sondern geben den
Mitgliedstaaten der EU verbindliche Regelungsziele vor, die erst von ihnen durch nationale Gesetzgebung in unmittelbar geltendes Recht umzusetzen sind. Sie bilden also die europarechtliche Grundlage für (einfaches) nationales Gesetzesrecht.
(2) Das Grundgesetz im Hinblick auf die durch Art. 9 III GG garantierte Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit sowie wegen der für die
Rechtsprechung wichtigen mittelbaren Drittwirkung seiner Art. 1 bis 6, 12 und 14
GG;
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(3) Zwingendes Gesetzesrecht des BGB und arbeitsrechtlicher Einzelgesetze einschließlich des gewohnheitsrechtlich geltenden allgemeinen arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungssatzes sowie ergänzendes Richterrecht;
Im Bereich des zwingenden Gesetzesrechts des BGB sind von zunehmender Bedeutung die Vorschriften der §§ 305 bis 310 BGB über die gerichtliche Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher
Einheitsregelungen. Bestimmungen eines Tarifvertrages und einer Betriebsvereinbarung unterliegen allerdings nicht der AGB-Kontrolle;
(4) Zwingende Tarifvertragsnormen;
(5) Tarifdispositives Gesetzesrecht;
siehe vorstehend unter I. 2.
(6) Zwingende Normen einer Betriebsvereinbarung;
(7) Arbeitsvertrag und ergänzende Regelwerke, die fast nie als Individualvereinbarungen abgeschlossen, sondern vom ArbG in Gestalt arbeitsvertraglicher Einheitsregelungen vorgegeben werden, einschließlich der aufgrund tatsächlicher Gewährung durch den ArbG entstandenen Betrieblichen Übung und seiner Gesamtzusagen;
(8) Abdingbares Gesetzesrecht sowie abdingbare Tarifvertragsnormen und abdingbare Normen einer Betriebsvereinbarung;
(9) Weisungen des ArbG.
Die Weisung gehört zwar zu den vertraglichen Gestaltungsfaktoren des Arbeitsrechts, weil sie Inhalt, Ort und Zeit der vom AN geschuldeten Arbeitsleistung näher bestimmt. Im Rangverhältnis
steht sie jedoch genau genommen unter dem Arbeitsvertrag, denn sie kann Rechtswirkungen nur entfalten, soweit die Arbeitsbedingungen nicht schon durch den Arbeitsvertrag oder Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder durch gesetzliche Bestimmungen
festgelegt sind (§ 106 GewO).
2. Für die Konkurrenz der auf den verschiedenen Rangstufen stehenden
Rechtsnormen ist festzuhalten, dass im Grundsatz die rangniedere der ranghöheren
weichen muss (Rangprinzip), z.B. 3. vor 4. vor 6. vor 7.
In dem Ausnahmefall tarifdispositiven Gesetzesrechts können Tarifvertragsnormen dem Gesetz allerdings vorgehen (4. vor 5.). Ebenso können in dem Ausnahmefall abdingbaren Gesetzesrechts arbeitsvertragliche Bestimmungen dem
Gesetz vorgehen (7. vor 8.).
Im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung gilt nach dem Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG im Grundsatz das strenge Rangprinzip mit Ausnahme des Falles des § 77 III 2 BetrVG (tarifliche Öffnungsklausel). In den sozialen Angelegenheiten lässt der Tarifvorrang des § 87 BetrVG in vom Tarifvertrag
nicht geregelten Bereichen Betriebsvereinbarungen zu.
Im Verhältnis des Gesetzesrechts zum Arbeitsvertrag, des Tarifvertrags zum
Arbeitsvertrag sowie der Betriebsvereinbarung zum Arbeitsvertrag wird das
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Rangprinzip durch das Günstigkeitsprinzip verdrängt, wonach die rangniedere
Norm der ranghöheren vorgeht, wenn sie den AN günstiger stellt.
Eine tarifvertragliche Öffnungsklausel nach § 4 III Altn. 1 TVG kann im Verhältnis des Tarifvertrags zum Arbeitsvertrag ungünstige und nach § 77 III 2 BetrVG
im Verhältnis des Tarifvertrags zur Betriebsvereinbarung neben günstigen auch
ungünstige Abweichungen ermöglichen.
Für Konkurrenzen auf der gleichen Rangstufe gilt, dass die speziellere Regelung
der allgemeinen und die neuere Regelung der älteren vorgeht.
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§ 8 Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten
I. Die Arbeitsgerichtsbarkeit
Nach § 1 ArbGG wird die Gerichtsbarkeit in Arbeitssachen in der 1. Instanz durch
die Arbeitsgerichte, in der 2. Instanz durch die Landesarbeitsgerichte (LAG) und in
der 3. Instanz durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) ausgeübt.
Die Spruchkammern der Arbeitsgerichte und der Landesarbeitsgerichte sind mit einem Berufsrichter
als Vorsitzendem und je einem ehrenamtlichen Richter aus dem Kreis der AN und der ArbG besetzt.
Die Senate des BAG bestehen aus einem Berufsrichter als Vorsitzendem, 2 Berufsrichtern als Beisitzenden und gleichfalls je einem ehrenamtlichen Beisitzer. Die ehrenamtlichen Richter bei den Arbeitsgerichten und den Landesarbeitsgerichten werden von den jeweiligen Landesarbeitsbehörden,
die ehrenamtlichen Richter beim BAG vom Bundesminister für Arbeit und Soziales aus den Vorschlagslisten einerseits von AN-Vereinigungen und andererseits von ArbG-Vereinigungen berufen.
Berufsrichter und ehrenamtliche Richter haben bei der Abstimmung gleiches Gewicht. Es gilt das
Mehrheitsprinzip.
Nach § 11 I ArbGG können die Parteien den Rechtsstreit 1. Instanz selbst führen,
was ihnen jedoch nicht anzuraten ist. Sie können sich aber auch unter Beachtung
von § 79 ZPO durch Privatpersonen, Rechtsvertreter einer Gewerkschaft bzw. eines
ArbG-Verbandes oder durch Rechtsanwälte vertreten lassen. Nach § 11 II ArbGG
müssen sich die Parteien in der 2. Instanz vor dem Landesarbeitsgericht entweder
durch den Rechtsvertreter einer Gewerkschaft bzw. eines ArbG-Verbandes oder
durch Rechtsanwälte vertreten lassen; in der 3. Instanz vor dem BAG herrscht Anwaltszwang.
II. Zwei Verfahrensarten
Das ArbGG kennt zwei Verfahrensarten: Das herkömmliche Urteilsverfahren nach
Maßgabe der §§ 46 bis 79 ArbGG für alle in § 2 ArbGG aufgeführten „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ zwischen AN und ArbG sowie zwischen Tarifvertragsparteien bzw. tariffähigen Parteien oder diesen und Dritten und das Beschlussverfahren nach Maßgabe der §§ 80 bis 98 ArbGG für alle in § 2a ArbGG aufgeführten Angelegenheiten der Betriebsverfassung, der Mitbestimmung, der Tariffähigkeit
und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung von ArbG oder AN sowie der Entscheidung über die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, einer Rechtsverordnung nach § 7 oder 7a des AEntG oder einer Rechtsverordnung
nach § 3a AÜG.
1. Das Beschlussverfahren
In der Praxis findet das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren hauptsächlich zur
Entscheidung von betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten darüber Anwendung, ob und in welchem Umfang dem Betriebsrat nach dem BetrVG das
Recht zusteht, am betrieblichen Geschehen beteiligt zu werden. Im Gegensatz zu
einem solchen Rechtsstreit steht der sog. Regelungsstreit darüber, wie eine Einigung zwischen dem ArbG und dem Betriebsrat in den Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung (siehe oben § 6 II.) zweckmäßigerweise aussehen soll. Die Entscheidung hierüber trifft die betriebliche Einigungsstelle, deren Entscheidung vom Ar-
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beitsgericht nur darauf überprüft werden kann, ob sie ihr Ermessen überschritten
hat.
Anders als im Urteilsverfahren gilt im Beschlussverfahren der sog. Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht nicht an den Vortrag der Parteien gebunden ist, sondern von Amts wegen alle geeigneten Maßnahmen ergreifen kann, um die dem Rechtsstreit zugrunde liegende wahre Sachlage zu
erforschen; denn es geht nicht um die Interessen einzelner natürlicher und juristischer Personen im
Verhältnis zueinander, sondern um die Ordnung des gesamten Betriebes bzw. Unternehmens.
Im Beschlussverfahren werden keine Gerichtskosten erhoben. Es ergeht auch keine Entscheidung
über die außergerichtlichen Kosten aus der Inanspruchnahme eines Prozessbevollmächtigen; denn
ohne Rücksicht auf den Ausgang des Rechtsstreits trägt der ArbG nicht nur seine Kosten, sondern
nach § 40 I BetrVG im Regelfall auch die Kosten, die dem Betriebsrat entstanden sind (oben § 6 I.).
2. Das Urteilsverfahren
a) Die arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten im Urteilsverfahren entstammen größtenteils dem Bereich des Individualarbeitsrechts in Gestalt „bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern“ auf den Gebieten,
die § 2 I Nr. 3 ArbGG aufzählt, nämlich

aus dem Arbeitsverhältnis;

über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses;



aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und dessen Nachwirkungen;
aus unerlaubten Handlungen, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen;
über Arbeitspapiere.
In der Mehrzahl der Fälle geht es um
► die Geltendmachung von Rechten/Ansprüchen des AN gegen den ArbG, vor
allem
(1) nach Kündigung durch den ArbG auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus aus § 611 BGB i.V.m. mit dem Arbeitsvertrag unter Berücksichtigung vor allem von gesetzlichen Bestimmungen über den
Kündigungsschutz,
sowie ggf. auf Weiterbeschäftigung nach § 102 V BetrVG (oder Beschäftigung aus §§
611, 242 BGB in Gestalt des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs) während des
Rechtsstreits bis zu dessen rechtskräftiger Beendigung;
(2) auf Zahlung des Lohnes für geleistete Arbeit aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag;
(3) auf Zahlung von Lohn ohne geleistete Arbeit aus § 611 BGB nach Maßgabe z.B. von § 3
EFZG (Krankheit), § 616 BGB (Verhinderung aus persönlichen Gründen) oder § 615 BGB
(Annahmeverzug des ArbG einschließlich Arbeitsausfalls aus Gründen des „Betriebsrisikos“), § 11 BUrlG i.V.m. dem Arbeitsvertrag;
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(4) auf Schadensersatz neben der Leistung z.B. wegen Schlechtleistung durch Nebenpflichtverletzung aus §§ 241 II, 280 I BGB und/oder § 823 I/II BGB sowie wegen Verzuges aus
§§ 280 I, II, 286, 288 I, IV BGB
(5) auf Schadensersatz bei außerordentlicher Kündigung durch den AN wegen vertragswidrigen Verhaltens des ArbG aus § 628 II BGB;
(6) auf Aufwendungsersatz wegen freiwilliger Vermögensopfer des AN zu Gunsten des ArbG
oder wegen betrieblich veranlasster Eigenschäden des AN aus § 670 BGB;
(7) auf Freistellung von Schadensersatzansprüchen Dritter gegen den AN analog § 670 BGB;
(8) auf Urlaub aus §§ 611 BGB, § 1 BUrlG;
(9) auf Herausgabe der Arbeitspapiere als Nebenpflicht aus § 611 BGB;
(10) auf Zeugniserteilung aus § 630 BGB.
Weniger häufig geht es um
► die Geltendmachung von Ansprüchen des ArbG gegen den AN vor allem
(1) auf Schadensersatz neben der Leistung wegen Schlechtleistung durch Hauptpflichtverletzung oder Nebenpflichtverletzung aus, 241 I oder II, 280 I BGB und/oder § 823 I/II BGB,
ggf. §§ 60, 61 HGB;
(2) auf Schadensersatz statt der Leistung wegen Nichtleistung durch endgültiges Ausbleiben
der Leistung aus §§ 241 I, 280 I und III, 283 BGB;
(3) auf Schadensersatz bei außerordentlicher Kündigung durch den ArbG wegen vertragswidrigen Verhaltens des AN aus § 628 II BGB;
(4) auf Rückzahlung z.B. von irrtümlich gezahltem Lohn aus § 812 I 1 BGB;
b) Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten im Urteilsverfahren auf Gebiet des Individualarbeitsrechts sind ferner die unter § 2 I Nr. 9 ArbGG aufgeführten bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten über
► die Geltendmachung von Ansprüchen zwischen AN, vor allem
aus unerlaubter Handlung, die mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang steht, nämlich
von Ansprüchen der AN gegeneinander auf Schadensersatz aus § 823 I BGB wegen Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen unter Arbeitskollegen auf dem Weg zur und von der
Arbeit sowie bei Betriebsfeiern und -ausflügen; ferner wegen Sachbeschädigung unter Arbeitskollegen während der Arbeit, wohingegen im Fall von Körperverletzungen bei der Verrichtung
der Arbeit die Haftung der AN untereinander dadurch abgelöst wird, dass nach § 105 I SGB VII
bei solchen „Arbeitsunfällen“ der Unfallversicherer für die Ausgleichung des Unfallschadens
eintritt.
c) Das Urteilsverfahren ist im Wesentlichen nach den Vorschriften der ZPO geregelt. Der Sachverhalt wird nicht von Amts wegen ermittelt, sondern von den Parteien durch die Klageschrift, die Klageerwiderung und ggf. weiteren schriftlichen Entgegnungen des Klägers und des Beklagten sowie durch die in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Tatsachen beigebracht. Es gilt also der Beibringungs-
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grundsatz im Gegensatz zu dem das Beschlussverfahren beherrschenden Untersuchungsgrundsatz (siehe oben 1.): Die Parteien liefern den Sachverhalt und das Gericht spricht darüber Recht.
Als eine Besonderheit des arbeitsgerichtlichen Verfahrens beginnt die mündliche
Verhandlung nach § 54 ArbGG mit einer Güteverhandlung nur vor dem Vorsitzenden der Spruchkammer des Arbeitsgerichts, der darauf hinwirken soll, dass sich
die Parteien vergleichen. Gelingt dies nicht, kommt es in einem neuen Termin zur
streitigen Verhandlung vor dem dann auch mit den ehrenamtlichen Beisitzern besetzten Gericht.
Ist eine entscheidungserhebliche Tatsache unter den Parteien strittig, muss das Gericht zum Zwecke der Sachaufklärung eine Beweisaufnahme durchführen. Als
Beweismittel dienen in der Reihenfolge ihrer Beweisstärke der Beweis durch Urkunden, richterlichen Augenschein, Sachverständigengutachten, Zeugenaussage
und die Parteivernehmung. Kann die Tatsache nicht bewiesen werden, gilt sie als
nicht existent. Das wirkt sich dann zum Nachteil der Partei aus, die diesbezüglich
die Beweislast trägt. Das ist diejenige Partei, der diese Tatsache günstig ist. Wird
die Tatsache hingegen bewiesen, ist der Beweispflichtige im Vorteil.
Die Partei, die im Verfahren unterliegt, kann unter den Voraussetzungen des § 64
ArbGG gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berufung an das LAG einlegen. Gegen das Urteil des LAG findet unter den Voraussetzungen des § 72 ArbGG die Revision an das BAG statt.
Die Gerichtskosten der Arbeitsgerichtsbarkeit sind in allen Instanzen geringer als
die Gerichtskosten der Zivilgerichtsbarkeit. Außerdem werden von der Gerichtskasse keine Kostenvorschüsse erhoben.
Die sog. außergerichtlichen Kosten, die einer Partei durch die Beauftragung eines
Dritten entstehen, insbesondere die Vergütung eines mit der Prozessvertretung beauftragten Rechtsanwalts, muss sie nach § 12a I ArbGG in der 1. Instanz abweichend von § 91 ZPO auch dann selbst tragen, wenn sie den Rechtsstreit gewinnt. Dafür entfällt dann aber auch das gerade den AN von einer Prozessführung
sonst abschreckende Risiko, bei etwaigem Unterliegen neben den eigenen Anwaltskosten auch noch die Kosten des gegnerischen Anwalts tragen zu müssen. Da allerdings schon die eigenen Anwaltskosten fühlbar belasten können, ist vor allem dem
AN der Abschluss einer Versicherung für den Arbeitsrechtsschutz nachdrücklich zu
empfehlen. Dies auch deswegen, weil im Fall der Weiterführung des Rechtsstreits
durch Einlegung der Berufung oder evtl. der Revision die in der letzten Instanz unterliegende Partei nach § 91 ZPO die außergerichtlichen Kosten 2. und ggf. 3. Instanz auch des Gegners sowie alle Gerichtskosten tragen muss.
Nach § 11a III ArbGG erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe nach
Maßgabe der §§ 114 ff. ZPO. Im Übrigen kann nach § 11a I ArbGG einer bedürftigen Partei auf Antrag ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn die Gegenpartei durch einen Rechtsanwalt vertreten ist.
d) Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten im Urteilsverfahren können auch dem Bereich
des kollektiven Arbeitsrechts entstammen, nämlich in Gestalt bürgerlicher
Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien bzw. tariffähigen Parteien so-
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wie zwischen diesen und Dritten, wie z.B. Mitgliedern einer Gewerkschaft oder eines Arbeitgeberverbandes, ggf. auch Außenseitern


nach § 2 I Nr. 1 ArbGG vor allem aus dem schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrages, insbesondere auf Erfüllung der Durchführungs- und Friedenspflicht und auf Schadensersatz wegen
Pflichtverletzung,
nach § 2 I Nr. 2 ArbGG vor allem aus unerlaubten Handlungen im Zusammenhang mit einem Arbeitskampf, insbesondere auf Ersatz des Schadens des ArbG bei rechtswidrigem Streik,
wegen Verweigerung von Notdienstarbeiten, wegen Werkbesetzungen oder der Behinderung
Arbeitswilliger.
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§ 9 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
I. Die Geltung des AGG im Arbeitsrecht
1. Das Ziel des AGG
Nach § 1 AGG ist es das Ziel des Gesetzes, „Benachteiligungen aus Gründen der
Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder
Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ Andere Merkmale sind für die Anwendung des AGG
nicht relevant!
Die sexuelle Belästigung i.S.v. § 3 IV AGG bezieht sich auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung und somit stets auf ein durch § 1 AGG geschütztes Merkmal. Durch den Bezug auf § 2 I Nr.
1 bis 4 AGG gilt diese Vorschrift nur im Bereich des Arbeitsrechts.
Unter Beachtung der allgemeinen Bestimmungen des § 2 AGG, insbesondere seiner
Nr. 1. (Einstellungs- und Aufstiegsbedingungen) und seiner Nr. 2 (Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen) sowie der §§ 3 bis 5 AGG enthalten die §§ 6 bis 18 AGG
die für den Bereich des Arbeitsrechts einschlägigen Vorschriften. Sie erfassen alle Bereiche des Arbeitsverhältnisses: Seine Anbahnung und Begründung sowie seine Durchführung und Beendigung unter Einbeziehung der dabei individual- und
kollektivrechtlich getroffenen Vereinbarungen und Maßnahmen. Sie sind aus der
Umsetzung mehrerer EG-Richtlinien in innerstaatliches Recht entstanden und gehen über diese
teilweise sogar hinaus.
Die Vorschrift des § 2 IV AGG allerdings hätte wegen Unterschreitung des Richtlinienstandards europarechtswidrig sein können, wenn sie nicht durch richtlinienkonforme Anwendung zu korrigieren
gewesen wäre (unten § 29 IV.). ─ Das in Ansehung von Vermögensschäden (= materieller Schaden
im Gegensatz zum immateriellen Schaden nach § 15 II AGG) geltende Verschuldenserfordernis des
§ 15 I 2 AGG könnte europarechtswidrig sein (strittig). Die Vorschrift wäre dann jedoch nicht unwirksam. Der deutsche Gesetzgeber wäre vielmehr zur Aufhebung des Verschuldenserfordernisses
verpflichtet (vgl. oben § 3 IV.).
2. Das Benachteiligungsverbot des § 7 AGG
Die für das Arbeitsrecht zentrale Vorschrift ist das Benachteiligungsverbot des §
7 AGG. Sie verlangt, dass Beschäftigte i.S.d. § 6 I AGG (= auch Bewerber/innen
sowie Personen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist)
 wegen eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale, auch wenn ihr Vorliegen vom Benachteiligenden nur angenommen wird,
 im Berufs- und Arbeitsleben nach Maßgabe vor allem der Nrn. 1 und 2 des
§ 2 I AGG

nicht i.S.d. § 3 AGG benachteiligt werden dürfen.
Das Verbot mittelbarer Benachteiligung soll die Möglichkeit unterbinden, das Verbot der unmittelbaren Benachteiligung nach § 3 I AGG zu umgehen. Eine mittelbare Benachteiligung im Sinne
des § 3 II AGG liegt vor, wenn auf ein scheinbar neutrales Kriterium abgestellt wird, dessen Anwendung aber z.B. gerade Frauen überproportional benachteiligt, wie etwa die Zusage einer Geld-
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prämie nach Ablauf einer bestimmten ununterbrochenen „Beschäftigungszeit“; denn diese berücksichtigt nicht Elternzeiten, die ganz überwiegend von Frauen beansprucht werden. Diskriminierungsfrei wäre die Anknüpfung an die ununterbrochene „Betriebszugehörigkeit“. Auf gleicher Ebene liegt
die Nichtberücksichtigung von Elternzeit bei der Ermittlung der Berufsjahre; andererseits kann eine
Weihnachtsgratifikation auch wegen Fehlzeiten einer Mutter infolge Elternzeit gekürzt werden, nicht
aber wegen Fehlzeiten nach §§ 3 und 6 MuSchG (unten § 16 II. 3. c) (1)).
§ 5 AGG will sagen, dass nachteilsausgleichende Maßnahmen eines ArbG, die zu einer unterschiedlichen Behandlung von Beschäftigten führen, nicht gegen das Benachteiligungsverbot des §
7 AGG verstoßen; z.B. wenn der ArbG weibliche AN bei gleicher Qualifikation bevorzugt einstellt
oder befördert, solange Frauen in seinem Betrieb unterrepräsentiert sind. Allerdings sind starre Quoten und absolute Vorrangregelungen unzulässig. Wohlbegründete Ausnahmen müssen gestattet sein.
Zu beachten ist, dass die §§ 8 bis 10 AGG Ausnahmeregelungen enthalten, die
unter bestimmten Voraussetzungen eine unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen (§ 8 AGG), wegen der Religion oder der Weltanschauung (§
9 AGG) und wegen des Alters (§ 10 AGG) zulassen. Hierher gehört auch § 3 II
Satzteil 2 AGG, wonach die fraglichen Kriterien dann keine mittelbare Benachteiligung darstellen, wenn sie „durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und
die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angemessen und erforderlich“ sind.
Andere Benachteiligungsverbote, z.B. nach § 4 TzBfG, bleiben nach § 2 III AGG
daneben anwendbar.
II. Rechtsfolgen des Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot
1. Die Unwirksamkeit benachteiligender Maßnahmen
Aus § 7 I AGG folgt, dass benachteiligende Maßnahmen unwirksam sind. Dazu
zählen einseitige Handlungen des ArbG, wie z.B. Fragen bei der Einstellung und
Weisungen etwa in Gestalt der Anordnung einer Versetzung. Nach § 7 II AGG sind
ferner unwirksam „Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 verstoßen.“ Dieses Verbot erfasst nicht nur arbeitsvertragliche Klauseln, sondern auch Bestimmungen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen.
Sofern der ArbG aus der Anwendung Letzterer einen Beschäftigten benachteiligt, soll er nach § 15
III AGG aber nur dann zu einer Entschädigung (nicht zum Schadensersatz?) verpflichtet sein, wenn
er weiß oder grob fahrlässig nicht weiß, dass die Anwendung der Norm zu einer Benachteiligung
i.S.d. § 7 I AGG führt.
2. Organisationspflichten des ArbG
a) Nach § 11 AGG darf der ArbG schon bei der Ausschreibung des Arbeitsplatzes
nicht gegen § 7 I AGG verstoßen. Einzelheiten dazu unten § 10 III.
b) Nach § 12 II AGG trifft den ArbG die Pflicht zum vorbeugenden Schutz vor
Benachteiligungen, indem er seine Belegschaft in geeigneter Weise schult. Verstoßen seine Beschäftigten gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG, kann
eine Haftung des ArbG aus § 15 AGG (nachfolgend unter 3.) in Betracht kommen,
wenn er die Schulung unterlassen hat. Hat der ArbG seine Beschäftigten ausreichend geschult, wird er zumindest für den Erstverstoß eines Beschäftigten gegen
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das Benachteiligungsverbot nicht in Anspruch genommen werden können. Zusätzlich zu den Schulungen kann die Schaffung von „Ethik-Richtlinien“, beim Vorhandensein eines Betriebsrates in Gestalt einer Betriebsvereinbarung nach § 87 Nr.
1 BetrVG, in Betracht kommen.
c) Nach § 12 III AGG hat der ArbG beim Verstoß eines Beschäftigen gegen das
Benachteiligungsverbot „die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung, wie Abmahnung,
Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen.“ Diese Reaktion des ArbG
wird durch die in § 7 III AGG getroffene Feststellung erleichtert, dass eine Benachteiligung durch Beschäftigte eine Verletzung ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten ist.
Unterlässt der ArbG ein wirksames Eingreifen, kann er dem Benachteiligten nach §
15 AGG haften (nachfolgend unter 3.); ein wirksames Eingreifen hingegen wird ihn
auch gegenüber dem Zweitverstoß eines Beschäftigten entlasten.
d) Werden Beschäftigte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit durch Dritte nach § 7 I
AGG benachteiligt, hat der ArbG nach § 12 IV AGG „die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessen Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten zu
ergreifen“, um einer Haftung aus § 15 AGG (nachfolgend unter 3.) zu entgehen. Ein
wirksames Eingreifen wird ihn auch gegenüber einem Zweitverstoß des Dritten entlasten.
e) Nach § 12 V AGG treffen den ArbG verschiedenartige Informationspflichten.
So muss er den Text des AGG und des § 61b ArbGG über die Klage auf Entschädigung nach § 15 II AGG im Betrieb bekanntmachen und die nach § 13 I AGG einzurichtende Beschwerdestelle benennen. Nach dieser Vorschrift haben die Beschäftigten nämlich das Recht, sich bei „den zuständigen Stellen des Betriebes…zu beschweren, wenn sie sich im Zusammenhang mit ihrem Beschäftigungsverhältnis
vom Arbeitgeber, von Vorgesetzen, anderen Beschäftigten oder Dritten wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt fühlen.“ Die Beschwerde ist zu prüfen
und das Ergebnis dem Beschwerdeführer mitzuteilen.
Als geeignete Anlaufstelle für Beschwerden könnte die Personalstelle bestimmt werden. Soweit der
ArbG mit seinem Betriebsrat wirklich vertrauensvoll zusammenarbeitet (vgl. §§ 2, 74 BetrVG), sollten der Betriebsrat oder einzelne Betriebsratsmitglieder Beschwerdestelle sein.
f) Nach § 14 AGG steht dem Beschäftigten in Fällen „der Belästigung oder sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz“ ein Leistungsverweigerungsrecht (ohne Verlust
des Arbeitsentgelts) zu, wenn der ArbG keine oder offensichtlich ungeeignete
Maßnahmen zur Unterbindung der Belästigung ergreift und die Leistungsverweigerung zum Schutz des Beschäftigten erforderlich ist.
3. Die Haftung des ArbG auf Schadensersatz nach § 15 I AGG
Wer durch eine vom AGG verbotene Benachteiligung einen Vermögensschaden
erleidet, kann unter den Voraussetzungen des § 15 I AGG diesen Schaden vom
ArbG ersetzt verlangen. Als Hauptanwendungsfall kommt die Ablehnung eines
Stellenbewerbers in Betracht.
Wer nach einer verweigerten Beförderung im Unternehmen verbleibt, wird den ArbG im Regelfall
nicht auf Schadensersatz verklagen, sondern die nächste Gelegenheit einer Beförderung abwarten.
Eine Konkurrentenklage kann lediglich die Besetzung der Stelle mit einem anderen Bewerber ver-
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hindern. Möglich ist aber, dass der Beschäftigte wegen der verweigerten Beförderung zur Eigenkündigung greift und von seinem ehemaligen ArbG nun Ersatz seines Vermögensschadens verlangt.
Fälle einer Schadensersatzklage nach Eigenkündigung kommen auch in Betracht, wenn der ArbG
den Beschäftigten nicht oder unzureichend vor Belästigungen durch andere Beschäftigte oder durch
Dritte, auch in Gestalt des Mobbings (aus Gründen des § 1 AGG; ansonsten siehe unten § 16 VI. 3.),
geschützt hat.
Da eine Wiedergutmachung in natura (Naturalrestitution) im Wege zwangsweiser
Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses mit dem abgelehnten Bewerber oder
zwangsweiser Herbeiführung des beruflichen Aufstiegs bei verweigerter Beförderung nach § 15 VI AGG mit Recht ausgeschlossen ist und im Fall der Eigenkündigung des Belästigten sich eine Rückkehr in den Betrieb ohnehin verbietet, kommt
in diesen Fällen als Schadensersatz nur eine Geldzahlung in Höhe des Verdienstausfalls als entgangener Gewinn i.S.d. § 252 BGB in Betracht Dabei wird die tatsächliche Vermögenslage des Geschädigten mit derjenigen verglichen, die (hypothetisch) ohne die Benachteiligung bestehen würde.
Ist der Beschäftigte z.B. durch eine Abmahnung, Umsetzung, Kündigung, unrichtige Tatsachenbehauptung oder die Vorenthaltung von Lohn i.S.d. § 7 I AGG benachteiligt worden, kann der materielle Schaden allerdings zumeist im Wege der Naturalrestitution ersetzt werden; nämlich durch Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte, durch Rückgängigmachung der Umsetzung, durch
Wiedereinstellung des Gekündigten, durch den Widerruf der unrichtigen Tatsachenbehauptung oder
durch die Zahlung der ausstehenden Vergütung
Erfüllt der Anspruchsteller die Voraussetzungen des § 15 I AGG nicht, hat er immer noch die Möglichkeit, wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist,
vom ArbG nach § 15 II AGG eine angemessene Entschädigung in Geld zu verlangen (nachfolgend unter 4.).
a) Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 15 I AGG
Der dürftige Wortlaut des § 15 I AGG nötigt dazu, seine anspruchsbegründenden
Voraussetzungen aufzuarbeiten. Der „Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot“
enthält zwei Aspekte. Er erfasst zum einen die Tatsache, dass der Beschäftigte
(i.S.d. § 6 I AGG) eine Benachteiligung i.S.d. § 3 AGG erlitten hat (nachfolgend
unter (1)). Ist das der Fall, kommt es zum anderen dazu, festzustellen, ob hierin eine Missachtung nach § 1 AGG geschützter Merkmale liegt (nachfolgend unter
(2)). Sodann gilt es festzustellen, ob dem Beschäftigten daraus ein Vermögensschaden erwachsen ist (nachfolgend unter 3)).
Während der Beschäftigte als Kläger diese anspruchsbegründenden Tatsachen darzulegen und, falls der ArbG sie bestreitet, auch zu beweisen hat, ordnet hinsichtlich
des Tatbestandsmerkmals der Verantwortlichkeit des ArbG (= seines Vertretenmüssens) § 15 I 2 AGG eine Beweislastumkehr zu Lasten des ArbG an (nachfolgend unter (4)).
(1) Die Benachteiligung i.S.d. § 3 AGG
Nach § 3 I oder II AGG muss der Beschäftigte die Tatsache der ungünstigen
Behandlung nachweisen. In Absatzes 1 geht es darum, dass der Beschäftigte „eine
weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“ (= unmittelbare Benachteiligung); nach Absatz 2 muss der Beschäftigte durch scheinbar neutrale Kriterien gegenüber anderen Personen in besonderer
Weise benachteiligt werden können (= mittelbare Benachteiligung). Nach § 3 III
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und IV AGG muss der Beschäftigte die Tatsache der dort beschrieben Belästigung
nachweisen.
Ist der Bewerber um die zu besetzende Stelle wegen des Missverhältnisses zwischen deren Anforderungsprofil und seiner Qualifikation schon objektiv nicht geeignet, erfüllt seine Ablehnung erst
gar nicht den Tatbestand einer Benachteiligung (BAG v.19.8.2010 – 8 AZR 466/09 – in NZA 2011,
203 ff.; BAG v.14.11.2013 – 8 AZR 997/12 – in NZA 2014 489 ff.). Eine Benachteiligung i.S.d. § 3
I 1 AGG setzt nämlich voraus, dass der Bewerber „eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“. Vergleichbar ist die Auswahlsituation aber nur
für solche Bewerber, die für die zu besetzende Stelle als gleichermaßen geeignet in Betracht kommen. Nur dann kann die „weniger günstige Behandlung“ (= die Ablehnung) der Prüfung unterzogen
werden, ob sie „wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes“ (z.B.wegen des Alters oder der ethnischen Herkunft) erfolgte. Wer schon objektiv nicht geeignet ist, kann nicht wegen eines nach § 1
AGG geschützten Merkmals benachteiligt worden sein. Scheidet eine konkrete Betroffenheit wegen
objektiver Nichteignung aus, scheitert auch ein Anspruch wegen einer möglicherweise vorliegenden
mittelbaren Diskriminierung (BAG v.14.11.2013 a.a.O. Rn.37). Maßgebend für die objektive Eignung sind die Anforderungen, die der ArbG unter Berücksichtigung der für die jeweilige Tätigkeit
im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsanschauung redlicher Weise stellen durfte (BAG v.19.8.2010
a.a.O. Rn.36/37; BAG v.14.11.2013 a.a.O. Rn.30 ff.).
Der ArbG sollte die Kriterien seiner Einstellungsentscheidung auf jeden Fall
schriftlich dokumentieren, um für einen Rechtsstreit gerüstet zu sein.
(2) Die Missachtung eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale
In Ansehung der nach § 3 I, II und III AGG jeweils geforderten Tatsache, die Benachteiligung wegen eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale erlitten zu
haben, enthält § 22 AGG für den Anspruchsteller insoweit eine Beweiserleichterung, als er nur Indizien dafür zu darzulegen und zu beweisen hat, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen, dass die Benachteiligung wegen eines
geschützten Merkmals erfolgte.
Da sich die sexuelle Belästigung nach § 3 IV AGG auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung bezieht, trifft sie stets ein durch § 1 AGG geschütztes Merkmal.
(3) Der aus der Benachteiligung folgende Vermögensschaden
In den Fällen, in denen ein Beschäftigter nicht eingestellt oder befördert worden ist,
muss der Beschäftigte den Beweis dafür erbringen, dass er die Stelle bei diskriminierungsfreier Auswahl erhalten hätte, weil er der am besten geeignete
Anwärter ist. Denn wer behauptet, infolge der Benachteiligung einen Vermögensschaden in Gestalt des Verdienstausfalls erlitten zu haben, muss auch beweisen
können, dass dieser Schaden bei ihm kausal zu der Benachteiligung eingetreten ist
(BAG v.19.8.2010 – 8 AZR – 530/09 in NZA 2010, 1412 unter Rn.76 f.;
ErfK/Schlachter § 15 AGG, Rn.3; Erman/D.W.Belling, § 15 AGG Rn.5/6:
MüKoBGB/Thüsing, § 15 AGG Rn.28).
Dazu müsste er allerdings wissen, wer ihm mit welcher Begründung vorgezogen
wurde. Im Falle verweigerter Beförderung kann er oft vieles von alleine in Erfahrung bringen. Als externer Stellenbewerber hingegen ist er auf Mutmaßungen angewiesen. Ein Anspruch gegen den ArbG auf Auskunft über den eingestellten Bewerber oder beförderten Kollegen und die Gründe über die getroffene Personalauswahl wird dem Beschäftigten von der Rechtsprechung mangels Anspruchsgrundlage im Grundsatz nicht zuerkannt. Datenschutzrechtlichen Bedenken könnte jeden-
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falls dadurch begegnet werden, dass die erforderlichen Unterlagen dem Gericht in
anonymisierter Form zugänglich gemacht werden. Weigert sich der beklagte ArbG
trotzdem, freiwillig die erbetene Einsicht zu gewähren, kann dies im Grundsatz allerdings nicht als Indiz für das Vorliegen einer Benachteiligung gewertet werden
(BAG v.25.4.2013 – 8 AZR 287/08 – in NZA 2014, 224 unter Bezugnahme auf das
im Wege der Vorabentscheidung ergangene Urteil des EuGH v.19.4.2012 - C
415/10 - ; eng begrenzte Ausnahmemöglichkeiten werden angedeutet).
(4) Das Vertretenmüssen des ArbG
Wie die Vorschrift des § 280 I 2 BGB zu Ungunsten des Schuldners, so enthält §
15 I 2 AGG in Ansehung des Vertretenmüssens eine Beweislastumkehr, hier zu
Ungunsten des auf Schadensersatz in Anspruch genommenen ArbG. Wider ihn
wird kraft Gesetzes vermutet, dass er die in der Benachteiligung liegende Pflichtverletzung zu vertreten hat. Will er diese Vermutung entkräften, muss er darlegen
und ggf. beweisen, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
Ohne eine Beweislastumkehr wäre der Beschäftigte genötigt, Tatsache darlegen und beweisen zu
müssen, die er normalerweise nicht gut genug kennen kann, weil sie in der Sphäre des ArbG liegen.
Die Benachteiligung kann vom ArbG, seinen Beschäftigten oder Dritten ausgehen.
Zu vertreten hat der ArbG die eigene Pflichtverletzung nach § 276 BGB, wenn
er selbst vorsätzlich oder fahrlässig gegen § 7 AGG verstoßen oder seine Organisationspflichten aus § 12 II bis IV AGG nicht erfüllt hat. Er haftet ferner nach § 31
BGB bei schuldhaftem Verhalten seiner Organmitglieder und nach § 278 BGB bei
schuldhaftem Verhalten seiner Mitarbeiter in Vorgesetztenfunktion oder beauftragten Dritten, wie etwa einem zur Personalsuche eingeschalteten Unternehmensberater und auch der Bundesagentur für Arbeit, etwa weil sie unter Verstoß
gegen § 11 AGG ausgeschrieben haben.
b) Schadensersatz in Höhe des Verdienstausfalls des Benachteiligten
In den Fällen, in denen ein Beschäftigter nicht eingestellt, obwohl er der Bestqualifizierte war, oder nicht befördert worden ist und deswegen oder um Belästigungen
zu entgehen, zur Eigenkündigung gegriffen hat, hat er Anspruch auf Ersatz des
dadurch entstandenen Verdienstausfalls.
Der Zeitraum, für den der Verdienstausfall geltend gemacht werden kann, ist jedoch nicht einfach zu bestimmen. § 15 I AGG legt weder eine Unter- noch eine
Obergrenze fest. Auf jeden Fall ist § 254 BGB zu beachten: Der Kläger darf sich
auf seiner Rechtsposition nicht ausruhen, sondern muss er sich unverzüglich und
ernsthaft neu bewerben. Vielfach wird angenommen, dass ein entgegen § 7 AGG
abgelehnter Bewerber Vergütung nur bis zum Ablauf der Frist nach der ersten
durch den ArbG möglichen Kündigung verlangen kann. Nach anderer Ansicht sollen in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zur Schadensbemessung im Fall
des § 628 II BGB die Abfindungsregeln des § 10 KSchG entsprechend herangezogen werden können.
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4. Die Haftung des ArbG auf Entschädigung nach § 15 II AGG
Erfüllt der Beschäftigte die Voraussetzungen des Anspruchs aus § 15 I AGG, kann
er vom ArbG nicht nur Ersatz seines materiellen Schadens verlangen, sondern zugleich Entschädigung nach § 15 II AGG. Ist dem Beschäftigten der Anspruch aus §
15 I AGG hingegen verwehrt, in den Fällen der Nichteinstellung oder der verweigerten Beförderung z.B. mangels Kausalität zwischen Benachteiligung und Vermögensschaden, weil er nicht nachweisen kann, der Bestqualifizierte zu sein, ansonsten weil der ArbG die Vermutung, den Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot
vertreten zu haben, entkräften kann, bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, eine
Entschädigung zu beanspruchen.
§ 15 II AGG gewährt dem Beschäftigten einen vom Verschulden unabhängigen
Anspruch auf Entschädigung „wegen eines „Schadens, der nicht Vermögensschaden ist“ (vgl. § 253 BGB: immaterieller Schaden). Er kann nicht in Geld gemessen werden, weil er ein Schaden ist, „der nicht ärmer macht, (aber) dennoch eine
Beeinträchtigung“ darstellt (MüKoBGB/Thüsing § 15 Rn.9). Es geht um einen
Ausgleich für die Verletzung der Persönlichkeit des Beschäftigten in Gestalt seines
Selbstwertgefühls durch eine Art „Schmerzensgeld“.
Als anspruchsbegründende Tatsachen fordert § 15 II AGG lediglich eine Benachteiligung i.S.d. § 3 AGG (siehe vorstehend unter 3. a) (1)) wegen eines der
nach § 1 AGG geschützten Merkmale durch den ArbG selbst oder ein ihm zurechenbares Verhalten eines Mitarbeiters oder Dritten (Erman/D.W.Belling, §
15 AGG Rn.8).
Für die Geltendmachung des Anspruchs auf Entschädigung aus § 15 II AGG muss
der Beschäftigte also nur die Tatsache einer erlittenen Benachteiligung i.S.v. § 3 I,
II, III oder IV AGG (wie vorstehend unter 3. a) (1), objektive Eignung vorausgesetzt) und diese auf Grund der Missachtung eines der nach § 1 AGG geschützten
Merkmale (wie vorstehend unter 3. a) (2)) als ein dem ArbG nicht notwendig
schuldhaft zuzurechnenden Verstoß darlegen und beweisen,
Den schwer zu führenden Beweis eines Vermögensschadens (wie vorstehend unter 3. a) (3)) muss
der Beschäftigte in diesem Fall nicht erbringen, weil es nicht hier nicht um einen Anspruch auf
Schadensersatz, sondern um einen Anspruch auf Entschädigung wegen eines Schadens, der nicht
Vermögensschaden ist, handelt. Die Beantwortung der Frage, ob er bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre, hat nach § 15 II 2 AGG jedoch Einfluss auf die Höhe der Entschädigung.
Die Höhe der Entschädigung ist an Gesichtspunkten wie z.B. Art und Schwere der
Benachteiligung, die wirtschaftliche Situation des Betroffenen, Grad der Verantwortlichkeit des ArbG, die Notwendigkeit einer abschreckende Wirkung gegenüber
dem ArbG zu orientieren. Der Anspruch ist der Höhe nach nicht begrenzt, doch
bewegen sich die Entschädigungssummen im Bereich von 0,5 bis 9,5 Monatsgehältern.
Nach § 15 II 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Für diese Tatsache ist der ArbG beweispflichtig, wenn der AN demgegenüber behauptet, dass er bei benachteiligungs-
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freier Auswahl den Arbeitsplatz erhalten hätte (BAG v.19.8.2010 – 8 AZR 530/09 –
in NZA 2010, 1412 ff. Rn.78).
5. Missbrauchsfälle
Nicht selten sind ArbG Klagen ausgesetzt, bei denen es den Anspruchstellern nicht
um den Erwerb der ausgeschriebenen Stelle geht, sondern darum, vom ArbG mindestens die Zahlung einer Entschädigung zu erlangen. Es liegt dann subjektiv keine ernsthafte Bewerbung vor. Ein Indiz hierfür können Form und Inhalt des Bewerbungsschreibens, das Auftreten des Stellenbewerbers im Vorstellungsgespräch,
die Geltendmachung einer deutlich überhöhten Entschädigungszahlung mittels formularmäßigen Schriftsatzes oder serienmäßige Bewerbungen vorwiegend auf Stellen sein, die unter Verstoß gegen § 11 AGG ausgeschrieben wurden. Wird die Anspruchsstellung als rechtsmissbräuchlich erkannt, ist die Klage abzuweisen.
Hierher können auch die Fälle gehören, in denen der Bewerber für die zu besetzende Stelle wegen
des Missverhältnisses zwischen deren Anforderungsprofil und seiner Qualifikation schon objektiv
nicht in Betracht kommt (vorstehend unter 3. a (1).
6. Fristen
§ 15 IV AGG bestimmt, dass Ansprüche aus § 15 I und II AGG innerhalb einer
Frist von zwei Monaten dem ArbG gegenüber schriftlich geltend gemacht werden müssen, es sei denn, im anwendbaren Tarifvertrag sei etwas anderes vereinbart.
Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs mit
dem Zugang der Ablehnung; in den sonstigen Fällen einer Benachteiligung mit
dem Zeitpunkt, in dem der Beschäftigte von der Benachteiligung Kenntnis erlangt.
Die Frist des § 15 IV AGG ist auch dann gewahrt, wenn die Ansprüche aus § 15 I und II AGG innerhalb von zwei Monaten gleich beim Arbeitsgericht anhängig gemacht werden (BAG v. 22.5.2014
– 8 AZR 662/13 – in ArbRB 2014, 293).
Nach § 61b ArbGG muss der Beschäftigte innerhalb von drei Monaten Klage
auf „Entschädigung“ erheben, nachdem der Anspruch beim ArbG schriftlich geltend gemacht worden ist. Über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus gilt das auch
für die Erhebung der Klage auf Schadensersatz. Zu beachten ist, dass sich beide
Fristen nicht addieren. Bei einer schriftlichen Geltendmachung noch am Tage der
Benachteiligung, bleibt dem Beschäftigten eine Klagefrist von nur drei Monaten.
7. Das Maßregelungsverbot
Nach § 16 AGG trifft den ArbG ein Maßregelungsverbot gegenüber Beschäftigten,
die ihre Rechte nach dem AGG rechtmäßig wahrnehmen.
Im Übrigen kann der ArbG nach § 17 II AGG bei einem groben Rechtsverstoß nach
Maßgabe des § 23 III BetrVG zur Rechenschaft gezogen werden. § 7 III AGG stellt
fest, dass eine Benachteiligung durch den ArbG eine Verletzung seiner vertraglichen Pflichten (Pflichtverletzung) darstellt.
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§ 10 Die Einstellung von Arbeitnehmern
I. Die Abschlussfreiheit des Arbeitgebers
1. Anders als bei der inhaltlichen Gestaltung des Arbeitsvertrages (oben § 4) gilt in
Ansehung der Frage, Wer mit Wem einen Arbeitsvertrag abschließt, der Grundsatz,
dass ArbG wie AN darin frei sind, sich einen Arbeitsvertragspartner nach ihrem Geschmack auszuwählen. Diese Selbstverständlichkeit hat in § 105 GewO ihren einfachgesetzlichen Ausdruck gefunden und gründet sich verfassungsrechtlich auf Art. 2
I, 12 I GG.
2. Für den ArbG findet sich eine Einschränkung seiner Abschlussfreiheit in § 78a BetrVG für Auszubildende, die Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung oder des Betriebsrats sind. Da das
Ausbildungsverhältnis befristet ist und nach § 21 BBiG mit dem Ablauf der Ausbildungszeit ohne weiteres endet, soll der Auszubildende davor geschützt werden, wegen seines betriebsverfassungsrechtlichen Engagements nicht in ein Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. Um ihm eine vom Wohlwollen des ArbG unabhängige Amtführung zu ermöglichen, begründet das Verlangen des Auszubildenden auf Weiterbeschäftigung im Anschluss an das Ausbildungsverhältnis ein Arbeitsverhältnis
auf unbestimmte Zeit.
Der ArbG kann sich von der Weiterbeschäftigungspflicht durch das Arbeitsgericht befreien lassen,
wenn die Weiterbeschäftigung für ihn unzumutbar ist. So bei Beendigung des Ausbildungsverhältnisses wegen endgültigen Nichtbestehens der Abschlussprüfung nach Maßgabe des § 21 III BBiG oder
wenn Gründe vorliegen, die den ArbG nach § 626 BGB zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigen würden, ferner bei Fehlen eines geeigneten freien Arbeitsplatzes unter der Voraussetzung, dass
dem ArbG die Schaffung eines neuen Arbeitsplatzes vernünftigerweise nicht angesonnen werden kann.
Unabhängig von § 78a BetrVG kann eine Weiterbeschäftigungspflicht des ArbG in einem den ArbG
bindenden Tarifvertrag festgelegt werden.
3. Verspielt hat der ArbG seine Abschlussfreiheit allerdings, wenn er sich die Blöße geben sollte, einen Bewerber (erkennbar) unter Verstoß gegen Art. 9 III GG wegen seiner Gewerkschaftszugehörigkeit oder (erkennbar) unter Verstoß gegen § 78 S. 2 BetrVG wegen einer früheren Betriebsratstätigkeit
abzulehnen; denn dadurch verletzt der ArbG schuldhaft Schutzgesetze im Sinne des § 823 II BGB mit
der Folge, dass der hiernach geschuldete Schadensersatz im Wege der Naturalrestitution (§ 249 S. 1
BGB) zu einem Einstellungsanspruch des abgelehnten Bewerbers führt.
4. Ansonsten können Fehler des ArbG bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes ihn insoweit belasten, als er Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen abgelehnter Bewerber z.B. wegen Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG (oben § 9 sowie nachfolgend unter III.) ausgesetzt ist und in mitbestimmten Betrieben seine Auswahlentscheidung vom Betriebsrat nach Maßgabe
des § 99 II BetrVG angegriffen wird (unten § 11 III.).
5. Nach § 71 I 1 SGB IX sind ArbG, die im Jahresdurchschnitt monatlich mindestens 20 Arbeitsplätze
haben, verpflichtet, auf mindestens 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Dem schwerbehinderten Bewerber erwächst daraus aber kein Einstellungsanspruch. Die Verpflichtung des ArbG besteht lediglich gegenüber dem Staat, an den er bei Nichterfüllung nach § 77
SGB IX eine Ausgleichsabgabe zu leisten hat, bei schuldhafter Nichtbeachtung nach § 156 I Nr. 1, II
SGB IX eine Geldbuße.
II. Vorbereitende Maßnahmen
Die betriebliche Personalplanung dient der vorausschauenden Ermittlung des den
künftigen Arbeitsanforderungen in qualitativer wie quantitativer Hinsicht entspre-
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chenden Personalbedarfs und der Sicherstellung einer entsprechenden Personaldeckung. Besteht ein Betriebsrat, kommt in Ansehung der Begründung von Arbeitsverhältnissen den §§ 93 bis 95 BetrVG besondere Bedeutung zu.
► Ausschreibung von Arbeitsplätzen: In der Privatwirtschaft ist es dem ArbG freigestellt, ob er
einen Arbeitsplatz ausschreibt oder nicht. Auch der Betriebsrat kann eine außerbetriebliche Stellenausschreibung nicht verlangen, wohl aber nach § 93 BetrVG eine innerbetriebliche. Missachtet der ArbG dieses Begehr, kann der Betriebsrat nach § 99 II Nr. 5 BetrVG seine Zustimmung
zur Einstellung des von außen angeworbenen AN verweigern.
Die Durchführung der innerbetrieblichen Ausschreibung begründet keine entsprechende Besetzungspflicht. Der ArbG kann neben der innerbetrieblichen Ausschreibung auch außerbetriebliche Bewerbungen einholen, dies dann aber nur zu genau denselben Kriterien, die die innerbetriebliche Ausschreibung enthält.
►
Personalfragebögen und Beurteilungsgrundsätze: Nach § 94 I BetrVG bedürfen Personalfragebögen, die der ArbG im Einstellungsverfahren verwenden will, der Zustimmung des Betriebsrats. Darüber kommt es regelmäßig zu einer Betriebsvereinbarung. Nach § 94 II BetrVG gilt
Entsprechendes für „persönliche Angaben in allgemein verwendeten schriftlichen Arbeitsverträgen, die allgemein für den Betrieb verwendet werden sollen“ sowie für die Aufstellung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze.
Verletzt der ArbG die ihm nach § 77 I BetrVG obliegende Pflicht zur Durchführung der Betriebsvereinbarung, kann der ArbG vom Betriebsrat nach § 23 III BetrVG in Anspruch genommen werden.
► Auswahlrichtlinien: Stellt der ArbG im Rahmen seiner Personalplanung Richtlinien über die
personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen auf,
so bedürfen sie nach § 95 I 1 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrats. Im Regelfall kommt es
hierüber zu einer Betriebsvereinbarung. Beschäftigt der Betrieb mehr als 500 AN, kann der Betriebsrat nach § 95 II 1 BetrVG sogar initiativ werden und von sich aus vom ArbG die Aufstellung von Richtlinien „über die bei Maßnahmen des Absatzes 1 Satz 1 zu beachtenden fachlichen
und persönlichen Voraussetzungen und sozialen Gesichtspunkten verlangen.“
Mit dem Betriebsrat nach § 95 BetrVG vereinbarte Auswahlrichtlinien z.B. für die Einstellung
von AN begründen keine Verpflichtung des ArbG gegenüber den Bewerbern. Eine Einstellungsentscheidung unter Missachtung der Auswahlrichtlinien berechtigt jedoch den Betriebsrat, nach
§ 99 II Nr. 2 BetrVG der beabsichtigten Einstellung zu widersprechen. Im Übrigen kann der
ArbG vom Betriebsrat nach § 23 III BetrVG in Anspruch genommen werden, wenn er die ihm
nach § 77 I BetrVG obliegende Pflicht zur Durchführung der Betriebsvereinbarung verletzt.
III. Das Erfordernis diskriminierungsfreier Ausschreibung
1. Nach § 11 AGG darf die Ausschreibung eines Arbeitsplatzes, einerlei, ob sie innerbetrieblich oder außerbetrieblich erfolgt, nicht gegen das Benachteiligungsverbot
des § 7 I AGG verstoßen. Gegen dieses Verbot verstößt der ArbG auch dann, wenn
ein von ihm beauftragter Dritter den Arbeitsplatz unter Verletzung von § 7 I AGG
ausgeschrieben hat, z.B. ein Unternehmensberater oder die Bundesagentur für Arbeit.
§ 11 AGG gilt nur nicht bei Mitteilungen an einzelne Personen.
Die §§ 8 bis 10 AGG enthalten sachlich begründete Ausnahmen vom Verbot der unterschiedlichen
Behandlung.
Ein Lichtbild sollte nicht ausdrücklich verlangt werden, wird von den Bewerbern/der Bewerberin aber
regelmäßig freiwillig zur Verfügung gestellt. Es wird neuerdings erwogen, die schriftliche Bewerbung
so anonymisiert anzufordern, dass dem ArbG bei der Vorauswahl weder das Geschlecht noch das Al-
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ter und die Herkunft des Bewerbers/der Bewerberin erkennbar sind. In diesem Fall müssen dann auch
bestimmte Angaben auf den der Bewerbung beigefügten Kopien von Unterlagen zunächst einmal geschwärzt sein.
Nach § 22 AGG ist ein Verstoß des ArbG gegen § 11 AGG ein Indiz, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lässt (Beweislastumkehr). Das kann zu Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche eines
abgewiesenen Bewerbers nach Maßgabe des § 15 AGG führen (oben § 9 II. 3./4.).
Darüber hinaus kann der Betriebsrat der Einstellung des AN nach § 99 II Nr. 1 BetrVG widersprechen.
In der Praxis klagen nicht berücksichtigte Bewerber hauptsächlich mit der Behauptung, sie seien wegen ihres Geschlechts oder wegen ihres Alters benachteiligt worden.
2. Die der Ausschreibung und Bewerbung nachfolgenden Auswahlvorgänge sollte
der ArbG sorgfältig dokumentieren und mindestens während der Frist des § 15 IV
AGG zwei Monate ab Zugang der Absage aufbewahren, um für den Fall, dass ein
nicht berücksichtigter Bewerber Klage erhebt, mit möglicherweise entlastendem Material ausgerüstet zu sein.
Ein abgelehnter Stellenbewerber hat gegen den ArbG keinen Anspruch auf Auskunft, ob er einen anderen Bewerber eingestellt hat und auf Grund welcher Kriterien (BAG v. 25.4.2013 – 8 AZR 287/08 – in
NZA 2013 VI).
IV. Informationsrechte des Arbeitgebers und seine Befugnis zur Anfechtung
des Arbeitsvertrages bei Informationsdefiziten
1. Zur Bewerberauswahl geeignete Erkenntnismittel sind neben dem Bewerbungsgespräch z.B. der Personalfragebogen, Assessment-Center und Auswahlseminare, in
den Grenzen des Fragerechts des beworbenen ArbG auch Auskünfte des bisherigen
ArbG. Die Durchführung von Einstellungstests, graphologischen Gutachten und ärztlichen Einstellungsuntersuchungen erfordern eine entsprechende Einwilligung des
Bewerbers, deren Verweigerung der Einstellung allerdings nicht förderlich sein wird.
Nach § 19 des Gesetzes über genetische Untersuchungen (GenDG vom 1. 2. 2010) ist
die Genomanalyse verboten.
2. Im Rahmen des Einstellungsverfahrens hat der ArbG das Recht, vom Bewerber
alles zu erfragen oder auf sonst wie zulässige Weise (siehe vorstehend 1.) zu ermitteln, was für das Arbeitsverhältnis nach Recht und Billigkeit von Bedeutung ist und
nicht das Persönlichkeitsrecht des Bewerbers verletzt oder gesetzlichen Wertungen
(AGG) widerspricht. Dabei geht es (nach MüArbR/Buchner § 30 Rn. 262/308) im
Wesentlichen um die Feststellung

der erforderlichen fachlichen Qualifikation,

der erforderlichen körperlichen und gesundheitlichen Verfassung sowie

der persönlichen Eigenschaften des Bewerbers dafür, dass er seine „Arbeitsleistung im Sinne der unternehmerischen Zielsetzung des Arbeitgebers“ erbringen kann, wie z.B. seine Aufgeschlossenheit, Einsatzbereitschaft, Teamfähigkeit, Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit.
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Hiernach zulässige Fragen kann der Bewerber
zwar ablehnen zu beantworten, doch muss er die Wahrheit sagen, wenn er sie beantwortet. Unwahre Antworten auf zulässige Fragen sind rechtswidrig (widerrechtlich) und
die darin liegende Täuschung des Fragestellers darum arglistig (§ 123 I BGB; nachfolgend unter 4.). Auf unzulässige Fragen hingegen darf der Bewerber die Unwahrheit sagen, um nicht durch sein Schweigen den Verdacht zu erregen, dass er
etwas zu verbergen hätte. Sein Verhalten ist in diesem Fall nicht rechtswidrig (widerrechtlich) und damit die darin liegende Täuschung nicht arglistig.
Wenn der ArbG sich allerdings nicht darauf beschränkt, Fragen zu stellen, sondern
den Bewerber um seine Zustimmung zu weitergehenden Untersuchungen, Teilnahme
an investigativen Veranstaltungen und um Zurverfügungstellung weiterer Erkenntnismittel bittet, wird der Bewerber sich nicht ohne Risiko verweigern können.
Zulässig sind z.B. Fragen
•
•
•
nach der Ausbildung und den Ergebnissen einschlägiger Prüfungen sowie nach dem beruflichen Werdegang einschließlich Anzahl und Dauer der bisherigen Arbeitsverhältnisse. Die Frage
nach der bisherigen Vergütung ist zulässig, wenn sie für die begehrte Stelle aussagekräftig ist oder der Bewerber sie als Mindestvergütung fordert (Küttner/Kreitner, Personalbuch 77 Rn.26);
nach den Vermögensverhältnissen nur bei Bewerbern für bestimmte Vertrauenspositionen, insbesondere als leitende Angestellte (vgl. § 14 KSchG). Darüber, ob die Frage nach Lohnpfändungen oder -abtretungen (wegen des für den ArbG damit verbundenen zusätzlichen Arbeitsaufwandes) zulässig ist, besteht Uneinigkeit. Das allgemeine Verlangen des ArbG nach Vorlage einer
aktuellen Schufa-Auskunft ist unzulässig. Es muss jedoch erkannt werden, dass der Bewerber,
der die Vorlage verweigert, seine Einstellung gefährdet;
nach Vorstrafen, die für die in Aussicht genommene Tätigkeit einschlägig sind, unter der Voraussetzung, dass sie in das polizeiliche Führungszeugnis aufzunehmen sind und nicht der beschränkten Auskunft oder bereits der Tilgung unterliegen. Die Beschränkung auf die Einschlägigkeit der
Vorstrafe ist allerdings dann nicht gewährleistet, wenn der Bewerber aufgefordert wird, ein aktuelles polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen. Verweigert er deswegen die Vorlage, gefährdet er
aber seine Einstellung. Bei einer Bewerbung für den öffentlichen Dienst ist die Vorlage unverzichtbar.
Ein um die Mitteilung von Verurteilungen über die in § 30 V BZRG aufgeführten Straftaten erweitertes polizeiliches Führungszeugnis kann seit dem 1. 5. 2010 für die Beschäftigung mit der
Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung oder Ausbildung von Kindern und Jugendlichen sowie Tätigkeiten mit vergleichbaren Kontaktmöglichkeiten gefordert werden.
•
nach Krankheiten und Behinderungen, soweit sie sich auf die Durchführung des Arbeitsverhältnisses auswirken können. Dabei geht es hauptsächlich um die Beurteilung der Leistungsfähigkeit
des Bewerbers, aber auch darum, die Gefährdung von Arbeitskollegen und Dritten zu vermeiden.
Nach einer HIV-Infektion darf nur in den Fällen gefragt werden, in denen der Bewerber z.B.
wegen seines Einsatzes im Gesundheitswesen oder bei der Herstellung von Nahrungsmitteln für
Dritte eine besondere Gefahr bildet. Hingegen besteht in Ansehung einer HIV-Erkrankung nicht
nur ein Fragerecht des ArbG, sondern auch eine Offenbarungspflicht des Bewerbers (nachfolgend unter 3.).
Eine ärztliche Einstellungsuntersuchung darf nur so weit gehen, wie das berechtigte Informationsinteresse des ArbG reicht und ist nur mit Zustimmung des Bewerbers zulässig. In seiner Einwilligung liegt zugleich die auf das berechtigte Informationsinteresse des ArbG begrenzte Entbindung des Arztes von seiner Schweigepflicht. Verweigert der Bewerber sie ausdrücklich, gefährdet
er allerdings seine Einstellung.
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Die allgemeine Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne von § 2 II SGB IX dürfte
mit Rücksicht auf § 7 I AGG nicht mehr zulässig sein. Um den ArbG, der einen Schwerbehinderten eingestellt hat, von einer ansonsten nach § 77 SGB IX fälligen Ausgleichsabgabe zu bewahren,
ist dann aber eine entsprechende Offenbarung des eingestellten Schwerbehinderten erforderlich;
ohne Offenbarung genießt der Schwerbehinderte auch keinen Sonderkündigungsschutzes nach §§
85 ff. SGB IX (unten § 29 II. 4.).
Nicht zulässig sind z.B. Fragen
 nach der Gewerkschafts-, Partei- oder Religionszugehörigkeit, es sei denn, es geht um eine Bewerbung
gerade bei einer dieser Institutionen (Tendenzbetrieb; oben § 6 V. 4.). Im laufenden Arbeitsverhältnis ist
die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit mit Rücksicht auf §§ 3 I, 4 I TVG zulässig, wenn der
ArbG ausnahmsweise hiernach differenzierten sollte (oben § 5 II. 2.).
•
nach beabsichtigter Eheschließung oder Familienplanung und ähnlichen Umschreibungen des
arbeitgeberseitigen Interesses an der Einschätzung des Schwangerschaftsrisikos einer Bewerberin;
erst recht nicht die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft; und das auch nicht mehr in
dem Fall, dass der ArbG die Bewerberin für nur wenige Monate befristet beschäftigen will, etwa
als Schwangerschaftsvertretung, und sie diese Tätigkeit infolge der ihr schon bei Abschluss des
Arbeitsvertrages bekannten Schwangerschaft während eines wesentlichen Teils der Vertragszeit
nicht ausüben kann. Auch in dieser Situation verstößt die Frage gegen § 7 I AGG, und dies selbst
dann, wenn auf Grund der Art der Tätigkeit schon von Anfang an ein Beschäftigungsverbot nach
dem MuSchG besteht.
ArbG erwehren sich der Überraschung, eine bereits Schwangere eingestellt zu haben, häufig
dadurch, dass sie Probearbeitsverhältnisse generell, zur Vermeidung eines Diskriminierungsvorwurfs also auch für männliche Arbeitskräfte, nur noch als befristete Arbeitsverhältnisse vereinbaren (siehe unten § 12). Wird jedoch erkennbar, dass die Nichtübernahme der Frau nach Ablauf der
befristeten Probezeit in ein anschließendes (befristetes oder unbefristetes) Arbeitsverhältnis ihren
Grund in der Schwangerschaft oder. nunmehrigen Mutterschaft der AN hat, handelt es sich um eine vom ArbG zu vertretende diskriminierende Einstellungsverweigerung wegen des Geschlechts,
die ihn nach § 15 AGG schadensersatzpflichtig werden lässt (EuGH v. 4.10.2001 – C 438/99 – in
NZA 2001, 1243).
Beachte: Wenn eine Bewerberin ihre Schwangerschaft freiwillig offenbart oder sie nicht verbergen kann, hat der ArbG immer noch das Recht, sie nicht einzustellen, wenn es dafür einen
sachlichen Grund gibt, wie etwa nicht ausreichende Qualifikation der Bewerberin oder besser qualifizierte Mitbewerber. Keinesfalls aber dürfte erkennbar werden, dass der ArbG die Einstellung
der Schwangeren wegen künftig möglicher Fehlzeiten infolge Krankheit des Kindes ablehnt, weil
darin ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der §§ 7, 1 AGG mit der Konsequenz des §
15 AGG liegt (oben § 9).
Was der ArbG nicht erfragen darf, das darf er auch nicht auf andere Weise ermitteln. Dieses Verbot ist jedoch in vielen Fällen ein stumpfes Schwert; denn der
AN, der z.B. die vom ArbG geforderte Einstellungsuntersuchung verweigert oder seine Schufa-Auskunft nicht beibringt oder ein polizeiliches Führungszeugnis nicht vorlegt, läuft Gefahr, im Bewerbungsverfahren chancenlos zu bleiben. Hatte sich der
dann doch nicht eingestellte Bewerber dieser Forderung des ArbG allerdings gezwungenermaßen gebeugt, könnte er den ArbG u.U. wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts aus § 823 I BGB („sonstiges Recht“) auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch nehmen. Hat der ArbG rechtswidrig erlangte Informationen über
den AN zu dessen Nachteil verwendet, kann er dem Bewerber gegenüber aus Verschulden bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen nach §§ 311 II Nr.1, 241 II,
280 I BGB schadensersatzpflichtig werden.
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3. In Ansehung solcher Umstände, die für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses
von erkennbar ausschlaggebender Bedeutung sind, trifft den Bewerber ungefragt
eine Offenbarungspflicht.
Beispiele: Umstände, die der Verfügbarkeit des Bewerbers bei Arbeitsbeginn oder in absehbarer Zeit
danach entgegenstehen, wie z.B. eine bevorstehende Operation oder ein bevorstehender Haftantritt;
Umstände, aufgrund derer der Bewerber die angebotene Tätigkeit nicht oder nur eingeschränkt ausüben kann; Alkoholabhängigkeit bei der Bewerbung als Kraftfahrer; das Bestehen einer HIVErkrankung; einschlägige Wettbewerbsverbote aus einem früheren Arbeitsverhältnis.
4. Erfährt der ArbG nach Abschluss des Arbeitsvertrages, dass ihn der Bewerber
durch (1) widerrechtliche Falschauskunft oder (2) widerrechtlich unterlassener Offenbarung wesentlicher Tatsachen getäuscht hat, ist er innerhalb der Frist des § 124 I
BGB nach § 123 I BGB berechtigt, seine Willenserklärung (die im Zusammenwirken
mit der korrespondierenden Willenserklärung des ausgewählten Bewerbers zum Abschluss des Arbeitsvertrages geführt hat) wegen arglistiger Täuschung anzufechten
mit der Rechtsfolge, dass der Arbeitsvertrag (entgegen § 142 I BGB allerdings nur)
für die Zukunft (siehe unten § 11 IV. am Ende) aufgelöst ist. Da es sich bei der Anfechtung nicht um eine Kündigung handelt, gelten weder Kündigungsverbote und
Kündigungsschutz, noch Kündigungsfristen.
5. Hat der Bewerber den ArbG nicht arglistig getäuscht, sondern ist der ArbG infolge
bloßen Irrtums zu einer Fehlvorstellung über entscheidungserhebliche Eigenschaften,
wie etwa die berufliche Eignung oder den Gesundheitszustand des Bewerbers gekommen, kann er seine für den Vertragsschluss notwendige Willenserklärung nach
Entdeckung des Irrtums innerhalb der Frist des § 121 BGB (analog § 626 II BGB
höchstens 2 Wochen nach Kenntnis) nach § 119 II BGB anfechten mit der Rechtsfolge, dass der Arbeitsvertrag (entgegen § 142 I BGB; dazu unten § 11 IV. am Ende) für
die Zukunft aufgelöst ist. Der Irrtum des ArbG kann darauf beruhen, dass der Bewerber Umstände, nach denen der ArbG fragen darf oder die der Bewerber von sich aus
offenbaren müsste, nicht zutreffend beantworten oder offenbaren kann, weil er sie
selbst (noch) nicht kennt. Denkbar ist auch, dass der ArbG einen Umstand, den der
Bewerber nicht schon von sich aus offenbaren muss, zu erfragen versäumt hat.
Beispiel: Die als Balletttänzerin eingestellte Bewerberin hat keine Kenntnis davon, dass sie an Epilepsie leidet. Dieses Leiden wird ihr erst nach Arbeitsbeginn bekannt, weil es erstmals zu einem Anfall
kommt. Übrigens: Stellt sich derlei noch vor Ablauf des sechsten Beschäftigungsmonats heraus, würde sie nach § 90 I Nr. 1 SGB IX noch am letzten Tag dieser Frist gekündigt werden können, selbst
wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt schon einen Antrag auf Feststellung der Behinderung gestellt haben
sollte.
V. Vorvertragliche Aufklärungs- und Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers
Nicht nur der Bewerber, sondern auch der ArbG ist nach Treu und Glauben (§ 242
BGB) gehalten, ungefragt auf Umstände hinzuweisen, die für den Bewerber entscheidungserheblich sind: Etwa auf besondere, dem Bewerber nicht erkennbare Anforderungen der Tätigkeit oder auf wirtschaftliche Schwierigkeiten des ArbG, die den Arbeitsplatz gefährden oder Stockungen bei der Lohnzahlung befürchten lassen. Kommt
es zwar zum Abschluss des Arbeitsvertrages, endet das Arbeitsverhältnis aber innerhalb kurzer Zeit aus Gründen, die der ArbG dem AN vor Vertragsschluss unter Ver-
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letzung der Aufklärungspflicht verschwiegen hat, kann dem AN ein Anspruch auf
Ersatz des Vertrauensschadens aus dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss (culpa in contrahendo – c.i.c.) nach Maßgabe der §§ 311 II, 241 II, 280 I
BGB zustehen. Er muss dann vom ArbG so gestellt werden, wie er gestanden hätte,
wenn ihm die erforderliche Aufklärung zuteil geworden wäre. Hatte der Bewerber ein
anderes Stellenangebot ausgeschlagen oder sein bisheriges Arbeitsverhältnis mit
Blick auf die neue Stelle gekündigt, kann er den hierdurch entgangenen Verdienst in
den Grenzen des § 254 I BGB unter der Voraussetzung ernsthafter und nachhaltiger
Bemühungen um einen neuen adäquaten Arbeitsplatz geltend machen.
Erweckt oder nährt der ArbG im Bewerber die unzutreffende Vorstellung, es werde in
jedem Fall zu einer Einstellung kommen, so enttäuscht er in Anspruch genommenes
Vertrauen, wenn er den Arbeitsvertrag doch nicht abschließt oder der Betriebsrat
nach Abschluss des Arbeitsvertrages seine Zustimmung zur Einstellung nach § 99 II
BetrVG zu Recht verweigert, und haftet er dem AN in gleicher Weise.
VI. Der Anspruch des Stellenbewerbers auf Ersatz seiner Vorstellungskosten
Der Anspruch auf Ersatz der Vorstellungskosten folgt aus § 670 BGB und setzt voraus, dass der Arbeitgeber den Bewerber zu dem Vorstellungsgespräch aufgefordert
hat. Der Arbeitgeber kann diesen Anspruch jedoch dadurch ausschließen, dass er vor
der Einladung eindeutig klarstellt, die Vorstellungskosten nicht übernehmen zu wollen.
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§ 11 Das Zustandekommen des Arbeitsvertrags
I. Der Vertragsschluss
Der Arbeitsvertrag kommt nach §§ 145 ff. BGB durch Antrag und Annahme des
Antrags zustande. Auch spätere Änderungen und Ergänzungen des Arbeitsvertrags sind nur dann wirksam, wenn sie auf übereinstimmenden Willenserklärungen
beider Vertragsparteien beruhen. Zum Sonderfall der inhaltlichen Erweiterung des
Arbeitsvertrags durch eine Betriebliche Übung siehe oben § 4 II. Hingegen führt das
Weisungsrecht des ArbG nicht zu einer Änderung oder Ergänzung des Arbeitsvertrages, sondern bewegt sich in seinem Rahmen und füllt ihn aus (unten § 15 II.).
Die Stellenausschreibung, das Bewerbungsschreiben und die Einladung zum Vorstellungsgespräch
sind keine diesbezüglichen Willenserklärungen; auch nicht die Bekundung des Gesprächsführers,
dass die Absicht besteht, den Bewerber einzustellen. Der durch diese Bemerkung beglückte Bewerber
sollte keinesfalls jetzt schon ein etwa noch bestehendes anderes Arbeitsverhältnis kündigen.
Der Antrag zum Abschluss des Arbeitsvertrages geht vom ArbG aus, und zwar im Regelfall in Gestalt zweier von ihm vorformulierter und oft auch schon unterschriebener Ausfertigungen des Arbeitsvertrags; eine für den ArbG und eine für den AN. Die Annahme erklärt dann der AN durch seine Unterschriftsleistung, so dass beide Vertragsurkunden die Unterschriften beider Seiten tragen. Es würde
allerdings auch genügen, dass jede Partei im Besitz einer vom jeweils anderen unterschriebenen Vertragsurkunde ist.
II. Formfreiheit und Formerfordernisse
Während die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag nach § 623 BGB aus Gründen der Rechtssicherheit der Schriftform bedarf, ist der Abschluss des Arbeitsvertrages formfrei möglich, um sein Zustandekommen zu erleichtern. Soll er allerdings eine Befristung enthalten oder unter einer
auflösenden Bedingung stehen, muss nach §§ 14 IV, 21 TzBfG wenigstens die Befristungs- oder Bedingungsabrede in der Schriftform des § 126 BGB vorliegen.
Fehlt sie, gilt der Arbeitsvertrag nach §§ 16, 21 TzBfG als unbefristet oder als unbedingt abgeschlossen.
Zum Zweck der Beweissicherung hat der AN nach Maßgabe des NachwG, ggf. nach
§ 11 BBiG oder unter Berücksichtigung von § 11 I AÜG, einen Anspruch auf eine
ordentliche Vertragsniederschrift. Die elektronische Form ist ausdrücklich ausgeschlossen. Verletzt der ArbG seine Nachweispflicht, kann er nach § 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden, wenn der AN mangels Hinweises auf wesentliche Vertragsbedingungen einen Rechtsnachteil erleidet.
Verlangt ein Tarifvertrag von den beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien die Schriftform des Arbeitsvertrages, wird es sich tarifrechtlich um eine sog. Inhaltsnorm handeln (dazu oben § 5
I. 5. normativer Teil des Tarifvertrages), die – wie die Anordnungen des NachwG – „im Zweifel“ nur
Beweiszwecken dient, aber nicht eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Arbeitsvertrages ist.
Diese Schriftform bestätigt nur, was auch ohne Schriftform schon gilt, hat also lediglich deklaratorische (= rechtsbekundende) Bedeutung. Nur in begründeten Ausnahmefällen wird tarifrechtlich eine
Abschlussnorm (dazu oben § 5 II. 1. normativer Teil des Tarifvertrags) mit konstitutiver (= rechtsbegründender) Bedeutung vorliegen, bei deren Nichtbeachtung der Arbeitsvertrag nach § 125 S. 2 BGB
nichtig ist (zum sog. faktischen Vertragsverhältnis siehe nachfolgend unter IV.).
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Weil der Arbeitsvertrag schon bei mündlichem Abschluss gültig ist, ist ein Vertragsschluss auch durch schlüssiges (= konkludentes) Verhalten möglich, und zwar
nicht nur bei der erstmaligen Arbeitsaufnahme, sondern auch bei der Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses über den vereinbarten Beendigungszeitpunkt oder nach der
Kündigung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus. Vgl. zum einen § 625 BGB,
bzw. § 15 V TzBfG, dessen Hauptanwendungsfall die Weiterarbeit über das Ende des
befristeten Probearbeitsverhältnisses hinaus ist; zum anderen die in § 24 BBiG geregelte Weiterarbeit über die Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses hinaus.
III. Schriftformklauseln
Ist in einem schriftlichen Arbeitsvertrag festgelegt, dass auch spätere Änderungen
und Ergänzungen des Vertrages der Schriftform bedürfen, ist ein später nur mündlich
vereinbarter Zusatz nach § 125 Satz 2 BGB „im Zweifel“ eigentlich nichtig. Allerdings kann eine mündliche Zusatzvereinbarung als eine stillschweigend gewollte
Aufhebung des vereinbarten Formerfordernisses gedeutet werden. Erst die Verwendung einer sog. doppelten Schriftformklausel soll geeignet sein, diese Rechtsfolge
zu vermeiden, so dass es bei einem als konstitutiv (= rechtsbegründend) gewollten
Schriftformerfordernis nicht nur heißen darf: „Änderungen und Ergänzungen dieses
Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform“ sondern zusätzlich: „Auch
die Aufhebung der Schriftformabrede bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform“.
Da aber der Arbeitsvertrag und damit auch die jeweilige Schriftformklausel im Arbeitsvertrag regelmäßig den Charakter von AGB tragen (oben § 4 I. 2.), gilt § 305b
BGB, wonach individuelle Vertragsabreden, auch wenn sie nur mündlich getroffen
worden sind, stets den Vorrang vor AGB haben. Damit scheitert die Möglichkeit,
mit Hilfe einer Schriftformklausel mündliche Nebenabreden auszuschließen.
Nur das Entstehen einer Betrieblichen Übung kann durch die doppelte Schriftformklausel verhindert werden, weil die zur Betrieblichen Übung führenden Gewährungsakte des ArbG nicht die Voraussetzungen einer Individualvereinbarung erfüllen (oben
§ 4 II. 4.).
IV. Der übliche Vertragsinhalt
1. § 2 I 2 Nr. 1 bis 10 NachwG enthält eine Auflistung der Angaben, die in einen
Arbeitsvertrag mindestens aufzunehmen sind.
Zu Nr. 4 und 5 ist Folgendes zu ergänzen: Eine weite Umschreibung des Tätigkeitsfeldes des AN verbunden mit entsprechenden Umsetzungs- bzw. Versetzungsklauseln im Arbeitsvertrag gibt dem ArbG die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis im Wege der Ausübung seines Weisungsrechts an veränderte wirtschaftlich
Bedingungen anzupassen. Zugleich stärkt es den Kündigungsschutz des AN gegenüber betriebsbedingten Kündigungen durch Erweiterung der Vergleichsgruppe für die
nach § 1 III Satz 1 KSchG erforderliche Sozialauswahl und schafft für den kündigungsbedrohten AN vermehrte Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten (unten § 15 II.
3.).
2. Über die unter den Nrn. 1 bis 10 aufgelisteten Angaben hinaus enthält ein Arbeitsvertrag häufig eine Bestimmung,
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 die den ArbG ermächtigt, Überstunden anzuordnen (unten § 15 III. 3.) und
ihn verpflichtet, sie in bestimmter Weise zu vergüten. Eine Ermächtigung des
ArbG, unter bestimmten Voraussetzungen Kurzarbeit anordnen zu können,
kommt seltener vor:
 die den AN verpflichtet, eine geplante Nebentätigkeit anzuzeigen. Ihre Ausübung darf der ArbG nur dann untersagen, wenn sie seine berechtigten Belange
verletzt, z.B. weil sie die Arbeitsleistung des AN erheblich beeinträchtigt oder
die Wettbewerbsinteressen des ArbG verletzt. Die Verbote der §§ 2 I 1, 3 Arm
 darüber, dass die Entgeltansprüche des AN gegen den ArbG nur mit schriftlicher Zustimmung des ArbG abgetreten oder verpfändet werden können und
der AN die dem ArbG daraus entstehenden Bearbeitungskosten zu tragen hat;
 darüber, dass Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden müssen (Ausschluss- bzw. Verfallfrist; unten § 44).
Darüber hinaus ist ein Hinweis auf die Anzeige- und Hinweispflichten des AN bei
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch eine kurgefasste Wiedergabe des § 5
EFZG geboten.
Im Übrigen ist festzustellen, dass Arbeitsverträge oft Arbeitsbedingungen enthalten,
die gegen Arbeitsgesetze oder Vorschriften des AGB-Rechts verstoßen. Geschieht
dies planmäßig, ist davon auszugehen, dass der ArbG darauf spekuliert, es würden
sich zu seinem Vorteil nur wenige AN dagegen zur Wehr setzen. Um ihre Einstellung
nicht zu gefährden, sollten ausgewählte Bewerber derlei allerdings nicht schon vor
Vertragsschluss rügen. Durch die Unterschrift unter den Arbeitsvertrag wird Rechtswidriges nicht rechtswirksam! Unzulässige Arbeitsbedingungen sollten erst nach
Rücksprache mit einem Rechtsberater angegriffen werden. Bleibt der ArbG unbeweglich, kann der in seinen Rechten verletzte AN gegen ihn gerichtlich vorgehen. Vor einer Maßregelung durch den ArbG ist der AN nach § 612a BGB geschützt.
Kommt es wegen der vorstehend dargestellten Auseinandersetzung zu einer Eigenkündigung des AN aus wichtigem Grund nach § 626 BGB, ist der ArbG nach § 628
II BGB zum Ersatz des dem AN durch die Kündigung entstehenden Schadens verpflichtet, wenn die Kündigung durch vertragswidriges Verhalten des ArbG veranlasst
wird (dazu unten § 41 I).
V. Die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen des Arbeitsvertrags
Es gelten die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen, die die §§ 104 bis 185
BGB für Rechtsgeschäfte aufstellen.
► Ist der ArbG eine natürliche Person, kann er den Arbeitsvertrag selbst unterzeichnen; ist er eine Personenhandelsgesellschaft (OHG oder KG) oder eine juristische
Person (GmbH oder AG), muss ein gesetzlicher Vertreter für ihn handeln (§§ 125
I, 161 II, 170 HGB / § 35 GmbHG, § 78 AktG). Oft sind Einstellungsvorgänge
(genauso wie Entlassungen) bestimmten Mitarbeitern, meist leitenden Angestell-
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ten (vgl. § 5 III 2 Nr. 1 BetrVG), übertragen, die nach § 164 BGB, § 49 HGB bevollmächtigt sind, den ArbG beim Abschluss des Arbeitsvertrages (rechtsgeschäftlich) zu vertreten.
Dass der Arbeitsvertrag mangels Vertretungsmacht des Einstellenden unwirksam ist, dürfte kaum
vorkommen. Fehlt es an seiner ausdrücklichen Bevollmächtigung, wird immer noch eine Duldungs- oder Anscheinsvollmacht vorliegen können. Bei unbeanstandeter Arbeitsaufnahme wird
eine stillschweigende Genehmigung durch den ArbG angenommen werden können; ansonsten
käme es zunächst einmal zu einem sog. faktischen Arbeitsverhältnis (nachfolgend unter IV.).
► Für den minderjährigen ArbG gilt § 112 BGB unter Beachtung der §§ 1643, 1821,
1822 BGB, für den minderjährigen AN § 113 BGB.
§ 113 BGB setzt voraus, dass „der gesetzliche Vertreter“ - das sind die Eltern gemeinsam (§§
1626 ff. BGB) - zum Ausdruck bringt, „dem Minderjährigen den zur Teilnahme am Arbeitsleben
nötigen rechtsgeschäftlichen Handlungsspielraum einräumen zu wollen“ (Bamberger/Roth/Wendtland § 113 Rn 3). Das resignierende Dulden einer unerwünschten Erwerbstätigkeit
reicht hierfür nicht aus.
Liegt mangels Einverständnisses der Eltern kein wirksamer Arbeitsvertrag vor, muss der ArbG
trotzdem für die Zeit, in der der Minderjährige tatsächlich beim ihm beschäftigt war, den vereinbarten Lohn zahlen (dazu nachfolgend unter IV.).
§ 113 BGB gilt nicht für den Berufsausbildungsvertrag. Sein Abschluss und seine Kündigung bedürfen stets der ausdrücklichen Zustimmung des gesetzlichen Vertreters.
Beachte: § 113 BGB gibt dem minderjährigen AN grundsätzlich nicht die Befugnis, über den Arbeitslohn frei zu verfügen. Gedeckt sind nur Ausgaben, die in unmittelbarem Zusammenhang mit
dem Arbeitsverhältnis stehen.
► Dass der ganze Arbeitsvertrag wegen Verstoßes gegen § 134 BGB oder § 138
BGB nichtig ist, kommt nur in Ausnahmefällen vor.
Einem Abschlussverbot im Sinne des § 134 BGB unterliegt z.B. die Beschäftigung von Kindern
oder Jugendlichen entgegen § 5 JArbSchG. Hierher gehören ferner die Fälle, in denen die Arbeit
als solche gegen ein Strafgesetz verstößt, wie etwa bei der Tätigkeit als Drucker in einer Fälscherwerkstatt. Ein Arbeitsvertrag ist darüber hinaus nach § 138 BGB nichtig, wenn die Arbeit als
solche gegen die guten Sitten verstößt, wie etwa die Vorführung des Geschlechtsverkehrs auf der
Bühne. Zur Frage der Bezahlung tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung siehe nachfolgend unter
IV.
Demgegenüber führen die meisten Verbotsgesetze nur zu einem arbeitsrechtlichen Beschäftigungsverbot, das lediglich den tatsächlichen Einsatz des AN verhindern soll, auf die Wirksamkeit
des Arbeitsvertrages aber keinen Einfluss hat. So im Fall des Fehlens der nach §§ 18, 39 AufenthaltsG oder nach § 284 SGB III erforderlichen Arbeitserlaubnis oder in Fällen der §§ 3, 4, 6, 8
MuSchG.
► Normalerweise verstoßen nur einzelne Arbeitsvertragsklauseln gegen zwingendes Arbeitsrecht, dessen Vorschriften zugleich Verbotsgesetze im Sinne des §
134 BGB sind, oder gegen die guten Sitten im Sinne des § 138 BGB. Auch kann
ein Verstoß gegen die Billigkeitsgrundsätze der §§ 242, 315 BGB zur Nichtigkeit der betreffenden Klausel führen, wenn er schwer wiegt. Da die kritischen Arbeitsvertragsklauseln meistens Bestandteil einer vertraglichen Einheitsregelung
sind, können sie auch nach Maßgabe der Vorschriften über die Inhaltskontrolle
Allgemeiner Geschäftsbedingungen gemäß §§ 307 bis 309 BGB unwirksam
sein.
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Entgegen dem Auslegungsgrundsatz des § 139 BGB führt die Nichtigkeit einzelner Vertragsbestimmungen nicht zur Unwirksamkeit des ganzen Arbeitsvertrages,
weil sich der mit der Verbotsvorschrift bezweckte Arbeitnehmerschutz sonst in
sein Gegenteil verkehren würde. Es entfällt lediglich die nichtige Klausel. An
ihre Stelle tritt, soweit vorhanden, die einschlägige gesetzliche oder auf der
Rechtsprechung beruhende Regelung, vgl. § 306 BGB.
Übliche Verstöße sind z.B. rechtswidrige Vereinbarungen über die Arbeitszeit sowie rechtswidrige Kündigungsabreden, Mankoabreden, Rückzahlungsvereinbarungen und Wettbewerbsabreden.
Auch die Abrede, Schwarzarbeit zu leisten, führt nicht zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrages und
damit nicht zum Verlust des Lohnanspruchs; nichtig ist in diesem Fall lediglich die Abrede, dass
der ArbG keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abführen soll.
Grobe Verstöße sind auch die Vereinbarung einer unentgeltlichen Probezeit, selbst wenn zugesagt ist, sie bei späterem Abschluss eines endgültigen Arbeitsvertrages noch zu vergüten; das unentgeltliche oder mit einem Taschengeld entlohnte „Praktikum“ eines fertig ausgebildeten Berufsanfängers, wenn in Wahrheit ausschließlich Arbeit geleistet werden soll; ein Entgelt nur durch
Trinkgeld; eine Beteiligung des AN am Verlust des ArbG..
► Die sittenwidrige Entgeltvereinbarung ist der häufigste Fall des § 138 BGB im
Arbeitsrecht.
Nach § 138 II BGB ist eine arbeitsvertragliche Entgeltvereinbarung wegen Wuchers (als Unterfall der Sittenwidrigkeit) nichtig, wenn (objektiv) ein „auffälliges Missverhältnis“ zwischen
Leistung und Gegenleistung besteht und (subjektiv) die hierdurch begünstigte Partei die Vereinbarung vorsätzlich „unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche“ der anderen Partei zustande gebracht hat.
Ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung liegt vor, wenn die Arbeitsvergütung mehr als 1/3 unter dem allgemeinen Lohnniveau des betreffenden Wirtschaftszweigs
in dem betreffenden Wirtschaftsgebiet liegt. Dabei bildet im Zweifel ein dort üblicher, nämlich für
mehr als 50 % der dortigen ArbG verbindlicher oder ein für mehr als 50 % der dortigen AN maßgebender Tariflohn den Vergleichsmaßstab (BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 436/08 – in NZA 2009,
837). In diesem Fall hat sich der Begünstigte auch wegen Lohnwuchers nach § 291 I 1 Nr. 3
StGB strafbar gemacht, so dass die Vergütungsabrede bereits nach § 134 BGB wegen Gesetzesverstoßes nichtig ist.
Fehlt es an dem Merkmal der vorsätzlichen Ausbeutung, ist dem Begünstigten aber das Missverhältnis bewusst, spricht eine Vermutung dafür, dass er sich leichtfertig der Einsicht verschließt,
der andere habe sich wegen seiner schwächeren Lage oder unter dem Zwang der Verhältnisse auf
die ihm ungünstige Vereinbarung eingelassen. In diesem Fall verstößt die Vergütungsabrede als
wucherähnliches Rechtsgeschäft gegen die guten Sitten und ist nach § 138 I BGB nichtig.
An die Stelle der nach § 138 II oder I BGB nichtigen arbeitsvertraglichen Vergütungsvereinbarung tritt nach § 612 II BGB die ortsübliche Vergütung, die für eine
vergleichbare Tätigkeit gezahlt wird, häufig auf der Grundlage eines räumlich und
fachlich einschlägigen Tarifvertrages, der den Mindestlohn nach dem MiLoG von
8,50 € überschreitet. Der Mindestlohn ist maßgebend, wenn kein höheres Entgelt ortsüblich ist.
Die Anwendung des § 138 BGB wird durch § 3 MiLoG, wonach Vereinbarungen, die den Mindestlohn von 8,50 € unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, insoweit unwirksam sind, weitgehend
verdrängt (oben § 5 VI.).
Der AN muss sich aber stets selbst helfen und den ihm von Rechts wegen zustehenden Lohn gegenüber dem ArbG notfalls einklagen. Eine ihm deswegen zu-
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teilwerdende Kündigung würde am Maßregelungsverbot des § 612a BGB scheitern.
V. Die Zustimmung des Betriebsrates zum Abschluss eines Arbeitsvertrags
In Unternehmen (Gesamtunternehmen unter Einbeziehung seiner Betriebe) mit in der
Regel mehr als 20 wahlberechtigten AN hat der ArbG gemäß § 99 I BetrVG vor
jedem Abschluss eines Arbeitsvertrages die Zustimmung des Betriebsrates einzuholen.
Beachte: Die nach § 102 BetrVG vor jeder arbeitgeberseitigen Kündigung erforderliche Anhörung
des Betriebsrates setzt eine bestimmte Mindestanzahl von wahlberechtigten AN hingegen nicht voraus
(unten § 28 IV. 3.).
Wird die Einstellung eines leitenden Angestellten beabsichtigt, besteht für den ArbG nach § 31 I
SprAuG lediglich die Pflicht, dies dem Sprecherausschuss rechtzeitig mitzuteilen.
Mitbestimmungspflichtig ist nicht nur die erstmalige Einstellung, sondern z.B. auch die Wiedereinstellung, die Verlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses oder dessen Umwandlung in ein unbefristetes, auch im Fall des § 15 V TzBfG; ferner die Überleitung eines Ausbildungsverhältnisses in
ein Arbeitsverhältnis, im Entleihbetrieb der Einsatz von Leih-AN (§ 14 III AÜG), nicht hingegen die
Beschäftigung persönlich nicht abhängiger freier Mitarbeiter.
Die Verweigerung der Zustimmung kann nur auf einen der in § 99 II BetrVG abschließend aufgeführten Gründe gestützt werden.
Zum Verfahrensgang siehe im Einzelnen die sich weitgehend selbst erklärenden
•
§ 99 III BetrVG: Erklärung der Zustimmungsverweigerung oder Zustimmungsfiktion;
•
§ 99 IV BetrVG: arbeitsgerichtliche Zustimmungsersetzung;
•
§ 100 BetrVG: Vorläufige Einstellung;
•
§ 101 BetrVG: Arbeitsgerichtliches Zwangsgeld gegen den ArbG.
Die fehlende Zustimmung des Betriebsrates berührt nicht die Wirksamkeit des dennoch abgeschlossenen Arbeitsvertrages. Dem ArbG ist nur die Beschäftigung des
AN betriebsverfassungsrechtlich untersagt. Wird der AN wegen der fehlenden Zustimmung des Betriebsrates nicht beschäftigt, kann er nach § 615 S. 1 BGB vom
ArbG trotzdem die Vergütung verlangen. Der ArbG kann sich von der Lohnzahlungspflicht aber durch Kündigung des Arbeitsvertrags ohne weiteres befreien; denn
allgemeinen Kündigungsschutz genießt der AN erst nach einer mehr als 6-monatigen
Beschäftigung. Unter Umständen kann dem gekündigten AN ein Anspruch auf Ersatz
des Vertrauensschadens zustehen (oben § 10 unter V.).
VI. Das fehlerhafte Arbeitsverhältnis
Von einem fehlerhaften Arbeitsverhältnis spricht man, wenn der ihm zugrunde liegende Arbeitsvertrag nicht oder nicht mehr rechtswirksam ist. Dazu kann es aus verschiedenen Gründen kommen, z B. bei fehlender Geschäftsfähigkeit des ArbG oder
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des AN (§ 105 I BGB), bei Formnichtigkeit eines formbedürftigen Arbeitsvertrages
nach § 125 Satz 2 BGB, bei fehlender Vertretungsmacht des Einstellenden, im Fall
des Verstoßes gegen ein Abschlussverbot im Sinne des § 134 BGB oder gegen die
guten Sitten nach § 138 I oder II BGB sowie bei Anfechtung des Arbeitsvertrages (1)
durch den vom AN im Rahmen der Bewerbung arglistig getäuschten ArbG nach §
123 BGB und (2) durch den ArbG nach § 119 II BGB wegen Irrtums über einstellungserhebliche Eigenschaften des Bewerbers;
Fehlt es an einem wirksamen Arbeitsvertrag, bestehen keine gegenseitigen Erfüllungsansprüche. Das muss von den Beteiligten hingenommen werden, solange der
unwirksame Vertrag nicht in Vollzug gesetzt wurde. Bei dieser Rechtslage würde der
AN eigentlich auch dann keinen Anspruch auf Vergütung und die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen haben, wenn er tatsächlich Arbeit geleistet hat. Vielmehr
würde ihm in diesem Fall gegen den ArbG nur ein Anspruch aus ungerechtfertigter
Bereicherung – einem kraft Gesetzes entstandenen Schuldverhältnis – nach Maßgabe
der §§ 812 ff. BGB auf Herausgabe des Erlangten zustehen. Da der ArbG die ihm
„ohne rechtlichen Grund“ (= ohne wirksame Vertragsgrundlage) erbrachte Arbeit
aber nicht in natura zurückgewähren könnte, träte nach § 818 II BGB an ihre Stelle
ein Anspruch des AN gegen den ArbG auf Ersatz des wirtschaftlichen Wertes der geleisteten Arbeit, der allerdings nur schwer zu bestimmen ist.
Und was sollte in Ansehung der Vergütung gelten, die der AN bereits erhalten hat? Ist er um sie ungerechtfertigt bereichert? Könnte und müsste er sich gegenüber einem Herausgabeverlangen des ArbG
auf einen Wegfall der Bereicherung nach § 818 III BGB berufen, weil er den Lohn ersatzlos verbraucht hat, ohne sonst laufende Aufwendungen erspart zu haben? Auch wenn all diese in Ansehung
der gegenseitigen Hauptpflichten relevanten Schwierigkeiten durch eine problemkonforme Rechtsanwendung zu bewältigen wären, lassen sich jedenfalls die mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Nebenpflichten bereicherungsrechtlich nicht fassen.
Um eine dem Schutzzweck des Arbeitsrechts angemessene Lösung dieser Probleme
herbeizuführen, haben Rechtslehre und Rechtsprechung die Rechtsfigur des faktischen Arbeitverhältnisses entwickelt. Danach wird ein Arbeitsvertrag, der sich nach
übereinstimmend gewollter Arbeitsaufnahme als nichtig oder anfechtbar erweist,
bei überwiegender Schutzbedürftigkeit des AN bis zu dem Zeitpunkt als rechtswirksam behandelt wird, in dem sich einer der beiden Beteiligten auf die Nichtigkeit
des Arbeitsvertrags beruft oder der Anfechtungsberechtigte die Anfechtung erklärt.
Daraus folgt, dass die Parteien des tatsächlich vollzogenen Arbeitsvertrag für die
Vergangenheit in der Weise berechtigt und verpflichtet sind, als wäre der Vertrag
wirksam und unanfechtbar zustande gekommen. Das bedeutet für den AN, dass er
vom ArbG die vereinbarte Vergütung beanspruchen sowie Rechte nach dem EFZG
und BUrlG geltend machen kann und auch sonst aller arbeitsrechtlichen Schutznormen teilhaftig ist.
Im Fall der Anfechtbarkeit wird die Beschränkung der Nichtigkeitsfolge dadurch verwirklicht, dass der
Anfechtungserklärung des ArbG nicht die in § 142 I BGB sonst vorgesehene Rückwirkung beigemessen wird, und dies nicht nur bei der Anfechtung wegen Irrtums, sondern regelmäßig auch bei arglistiger Täuschung. Sofern allerdings die Arbeitsleistung des AN z.B. wegen Erschleichens einer führenden Stellung für den ArbG ohne jedes Interesse ist, bleibt es bei der Abwicklung der Rechtsbeziehung
nach den Vorschriften des Bereicherungsrechts, wobei dem AN § 817 S. 2 BGB entgegengehalten
werden kann. Das gleiche gilt in den Fällen der Nichtigkeit des Arbeitsvertrages wegen besonders
schwerer Gesetzesverstöße oder wegen krasser Sittenwidrigkeit, in denen das öffentliche Interesse an
der Sauberkeit des Rechtsverkehrs die Belange des AN überwiegt.
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Im Falle der Minderjährigkeit des AN ist nach h.M. zwar kein faktisches Arbeitsverhältnis entstanden, weil der Minderjährige dadurch vertraglichen Verpflichtungen und damit auch Schadensersatzersatzansprüchen wegen Pflichtverletzung ausgesetzt wäre, die ihn nach dem Minderjährigenschutzrecht
der §§ 107 ff. BGB nur mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters sollen treffen dürfen. Die dennoch unterstellte Verpflichtung des ArbG zur Bezahlung der vom Minderjährigen tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung soll auf dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB beruhen,
wonach es dem ArbG als rechtsmissbräuchlich verwehrt ist, sich demjenigen gegenüber auf die Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags zu berufen, der mit seinem Einverständnis für ihn faktisch tätig war.
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§ 12 Teilzeitarbeitsverhältnisse
I. Der Begriff der Teilzeitarbeit
Teilzeitarbeit bezeichnet eine Tätigkeit, die kürzer ist, als die eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigen AN desselben Betriebes. Sie hat ihre Regelung im TzBfG gefunden.
Üblicherweise geht es dabei um die regelmäßige Teilzeitarbeit bei fester Vereinbarung über die Dauer und Lage der Arbeitszeit des Arbeitsplatzinhabers, der zumeist
entweder jeden Tag verkürzt oder nur an bestimmten Tagen der Woche voll arbeitet
(nachfolgend II.). Einen Sonderfall bildet die Arbeitsplatzteilung („job-sharing“) nach §
13 TzBfG. Die Altersteilzeitarbeit gehört nicht hierher.
Demgegenüber handelt es sich bei der Arbeit auf Abruf in erster Linie um eine unregelmäßige Teilzeitarbeit nach Maßgabe des Arbeitsanfalls (nachfolgend III.).
Zu den Besonderheiten der Elternzeit in Teilzeit siehe §§ 15 ff. BEEG. Zu den Besonderheiten der Pflegezeit siehe §§ 3 ff. PflegeZG.
II. Die regelmäßige Teilzeitarbeit
Um die Teilzeitarbeit zu fördern (§ 1 TzBfG), hat der ArbG nach § 7 I TzBfG einen Arbeitsplatz, den er öffentlich oder innerhalb des Betriebes ausschreibt, auch als Teilzeitarbeitsplatz auszuschreiben, wenn sich der Arbeitsplatz hierfür eignet. Auf diese Weise
kann es in einem Betrieb von vornherein zu Teilzeitarbeitsplätzen kommen.
Die Entscheidung, einen Arbeitsplatz als Teil- oder Vollzeitstelle auszuweisen, trifft der ArbG als Ausdruck seiner unternehmerischen Freiheit (siehe oben § 3 III.2. unter (6) zur mittelbaren Drittwirkung von
Art. 12 I GG). Ist eine Vollzeitstelle aufgrund der von ihm definierten Anforderungen bei objektiver Betrachtung allerdings auch für Teilzeitarbeit geeignet, muss er sie dementsprechend ausschreiben.
Da dem Betriebsrat nach § 80 I Nr. 2b BetrVG auch die allgemeine Aufgabe zufällt, „die Vereinbarkeit von
Familie und Erwerbstätigkeit zu fördern“, hat er über § 92 III BetrVG das Recht, dem ArbG vorzuschlagen,
Teilzeitarbeitsplätze neu oder durch Umwandlung von Vollzeitstellen einzurichten. Der Förderung von
Teilzeitarbeit dient auch das Vorschlagsrecht des Betriebsrates nach § 92a BetrVG.
Vor diesem Hintergrund wird für den Fall, dass der Betriebsrat vom ArbG eine Ausschreibung unter Beachtung von § 7 I TzBfG sogar ausdrücklich verlangt, die allerdings umstrittene Auffassung vertreten, dass
der Betriebsrat nach § 99 II Nr. 1 BetrVG seine Zustimmung zu der Einstellung eines Vollzeitbewerbers
verweigern darf, wenn die Ausschreibung als Teilzeitarbeitsplatz unterblieben ist.
Ein Teilzeitarbeitsplatz kann im Nachhinein dadurch entstehen, dass ein bisheriger Vollzeit-AN gemäß § 8 TzBfG eine Verringerung seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit
verlangt. Und selbst ein Teilzeit-AN kann gemäß § 8 eine weitere Verringerung seiner
Arbeitszeit beanspruchen. Das Arbeitsverhältnis muss nur länger als sechs Monate (ununterbrochen) bestanden haben, und der ArbG muss, unabhängig von der Anzahl Auszubildender, i.d.R. mehr als 15 AN beschäftigen (§ 8 I, VII TzBfG), einerlei ob in Teilzeit oder in Vollzeit. Allerdings dürfen nach § 8 IV TzBfG betriebliche Gründe nicht entgegenstehen.
Nach § 9 TzBfG hat der ArbG einen teilzeitbeschäftigten AN, der ihm den Wunsch nach
einer Verlängerung der Arbeitszeit anzeigt, bei der Besetzung eines entsprechenden
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freien Arbeitsplatzes unter bestimmten Voraussetzungen bevorzugt zu berücksichtigen.
Das gilt auch für einen AN, der bereits als Teilzeitbeschäftigter eingestellt worden war.
Ist der Teilzeitbeschäftigte der Meinung, dass sein Wunsch zu Unrecht abgelehnt worden ist, kann er die
Besetzung der Stelle durch einstweilige Verfügung untersagen und die Auswahlentscheidung überprüfen
lassen (Rolfs in Studienkomm. § 9 TzBfG Rn. 9). Ist der Arbeitsplatz schon besetzt, haftet der pflichtwidrig
handelnde ArbG auf Schadensersatz nach §§ 280 I, III, 283 BGB. Eine Kündigung des Bevorzugten kann
der Benachteiligte aber nicht verlangen. Allerdings hätte der Betriebsrat die Zustimmung zur Einstellung
des Bevorzugten nach § 99 II Nr. 5 BetrVG verweigern können.
Von besonderer Bedeutung ist das Diskriminierungsverbot des § 4 TzBfG, wonach ein
teilzeitbeschäftigter AN wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden darf
als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter AN, es sei denn, dass sachliche Gründe die
unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. So ist ihm z.B. das Arbeitsentgelt einschließlich aller teilbaren geldwerten Leistungen anteilig zu gewähren. Außerdem darf er nach §
5 TzBfG wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach dem TzBfG nicht benachteiligt,
nach § 11 TzBfG insbesondere nicht gekündigt werden. Beides folgt allerdings schon aus
§ 612a BGB. Ist das KSchG anwendbar (dazu unten § 30 I.), fehlt es insoweit an einem
nach § 1 KSchG legitimen Kündigungsgrund.
Andererseits darf der ArbG die Zahlung eines Überstundenzuschlags davon abhängig machen, dass die
tarifliche Regelarbeitszeit überschritten wird. Hierdurch werden zwar Teilzeitkräfte gegenüber Vollzeitkräften benachteiligt, weil sie bei Überschreitung ihrer individuellen Regelarbeitszeit diesen Bereich nie erreichen. Die Ungleichbehandlung ist aber sachlich gerechtfertigt, weil sonst im Wege einer kollektiven Regelung bereits innerhalb des Bereichs der tariflichen Regelarbeitszeit unterschiedlicher Lohn für die gleiche Arbeit gezahlt werden würde: Anders als Vollzeitbeschäftigte würden Teilzeitbeschäftigte den Zuschlag nämlich schon ab einem Zeitpunkt erhalten, zu dem AN noch nicht als mit Arbeit überbelastet gelten.
III. Arbeit auf Abruf
1. Nach § 12 I 1 TzBfG kann Teilzeitarbeit so organisiert werden, „dass der AN seine
Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf).“
Im Interesse des AN an einem kalkulierbaren Einkommen und einer planbaren Arbeitsbelastung muss dann nach § 12 I 2 TzBfG die Dauer der Arbeitszeit pro Woche und Tag
festgelegt sein, wohingegen die jeweilige Lage der Arbeitszeit durch den ArbG im Wege des Abrufs der Arbeitsleistung bestimmt wird. Dabei ist zu beachten, dass nach § 12 II
TzBfG der AN zur abgerufenen Arbeitsleistung nur verpflichtet ist, wenn der ArbG ihm
deren zeitliche Lage mindestens vier Tage im Voraus mitteilt.
Anwendungsbereiche dieser Art von Teilzeitarbeit sind vor allem das Gaststättengewerbe, das Catering
und die Betreuung von Veranstaltungen. Dem unterschiedlichen Arbeitsanfall kann im Übrigen durch jeweils sachgrundbefristete Arbeitsverhältnisse nach Maßgabe z.B. des § 14 I Nr. 1 TzBfG („Aushilfsarbeitsverhältnis“) oder durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern (unten § 43) Rechnung getragen werden.
Fehlt es an einer Vereinbarung über die Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit, bestimmt § 12 I 3, 4 TzBfG, dass eine wöchentliche Arbeitszeit von 10 Stunden als vereinbart gilt und der ArbG die Arbeitsleistung des AN jeweils für mindestens 3
aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen hat. Steht die Dauer Arbeitszeit
einmal fest, sei es aufgrund einer Vereinbarung, sei es bei deren Fehlen kraft gesetzlicher
Fiktion, kann eine Änderung nur mit Einverständnis des AN oder im Wege einer arbeitgeberseitigen Änderungskündigung herbeigeführt werden. Kann der ArbG den AN in
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der feststehenden Zeitdauer ganz oder teilweise nicht beschäftigen, muss er ihn nach
§ 615 BGB wegen Annahmeverzugs trotzdem bezahlen (unten § 19).
Nach § 12 III TzBfG kann durch Tarifvertrag von den Vorschriften der §§ 12 I und II TzBfG auch zu
Ungunsten der AN abgewichen werden, vorausgesetzt, er enthält überhaupt Regelungen über die tägliche
und wöchentliche Arbeitszeit sowie die Vorankündigungsfrist (tarifdispositives Gesetzesrecht). Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 I Nr. 2 BetrVG bezieht sich sowohl auf die Einführung und
Abschaffung der Abrufarbeit, als auch auf ihre Ausgestaltung hinsichtlich Beginn und Ende der täglichen
Arbeitszeit, nicht aber auf den einzelnen Abruf.
2. Die Arbeitszeit wird oft als Mindestarbeitszeit vereinbart und zugleich festgelegt,
dass der AN darüber hinaus verpflichtet ist, auf Aufforderung des ArbG länger zu arbeiten. Mit einer solchen Vereinbarung verlagert der ArbG allerdings abweichend von § 615
BGB einen Teil seines Wirtschaftsrisikos (unten § 19 II. 2.) auf den AN.
Hätte der ArbG im Arbeitsvertrag eine längere regelmäßige Arbeitszeit vereinbart, müsste er seine AN
nach § 615 BGB auch dann bezahlen, wenn er sie wegen Auftragsmangels nicht beschäftigen kann. Vereinbart der ArbG aber eine kürzere regelmäßige Arbeitszeit als Mindestarbeitszeit mit der Maßgabe, dass er
bei weitergehendem Arbeitsbedarf berechtigt ist, seine AN auf Abruf gegen Bezahlung einer Stundenvergütung wie in der Regelarbeitszeit länger zu beschäftigen, ohne dass sie ihrerseits einen Anspruch auf die
längere Beschäftigung haben, hat der ArbG das Risiko eines weitergehenden Arbeitsbedarfs auf seine AN
übergewälzt.
Ist diese Vereinbarung – wie regelmäßig – formularmäßig getroffen worden, unterliegt
sie der Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB. Gestützt auf § 307 I, II Nr. 1 BGB hat
das BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04 – in NZA 2006, 423 entschieden, dass eine solche
Absprache nur dann wirksam ist, wenn die vom ArbG über die vereinbarte Mindestarbeitszeit hinaus abrufbare Arbeitsleistung des AN nicht mehr als 25 % der vereinbarten Mindestarbeitszeit beträgt. Ist z.B. eine Mindestarbeitszeit von 15 Wochenstunden
vereinbart, beträgt die zusätzlich abrufbare Arbeitsleistung dann 3,75 Stunden.
3. Soll die vereinbarte Arbeitszeit ausnahmsweise die Höchstarbeitszeit sein, kann unter Beachtung der vorerwähnten Einschränkung festgelegt werden, dass die Arbeitszeit
auf Aufforderung des ArbG um bis zu 20 % verringert werden kann (BAG a.a.O.
Abs. 44): Bei einer Höchstzeit von 15 Wochenstunden also 3 Stunden (denn 25 % von
unten herauf gerechnet entspricht 20 % von oben herunter gerechnet).
4. Zur Abrufarbeit im Vollzeitarbeitsverhältnis siehe unten § 15.
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§ 13 Das befristete Arbeitsverhältnis
I. Überblick
1. Die Bedeutung der Befristung
Die Befristung des Arbeitsvertrags bietet dem ArbG den Vorteil, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Ablauf des vereinbarten Endtermins beendet ist, ohne dass es einer Kündigung bedarf und Kündigungsschutz oder Kündigungsverbote beachtet werden müssen.
Während der Abschluss des Arbeitsvertrags keine Schriftform erfordert (oben § 11 unter I.
2.), bedarf nach § 14 IV TzBfG im Interesse der Klarstellung, die den AN warnen soll
und dem ArbG den Beweis erleichtert, wenigstens die Befristungsvereinbarung zu ihrer
Wirksamkeit der Schriftform des § 126 BGB. Nach § 126 III BGB kann die Schriftform
durch die elektronischen Form des § 126a BGB ersetzt werden, weil dies – anders als in §
623 BGB – durch § 14 IV TzBfG nicht ausgeschlossen ist.
Soll das Arbeitsverhältnis während des Laufs der Befristung auch noch ordentlich
kündbar sein, muss dies nach § 15 III TzBfG arbeitsvertraglich oder in dem anwendbaren
Tarifvertrag vereinbart worden sein; denn nach § 620 II BGB ist ein Arbeitsverhältnis nur
dann ordentlich kündbar, wenn seine „Dauer…weder bestimmt noch aus der Beschaffenheit oder dem Zweck der Dienste zu entnehmen“ ist. Ist eine Kündigungsmöglichkeit vorgesehen, gilt innerhalb der Befristungszeit der jeweils in Betracht kommende Kündigungsschutz (unten § 29). Eine außerordentliche Kündigung nach Maßgabe des § 626 BGB ist
ohne Kündigungsvorbehalt möglich.
Ebenso wie ein teilzeitbeschäftigter AN wegen der Teilzeitarbeit darf nach § 4 II TzBfG auch ein befristet
beschäftigter AN wegen der Befristung des Arbeitsvertrages nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer unbefristet beschäftigter AN. Von sachlich gebotenen Ausnahmen abgesehen soll dadurch die
Gleichbehandlung befristet beschäftigter AN in Ansehung „aller Arbeitsbedingungen und bei allen Leistungen des ArbG“ (ErfK/Preis § 4 TzBfG Rn. 62) sichergestellt werden.
2. Die Art der Befristung und ihre Formulierung
a) § 14 TzBfG unterscheidet zwei Befristungsmöglichkeiten.
►
§ 14 I TzBfG ermöglicht eine Sachgrundbefristung aus besonderen Anlässen. Sofern ein besonderer Sachgrund jeweils konkret nachgewiesen ist, kann ein AN wiederholt und auch aus wechselnden Sachgründen ohne Rücksicht auf etwaige Vorbeschäftigungen bei demselben ArbG für die Dauer des jeweiligen Sachgrundes befristet beschäftigt werden.
Nach § 21 TzBfG ist die Vereinbarung einer den Arbeitsvertrag beendenden auflösenden Bedingung
entsprechend § 14 I TzBfG mit einem den Bedingungseintritt kennzeichnenden Sachgrund zulässig.
Die Vorschriften der §§ 4 II, 5, 15 II, III und V sowie die §§ 16 bis 20 TzBfG gelten entsprechend. §
14 II TzBfG ist nicht anwendbar.
Im Unterschied zur sachgrundlosen Befristung geht es bei der Sachgrundbefristung überwiegend
um Fälle, bei denen sich die Befristung aus den Umständen erklärt oder sonst wie einsichtig ist, ohne
das Beschäftigungsinteresse des AN zu verletzen. Ist der Sachgrund allerdings nur vorgespiegelt und
kann eine sachgrundlose Befristung nicht nachgeschoben werden (nachfolgend unter II. 2 c), ist die
darauf gestützte Befristung unzulässig, so dass der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit
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geschlossen gilt, sofern der AN die Entfristung gerichtlich feststellen lässt (§§ 16, 17 TzBfG; dazu
nachfolgend unter IV.).
►
§ 14 II TzBfG ermöglicht eine sachgrundlose Befristung, die im Fall der Ersteinstellung ohne Unterbrechung bis zur Dauer von zwei Jahren und jeweils nach Ablauf
von drei Jahren erneut bei demselben ArbG ohne Unterbrechung bis zur Dauer wieder von zwei Jahren möglich ist.
Die Möglichkeit, einen Arbeitsvertrag ohne besonderen Sachgrund zu befristen, widerspricht dem
Prinzip des Kündigungsschutzes. Sie entlastet jedoch zunächst einmal den Arbeitsmarkt. Außerdem
gibt sich der Gesetzgeber der Hoffnung hin, dass der dem ArbG mit der Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung des Arbeitsvertrags gebotene Anreiz, einen AN ohne Kündigungsprobleme im Regelfall bis zu zwei Jahren befristet einstellen zu können, dem AN die Chance eröffnet, dort anschließend unbefristet weiterbeschäftigt zu werden. Der Zeit sachgrundloser Befristung kommt dann praktisch der Charakter einer bis zu zwei Jahren ausgedehnten Probezeit zu.
Einen Sonderfall sachgrundloser Befristung enthält zum einen § 14 IIa TzBfG, nämlich die Ersteinstellung ohne Unterbrechung bis zur Dauer von vier Jahren bei Gründung des Unternehmens
(und jeweils nach Ablauf von drei Jahren erneut bei demselben ArbG ohne Unterbrechung bis zu dann
nur noch zwei Jahren); zum anderen § 14 III TzBfG, wonach die Befristung des Arbeitsvertrags bis
zur Dauer von fünf Jahren dann keines Sachgrundes bedarf, wenn der AN bei Beginn des befristeten
Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat und unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens vier Monate beschäftigungslos gewesen ist, Transferkurzarbeitergeld
bezogen oder an einer öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahme teilgenommen hat.
Hinweis: Im Wege der AN-Überlassung nach dem AÜG kann der Entleiher entliehene AN nach
Maßgabe der mit dem Verleiher getroffenen Überlassungsvereinbarung ohne Sachgrund beliebig befristet beschäftigen, denn er ist nicht ihr Vertragsarbeitgeber (unten § 43).
b) Die sachgrundlose Befristung kann nur kalendermäßig zum Ausdruck gebracht
werden, etwa mit den Worten „für die Zeit vom….bis zum…. So spricht auch § 14 II 1
TzBfG ausdrücklich von der „kalendermäßige(n) Befristung eines Arbeitsvertrages [vgl. §
3 I 2 TzBfG] ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes.“ Diese Form der Befristung wird
auch Zeitbefristung genannt. Sie führt dazu, dass der Arbeitsvertrag nach § 15 I TzBfG
mit dem Zeitablauf ohne weiteres endet.
c) Die Sachgrundbefristung ist durch den Zweck bestimmt, dem sie dient. So dient
z.B. die sachgrundbefristete Einstellung nach § 14 I Nr. 1 TzBfG dem Zweck, einen vorübergehenden Mehrbedarf an Arbeitskraft abzudecken und die sachgrundbefristete Einstellung nach § 14 I Nr. 2 TzBfG dem Zweck, den durch einen verhinderten AN entstehenden Arbeitsausfall auszugleichen. Man spricht von einer Zweckbefristung (vgl. § 3 I 2
TzBfG).
Der eine Sachgrundbefristung kennzeichnende Befristungszweck ist mit dem Eintritt eines bestimmten Ereignisses erreicht: in dem gewählten Beispiel mit dem Entfallen des
Mehrbedarfs oder mit der Rückkehr des verhinderten AN. Demzufolge bestimmt § 15 II
TzBfG, dass der zweckbefristete Arbeitsvertrag mit Zweckerreichung endet, zum Schutze
des AN vor Überraschung jedoch frühestens zwei Wochen nach dem Zugang der schriftlichen Unterrichtung des AN durch den ArbG über den Zeitpunkt der Zweckerreichung, bei
in Wahrheit späterer Zweckerreichung erst nach deren Eintritt.
Da der Zeitpunkt der Zweckerreichung im Regelfall nicht im Voraus feststeht, muss
die Befristungsvereinbarung den eine Sachgrundbefristung kennzeichnenden Befristungszweck durch eine möglichst genaue Bezeichnung des Ereignisses verdeutlichen, dessen
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Eintritt den sachlichen Grund für die Befristung entfallen lässt (siehe nachfolgend unter II.
2. b).
Ist der Eintritt des Ereignisses, das den sachlichen Grund für die Befristung entfallen lässt, zeitlich bestimmbar, besteht auch bei einer Sachgrundbefristung die Möglichkeit, sie nur zeitbefristet zu formulieren.
Die Benennung des dahinter stehenden Sachgrundes ist dann nicht erforderlich. Wichtig ist nur, dass er im
Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beweisbar vorgelegen hat. Andernfalls handelt es sich um eine sachgrundlose Befristung, die an der Überschreitung der Zeitgrenze des § 14 II 1 TzBfG oder am Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG scheitern könnte. Es kann allerdings sein, dass ein Tarifvertrag oder der Arbeitsvertrag die Angabe des Sachgrundes zwingend vorschreiben.
II. Die Sachgrundbefristung nach § 14 I TzBfG
1. Die gesetzlichen Befristungsgründe
Das Gesetz enthält keine Definition des sachlichen Grundes. Es konkretisiert diesen unbestimmten Rechtsbegriff dadurch, dass es acht Gründe nennt, die schon vor Inkrafttreten
des TzBfG durch die Rechtsprechung als befristungsgeeignete Situationen anerkannt waren. Durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ eröffnet das Gesetz die Möglichkeit, darüber hinaus weitere gleichermaßen plausible Gründe anzuerkennen, wie z.B. die
vorübergehende Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz, der ab einem bestimmten Termin
einer anderen Person schon verbindlich zugesagt ist (BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08 –
in NZA 2010, 495 ff.) oder die zeitlich begrenzte Beschäftigung zur Aus- und Weiterbildung in einem „Trainee-Programm“, dessen Zweck darin besteht, Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln, die durch die üblich Berufstätigkeit nicht erworben werden können
(BAG v. 22.4.2009 – 7 AZR 96/08 – in NZA 2009, 1099 ff.). Zu Altersgrenzen siehe unten
§ 28 I. 5.
► Zu Nr. 1. (vorübergehender betrieblicher Bedarf an der Arbeitsleistung): Dieser sehr allgemein formulierte Befristungsgrund birgt die Gefahr, dass ein Sachgrund
nur vorgespiegelt wird, weil eine sachgrundlose Befristung wegen des Vorbeschäftigungsverbots nach § 14 II 2 TzBfG nicht mehr zulässig ist und der AN darum unbefristet beschäftigt werden müsste. Deswegen muss der ArbG die den Sachgrund
kennzeichnende Tatsache eines nur vorübergehenden Beschäftigungsbedarfs des
AN im Arbeitsvertrag klar zum Ausdruck bringen. Es muss im Fall eines späteren Rechtsstreits über die Rechtswirksamkeit der Befristung nachvollziehbar deutlich
werden, dass bei objektiver Betrachtung der Verhältnisse im Zeitpunkt der Befristungsabrede die Prognose gerechtfertigt war, es werde für die Beschäftigung
des befristet eingestellten AN über das vorgesehene Vertragsende hinaus mit
hinreichender Sicherheit kein Bedarf bestehen. Die bloße Unsicherheit über die
weitere Entwicklung hingegen bildet keinen Sachgrund. Derlei gehört zum Wirtschafts- und Beschäftigungsrisiko des ArbG, das er nicht durch den Abschluss eines
befristeten Arbeitsvertrags auf den AN überwälzen darf (BAG v. 5.6.2002 – 7 AZR
241/01 – in NZA 2003, 150 unter I. 3. a).
Die Prognose bei der befristeten Einstellung zur Abarbeitung z.B. von „Auftragsspitzen“ oder eines
„Großauftrags“ muss durch konkrete Angaben darüber, dass weitere Auftragsspitzen oder Großaufträge in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sind, belegt werden können (BAG a.a.O.). Kann der ArbG
im Rechtsstreit über die Rechtswirksamkeit der Befristung nicht darlegen und beweisen, dass eine
solche Prognose aus damaliger Sicht begründet war, ist die Sachgrundbefristung nicht wirksam. Die
bloße Möglichkeit, dass nach Vertragsende kein Beschäftigungsbedarf mehr besteht, rechtfertigt eine
Befristung nicht. Ein sich kurzfristig anschließender Wiederholungsfall stellt die Richtigkeit der
Prognose in Frage.
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Es ist nicht erforderlich, dass der befristet eingestellte AN gerade mit der Tätigkeit
betraut wird, die den vorübergehenden Arbeitskräftemehrbedarf begründet. Der ArbG
kann die Aufgabenverteilung aus diesem Anlass vielmehr neu organisieren
(ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 23).
Sollte sich eine im Zeitpunkt der Befristungsabrede zulässige Prognose durch die
spätere Entwicklung nicht bestätigen, bleibt die Sachgrundbefristung wirksam. Der
AN hat nach Ablauf der Befristung auch keinen Wiedereinstellungsanspruch. Vgl. die
entsprechende Rechtslage im Kündigungsrecht (unten § 30 unter II. 4. c).
Typische Beispiele für einen ohne weiteres nachvollziehbar vorübergehenden Bedarf
sind die Saisonarbeit, das Messegeschäft, das Weihnachtsgeschäft, die Inventur sowie
Abwicklungsarbeiten im Hinblick auf eine bevorstehende Stilllegung des Betriebs.
Entfällt der Sachgrund während des Laufs des befristeten Arbeitsvertrages, bleibt die Befristung unverändert bestehen. Wurde die Befristungsdauer zu kurz bemessen, bleibt es dabei, wenn nur überhaupt der Befristungsgrund objektiv vorlag.
►
Zu Nr. 2. (Beschäftigung im Anschluss an eine Ausbildung oder ein Studium, um
den Übergang des AN in eine Anschlussbeschäftigung zu erleichtern): Die hierdurch vermittelte Berufserfahrung soll fertig Ausgebildete oder Studierte beim Zugang zum Arbeitsmarkt unterstützen.
Der Begriff der Ausbildung umfasst die Berufsausbildung nach §§ 1 I, III, 10 ff.
BBiG einschließlich der Anlernlinge, Volontäre und Praktikanten nach § 26 BBiG,
aber auch die berufliche Fortbildung und berufliche Umschulung im Sinne von § 1 IV
und V BBiG. Studium ist jede wissenschaftliche Ausbildung an einer Universität,
Fachhochschule oder vergleichbaren Einrichtung; und dies auch dann, wenn ein Studienabschluss am Ende nicht erreicht wurde.
Bis zum Beginn der befristeten Beschäftigung „im Anschluss an die Ausbildung oder
das Studium“ sollte nicht mehr als ein Jahr vergangen sein. Die Befristungsdauer, für
die das Gesetzt keine Höchstgrenze vorschreibt, geht im Regelfall über zwei Jahre
nicht hinaus. Der Arbeitgeber kann der ehemalige Ausbilder oder ein Dritter sein.
Wird der Ausgebildete unmittelbar im Anschluss an das Berufsausbildungsverhältnis
bei dem Ausbilder weiterbeschäftigt, „ohne dass hierüber ausdrücklich etwas vereinbart worden ist“, gilt nach § 24 BBiG ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit als
begründet.
Im Unterschied zu der in vielen dieser Fälle ebenso möglichen sachgrundlosen Befristung für zwei
Jahre nach § 14 II TzBfG ist die Sachgrundbefristung nach § 14 I Nr. 2 TzBfG gerade auch dann zulässig, wenn der AN bei dem ArbG vor dem Beginn seiner Ausbildung oder des Studiums oder während des Studiums in einem ordentlichen Arbeitsverhältnis, z.B. als Werkstudent (also nicht in einem
Ausbildungsverhältnis (dazu nachfolgend III. 3.) bereits einmal beschäftigt war und seither noch nicht
drei Jahre vergangen sind.
►
Zu Nr. 3. (Beschäftigung zur Vertretung eines anderen AN): Anlass ist das Ausfallen eines anderen AN, z.B. durch Krankheit, Urlaub, Mutterschutz, Elternzeit oder
Betriebsratstätigkeit. Der Vertreter muss allerdings nicht genau die Aufgaben übernehmen, die dem Vertretenen oblagen. Der ArbG kann vielmehr die Aufgaben aus
Anlass der befristeten Einstellung umverteilen. Wie in den Fällen der Nr. 1. ist aber
auch hier vom ArbG eine fundierte Prognose darüber zu fordern, dass der Vertre-
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tungsbedarf durch die zu erwartende Rückkehr des Vertretenen mit hinreichender
Sicherheit dann auch wirklich wegfällt. Eine Vertretung ohne konkreten Anlass nur
auf Vorrat und für alle Fälle ist daher kein wirksamer Befristungsgrund. Ausnahmsweise lässt die Rechtsprechung aber eine sog. Gesamtvertretung aufgrund des für ein
Schuljahr nach Erfahrungswerten prognostizierten Vertretungsbedarfs an Lehrpersonal eines Schulzweigs zu.
Kehrt der vertretene AN wider Erwarten nicht in den Betrieb zurück, ist davon auszugehen, dass
der durch die Zweckbefristung zum Ausdruck gebrachte Bedarf an der Arbeitsleistung der Ersatzkraft
durch das endgültige Ausscheiden des Vertretenen nicht entfällt. Daher könnte mit dem Vertreter
nunmehr ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entstanden sein. Soll eine solche Entwicklung vermieden
werden, empfiehlt sich eine Doppelbefristung durch die Verbindung der Zweckbefristung mit einer
zeitlichen Höchstbefristung, z.B. „für die Dauer der Erkrankung des Arbeitnehmers X, längstens jedoch bis zum…“. Voraussetzung ist nur, dass für beide Befristungsabreden von Anfang an ein sachlicher Grund vorliegt (BAG v. 29.6.2011 - 7 AZR 6/10 – in NZA 2011, 1346 ff.). In diesem Fall kann
der AN auch dann bis zum Datum der Höchstbefristung beschäftigt werden, wenn der Erkrankte früher in den Betrieb zurückkommt.
►
Zu Nr. 4. (Eigenart der Arbeitsleistung): Beispielsweise die befristete Beschäftigung eines Berufssportlers, Trainers, Musikers, Schauspielers, Sängers, aber auch
von Moderatoren, Kommentatoren, Regisseuren mit Rücksicht auf das Abwechslungsbedürfnisses des Publikums oder das Innovationsinteresses des ArbG.
►
Zu Nr. 5. (Erprobung): Die praktische Bedeutung des Sachgrundes der Befristung
dürfte gering sein. Sofern nicht das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG
entgegensteht, wird der ArbG das neue Arbeitsverhältnis im Regelfall sachgrundlos
befristet beginnen.
Der den Sachgrund kennzeichnende Erprobungszweck rechtfertigt die Befristung nur für einen angemessenen Zeitraum. Normalerweise gilt eine Befristungsdauer von sechs Monaten. Bei der Ausübung künstlerischer oder wissenschaftlicher Tätigkeiten kann sie darüber hinausgehen, bei einem
Lehrer etwa ein Schuljahr umfassen. Im Übrigen kann eine sachgrundbefristete Probezeit nur dort gerechtfertigt sein, wo der ArbG im Fall der Bewährung des AN ein auf Dauer gerichtetes und darum
unbefristetes Beschäftigungsverhältnis anstrebt oder eine sachgrundbefristete Beschäftigung in einem
langfristigen Projekts in Betracht kommt. Denn an ein sachgrundbefristetes Probearbeitsverhältnis
kann sich wegen des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 II 2 TzBfG ein nach § 14 II 1 TzBfG sachgrundlos befristetes Arbeitsverhältnis nicht anschließen. Der ArbG, der den AN nach bestandener Probezeit sachgrundlos befristet weiterbeschäftigen will, muss darum schon die Probezeit als sachgrundlos befristetes Teilstück eines nach § 14 II 1 TzBfG auf maximal 2 Jahre verlängerbaren sachgrundlos
befristeten Arbeitsverhältnisses vereinbaren.
►
Zu Nr. 6 (Gründe in der Person des AN): Z.B. die Beschäftigung zur Überbrückung bis zum Beginn des Studiums oder als Werkstudent während der vorlesungsfreien Zeit.
►
Zu Nr. 7 (Vergütung aus Haushaltsmitteln): Es handelt sich um einen Sondertatbestand des öffentlichen Dienstes, der auf privatrechtlich organisierte ArbG keine
Anwendung findet.
►
Zu Nr. 8 (Gerichtlicher Vergleich): Demgegenüber sind außergerichtliche Vergleiche nicht schon als solche sachlich gerechtfertigt, sondern bedürfen eines außerhalb ihrer selbst liegenden Sachgrundes.
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2. Die Rechtsfolgen einer unwirksamen Sachgrundbefristung
Die Sachgrundbefristung eines Arbeitsvertrags ist nur „zulässig“ und damit wirksam

bei Vorliegen eines tragfähigen Sachgrundes nach Maßgabe des § 14 I TzBfG

und bei Beachtung des Schriftformerfordernisses des § 14 IV TzBfG.
a) Fehlt es an einem tragfähigen Sachgrund, ist die Befristung, einerlei, ob sie als
Zweckbefristung oder als Zeitbefristung formuliert worden ist, nach § 14 I TzBfG nicht
„zulässig“, sondern rechtsunwirksam mit der Folge, dass nach § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG
der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt.
In diesem Fall kann der Arbeitsvertrag vom ArbG nach § 16 S. 1 Halbs. 2 TzBfG frühestens zum (unwirksam) vereinbarten Ende ordentlich gekündigt werden, sofern nicht
nach § 15 III TzBfG die ordentliche Kündigung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist.
Allerdings besteht für den AN unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz.
Zur Möglichkeit, eine unzulässige Sachgrundbefristung als sachgrundlose Befristung zu behandeln, siehe
nachfolgend unter c).
b) Das Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG ergreift nicht den ganzen Arbeitsvertrag. Ihm unterliegt nur die Befristungsvereinbarung. Erforderlich ist auf jeden Fall, dass
der Befristungszweck durch die möglichst genaue Bezeichnung des Ereignisses, dessen
Eintritt den sachlichen Grund für die Befristung entfallen lässt, konkretisiert wird (siehe
vorstehend unter I. 2. c). Kann die Sachgrundbefristung kalendermäßig formuliert werden,
reicht eine schriftliche Vereinbarung über den Endtermin.
Tritt der AN seine Arbeit ohne schriftliche Befristungsabrede an, ist die Befristung nach
§ 14 IV TzBfG – ebenso wie beim Fehlen eines tragfähigen Sachgrundes – unwirksam mit
der Folge, dass nach § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt.
Auch die an eine vorhergehende Sachgrundbefristung sich nahtlos anschließende weitere Sachgrundbefristung bedarf erneut der Schriftform! Haben die Vertragsparteien eine Befristung des Arbeitsvertrags vor
Arbeitsantritt nur mündlich vereinbart und halten sie diese Befristungsabrede erst später schriftlich fest, bleibt
sie unwirksam.
Ist die Befristung nur wegen des Mangels der Schriftform unwirksam, kann der Arbeitsvertrag entgegen § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG von beiden Vertragsparteien nach § 16
Satz. 2 TzBfG bereits vor dem (unwirksam) vereinbarten Ende ordentlich gekündigt
werden. Auch hier besteht für den AN unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG
Kündigungsschutz.
c) Sofern der angegebene Sachgrund die Befristung nicht rechtfertigt, ist es im Grundsatz möglich, dass der
ArbG einen anderen Sachgrund, der sich als tragfähig erweist, nachschiebt (HWK/Schmalenberg § 14 Rn.
140). Auch kann sich der ArbG stattdessen auf eine sachgrundlose Befristung nach § 14 II TzBfG berufen,
wenn deren gesetzliche Voraussetzungen bei Vertragsschluss vorlagen. Das setzt aber mindestens voraus,
dass dem vereinbarten Befristungsgrund zugleich ein kalendermäßig bestimmter Endtermin zu entnehmen ist;
denn eine sachgrundlose Befristung kann nur kalendermäßig zum Ausdruck gebracht werden. Für beide Möglichkeiten ist jedoch dann kein Raum, wenn der Arbeitsvertrag erkennen lässt, dass für die Befristung ein
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ganz bestimmter Sachgrund ausschließlich maßgebend sein sollte. Dann nämlich gelten sämtliche Alternativen als abbedungen (vgl. BAG v. 5.6.2002 in NZA 2003, 149 ff.; BAG v. 4.12.2002 in NZA 2003, 916 ff.).
Dem Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG kann auch dann genügt sein, wenn die Sachgrundbefristung
in der Form der Zeitbefristung, also kalendermäßig, formuliert wurde (vorstehend I. 2. c). Dennoch bleibt
das Vorliegen eines tragfähigen Sachgrundes materiell-rechtlich Voraussetzung für die Wirksamkeit einer
Befristung nach § 14 I TzBfG. Im Streitfall hat der ArbG daher zu beweisen, dass die Zeitbefristung durch
einen sachlichen Grund nach Maßgabe des § 14 I TzBfG gerechtfertigt war. Sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für eine sachgrundlose Befristung nach § 14 II TzBfG bei Vertragsschluss vorlagen, kann die Befristung aber auch als eine sachgrundlose gerechtfertigt werden.
III. Die sachgrundlose Befristung nach § 14 II TzBfG
1. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen im Überblick
Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen
Grundes ist im Fall des § 14 II TzBfG nur „zulässig“ und damit wirksam
 bei einer Befristung bis zur Höchstgrenze von 2 Jahren nach Maßgabe des § 14 II 1
TzBfG (nachfolgend unter a)
 unter Beachtung des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 II 2 TzBfG (nachfolgend unter b),
 sofern das Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG erfüllt ist (nachfolgend unter c)
2. Die Befristungshöchstdauer
Die Befristungshöchstdauer von 2 Jahren kann nach § 14 II 1 Halbs. 2 TzBfG auch
durch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kürzerfristigen Arbeitsvertrags
ausgeschöpft werden, also durch insgesamt vier nahtlos aneinander gereihte = ununterbrochen auf einander folgende Verträge. Die jeweilige Verlängerung muss darum noch
während der Laufzeit des Vertrags schriftlich vereinbart werden, andernfalls liegt ein
Neuabschluss vor, der die Anwendung des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 II 2 TzBfG
auslöst (BAG v. 26.7.2000 – 7 AZR 51/99 – in NZA 2001, 546 ff.). Eine Verlängerung im
Sinne des § 14 II 1 Halbs. 2 TzBfG ist auch dann zu verneinen, wenn die bisherigen Vertragsbedingungen aus Anlass der Verlängerung verändert werden. Es ist jedoch unschädlich, wenn die Veränderung während der Laufzeit eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrages mit deutlichem Abstand zum Verlängerungszeitpunkt erfolgt.
Nach § 14 II 3 TzBfG kann durch Tarifvertrag die Anzahl der Verlängerungen sowie (nicht „oder“!) die
Höchstdauer der Befristung abweichend von § 14 II 1 TzBfG festgelegt werden, auch zu Ungunsten des AN
(tarifdispositives Gesetzesrecht). Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können nach § 14 II 4
TzBfG nicht tarifgebundene ArbG und AN die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren.
Wird unter Verstoß gegen das Höchstbefristungsgebot eine den Zeitrahmen von 2 Jahren
überschreitende sachgrundlose Befristung vereinbart, ist sie nach § 14 II 1 TzBfG nicht
„zulässig“, sondern rechtsunwirksam mit der Folge, dass nach § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG
der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. In diesem Fall kann
er vom ArbG nach § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG frühestens zum (unwirksam) vereinbarten
Ende ordentlich gekündigt werden, sofern nicht nach § 15 III TzBfG die ordentliche Kün-
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digung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist. Allerdings kann unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz bestehen.
3. Das Vorbeschäftigungsverbot
Für die Vereinbarung einer sachgrundlosen Befristung gilt ferner das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG, wonach eine sachgrundlose Befristung nicht zulässig ist, wenn
mit demselben ArbG bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat, selbst wenn damals die Höchstzeit für eine sachgrundlose Befristung noch
nicht ausgeschöpft war oder es sich um eine Sachgrundbefristung gehandelt hat. Es sollen
dadurch Befristungsketten insbesondere durch einen Wechsel zwischen Befristung mit
und ohne Sachgrund verhindert werden. Damit dieses Verbot aber nicht zu einem dauernden Einstellungshindernis wird, hat das BAG v. 7.4.2011 – 7 AZR 716/09 – in NZA 2011,
905 ff. entschieden, dass eine „Zuvor-Beschäftigung“ nicht mehr vorliegt, wenn das
frühere Arbeitsverhältnis länger als 3 Jahre zurückliegt. In diesen Fällen besteht nach
Auffassung des BAG regelmäßig nicht mehr die Gefahr missbräuchlicher Befristungsketten.
An die sachgrundlose Befristung anschließende Sachgrundbefristungen sind hingegen
stets zulässig.
ArbG im Sinne des § 14 II 2 TzBfG ist der Vertragsarbeitgeber. Das ist diejenige natürliche oder juristische Person, die mit dem AN den Arbeitsvertrag geschlossen hat. Ein vorhergehendes Arbeitsverhältnis hat also nur dann mit demselben ArbG bestanden, wenn
Vertragspartner des AN in beiden Fällen dieselbe natürliche oder juristische Person ist.
Sind beide ArbG nicht personengleich, sondern z.B. lediglich als Tochtergesellschaften einer Konzernmutter miteinander verbunden, findet das Vorbeschäftigungsverbot keine Anwendung.
§ 14 II 2 TzBfG verbietet es darum nicht, im Anschluss an einen für die Dauer von zwei Jahren sachgrundlos
befristeten Arbeitsvertrag mit der Konzerntochter A einen weiteren sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag
mit der Konzerntochter B für 2 Jahre abzuschließen. Ist die B jedoch als Leih-ArbG tätig und verleiht sie den
ehemaligen AN der A an die A, wo er seine Arbeit nun als Leih-AN der B fortsetzt, liegt in dem Wechsel des
Arbeitsverhältnisses ein gegen § 242 BGB verstoßendes rechtsmissbräuchliches Ausnutzen gesetzlicher
Gestaltungsformen, der das Vorbeschäftigungsverbot verletzt (KR-Lipke, § 14 TzBfG Rn. 428 ff. m.w.N.;
anderer Ansicht noch das BAG in seinem Urteil vom 18.10.2006 - 7 AZR 145/06 - in NZA 2007, 443; einlenkend jetzt das Urteil des BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 657/09 – in NZA 2011, 1147 ff.).
Ein früheres Ausbildungsverhältnis bei demselben ArbG steht einer sachgrundlosen Befristung allerdings nicht entgegen. Das gleiche gilt für berufsbezogene Praktika und für eine Beschäftigung im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres. Bei erlaubter ANÜberlassung besteht der Arbeitsvertrag zwischen dem AN und dem Verleiher, nicht zum
Entleiher, weswegen keine Vorbeschäftigung bei letzterem vorliegt.
Verstößt die Befristung gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG, ist sie
nicht „zulässig“, sondern rechtsunwirksam mit der Folge, dass nach § 16 Satz 1 Halbs. 1
TzBfG der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. In diesem
Fall kann er vom ArbG nach § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG frühestens zum (unwirksam)
vereinbarten Ende ordentlich gekündigt werden, sofern nicht nach § 15 III TzBfG die ordentliche Kündigung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist. Auch hier kann unter den
Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz bestehen.
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4. Das Schriftformerfordernis
des § 14 IV TzBfG siehe schon oben II. 2. b).
Beachte: Auch bei im Rahmen der Befristungshöchstdauer (nahtlos) aneinander gereihten
kürzerfristigen Arbeitsverträgen bedarf jede der Befristungsabreden der vorherigen Schriftform!
5. Sollte die Zulässigkeit einer sachgrundlosen Befristung an einem Verstoß gegen das Höchstbefristungsgebot des § 14 II 1 TzBfG scheitern und/oder gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG verstoßen, bleibt dem ArbG im Grundsatz die Möglichkeit, sich auf eine Sachgrundbefristung zu berufen, sofern im
Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ein tragfähiger Sachgrund vorgelegen hat, der in den kalendermäßig benannten Zeitrahmen hineinpasst.
IV. Die sachgrundlose Befristung nach § 14 IIa TzBfG
Die Regelung des § 14 IIa TzBfG soll Existenzgründer privilegieren, nach Satz 2 dieses
Absatzes aber nicht Neugründungen im Zusammenhang mit der rechtlichen Umstrukturierung von Unternehmen und Konzernen. Bis zu der Gesamtdauer von vier Jahren ist die
mehrfache nahtlose Verlängerung ohne zahlenmäßige Begrenzung statthaft. Nach vier Jahren gilt auch hier das Anschlussverbot des § 14 II 2 TzBfG.
V Die sachgrundlose Befristung nach § 14 III TzBfG
Wegen der überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit älterer AN lässt § 14 III TzBfG die
Befristung von Arbeitsverträgen mit AN, die das 52. Lebensjahr vollendet haben und unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens 4 Monate beschäftigungslos gewesen sind sowie Transferkurzarbeitergeld (§ 216 b SGB III) bezogen oder an
einer öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahme teilgenommen haben, ohne sachlichen Grund bis zur Dauer von fünf Jahren zu.
VI. Die Entfristungsklage
1. Ist die Befristung nach § 14 I TzBfG oder § 14 II TzBfG oder die auflösende Bedingung
nach § 21 TzBfG unwirksam, fingiert § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG das Bestehen eines auf
unbestimmte Zeit geschlossenen Arbeitsvertrags, dessen Beendigung im Wege der ordentlichen Kündigung nach Maßgabe des § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG, ggf. des § 16 Satz 2
TzBfG herbeigeführt werden kann. § 16 TzBfG erfasst alle Unwirksamkeitsgründe:
 das Fehlen eines tragfähigen Sachgrundes in den Fällen des § 14 I TzBfG,
 das Überschreiten der Befristungshöchstdauer des § 14 II 1 TzBfG und des § 14 IIa
TzBfG,
 den Verstoß gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG,
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 die Nichterfüllung der sachlichen Voraussetzungen der §§ 14 IIa 1 bis 3 und 14 III 1
TzBfG hat, sowie
 den Mangel der Schriftform des § 14 IV TzBfG.
2. Nach § 17 TzBfG muss der AN die Unwirksamkeit der Befristungsabrede innerhalb
von 3 Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags gerichtlich
geltend machen, wobei die §§ 5 bis 7 KSchG entsprechend gelten. Versäumt der AN die
Klagefrist und wird die verspätete Klage nicht entsprechend § 5 KSchG zugelassen, gilt
entsprechend § 7 KSchG jeder Unwirksamkeitsgrund als rückwirkend geheilt. Geht im Fall
des § 15 II TzBfG die schriftliche Unterrichtung des AN durch den ArbG dem AN so spät
zu, dass die Zwei-Wochen-Frist erst nach der Zweckerreichung (oder dem Eintritt der auflösenden Bedingung) endet, darf die Klagefrist aber erst am Tage nach dem Zugang der
Mitteilung beginnen (HWK/Schmalenberg § 17 Rn. 5).
V. Stillschweigende Verlängerung
Wird das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Zeit, für die es eingegangen ist, oder nach
Zweckerreichung mit Wissen des ArbG fortgesetzt, gilt es (ähnlich § 625 BGB) nach § 15
V TzBfG als auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn der ArbG nicht unverzüglich widerspricht oder die bislang ausgebliebene Mitteilung über die Zweckerreichung unverzüglich
nachholt. War die Unterrichtung nach § 15 II TzBfG erfolgt, das Arbeitsverhältnis aber
trotzdem über die in diesem Fall maßgebende Zwei-Wochen-Frist hinaus fortgesetzt worden, sollte der ArbG unverzüglich ein weiteres Mal die Zweckerreichung mitteilen.
VI. Besondere Befristungsregelungen enthalten
das Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit Ärzten in der Weiterbildung (ÄrzteBefrG)
und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG).
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§ 14 Das Probearbeitsverhältnis
I. Zweck und Dauer der Probezeit
Das Arbeitsverhältnis beginnt im Regelfall mit einer Probezeit. Sie dient dem ArbG wie
dem AN dazu, sich über die Arbeitsstelle und den Vertragspartner ein Bild machen und
ggf. schnell wieder voneinander trennen zu können.
Das Probearbeitsverhältnis steht dem normalen Arbeitsverhältnis im Grundsatz gleich,
kann aber während der Probezeit ordentlich gekündigt werden,
 das unbefristete Probearbeitsverhältnis (nachfolgend unter II. 1.) kraft Gesetzes
nach § 622 III BGB mit einer Frist von zwei Wochen; auf Grund einzelvertraglicher Vereinbarung nach § 622 V 3 BGB mit einer längeren Frist; durch Tarifvertrag nach § 622 IV BGB mit einer kürzeren oder längeren Frist (tarifdispositives
Gesetzesrecht),
 das befristete Probearbeitsverhältnis (nachfolgend unter II. 2.) nach Maßgabe einer nach § 15 III TzBfG einzelvertraglich oder in einem anwendbaren Tarifvertrag getroffenen Vereinbarung.
Die Probezeit kann aber auch als eine feste Mindestvertragsdauer vereinbart werden.
Eine außerordentliche (fristlose) Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 626 BGB ist
jederzeit möglich.
Die Probezeit beträgt üblicherweise sechs Monate, was im Hinblick auf den nach §§ 1 I,
23 I KSchG danach einsetzenden Kündigungsschutz sinnvoll ist. Eine in begründeten
Ausnahmefällen längere Probezeit, z.B. im Fall eines Orchestermusikers, muss darum als
sachgrund- (oder sachgrundlos) befristetes Arbeitsverhältnis vereinbart werden. Eine
kürzere Probezeit ist ohne weiteres möglich.
§ 20 BBiG sieht eine gesetzliche Probezeit von mindestens einem Monat und höchstens vier Monaten vor.
II. Gestaltungsmöglichkeiten der Probezeit
1. Zum einen kann im Rahmen eines (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsverhältnisses
vereinbart werden, dass dessen Anfangszeit eine Probezeit ist. Wird in dieser Zeit weder
durch den ArbG noch durch den AN eine Kündigung ausgesprochen, setzt sich das Arbeitsverhältnis ohne weiteres (unbefristet oder befristet) fort.
2. Zum anderen kann dem (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsverhältnis ein sachgrundbefristetes Probearbeitsverhältnis gemäß § 14 I Nr. 5 TzBfG vorgeschaltet
werden. Es endet ohne weiteres mit dem Ablauf der vereinbarten Frist, ohne dass es einer
Kündigung bedarf.
Die Fortführung des Arbeitsverhältnisses über die sachgrundbefristete Probezeit hinaus
bedarf des ausdrücklichen Abschlusses eines (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsvertrags. Die stillschweigende Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nach § 625 BGB führt
mangels Schriftform (§ 14 IV, 16 TzBfG) zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag.
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Beachte: Soll der nachgeschaltete Arbeitsvertrag nach § 14 II 1 TzBfG sachgrundlos befristet sein,
muss die befristete Probezeit zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14
II 2 TzBfG als der erste Teilabschnitt einer nach § 14 II 1 TzBfG bis zu zwei Jahren (nach § 14 IIa TzBfG
bis zu vier Jahren, nach § 14 III TzBfG bis zu fünf Jahren) möglichen Zeit sachgrundloser Befristung behandelt werden. Bei nicht bestandener Probe wird der befristete Arbeitsvertrag einfach nicht verlängert. Bei
bestandener Probe muss die sachgrundlos befristete Vertragsverlängerung schon kurz vor dem Auslaufen
der Probezeit vereinbart werden, damit ein nahtloser Anschluss gewährleistet ist (oben § 13 II.).
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§ 15 Die Pflichten des AN
(Zu den Rechtsfolgen ihrer Nicht- oder Schlechterfüllung im Einzelnen siehe unten §§ 17
bis 27)
Übersicht über die Gliederung dieses Abschnitts
Unter I. 1. wird die Haupt(leistungs)pflicht des AN, nämlich die ihm arbeitsvertraglich obliegende
Arbeitsleistung zu erbringen, behandelt. Dabei wird unter I. 2. darauf hingewiesen, dass der AN seine
Arbeitspflicht nicht auf andere delegieren kann. Da die Arbeitszeit ein ganz wesentlicher Bestandteil
der Arbeitspflicht ist, wird sie gleich nachfolgend unter I. 3. behandelt.
Unter II. schließt sich als besonderes Schwergewicht der Arbeitspflicht des AN das Weisungsrecht des
ArbG an. Nach grundsätzlichen Ausführungen über den Umfang und die Grenzen des Weisungsrechts
unter besonderer Berücksichtigung des Rechts des ArbG, Versetzungen anzuordnen (unter II. 1. bis 5.),
werden sodann – unter gelegentlichem Rückgriff auf die grundsätzlichen Ausführungen – die Teilbereiche des Weisungsrechts, nämlich Weisungen bezüglich Art und Inhalt der Arbeitsleitung (unter II. 6.),
bezüglich des Ortes der Arbeitsleistung (unter II. 7.) und der Arbeitszeit (unter II. 8.) angesprochen sowie (unter II. 9.) arbeitgeberseitige Verhaltensvorschriften und Kontrollmaßnahmen behandelt. Die
Ausführungen unter II. 10. sind der Behandlung unzweckmäßiger und rechtswidriger Weisungen gewidmet.
Unter III. geht es um die Verlängerung oder Verkürzung der Pflicht des AN zur Arbeitsleistung durch
die Anordnung von Überstunden oder von Kurzarbeit. Eine ähnliche Beschäftigungsmöglichkeit bietet
die unter IV. behandelte Arbeit auf Abruf im Vollzeitarbeitsverhältnis.
Unter V. 1. bis 3. werden die Nebenpflichten des AN behandelt: Der Schutz von Leben und Gesundheit
des AN (unter V. 1.); der Schutz von Besitz und Eigentum des AN (unter V. 2.); der Persönlichkeitsschutz des AN (unter V. 3.); die Pflicht zur Zeugniserteilung (unter V. 4.).
I. Die Arbeitspflicht
1. Rechtsquellen der Arbeitspflicht
Die Arbeitspflicht ist die Hauptleistungspflicht des AN. Rechtsgrundlage ist der Arbeitsvertrag (Tätigkeitsbeschreibung) i.V.m. § 611 BGB, der für das Arbeitsrecht so
zu verstehen ist, dass der AN sich zu Leistung unselbständiger Dienste verpflichtet hat
(oben § 1 II.). Hieraus folgt die besondere Bedeutung des Weisungsrechts des ArbG als
ein Instrument des ArbG zur situationsgerechten Konkretisierung der Arbeitspflicht
(oben § 2 I. 2. und nachfolgend unter II.).
Im Fall erlaubter AN-Überlassung ist die Arbeitspflicht des Leih-AN aufgespalten. Dem Verleiher
gegenüber schuldet er als dessen AN die Leistung von Arbeit im Betrieb des Entleihers mit der Maßgabe,
dass auch der Entleiher als der hieraus Begünstigte berechtigt ist, vom Leih-AN die Arbeitsleistung zu
fordern und Weisungen zu erteilen (unten § 43).
2. Die Unübertragbarkeit der Arbeitspflicht
Die Arbeitspflicht versteht sich als höchstpersönliche Leistungspflicht, so dass z.B.
der angestellte Fahrer, dem für sechs Monate die Fahrerlaubnis entzogen wurde, seinem
ArbG nicht an seiner Stelle einen guten Freund zur Überbrückung aufnötigen kann. §
613 S. 1 BGB gilt im Arbeitsrecht nicht nur „im Zweifel“, sondern ausnahmslos.
Akzeptiert der ArbG den anderen als Aushilfskraft, hat er mit ihm schon bei nur mündlichem Einverständnis einen Arbeitsvertrag auf unbestimmte Dauer geschlossen. Ein für die Dauer lediglich der Überbrückung sachgrundbefristeter Arbeitsvertrag erfordert demgegenüber noch vor Arbeitsantritt eine
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schriftliche Befristungsabrede (oben § 13 I. 1.). Den als Fahrer ausfallenden AN kann u.U. eine Kündigung treffen.
Der Bestimmung des § 613 S. 1 BGB entspricht die grundsätzliche Unübertragbarkeit
des Anspruchs auf die Arbeitsleistung auf einen anderen Arbeitgeber nach § 613 S. 2
BGB. Eine Ausnahme bildet der Fall des Betriebsübergangs nach § 613a BGB (unten §
42).
3. Die Arbeitszeit
a) Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ist ein Arbeitsschutzgesetz, das zur Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheit des AN die Höchstgrenzen dafür festlegt, an
welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten unter welchen Voraussetzungen wie lange
gearbeitet werden darf. Es gilt nicht für leitende Angestellte (§ 18 I Nr. 1 ArbZG;
zum Begriff des leitenden Angestellten siehe § 5 III BetrVG). Arbeitszeiten bei mehreren ArbG sind nach § 2 I 1 ArbZG zusammenzurechnen. Zu den Besonderheiten der
Abrufarbeit siehe § 12 TzBfG (oben § 12 III. sowie nachfolgend unter IV.) Die gesetzliche Regelung des Ladenschlusses fällt in die Kompetenz der einzelnen Bundesländer (Übersicht dazu unter Nr. 55 der Textsammlung „Arbeitsgesetze“, Beck-Texte
im dtv).
Die tatsächlichen arbeitsvertraglichen Arbeitszeiten schöpfen die arbeitsschutzrechtlichen Grenzen
des ArbZG oft nicht aus. Aber auch dort, wo sie sie überschreiten, muss es sich nicht notwendig um einen Verstoß gegen das ArbZG handeln; denn nicht alle Zeiten, die arbeitsvertraglich als Arbeitszeit gelten, sind zugleich Arbeitszeit im Sinne des ArbZG. Da das ArbZG ausschließlich dem Schutz des AN
vor Gefahren für seine Sicherheit und Gesundheit dient, gehören z.B. Umkleide- und Waschzeiten grundsätzlich nicht zur Arbeitszeit im Sinne des ArbZG; denn bei dieser Verrichtung drohen dem AN auch
nach dem Ausschöpfen der Höchstarbeitsgrenzen keine Gefahren, denen durch Einbeziehung in die gesetzliche Arbeitszeit vorzubeugen wäre (BAG v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99 – in NZA 2001, 458).
Dennoch gelten diese und ähnliche Zeiten nach dem Arbeitsvertrag, aufgrund einer Betriebsvereinbarung oder eines anwendbaren Tarifvertrages häufig als vergütungspflichtige Arbeitszeiten, insbesondere wenn es sich um Dienst- und Sicherheitskleidung handelt, die im Betrieb deponiert wird oder um deren arbeitsbedingt starke Verschmutzung.
Vereinbarungen, die gegen die Vorschriften des ArbZG verstoßen, sind nach § 134
BGB nichtig. Diesbezüglichen Weisungen des ArbG muss der AN nicht Folge leisten.
Arbeitet er trotzdem, behält er aber seinen Entgeltanspruch.
Als Arbeitszeit im Sinne des ArbZG
nach ihrer Dauer un
nach seinem § 2 I 1 die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit. Mit Ausnahme im Bergbau unter
Tage gehören die Ruhepausen (§ 4 ArbZG) hiernach nicht zur gesetzlichen Arbeitszeit. Nicht dazu zählt
ferner die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte; ein hierbei auftretende Wegeunfall ist nach § 8 II
Nr. 1 SGB VII allerdings als Arbeitsunfall versichert. Die gesetzliche Arbeitszeit beginnt mit der Arbeitsaufnahme bzw. dem Bereithalten des AN zur Arbeit. Vor- und Nacharbeiten, wie die Materialbeschaffung und das Säubern des Arbeitsplatzes, gehören zur Arbeitszeit. Reisezeiten sind Arbeitszeit im
Sinne des ArbZG, wenn der AN währenddessen z.B. Büroarbeit verrichtet, etwa am Computer arbeitet,
Unterlagen studiert, dienstliche E-Mails liest und sendet, mit Kunden oder seinem Betrieb telefoniert,
Terminsvorbereitungen trifft u.Ä. Die Belastung, die für den AN davon ausgeht, dass der ArbG vom ihm
das Führen eines Kfz verlangt, steht arbeitsschutzrechtlich der Arbeitsleistung während der Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel gleich. Für einen Außendienstmitarbeiter ist die Reisetätigkeit Arbeitszeit. Das gilt erst recht für die Beschäftigung im Transportwesen. Ansonsten ist die Reisezeit im Rahmen
des ArbZG als Arbeitsbereitschaft (siehe nachfolgend unter b) (1)) zu behandeln, deren zeitliche Grenzen
nach § 7 IIa oder § 7 I Nr. 1 und Nr. 4 ArbZG erweitert werden können (siehe nachfolgend unter c) (3)).
Die Tätigkeit, die arbeitsschutzrechtlich als Arbeitszeit gilt, ist vergütungspflichtig.
Darüber hinaus können in einem Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem
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anwendbaren Tarifvertrag auch andere Zeiten als vertraglich geschuldete Arbeitszeit
definiert und vergütet werden. Gerade in Ansehung von Reisezeiten des AN werden oft
besondere Regelungen vereinbart.
b) Die Zeit der Arbeitsbereitschaft und des Bereitschaftsdienstes zählen zur Arbeitszeit, nicht hingegen die Zeit der Rufbereitschaft.
(1) Die Arbeitsbereitschaft bedarf keiner besonderen Vereinbarung, sondern ergibt sich aus der Natur
der Beschäftigung. Sie liegt vor, wenn der AN während seiner Arbeitszeit nicht durchweg beschäftigt ist,
sondern am Arbeitsplatz darauf wartet, gefordert zu werden. Diese Situation ist typisch für den (angestellten) Taxifahrer, der auf Kundschaft wartet. Gleiches gilt für Verkaufspersonal, sofern es nicht außerhalb der Kundenbetreuung mit anderen Aufgaben betraut ist und für den Kraftfahrer, der während der
Be- und Endladezeiten untätig ist. Wachpersonal, das vom Wachraum aus Zugänge und Räume über
Bildschirm kontrolliert, leistet Vollarbeit. Der Pförtner hingegen, der das verschlossene Werktor nur auf
ein Signal hin zu öffnen hat, leistet Arbeitsbereitschaft (Küttner/Reinecke, Personalbuch 2010 Arbeitsbereitschaft, Rn. 2).
Auch die Zeit der bloßen Arbeitsbereitschaft ist vergütungspflichtig. Angesichts der geringeren Belastung des AN kann sie aber geringer bezahlt werden, regelmäßig als Pauschale unter Berücksichtigung
des erfahrungsgemäß anfallenden Umfangs an Vollarbeit. Außerdem kann die werktägliche Arbeitszeit
unter den Voraussetzungen des § 7 ArbZG verlängert werden (nachfolgend unter c) (3)).
(2) Bereitschaftsdienst leistet der AN, der sich außerhalb der Vollarbeit an einer vom ArbG bestimmten Stelle aufzuhalten hat, um seine Arbeit nach Aufforderung unverzüglich aufzunehmen. Auch diese
Art des Einsatzes folgt weitgehend aus berufsspezifischer Notwendigkeit, doch bedarf die Verpflichtung
des AN zur Leistung von Bereitschaftsdienst stets der Grundlage eines Arbeits- oder Tarifvertrages
bei Mitbestimmung des Betriebsrates gemäß § 87 I Nr. 2 BetrVG. Schulbeispiel ist der krankenhausärztliche Bereitschaftsdienst.
Die Zeit des Bereitschaftsdienstes wird nach der Vergütung und der Möglichkeit zur Verlängerung der
Arbeitszeit im Grundsatz wie die Zeit der Arbeitsbereitschaft behandelt (vorstehend unter (1)).
(3) Rufbereitschaft leistet der AN, der sich außerhalb der Vollarbeit an einem Ort seiner Wahl aufhalten kann mit der Einschränkung, dort über „Piepser“ oder „Handy“ erreichbar zu sein, um sich nach
Aufforderung zur alsbaldigen Arbeitsaufnahme einfinden zu können. Wie der Bereitschaftsdienst, so bedarf auch die Verpflichtung des AN zur Rufbereitschaft der Grundlage in einem Arbeits- oder Tarifvertrag bei Mitbestimmung des Betriebsrates gemäß § 87 I Nr. 2 BetrVG.
Die Zeit der Rufbereitschaft ist keine Arbeitszeit, sondern Ruhezeit im Sinne von § 5 ArbZG. Sie ist
aber als besondere Leistung des AN zu vergüten. Da sie den AN am geringsten belastet, wird sie geringer vergütet als die Zeit der Arbeitsbereitschaft oder des Bereitschaftsdienstes; auch hier im Regelfall
durch eine Pauschale.
c) Das ArbZG enthält für die Lage und die Dauer der Arbeitszeit im Wesentlichen
folgende Festlegungen:
(1) Im Grundsatz darf nach § 3 Satz 1 ArbZG die werktägliche Arbeitszeit des AN 8 Stunden nicht
überschreiten. Dabei geht das ArbZG von der 6-Tage-Woche aus und somit von 48 Wochenstunden: Der
Samstag ist ein Werktag! Das bedeutet aber nicht, dass in Fällen der häufig anzutreffenden 5-TageWoche eine tägliche Arbeitszeit von 9,6 Stunden ohne weiteres zulässig wäre. Denn „die werktägliche
Arbeitszeit“ in § 3 Satz 1 ArbZG ist die Arbeitszeit an jedem Werktag, einerlei an wie viel Werktagen
einer Woche gearbeitet wird. Allerdings lässt § 3 Satz 2 ArbZG eine Verlängerung der werktäglichen
Arbeitszeit auf bis zu 10 Stunden zu. Dies aber nur unter der Voraussetzung, dass innerhalb von 6 Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Das
sind 1152 Stunden (6 Tage mal 8 Stunden mal 24 Wochen). Hiernach wäre es z.B. zulässig, dass ein AN
19 Wochen lang hintereinander 60 Stunden pro Woche (10 Stunden mal 6 Werktage) arbeitet und anschließend bis zum Ablauf der 24. Woche 5 Wochen lang keine Arbeit verrichtet (RGKU/Kock Rn. 4.1
zu § 3 ArbZG).
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(2) Nach §§ 4, 5 ArbZG sind Ruhepausen und Ruhezeiten einzuhalten. § 6 ArbZG enthält besondere
Schutzbestimmungen zur Einschränkung der Nacht- und Schichtarbeit.
(3) Nach § 7 ArbZG sind unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Grenzen abweichende
Regelungen von den Schutzbestimmungen des §§ 3 bis 6 ArbZG insbesondere in Gestalt der Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit zugelassen: In einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung auf der Grundlage einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel (tarifdispositives Gesetzesrecht), im
Geltungsbereich eines Tarifvertrages auch im Betrieb eines nicht tarifgebundenen ArbG durch Betriebsvereinbarung oder mangels Betriebsrat durch schriftliche Vereinbarung zwischen dem ArbG und seinem
AN, ansonsten nach Bewilligung durch die Aufsichtsbehörde oder durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates.
(4) §§ 9 ff. ArbZG regeln die Sonn- und Feiertagsarbeit.
(5) Ausnahmen von den in §§ 3 bis 7 ArbZG sowie §§ 9 bis 12 ArbZG enthaltenen Regelungen sind (1)
zum einen in „außergewöhnlichen Fällen“ (Notfällen) des § 14 ArbZG und (2) zum anderen auf
Grund Bewilligung der Aufsichtsbehörde in den besonderen Fällen des § 15 ArbZG möglich.
(6) Besondere Schutzvorschriften gelten u.a. für Jugendliche (§§ 8 ff. JArbSchG), werdende und stillende Mütter (§§ 7, 8 MuSchG) und Schwerbehinderte (SGB IX).
(7) § 16 ArbZG verpflichtet den ArbG zur Unterrichtung der AN über die einschlägigen ArbeitszeitRegelungen und zur Dokumentation der über die Grenze des § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehenden Überschreitungen der Arbeitszeit. Nach § 17 ArbZG wird die Einhaltung der Bestimmungen des ArbZG von
den staatlichen Aufsichtsbehörden, meist in Gestalt der Gewerbeaufsichtsämter oder der Ämter für Arbeitsschutz, überwacht.
(8) Sonderregelungen für bestimmte Beschäftigungen im öffentlichen Dienst, in der Luftfahrt, in der
Binnenschifffahrt und im Straßentransport enthalten die §§ 19 ff. ArbZG.
II. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers
1. Das Weisungsrechts als Leistungsbestimmungsrecht
Die Arbeitsleistung ist durch den Inhalt der Tätigkeit sowie durch den Ort, an dem
sie und durch die Zeit, in der sie zu erbringen ist, bestimmt. Angaben hierüber sind
nach § 2 I 2 Nr. 4, 5 und 7 NachwG in die Niederschrift der wesentlichen Arbeitsvertragsbedingungen aufzunehmen. Da der Arbeitsvertrag die Modalitäten der Arbeitsleistung jedoch unmöglich in allen Einzelheiten im Voraus festlegen kann und es auch
immer wieder erforderlich wird, den Einsatz des AN an die sich wandelnden betrieblichen Verhältnisse anzupassen, steht dem ArbG als dem Inhaber der betrieblichen Leitungsmacht nach Maßgabe des § 106 Satz 1 GewO die Befugnis zu, „Inhalt, Ort und
Zeit der Arbeitsleistung…näher zu bestimmen“. Nach Satz 2 dieser Vorschrift gilt
dies auch „hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der AN im Betrieb“. Es handelt
sich um das dem ArbG auf der Grundlage des Arbeitsvertrages zustehende Weisungsrecht (Direktionsrecht) in Gestalt eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts im
Sinne des § 315 BGB. Es führt durch fortlaufende Konkretisierung der Leistungspflichten des AN zu einer Ausfüllung des Arbeitsvertrages (oben § 2 I. 2.).
2. Die Grenzen des Weisungsrechts im Überblick
Das Weisungsrecht des ArbG ist in mehrfacher Weise begrenzt.
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a) Zum einen folgt aus seiner Funktion, den Arbeitsvertrag auszufüllen, dass es sich
im Rahmen des Arbeitsvertrages halten muss und seine Festlegungen nicht überschreiten darf. Das Weisungsrecht gibt dem ArbG nicht die Befugnis, den Arbeitsvertrag einseitig zu ändern. Und so, wie der Arbeitsvertrag dem Vorrang der Bestimmungen einer
Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages und des Gesetzes unterworfen
ist, unterliegt auch das Weisungsrecht als ein in den Grenzen des Arbeitsvertrags wirksames Regelungsinstrument dem Rangprinzip. Demgemäß bestimmt § 106 Satz 1 GewO, dass das Weisungsrecht nur soweit greift, wie die Arbeitsbedingungen nicht
schon durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines
anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Als
exemplarisch für das Verhältnis des Arbeitsvertrags zur Weisung erweist sich die nachfolgend unter b) dargestellte Rechtsprechung zur Versetzung des AN.
b) Das dem ArbG innerhalb dieser Grenzen eingeräumte Weisungsrecht soll ihm aber
auch nicht die Möglichkeit geben, den Arbeitsvertrag willkürlich auszufüllen. Er soll
vielmehr unter angemessener Berücksichtigung der Interessen des AN eine sachlich
begründete Leistungsbestimmung zu treffen. Demgemäß bestimmt § 106 Satz 1 GewO
(wie auch § 315 I BGB) weiterhin, dass der ArbG Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung „nach billigem Ermessen näher bestimmen“ soll. Hierzu nachfolgend unter 4.
am Beispiel der Versetzung des AN.
c) In Bezug auf die Versetzung eines AN ist als weitere Grenze des Weisungsrechts
das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 99 BetrVG zu beachten. Dazu
nachfolgend unter 5.
Darüber hinaus geht dem Weisungsrecht des ArbG das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates vor, in den sozialen Angelegenheiten des § 87 I BetrVG den Abschluss einer Betriebsvereinbarung erzwingen zu können (oben § 6 III.).
3. Die Begrenzung des Weisungsrechts durch den Arbeitsvertrag am Beispiel der
Versetzung
Als äußere Grenze des Weisungsrechts spielen vor allem die im Arbeitsvertrag enthaltenen Festlegungen über den Inhalt und den Ort der Tätigkeit des AN eine Rolle. Eine besondere Bedeutung kommt ihnen in den Fällen zu, in denen der ArbG die
Versetzung des AN auf einen anderen Arbeitsplatz herbeiführen will, der nach der
Arbeitsaufgabe und/oder dem Arbeitsort mit dem bisherigen Arbeitsplatz unter Berücksichtigung der im Arbeitsvertrag hierüber getroffenen Bestimmungen nicht mehr als
vergleichbar anzusehen ist und darum auf eine Änderung des Arbeitsvertrages hinausläuft, die der ArbG nicht einseitig vornehmen kann. Er bedarf dazu vielmehr des Einverständnisses des AN. Wird sie verweigert, muss der ArbG versuchen, sich im Wege
einer Änderungskündigung (unten § 35) durchzusetzen.
Dem ArbG bietet sich jedoch die Möglichkeit, sich ein diesbezügliches Weisungsrecht
dadurch zu erhalten, dass er schon in den Arbeitsvertrag eine weite Umschreibung des
Einsatzbereichs des AN bzw. entsprechende Umsetzungs- bzw. Versetzungsklauseln
aufnimmt. Da der Arbeitsvertrag aber ein Formularvertrag ist, sind auch derartige
Klauseln der gerichtlichen Inhaltskontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB unterworfen. Auf die Frage, wie weit diese Inhaltkontrolle im Einzelfall geht, stellt die
Rechtsprechung auf nachfolgende Unterscheidung ab:
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Sofern die Auslegung dieser arbeitsvertraglichen Bestimmungen ergibt, dass sich der ArbG mit ihrer
Hilfe nicht irgendeine einseitige Vertragsänderung vorbehält, sondern den tatsächlichen Umfang der
vom AN nach dem Arbeitsvertrag geschuldeten Leistung durch die Benennung alternativer Tätigkeitsinhalte und/oder Tätigkeitsorte als weitere Einsatzmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt bestimmt, weichen sie nicht von der gesetzlichen Regelung des § 106 S. 1 GewO ab, so dass § 307 I 1
BGB nicht anwendbar ist (§ 307 III 1 BGB). Es handelt sich vielmehr um eine nähere Bestimmung der
Hauptleistung, die ausschließlich der Transparenzkontrolle des § 307 I 2 BGB unterliegt (BAG
v.25.8.2010 – 10 AZR 275/09 – in NZA 2010, 1355 ff. Rn.21 ff.; BAG v.19.1.2011 – 10 AZR 738/09 –
in NZA 2011, 631 ff. Rn.15 ff.; zur Transparenzkontrolle allgemein siehe oben § 4 I. 2.).
Es macht auch „keinen Unterschied, ob im Arbeitsvertrag auf eine Festlegung [z.B.] des Ortes der Arbeitsleistung verzichtet und diese [damit] dem Arbeitgeber im Rahmen von § 106 GewO vorbehalten
bleibt oder ob der Ort der Arbeitsleistung bestimmt ist, aber [zugleich] die Möglichkeit der Zuweisung
eines anderen Ortes vereinbart wird. In diesem Fall wird lediglich klargestellt, dass § 106 S. 1 GewO gelten und eine Versetzungsbefugnis an andere Arbeitsorte bestehen soll“ (BAG v.19.1.2011 a.a.O. Rn.15).
─ „Die Bestimmung eines Ortes der Arbeitsleistung in Kombination mit einer im Arbeitsvertrag durch
Versetzungsvorbehalt geregelten Einsatzmöglichkeit im gesamten Unternehmen (verhindert) regelmäßig
die vertragliche Beschränkung auf den im Vertrag genannten Ort der Arbeitsleistung“ (BAG v.19.1.2011
a.a.O. Rn.15; BAG v.13. 4.2010 – 9 AZR 36/09 – in NZA 2011, 64 (Orientierungssatz).
Durch eine enge Festlegung von Inhalt und Ort der Arbeitsleistung ohne die Verwendung einer die
Hauptleistung des AN näher bestimmenden Versetzungsklausel, ist das Weisungsrecht des ArbG hingegen dahingehend eingeschränkt, dass er dem AN nur die dort genannten Tätigkeiten zuweisen und ggf.
weiter konkretisieren kann. Eine Veränderung des Tätigkeitsinhalts und/oder -ortes der Arbeitsleistung
kann er dann nur im Einvernehmen mit dem AN vornehmen oder im Wege einer Änderungskündigung
herbeiführen (BAG v.19.1.2011 a.a.O. Rn. 17).
Ergibt die Auslegung der arbeitsvertraglichen Bestimmungen. dass sich der ArbG mit der Versetzungsklausel das Recht vorbehält, „ohne den Ausspruch einer Änderungskündigung einseitig die vertraglich
vereinbarte Tätigkeit unter Einbeziehung geringerwertiger Tätigkeiten zulasten des Arbeitnehmers
verändern zu können“, scheitert diese Regelung an der Angemessenheitskontrolle des § 307 I 1 BGB
(BAG v.25.8.2010 – 10 AZR 275/09 – in NZA 2010, 1355 ff. Rn.28). Dabei sind etwaige Bestimmungen
eines anwendbaren Tarifvertrages über die Bewertung von Tätigkeiten und die Bildung von Vergütungsgruppen zu beachten. Auf einen Arbeitsplatz mit einer gegenüber seiner bisherigen Beschäftigung geringerwertigen Tätigkeit darf der ArbG den AN selbst dann nicht versetzen, wenn die Vergütung unverändert bleibt (ErfK/Preis § 106 GewO Rn. 13); denn auch dies ist der fachlichen Qualifizierung und Profilierung des AN abträglich.
Umsetzungs- und Versetzungsvorbehalte können auch in Tarifverträgen enthalten sein. Nach § 310
IV 1 BGB unterliegen sie nicht der AGB-Kontrolle. Abgesehen davon, dass eine solche Kontrolle die
Tarifautonomie in Frage stellen würde, ist davon auszugehen ist, dass der Tarifvertrag die Interessen der
AN angemessen berücksichtigt (dazu schon oben § 4 I. 3. am Ende). Tarifvertragliche Versetzungsklauseln müssen aber mit höherrangigem Recht, insbesondere den grundrechtlichen Wertentscheidungen der
Art. 2 und 12 GG, die dem Schutz nicht nur des ArbG, sondern auch des AN dienen (oben unter § 3 III.
2.), vereinbar sein. Das dürfte z.B. nicht mehr der Fall sein, wenn eine Tarifnorm dem ArbG gestattet,
den AN gegen seinen Willen rationalisierungsbedingt in eine unternehmensinterne Beschäftigungsgesellschaft zu versetzen (Küttner/Reinecke, Personalbuch 2013 Versetzung, Rn. 7).
Es ist festzustellen, dass die Rechtsprechung einer weiten Umschreibung des Tätigkeitsfeldes des AN verbunden mit entsprechenden Umsetzungs- bzw. Versetzungsklauseln durchweg aufgeschlossen gegenübersteht, weil sie erkennt, dass die Möglichkeit,
das Arbeitsverhältnis ohne weiteres an veränderte wirtschaftliche Bedingungen anpassen zu können, nicht nur im betrieblichen Interesse liegt, sondern ebenso dem Schutz
des AN vor einem betriebsbedingten Verlust seines Arbeitsplatzes dient. Zum einen
erweitert sich dadurch für den kündigungsbedrohten AN der Kreis der AN, die wegen
vergleichbarer Arbeitsplätze in die nach § 1 III Satz 1 KSchG erforderliche Sozialauswahl (unten § 31) einzubeziehen sind (BAG v.14.4.2006 – 9 AZR 557/05 – in NZA
2006, 1149 ff. Rn. 36, 37). Zum anderen bestehen für ihn vermehrte Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten (unten § 30 II. 3. c).
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4. Die Ausübung des Weisungsrechts nach billigem Ermessen
Eine innere Grenze bildet die in § 106 Satz 1 GewO (schwächer, weil nur „im Zweifel“ die Vorschrift des § 315 I BGB) enthaltene Bestimmung, dass die unter Beachtung
der vorstehend dargelegten äußeren Grenzen mögliche Weisung „nach billigem Ermessen“ zu erfolgen hat. Es kommt also, neben der Angemessenheitskontrolle nach §
307 I 1 BGB zu einer Ausübungskontrolle des Weisung, die sicherstellen soll, dass
der ArbG nicht willkürlich verfährt, sondern eine sachlich begründete Entscheidung
trifft, bei der er neben den eigenen auch berechtigte Interessen des AN angemessen berücksichtigen muss (BAG v.23. 9. 2004 – 6 AZR 567/03 – in NZA 2005, 359 ff.).
Der unbestimmte Rechtsbegriff des „billigen Ermessens“ fordert die Rechtsprechung zur Auslegung unter Beachtung der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte vor allem der Art. 1 bis 6, 12 und 14
GG heraus (oben § 3 III. 2.). So sind z.B. bei der Versetzung an einen anderen Arbeitsort oder der Verteilung der Arbeitszeit die familiären Belastungen des AN angemessen zu berücksichtigen. Zu der Frage,
mit welchen Konsequenzen sich der AN gegenüber der Zuweisung von Arbeit unter Berufung auf sein
Gewissen erwehren kann oben § 3 III. 2. unter (3).
5. Die Begrenzung des Weisungsrechts durch Beteiligungsrechte des Betriebsrates
In mitbestimmten Betrieben kommen als weitere äußere Grenze des Weisungsrechts
des ArbG die Beteiligungsrechte des Betriebsrates in Betracht. Dabei kommt es zum
einen auf § 87 I BetrVG an, wonach der Betriebsrat den ArbG zwingen kann, bestimmte soziale Angelegenheiten nicht im Wege der Weisung, sondern ausschließlich
auf Grund einer Betriebsvereinbarung zu regeln.
In Ansehung gerade von Versetzungen ist § 99 BetrVG zu beachten, wonach dem Betriebsrat in Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten AN das
Recht zusteht, die Zustimmung zu einer vom ArbG angeordneten Versetzung eines AN
aus den in Absatz 2 der Vorschrift aufgeführten Gründen verweigern zu dürfen.
Wenngleich sich der betriebsverfassungsrechtliche Versetzungsbegriff des § 95 III 1 BetrVG (wohl
aber die Bestimmung des § 95 III 2 BetrVG) mit dem individualrechtlichen Verständnis von einer Versetzung nicht deckt, ist auf jeden Fall festzuhalten, dass eine individualrechtlich zulässige Versetzung
ohne Zustimmung des Betriebsrates zu der vom ArbG beabsichtigten Maßnahme oder deren Ersetzung
durch arbeitsgerichtliche Entscheidung nicht möglich ist (DKKW - Kittner/Bachner § 99 Rn. 88).
6. Weisungen bezüglich des Inhalts der Arbeitsleistung
Der Inhalt der Arbeitsleistung ist gleichbedeutend mit der Art der geschuldeten Tätigkeit. Sie richten sich in erster Linie nach den Festlegungen im Arbeitsvertrag (vgl.
§ 2 I 2 Nr. 5. NachwG). Daraus folgt, dass „die Befugnis des ArbG, dem AN unterschiedliche Aufgaben im Wege seines Direktionsrechts zuzuweisen“, umso weiter geht,
„je allgemeiner die vom AN zu leistenden Dienste im Arbeitsvertrag festgelegt sind“
(BAG v.25. 8. 2010 – 10 AZR 275/09 – in NZA 2010, 1355 ff. Rn. 22).
Keine den arbeitsvertraglichen Grenzen des Weisungsrecht unterliegende Zuweisung
von Arbeit liegt in der Weisung gegenüber dem AN, Nebenarbeiten zu erbringen, die
üblicherweise im Zusammenhang mit seinem Tätigkeitsbereich anfallen. Das gleiche
gilt in Ansehung von Arbeitsanweisungen hinsichtlich des Wie der dem AN übertragenen Arbeiten.
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In Notfällen u. ä. Ausnahmesituationen (vgl. § 14 I ArbZG) kann der AN im Rahmen
des Zumutbaren verpflichtet werden, kurzzeitig auch eine andere, ggf. sogar geringwertige Tätigkeit, natürlich bei Fortzahlung der bisherigen Vergütung, zu verrichten.
So kann der AN beispielsweise verpflichtet sein, im Falle eines Brandes beim Löschen zu helfen, im Falle eines Umzug beim Einpacken von Geschäftsunterlagen aus seinem Aufgabenbereich mitzuhelfen und
andere Selbstverständlichkeiten zu erledigen, die meist schon als Nebenpflicht des AN aus seiner Treuepflicht fließen (unten IV.). ─ Darf z.B. eine schwangere AN ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit
wegen eines Beschäftigungsverbots nach §§ 3, 4 MuSchG nicht ausüben, kann sie ausnahmsweise verpflichtet sein, vorübergehend eine andere Tätigkeit zu erbringen; so etwa bei Versetzung einer schwangeren Stewardess in den Bürodienst (unten § 23 II.).
7. Weisungen bezüglich des Ortes der Arbeitsleistung
Der Ort der Arbeitsleistung ergibt sich im Regelfall aus dem Arbeitsvertrag (vgl. § 2 I
Nr. 4 NachwG). Das ist normalerweise ein bestimmter Betrieb des ArbG. Aus der Beschreibung einer bestimmten Arbeitsaufgabe des AN kann sich eine Konkretisierung
auf einen bestimmten Betriebsteil, eine bestimmte Betriebsstätte oder eine bestimmte
Arbeitseinheit ergeben. Lässt sich dem Arbeitsvertrag nicht entnehmen, dass der AN
nur für einen bestimmten Arbeitsort eingestellt worden ist, kann der AN nach Weisung
des ArbG in unterschiedlichen Arbeitsorten eingesetzt werden. Auf einen zusätzlich
vereinbarten Versetzungsvorbehalt kommt es dann noch nicht einmal an (BAG
v.19.1.2011 – AZR 738/09 – in NZA 2011, 631 Nr. 17 sowie vorstehend unter II. 3.).
Vorbehaltlich der Ausübungskontrolle nach Maßgabe des billigen Ermessens gemäß §
106 S. 1 GewO, § 315 I BGB sowie der nach § 99 BetrVG erforderlichen Zustimmung
eines etwa bestehenden Betriebsrates, gilt in diesem Fall eine bundesweit unbeschränkte Versetzungsmöglichkeit (ErfK/Preis § 106 GewO Rn. 16). Eine örtliche Konkretisierung der Arbeitspflicht folgt nicht allein aus der Tatsache, dass ein AN über längere
Zeit hinweg auf einer bestimmten Stelle mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben
beschäftigt worden ist (ErfK/Preis a.a.O.).
Entsprechend den berufstypischen Anforderungen der jeweils ausgeübten Tätigkeit
kann der Arbeitsort situationsbedingt variieren. Man denke z.B. an Bau- und Montagearbeiten, Zustelldienste, Außendienstmitarbeit, Kundenbetreuung, Catering oder künstlerische Tätigkeiten, die Beschäftigung als Fernfahrer oder eine weiträumige Beratungstätigkeit. Hier kommt dem Weisungsrecht dem ArbG eine besondere Bedeutung
zu. Derlei erfüllt weder individual- noch betriebsverfassungsrechtlich (§ 95 III 2 BetrVG) den Tatbestand einer Versetzung.
8. Weisungen bezüglich der Arbeitszeit
a) Unter Beachtung der durch das ArbZG gezogenen Grenzen für die Höchstdauer der
Arbeitszeit ist die im Einzelfall konkrete Dauer der Arbeitszeit fast ausnahmslos im
Arbeitsvertrag oder einem anwendbaren Tarifvertrag festgelegt. Die tarifliche WochenArbeitszeit schwankt nach Branche und Tarifbereich zwischen 34 und 40 Stunden. Im
Jahr 2014 z.B. betrug sie im Durchschnitt 35,3 Stunden, davon Vollzeitbeschäftigte
41,5 Stunden und Teilzeitbeschäftigte im Durchschnitt 18,8 Stunden (Stat. Bundesamt).
Was hingegen die Lage der Arbeitszeit angeht, so unterliegen der Beginn der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Lage und Dauer der Pausen, die Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage, die Einführung, Änderung und der Abbau von Schichtarbeit einschließlich der Zuordnung der AN zu den einzelnen Schichten, die Einführung
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von gleitender Arbeitszeit bzw. von Arbeitszeitkonten sowie Fragen des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft der Anordnung des ArbG. Bei Vorhandensein eines
Betriebsrates ist es nach § 87 I Nr. 2 BetrVG jedoch erforderlich, dass der ArbG sich
zuvor mit ihm über die jeweilige Maßnahme geeinigt hat, meist in Gestalt einer Betriebsvereinbarung.
Enthält bereits der Arbeitsvertrag entsprechende Festlegungen, kann der ArbG eine Änderung nur im
Einverständnis mit dem AN oder im Wege der Änderungskündigung durchsetzen. Eine nachträgliche Betriebsvereinbarung, die der Betriebsrat erzwingen kann („Initiativrecht“), geht dem Arbeitsvertrag vor, es
sei denn, die arbeitsvertraglich getroffene Regelung wäre für den AN günstiger. Entsprechende Festlegungen im Tarifvertrag gestatten regelmäßig den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen (Öffnungsklausel nach § 4 III TVG), da diese Fragen kaum für alle Betriebe einheitlich zu beantworten sind.
b) Das Weisungsrecht gibt dem ArbG nicht die Befugnis, eine vorübergehende Verlängerung oder Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit in Gestalt von Überstunden oder von Kurzarbeit einzuführen. Dazu bedarf er vielmehr der besonderen Ermächtigung entweder durch den Arbeitsvertrag, durch einen Tarifvertrag oder durch eine Betriebsvereinbarung (dazu nachfolgend unter III.).
9. Verhaltensvorschriften und Kontrollmaßnahmen
Dem Weisungsrecht unterfällt nach § 106 Satz 2 GewO auch die „Ordnung und das
Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb“. Unter Beachtung zum einen der in das nach §
106 Satz 1 GewO erforderliche „billige Ermessen“ einfließenden grundgesetzlichen
Wertentscheidungen, vor allem die der Art. 1 bis 5 GG, zum anderen der Organisationspflichten des ArbG nach Maßgabe des § 12 AGG und des Mitbestimmungsrechts
des Betriebsrates nach § 87 I Nr. 1 BetrVG, ist der ArbG berechtigt, Weisungen auszusprechen bzw. Verhaltensvorschriften zu erlassen sowie Kontrollen zur Überwachung
ihrer Einhaltung durchzuführen.
Verhaltenvorschriften können z.B. das Alkoholverbot, das Rauchverbot, das Verbot
der Benutzung des Telefons oder des PC zu privaten Zwecken, das Verbot des Radiohörens im Betrieb, die Parkplatzordnung, die Arbeitskleidung und das äußere Erscheinungsbild des AN sowie das Benachteiligungsverbot nach Maßgabe der §§ 1, 7, 12
AGG betreffen.
Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch ein Flirtverbot am Arbeitsplatz oder das Verbot einer
privaten Liebesbeziehung zwischen Arbeitskollegen verletzen im Regelfall den Kernbereich der Art 1
und 2 GG und sind rechtswidrig.
Als Kontrollmaßnahmen kommen Werksausweise, Eingangskontrollen, stichprobenartige Taschenkontrollen und die Anordnung von Berichtspflichten in Betracht.
10. Unzweckmäßige und rechtswidrige Weisungen
Ist die Weisung des ArbG nicht rechtswidrig, aber unzweckmäßig (= der Sache nach
nicht sinnvoll), so soll der AN den ArbG bzw. seinen Vorgesetzten darauf aufmerksam
machen und vor allem vor etwa drohenden Gefahren warnen. Bleibt der ArbG bei seiner Weisung, ist der AN im Regelfall verpflichtet, Folge zu leisten. Gibt der ArbG hingegen eine rechtswidrige Weisung, braucht der AN sie nicht zu befolgen, muss dies
dem ArbG bzw. dessen Repräsentanten vor Ort dann aber vorher kundtun.
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Viele arbeitsrechtliche Streitigkeiten entwickeln sich daraus, dass der AN einer
rechtmäßigen Weisung seines ArbG nicht Folge leistet. Die darin liegende Pflichtverletzung berechtigt den ArbG, den AN wegen dieses Fehlverhaltens abzumahnen und
im Wiederholungsfall den Arbeitsvertrag ordentlich (fristgemäß) zu kündigen, bei Geltung des KSchG in Gestalt einer verhaltensbedingten Kündigung, im Fall einer beharrlichen Verweigerungshaltung des AN außerordentlich (fristlos) aus wichtigem Grund
nach § 626 BGB. Führt das Nichtbefolgen der Weisung zu einem messbaren Schaden
des ArbG, kommt daneben ein Schadensersatzanspruch aus § 280 I BGB in Betracht,
bei bewusstem Zuwiderhandeln ohne jede Haftungserleichterung (unten §§ 26/27).
III. Überstunden und Kurzarbeit
1. Begriff der Überstunden
Abgesehen von den Notfällen des § 14 I ArbZG kann es geboten sein, z.B. zur Deckung von Auftragsspitzen, zum Zweck der Bestandsaufnahme oder anlässlich von
Sonderverkäufen die betriebsübliche Arbeitszeit in den Grenzen des ArbZG vorübergehend zu verlängern. In diesen Fällen hat der ArbG die Möglichkeit, Überstunden anzuordnen.
Mehrarbeit ist demgegenüber die nach § 7 ArbZG über die im Regelfall gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit von 48 Wochenstunden ausnahmsweise hinausgehende Arbeitszeit.
Bezüglich der Vergütung der zusätzlichen Arbeit gibt es keine allgemeinen Regeln. Mit Ausnahme der
Fälle, in denen der AN Dienste höherer Art schuldet oder eine deutlich herausgehobene Vergütung jenseits der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung erhält, besteht jedenfalls ein Vergütungsanspruch in Höhe des Entgelts für die übliche Arbeitsleistung gemäß §§ 611, 612 BGB, es sei denn, der
Arbeitsvertrag würde ausschließlich einen Freizeitausgleich vorsehen. Auf der Grundlage des Arbeitsvertrages oder eines Tarifvertrags kann es darüber hinaus zur Zahlung von Überstundenzuschlägen
kommen. In vielen Betrieben bestehen Arbeitszeitkonten, auf denen die Überstunden mit ihrem Lohnwert gutgeschrieben werden, um damit z.B. in Zeiten von Kurzarbeit die Differenz zum Kurzarbeitergeld
auszugleichen (nachfolgend 2.).
2. Begriff der Kurzarbeit
Bei der Kurzarbeit geht es um die vorübergehende Verkürzung der Arbeitszeit bei
entsprechendem Ruhen der Arbeits- und Vergütungspflicht, ggf. bis hin zu einer zeitweilig völligen Einstellung der Arbeit = „Kurzarbeit Null“. Der Grund für die Einführung von Kurzarbeit liegt zumeist in wirtschaftlichen Schwierigkeiten des ArbG. Ohne
Kurzarbeit müsste er den vollen Lohn auch dann zahlen, wenn er seine AN nicht sinnvoll einsetzen kann; denn er trägt das Wirtschaftsrisiko in Gestalt des Beschäftigungsrisikos. Von nicht mehr tragbaren Lohnkosten könnte er sich dann nur durch betriebsbedingte Änderungs- oder Beendigungskündigungen befreien.
Um den durch Kurzarbeit eintretenden Lohnverlust auszugleichen, erhalten die AN nach Maßgabe der §§
95 ff., 105 SGB III Kurzarbeitergeld i.H.v. 67 oder 60 % (für AN ohne Kind) der Nettoentgeltdifferenz
im Anspruchszeitraum. Die Regelbezugsfrist beträgt nach § 104 I SGB III längstens sechs Monate,
kann aber nach § 109 SGB III durch Rechtsverordnung des BMAS verlängert werden. Gegenwärtig ist
die Bezugsdauer für das konjunkturelle Kurzarbeitergeld auf 12 Monate verlängert.
Zwar ist der AN Inhaber des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld, doch ist dessen Verwirklichung dem ArbG
überantwortet. Er zeigt den Arbeitsausfall der Bundesagentur für Arbeit an, er stellt bei ihr den Antrag
auf Kurzarbeitergeld, errechnet es nach Maßgabe seiner Entlohnungsunterlagen und nimmt die Auszahlung an seine AN vor.
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3. Die Ermächtigungsgrundlage für Überstunden und Kurzarbeit
Da die Anordnung von Überstunden oder Kurzarbeit durch den ArbG auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen hinausläuft, bedarf er dazu einer besonderen Ermächtigung. Der ArbG nicht berechtigt, eine solche Maßnahme allein auf Grund seines
Weisungsrechts anzuordnen. Da eine Zustimmung aller betroffenen AN oft nicht zu erlangen ist, muss er sich auf Bestimmungen stützen können, die mit Wirkung gegenüber
allen seinen AN festlegen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang
er Überstunden oder Kurzarbeit anordnen darf.
Für die Kurzarbeit kommt es dabei entscheidend auf die in den §§ 95 ff. SGB III enthaltenen Vorschriften an (dazu Köhler in DB 2013, 232 ff.). Für Überstunden fehlt es an entsprechenden Vorgaben.
Die generelle Ermächtigung des ArbG zur Einführung von Überstunden oder Kurzarbeit kann
• schon im Arbeitsvertrags enthalten sein unter Beachtung der §§ 305 ff. BGB, insbesondere des § 307 BGB;
• oder in einem Tarifvertrag;
Ist der ArbG tarifgebunden, nicht aber alle seine AN, können die einschlägigen Tarifvertragsklauseln nur dann für alle AN des Betriebes Ermächtigungsgrundlage sein, wenn die Arbeitsverträge
der AN unter Bezugnahme auf den Tarifvertrag abgeschlossen (häufigster Fall) oder der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Ist das nicht der Fall, würde die notwendige betriebseinheitliche Regelung bei Tarifgebundenheit des ArbG nur dann eintreten können, wenn man tarifvertragliche Klauseln dieser Art als Rechtsnormen über betriebliche Fragen im Sinne von § 3 II
TVG qualifizieren könnte (umstritten).
Fällt der Betrieb in den räumlichen und fachlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags, ist aber der
ArbG nicht tarifgebunden, werden einschlägige Klauseln dieses Tarifvertrags selten über ihre Bezugnahme im Arbeitsvertrag, sondern meist nur dadurch betriebseinheitlich Geltung erlangen, dass
dieser Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde.
• oder in einer Betriebsvereinbarung nach § 87 I Nr.3 BetrVG, soweit nicht ein
nach § 87 I BetrVG (Einleitungssatz) wegen Tarifbindung des ArbG vorrangiger
Tarifvertrag die Angelegenheit abschließend regelt. Dann nämlich gilt der Tarifvorrang.
Eine Betriebsvereinbarung würde nicht an § 77 III BetrVG scheitern, weil der Tarifvorbehalt des §
77 III BetrVG nicht für die in § 87 I BetrVG aufgeführten Tatbestände gilt.
Hat sich der ArbG, gestützt auf eine der vorgenannten generellen Ermächtigungsgrundlagen, zu Überstunden oder Kurzarbeit entschlossen, bedarf es in mitbestimmten Betrieben zur konkreten Durchführung nach § 87 I Nr.3 BetrVG immer noch einer situationsbezogenen Einigung mit dem Betriebsrat (Vgl. Küttner/Kreitner, Personalbuch 2013, Kurzarbeit Rn.7).
Um sicherzustellen, dass die Einigung nicht nur zwischen den beiden Betriebspartnern als lediglich
schuldrechtlich bindende Regelungsabrede gilt, sondern auch normative Wirkung für und gegen die AN
entfaltet, ist es notwendig, sie in Form einer Betriebsvereinbarung abzuschließen (vgl. § 77 II und IV
BetrVG).
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Ist die Anordnung von Überstunden unwirksam, stellt die Weigerung des AN, Überstunden zu leisten, keine Verletzung seiner Arbeitspflicht dar.
Ist die Anordnung der Kurzarbeit unwirksam, bleibt der die angebotene Arbeitsleistung zurückweisende ArbG nach § 615 Satz 1 BGB wegen Annahmeverzugs zur Zahlung des vollen Arbeitslohnes verpflichtet.
4. Im Rahmen der Bestimmungen der §§ 17 ff. KSchG über den Kündigungsschutz bei
Massenentlassungen enthält § 19 KSchG eine besondere gesetzliche Ermächtigung für
die Einführung von Kurzarbeit (unten § 36).
IV. Arbeit auf Abruf im Vollzeitarbeitsverhältnis
Eine vorübergehende Verlängerung oder Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit kann auch durch die im Arbeitsvertrag festgelegte Vereinbarung erreicht werden, dass der AN seine Arbeitsleistung in der Spitze entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat = kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit („KAPOVAZ“). Besteht ein Betriebsrat, unterliegen die Einführung und die Abschaffung dieser Form der
Abrufarbeit nach § 87 I Nr. 3 BetrVG seiner Mitbestimmung. In entsprechender Anwendung von § 12 II TzBfG muss der ArbG die geplante Veränderung der Arbeitszeit
den AN mindestens vier Tage im Voraus mitteilen.
Ist die Vereinbarung dieser Art von Abrufarbeit – wie regelmäßig – formularmäßig vorformuliert, gestattet die Rechtsprechung unter Anwendung von § 307 I, II Nr.1 BGB
(BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04 – in NZA 2006, 423), dass der ArbG die vom AN
zu erbringende wöchentliche Arbeitszeit als Mindestarbeitszeit bis zu 25 % einseitig
erhöhen (z.B. von 35 auf bis zu 43,75 Wochenstunden) oder als Höchstarbeitszeit um
bis zu 20 % einseitig verringern kann (z.B. von 35 auf bis zu 28 Wochenstunden).
Werden beide Möglichkeiten kombiniert, darf der Anteil der flexiblen Arbeitszeit
höchstens 25 % der Mindestarbeitsdauer betragen (vgl. oben § 12 III. 2.).
Ist die Bandbreitenregelung wegen Überschreitung der Flexibilisierungsgrenzen nach § 307 I 1 BGB
unwirksam, ist wegen des untrennbaren Zusammenhangs von regelmäßiger Arbeitszeit und Abrufarbeitszeit die gesamte Arbeitszeitabrede unwirksam. Eine geltungserhaltende Reduktion auf den für sich
gesehen beanstandungsfreien Teil des variablen Arbeitszeitvolumens kommt nicht in Betracht, da sie den
Verwender der unwirksamen Vertragsbedingungen der Aufgabe entheben würde, selbst für eine rechtmäßige AGB-Praxis zu sorgen. Die gesamte Arbeitszeitabrede ist nun vielmehr im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung neu zu ermitteln. Dabei ist darauf abzustellen, was die Vertragsparteien bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn
sie die Unwirksamkeit der Klausel bedacht hätten. In dem vom BAG a.a.O. Abs. 51 ff. entschiedenen
Fall wurde wie folgt argumentiert: Soll die regelmäßige wöchentliche Mindestarbeitszeit 30 Stunden betragen und sollten die AN (unwirksam, weil 33,33 %) verpflichtet gewesen sein, auf Anforderung des
ArbG weitere 10 Stunden in der Woche zu arbeiten, und war festzustellen, dass die AN über einen Monat
hinweg im Durchschnitt tatsächlich 35,02 Wochenstunden gearbeitet haben, kann von einer gewollten
Mindestarbeitszeit von nur 35 Wochenstunden und damit einem zusätzlichen Abrufvolumen von 5 Wochenstunden (= 14,3 %) ausgegangen werden.
V. Nebenpflichten des Arbeitnehmers
Neben der den Arbeitsvertrag typisierenden Hauptpflicht, für den ArbG auf einem bestimmten Arbeitsplatz innerhalb der vorgesehenen Arbeitszeit eine bestimmte Tätigkeit
regelgerecht und weisungsgemäß auszuüben, treffen den AN nach § 611 BGB ver-
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schiedenartige weitere Pflichten, die man als Nebenpflichten zusammenfasst. Sie werden gemeinhin als Treuepflichten bezeichnet (wohingegen die Nebenpflichten des
ArbG als Fürsorgepflichten bezeichnet werden).
Sofern die Nebenpflichten nicht gesetzlich oder vertraglich fixiert sind, folgen sie situationsbedingt aus „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ (§ 242 BGB).
Als Verhaltenspflichten werden sie gewöhnlich in Handlungs- und Unterlassungspflichten eingeteilt. Erstere verlangen vom AN, in bestimmter Weise tätig zu werden,
letztere verbieten dem AN ein bestimmtes Verhalten.
Nicht nur das Tun, sondern auch das Unterlassen kann vom ArbG eingeklagt werden (vgl. § 194 I
BGB), sofern ihm dies als sinnvoll erscheint. Die Unterlassungsklage setzt analog § 1004 I 2 BGB die
Gefahr einer Beeinträchtigung voraus, die meist als Wiederholungsgefahr aus einer bereits eingetretenen
Beeinträchtigung folgt, aber auch bei drohender Erstbegehung vorliegen kann. Ggf. kann der Anspruch
im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durch eine einstweilige Verfügung gemäß § 935 ZPO gesichert
werden.
Die Verletzung von Nebenpflichten ist in der Regel ein Fall der Schlechtleistung des
AN in Gestalt der Verletzung einer Pflicht aus § 241 II BGB (unten §§ 26, 27). Ist
dem ArbG dadurch ein Schaden entstanden, kann er vom AN (unter Beachtung der
Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs) Schadensersatz neben der
Leistung nach § 280 I BGB verlangen. Im Übrigen kann eine Kündigung des Arbeitsvertrags durch den ArbG in Betracht kommen.
Erfüllungsansprüche des ArbG gegen den AN sind selten. Sie treten hauptsächlich als
Herausgabeansprüche z.B. bezüglich des Arbeitsergebnisses (nachfolgend 1.), des
Dienstwagens und anderer zur Ausführung der Arbeit überlassener oder aus der Tätigkeit erlangter Gegenstände (nachfolgen 2.) in Erscheinung.
1. Überlassung des Arbeitsergebnisses
Der AN erhält seine Vergütung dafür, dass er fremdnützige Arbeit leistet: Das Arbeitsergebnis soll dem ArbG zustehen. Demzufolge besteht nach dem Arbeitsvertrag das
ungeschriebene Recht des ArbG auf Überlassung des in Erfüllung des Arbeitsvertrags
geschaffenen Produkts.
An körperlichen Arbeitsergebnissen, die im Wege der Verarbeitung geschaffen werden, wird nach §
950 I BGB der Hersteller Eigentümer: Das ist der ArbG als Inhaber des Produktionsbetriebes (oder der
Materiallieferant auf Grund verlängerten Eigentumsvorbehaltes mit Verarbeitungsklausel). Ist § 950 I
BGB nicht anwendbar, trifft den AN jedenfalls die ungeschriebene Nebenpflicht, körperliche Arbeitsergebnisse, die er in Ausführung der ihm übertragenen Verrichtung erzielt hat, dem ArbG ohne weiteres
zu überlassen.
An geistigen Arbeitsergebnissen, die der AN in Erfüllung des Arbeitsvertrags schafft, steht ihm zwar
das Urheberrecht im Sinne des § 7 UrhG zu, doch ist er nach §§ 43, 31 V UrhG verpflichtet, dem
ArbG die Nutzungsrechte daran in dem Umfang einzuräumen, wie dieser sie nach dem Zweck des Arbeitsvertrags benötigt. Mit der Lohnzahlung ist die Einräumung dieser Nutzungsrechte abgegolten. In
Ansehung von Computerprogrammen, die ein AN in Wahrnehmung seiner Aufgaben oder nach den
Anweisungen des ArbG geschaffen hat, ist nach § 69b I UrhG, sofern nichts anderes vereinbart wurde,
ausschließlich der ArbG zur Ausübung aller vermögensrechtlichen Befugnisse berechtigt.
Hat der AN im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses eine Erfindung nach Maßgabe des PatentG gemacht
oder einen technischen Verbesserungsvorschlag entwickelt, regelt das AN-ErfindungsG den Rechtserwerb und die Vergütungspflicht des ArbG. Nach § 87 I Nr. 12 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats über die Einführung und Aufstellung allgemeiner Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen.
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2. Verhaltens- und Schutzpflichten
Diesbezügliche Handlungs- wie Unterlassungspflichten des AN folgen vor allem aus
der „jeden Teil eines Schuldverhältnisses“, also auch den AN, nach § 241 II BGB treffenden Pflicht „zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils“, hier also des ArbG. Hierbei geht es darum, den ArbG vor Personen- und
Sachschaden zu bewahren und damit zugleich den Betrieb zu schützen. Dazu gehört
auch die Pflicht des AN, dem ArbG Gefahrenlagen, Störungen oder Schäden anzuzeigen. Zu den schützenswerten Interessen des ArbG gehört es auch, dass nicht Arbeitskollegen oder Außenstehende durch das Fehlverhalten eines AN zu Schaden kommen;
denn deren Schädigung trifft regelmäßig auch den ArbG (siehe unten § 26 III. 2./3.).
Darüber hinaus trifft den AN insbesondere die Verbote unerlaubter Nebentätigkeit, der
Verleitung von Arbeitskollegen zum Vertragsbruch, der Abwerbung von Arbeitskollegen sowie unternehmensschädigender Äußerungen.
Viele der Verhaltens- bzw. Schutzpflichten haben eine spezialgesetzliche Reglung gefunden, wie z.B. die Pflicht nach § 18 I ArbSchG, dem ArbG Schäden an einer Arbeitsschutzeinrichtung anzuzeigen. Die Pflicht zur Verschwiegenheit ist in Vorschriften unterschiedlichster Rechtsbereiche enthalten; so in §§ 17 I, 18, 19 UWG; § 9 Nr. 6 BBiG;
§ 24 II AN-ErfindungsG; § 5 BDSG; § 79 I BetrVG. Das Wettbewerbsverbot ist schon
den Bestimmungen der §§ 60, 61, 74 ff. HGB zu entnehmen. Das Schmiergeldverbot
ist ein Straftatbestand (§ 299 I StGB). Überhaupt hat der AN alle einschlägigen Rechtsvorschriften zu beachten, wie z.B. umweltschutzrechtliche Bestimmungen und die Vorschriften des StGB.
Entsprechend dem Auftragscharakter seiner Tätigkeit hat er dem ArbG Auskunft analog § 666 BGB über den Stand seiner Arbeiten zu geben sowie analog § 667 BGB Anspruch auf Herausgabe dessen, was er zur Ausführung seiner Arbeit erhalten und aus
seiner Tätigkeit erlangt hat. Hierher gehört weiterhin die Pflicht des AN, dem ArbG
nach § 5 I EFZG die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen.
Inwieweit den AN die Pflicht trifft, dem ArbG Verfehlungen anderer AN mitzuteilen,
hängt von seiner Stellung im Betrieb und von der Schwere des Vorfalls ab.
3. Die Wahrung der betrieblichen Ordnung
Teils als Handlungspflichten, teils als Unterlassungspflichten zu begreifen sind ferner
die allgemeinen Verkehrspflichten zur Wahrung der betrieblichen Ordnung.
Hierzu gehört u.a. das Gebot zu korrektem Umgang miteinander, das Gebot körperlicher Sauberkeit und angemessener Kleidung, die Beachtung eines Rauchverbots/Alkoholverbots, die Beachtung des Verbots des Handeltreibens im Betrieb oder
der parteipolitischen Agitation, die Beachtung der Torkontrolle u.a.m.
In Ansehung seiner privaten Lebensführung treffen den AN im Grundsatz keine arbeitsrechtlichen Verhaltenspflichten. Das private Fehlverhalten darf sich jedoch nicht
auf den Betrieb auswirken. Tendenzbetriebe dürfen an ihre Mitarbeiter allerdings strengere Loyalitätsanforderungen stellen.
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§ 16 Die Pflichten des ArbG und die Rechtsfolgen ihrer Verletzung
Übersicht über die Gliederung dieses Abschnitts
Unter I. 1. geht es um die Hauptpflicht des ArbG, dem AN die vereinbarte Vergütung zu gewähren.
Hinsichtlich der Höhe der Vergütung gilt als unterste Lohngrenze der gesetzliche Mindestlohn. Seine
Höhe wird jedoch durch die tarifvertraglich ausgehandelten Mindestlöhne zumeist erheblich überschritten. Unter Bezugnahme auf § 105 Satz 1 GewO wird deutlich, dass erst jenseits des hiernach verbindlichen Lohnniveaus für die Parteien des Arbeitsvertrags als Ausdruck des Günstigkeitsprinzips die Freiheit
besteht, einen höheren Arbeitslohn zu vereinbaren. Dabei ist festzustellen, dass es einen allgemeinen
Rechtsgrundsatz, nach dem für die gleiche Arbeit stets der gleiche Lohn zu zahlen sei, nicht gibt. Unter
I. 2. wird die Bedeutung des Tarifvertrags für die Höhe der Vergütung dargestellt. Dabei werden die
verschiedenen Situationen aufgeführt, in denen ein Tarifvertrag Wirkung entfalten kann. Unter I. 3. Geht
es um die Mitbestimmung des Betriebsrats in Ansehung der Vergütung.
Unter II. werden die Formen der Arbeitsvergütung behandelt: Geldlohn – Naturallohn (unter II. 1.);
Zeitlohn- Leistungslohn (unter II. 2.); Zusatzentgelte (unter II. 3.), wobei am Beispiel der Weihnachtsgratifikation die Verwendung von Stichtagsklauseln problematisiert wird.
Unter III. geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der Kürzung oder Einstellung der Zahlung von
Zusatzentgelten unter besonderer Berücksichtigung des Freiwilligkeitsvorbehalts, des Widerrufsvorbehalts, des Anrechnungsvorbehalts sowie unter III. 3. der Gewährung dem Grunde nach kombiniert mit
einem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht hinsichtlich der Höhe der Leistung.
Unter IV. werden die Lohnkosten des ArbG dargestellt.
Unter V. geht es um den Schutz der Arbeitsvergütung.
Unter VI. werden die Nebenpflichten des ArbG behandelt: Der Schutz von Leben und Gesundheit
des AN (unter VI. 1.); der Schutz von Besitz und Eigentum des AN (unter VI. 2.); der Persönlichkeitsschutz des AN (unter VI. 3.); die Pflicht zur Zeugniserteilung (unter VI. 4.). die Herausgabe der
Arbeitspapiere (unter VI. 5.).
Unter VII. geht es um die Leistungsverweigerungsrechte des AN gegenüber dem ArbG.
I. Die Vergütungspflicht des Arbeitgebers
1. Die Hauptleistungspflicht des ArbG
Die Hauptleistungspflicht des ArbG besteht in der Gewährung der vereinbarten Vergütung. Sie hat ihre Rechtsgrundlage im Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB und bildet die Gegenleistung des ArbG für die vom AN erbrachte Arbeit. Was die Frage nach
der Höhe der Vergütung angeht, stellt der Wortlaut des § 611 BGB auf die zwischen
den Vertragsparteien getroffene Vereinbarung ab. Das ist für den freien Dienstvertrag
richtig (oben § 1 II. 1.), gilt für den Arbeitsvertrag aber nur mit Einschränkungen. Zum
Schutz des AN vor einer sozial unverträglichen Vergütung bestehen vielmehr zwingende gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen, die den ArbG dazu verpflichten, den
AN angemessenen zu entlohnen.
Als unterste Lohngrenze gilt nach § 1 I, II MiLoG seit dem 1.1.2015 ein gesetzlicher
Mindestlohn von brutto 8,50 € je Zeitstunde, dessen Höhe auf Vorschlag einer ständigen Kommission durch Rechtverordnung der Bundesregierung geändert werden kann
(oben § 5 VI.).
Trotz nachlassender Tarifbindung ist die wichtigste Quelle für die Bestimmung der
Vergütung in den meisten Fällen immer noch der Tarifvertrag, der dem AN in der
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Regel ein Arbeitsentgelt verschafft, das deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn
liegt (oben § 5 I. 1.). Die Normen des Tarifvertrags über die Eingruppierung der AN in
Entgeltstufen sind dabei von besonderer Bedeutung.
Sollte die tarifvertragliche Vergütungsregelung ausnahmsweise mindestlohnwidrig sein, ist sie nach § 3
MiLoG unwirksam. An ihre Stelle tritt nach § 612 II BGB die ortsübliche Vergütung, mindestens aber
der Mindestlohn nach § 1 MiLoG (oben § 5 VI.). Für das AEntG und das AÜG gilt die Übergangsregelung des § 24 I MiLoG.
Diese Sachlage entspricht im Grundsatz der Vorschrift des § 105 Satz 1 GewO, wonach ArbG und AN Abschluss und Inhalt des Arbeitsvertrages und damit auch den Arbeitslohn frei vereinbaren können, „soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften
(oder) Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages…entgegenstehen.“ Erst jenseits des hiernach verbindlichen Lohnniveaus besteht für die Parteien des Arbeitsvertrags als Ausdruck des Günstigkeitsprinzips (oben § 7) die Freiheit, eine darüber
hinausgehenden Vergütung zu vereinbaren.
Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass für gleiche Arbeit in jedem Fall der gleiche Lohn gezahlt werden müsse, nicht gibt (Krause a.a.O. § 11 Rn.6). Der ArbG hat im Rahmen
der ihm von § 105 S. 1 GewO zugestandenen Vertragsfreiheit vielmehr im Grundsatz
die Möglichkeit, mit verschiedenen AN für die gleiche Arbeit situationsbedingt unterschiedliche Entgelte individuell zu vereinbaren. Er darf dabei nur nicht gegen gesetzliche Benachteiligungsverbote, z.B. des § 7 AGG und des § 4 TzBfG verstoßen (oben §
9). In Ansehung kollektiv gewährter Leistungen muss der ArbG darüber hinaus den
allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz beachten (oben § 3 III.
3.).
2. Die Bedeutung des Tarifvertrags für die Höhe der Vergütung
Nach dem jeweiligen Geltungsgrund des Tarifvertrags ist zwischen den nachfolgend
aufgeführten Situationen zu unterscheiden.
► Sind ArbG und AN nach § 3 I TVG tarifgebunden, folgt die Verbindlichkeit des
Tariflohns schon aus § 4 I TVG, ohne dass es einer arbeitsvertraglichen Umsetzung
der tarifvertraglichen Festlegungen bedarf.
► Sind nicht alle AN tarifgebunden, wohl aber der ArbG, wird im Regelfall die
Verbindlichkeit des Tariflohns für alle AN des Betriebs dadurch herbeigeführt, dass
der ArbG die nicht tarifgebundenen AN mit den tarifgebundenen freiwillig gleichbehandelt. In der Regel enthält dann schon der Arbeitsvertrag aller AN dieses Betriebes eine Bezugnahmeklausel auf den jeweils maßgebenden Tarifvertrag. Für
die nicht tarifgebundenen AN hat diese Klausel konstitutive Wirkung, weil für sie
der Tarifvertrag nicht kraft § 4 I TVG schon normativ, sondern nur auf Grund arbeitsvertraglicher Vereinbarung gilt.
► Ist der ArbG nicht tarifgebunden, darf er den Tariflohn auch gegenüber tarifgebundenen AN unterschreiten, aber nur bis zur Grenze des Mindestlohns nach dem
MiLoG (oben § 5 VI.). Im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte gewährt er
seinen AN jedoch in vielen Fällen freiwillig den Tariflohn. Dann gilt der Tarifvertrag für alle seine AN nicht kraft § 4 I TVG normativ, sondern auf Grund arbeitsvertraglicher Vereinbarung.
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► Nach § 5 TVG kann ein Tarifvertrag durch Rechtsverordnung des BMAS für
allgemeinverbindlich erklärt werden. Der dort festgelegte Tariflohn gilt dann
normativ für alle nicht tarifgebundenen ArbG und AN, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen (oben § 5 IV.).
► Auf die AN der in § 4 I AEntG aufgeführten Branchen finden nach §§ 3, 5 und 8
AEntG die Mindestentgeltsätze eines bundesweit geltenden Tarifvertrags Anwendung, wenn dieser entweder nach Maßgabe des § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt wurde oder seine Geltung auf Grund einer Rechtsverordnung des
BMAS nach § 7 AEntG auf sie erstreckt wurde (oben § 5 V.). § 4 II AEntG erweitert diese Möglichkeiten der Geltungserstreckung auf alle anderen als die in § 4 I
AEntG genannten Branchen, wobei sich die Rechtsverordnung dann auf § 7a AEntG stützt.
► Für den Bereich der AN-Überlassung können einschlägige tarifliche Mindeststundenentgelte als verbindliche Lohnuntergrenze für alle in Deutschland beschäftigten Leih-AN vom BMAS durch Rechtsverordnung nach § 3a AÜG übernommen werden (unten § 43…)
► Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, ist nach § 612 II BGB die
(orts)übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Das ist diejenige Vergütung,
die in einem bestimmten Wirtschaftsgebiet für eine vergleichbare Tätigkeit in dem
betreffenden Wirtschaftszweig überwiegend gezahlt wird. Auch hierbei spielt der
Tarifvertrag eine Rolle, weil diese Vergütung sich in vielen Fällen aus einem
räumlich und fachlich einschlägigen Tarifvertrag herleiten lässt. Sollte das
ortsübliche Entgelt den Mindestlohn unterschreiten, ist das MiLoG maßgebend.
3. Die Mitbestimmung des Betriebsrats in Ansehung derVergütung
Eine Betriebsvereinbarung über die Höhe der Vergütung der AN scheitert regelmäßig
am Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG. (oben § 7 II. 1. a). Übertarifliche Zusatzentgelte können nach § 88 BetrVG durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung festgelegt werden.
Nach § 87 I Nr. 10 BetrVG besteht jedoch ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates „in Fragen der
betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung“ betreffend. Es geht dabei nicht unmittelbar um die Lohnhöhe, sondern um Grundsätze der Lohnfindung auf der Grundlage kollektiver abstrakt-genereller Regeln zur Gewährleistung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit
(oben § 6 III.).
Nach § 87 I Einleitungssatz BetrVG besteht dieses Mitbestimmungsrecht jedoch nur, soweit die Angelegenheit nicht schon durch Gesetz oder einen anwendbaren Tarifvertrag abschließend zwingend geregelt
ist. Da dieser Bereich häufig einem vorrangigen Tarifvertrag unterliegt, ist Hauptanwendungsgebiet
dieses Mitbestimmungsrechts der Bereich der freiwilligen übertariflichen Leistungen des ArbG: Während der ArbG über das Ob der Leistung und das Zulagevolumen („Leistungstopf“) und damit auch
über ihre Beendigung allein entscheidet, unterliegt der Mitbestimmung das Wie der Leistung in Gestalt
der Verteilungsgrundsätze nach Maßgabe der Arbeitsleistung.
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II. Formen der Arbeitsvergütung
1. Geldlohn – Naturallohn
Nach § 107 I GewO ist der Geldlohn der gesetzliche Normalfall. In den Grenzen des §
107 II GewO können ArbG und AN Naturallohn durch Sachbezüge als Teil des Arbeitsentgelts vereinbaren.
Zu den Sachbezügen gehören z.B. Personalrabatte, eine verbilligte Dienstwohnung und die Bereitstellung
eines Dienstwagens zur privaten Nutzung.
Nach § 107 III GewO kann die Zahlung eines regelmäßigen Arbeitsentgelts nicht für die Fälle ausgeschlossen werden, in denen der AN für seine Tätigkeit von Dritten ein „Trinkgeld“ erhält. Durch das
MiLoG ist auch Vereinbarung eines geringeren Lohns, der erst zusammen mit dem zu erwartenden
Trinkgeld den Mindestlohn erreicht oder übersteigt, ausgeschlossen.
2. Zeitlohn – Leistungslohn
a) Beim Zeitlohn bemisst sich die Vergütung ausschließlich nach Zeiträumen ohne
Rücksicht auf die Quantität oder Qualität der Arbeit. Der AN erhält vielmehr auch
im Fall der Schlechtleistung die vereinbarte Vergütung (unten § 26).
Richtet sich die Vergütung hingegen nach dem Arbeitsergebnis, wird vom Leistungslohn gesprochen. Der Vereinbarung einer leistungsorientierten Vergütung sind allerdings Grenzen gesetzt. Keinesfalls darf mit dem AN ein ausschließlich am Arbeitserfolg orientierter Leistungslohn vereinbart werden; denn der Arbeitsvertrag ist kein
Werkvertrag und lässt es nicht zu, dass das Arbeitsentgeltrisiko auf den AN verlagert
wird (Küttner/Griese, Personalbuch 2013, Leistungsorientierte Vergütung Rn.4; Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 Rn.794). Eine nur an leistungsorientierten
Elementen orientierte Vergütung ohne einen angemessenen Grundlohn verstößt gegen
§ 307 II Nr. 1 BGB, weil damit von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abgewichen wird (Küttner/Griese a.a.O.).
Um dem AN einerseits einen besonderen Arbeitsanreiz zu geben, andererseits aber zu
verhindern, dass er mit dem Risiko der Minderleistung belastet wird, kann der Leistungslohn zu einer Entgeltform gestaltet werden, die dem AN, der eine überdurchschnittliche Arbeitsleistung erbringt, die Möglichkeit gibt, seinen Lohn zu steigern
(Lieb/Jacobs § 3 I. 2., Rn. 244). Er kann sich also über einen Grundlohn als Zeitlohn
hinaus eine zusätzliche Vergütung als leistungsorientiertes Entgelt erarbeiten. In Anlehnung an die Rechtsprechung zum vertraglich vorbehaltenen Widerruf von Zulagen
des ArbG zum Monatslohn (nachfolgend unter III. 1. b) sollten die leistungsbezogenen
Entgeltbestandteile etwa 25 % des Gesamtverdienstes nicht überschreiten (Küttner/Griese a.a.O.).
b) Eine besondere Form des Leistungslohns ist der Akkordlohn, der in erster Linie eine hohe Quantität an geleisteter Arbeit erreichen soll. Rechtsgrundlage ist im Regelfall entweder der Arbeitsvertrag oder der Tarifvertrag. Keinesfalls kann der ArbG
ihn kraft seines Weisungsrechts anordnen.
Die Vereinbarung von Akkordlohn kommt vorwiegend aus der industriellen Massenproduktion und ist
darauf gerichtet, eine möglichst große Menge (an Stücken, Fläche oder Gewicht u.Ä.) in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, entweder im Einzel- oder im Gruppenakkord. Als Folge immer stärkerer Technisie-
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rung und Automatisierung der Produktionsvorgänge ist die Steuerung der Menge der produzierten Einheiten in vielen Bereichen nicht mehr primär eine Frage der Arbeitsleistung, wohl aber die Sicherstellung
der Qualität des Produktionsergebnisses, insbesondere bei technologisch hoch entwickelten Gütern. Das
erklärt, warum der Akkordlohn zunehmend durch den Prämienlohn verdrängt wird (nachfolgend unter c)). Darüber hinaus sind arbeitsvertragliche Zielvereinbarungen im Vordringen begriffen, durch die
„Entgeltbestandteile an das Erreichen persönlicher Arbeitsziele geknüpft werden“ (MüArbR/Krause § 57
Rn. 2; nachfolgend unter e)).
Die Methoden zur Berechnung des Akkordlohns tragen der Forderung Rechnung, das Risiko des AN,
durch Minderleistung unangemessen belastet zu werden, vernünftig zu begrenzen. Dies geschieht im Falle des allgemein üblichen Zeitakkords durch die arbeitswissenschaftlich fundierte Festlegung einer Normalleistung als Vorgabezeit. Darüber hinaus enthalten Tarifverträge für Akkordarbeiter regelmäßig eine Verdienstsicherungsklausel in Gestalt einer Mindestlohngarantie. Dadurch erreicht ein AN auch
dann, wenn seine Leistung hinter der Normalleistung quantitativ zurückbleibt wenigstens einen dem
Zeitlohn (Stundenlohn) entsprechenden Entgelt (ErfK/Preis § 611 BGB Rn.394). Das Risiko qualitativer
Minderleistung trägt der ArbG ohnedies. Zur Berechnung des Akkordlohns siehe Brox/Rüthers/Henssler
Rn. 275 ff. sowie Zöllner/Loritz/Hergenröder § 16 V. 3.).
c) Der Prämienlohn soll in erster Linie die Erfüllung bestimmter Qualitätsstandards
der Produktion, eine optimale Maschinennutzung, sparsamen Verbrauch von Material
und Hilfsstoffen, geringen Ausschuss, Termintreue und ähnliche durch Arbeitsleistung beeinflussbare Ergebnisse sicherstellen. Er wird dem AN oder einer Gruppe von
AN auf der Grundlage des Arbeitsvertrags, eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung im Regelfall als eine der jeweiligen Leistung entsprechende Zulage zum
monatlich zahlbaren Zeitlohn oder zum Akkordlohn gewährt.
Die im Prämienlohn zum Ausdruck kommende Belohnung der Arbeitsleistung ist von Anwesenheits-,
Pünktlichkeits- oder Treueprämien zu unterscheiden. Sie tragen den Charakter einer Gratifikation (nachfolgend unter 3. b).
d) Bei der Vereinbarung von Akkord- und Prämienlohn sind die Verbote z.B. des §
4 III 1 MuSchG, des § 23 Nr. 1 JArbSchG und des § 3 FahrpersonalG zu beachten, die
den AN vor einer gesundheitlichen Überforderung schützen sollen.
e) Auch Zielvereinbarungen dienen der Leistungssteigerung des AN. Bei ihnen handelt es sich um Absprachen zwischen dem ArbG und einem oder mehreren AN, die darauf gerichtet sind, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens, zumeist eines Jahres, bestimmte Ergebnisse zu erreichen, etwa den Abschluss eines Projekts, eine Steigerung
des Umsatzes, eine erhöhte Kundenzufriedenheit u.Ä.. Sie beruhen regelmäßig auf einer Rahmenabrede im Arbeitsvertrag, auf deren Grundlage sich ArbG und AN auf
konkrete Ziele einigen. die der ArbG, soweit wie sie erreicht werden, durch Zahlung
eines Bonus honoriert.
f) Bei der Ausgestaltung der Entlohnungsgrundsätze und -methoden leistungsbezogener Entgelte besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 I Nr. 11
BetrVG, soweit nicht ein infolge Tarifgebundenheit des ArbG vorrangig maßgebender
Tarifvertrag hierüber eine abschließende Regelung enthält (Tarifvorrang des § 87 I Einleitungssatz BetrVG).
g) Einen Sonderfall bildet die Provision in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des
Wertes der vom AN vermittelten Geschäfte, wie sie z.B. nach § 65 HGB für Handlungsgehilfen vereinbart werden kann, die als Außendienstmitarbeiter beschäftigt sind.
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3. Zusatzentgelte
In vielen Fällen erhalten die AN als freiwillige zusätzliche Leistung des ArbG auf der
Grundlage des Arbeitsvertrags, eines späteren Zusatzes zum Arbeitsvertrag oder einer
Gesamtzusage des ArbG Zusatzentgelte, teils in Gestalt von Zulagen bzw. Zuschlägen zum Monatslohn, teils als jährlich zahlbare Sondervergütungen aus bestimmten Anlässen oder mit besonderer Zweckbestimmung. Hinzu kommen ferner die auf
Grund einer Betrieblichen Übung entstandenen Leistungsverpflichtungen (oben § 4
II.).
a) Zulagen zum Monatslohn werden vom ArbG aus unterschiedlichen Gründen gewährt.
(1) Häufig handelt es sich um Leistungs- oder Erschwerniszulagen in Anerkennung
besonderer körperlicher oder geistiger Arbeitsanforderungen oder zum Ausgleich besonderer Belastungen, wie Schmutz, Lärm, Hitze, Kälte u. a. Gesundheitsgefahren. Es
gibt aber auch Zulagen, die aus der Arbeitsmarktlage erwachsen, etwa um qualifizierte
Arbeitskräfte zu gewinnen oder zu halten oder einfach aus dem Grund, die Belegschaft
durch Teilhabe am Ertrag des Unternehmens nachhaltig zu motivieren.
Sie sind laufendes Arbeitsentgelt, das in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung steht:
Wie nachfolgend unter III. dargestellt, verbietet diese Erkenntnis dem ArbG die Möglichkeit, laufendes
Arbeitsentgelt unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt zu stellen.
In Ansehung von Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit bestehen regelmäßig tarifliche Ausgleichsregelungen in Gestalt einer angemessenen Zahl bezahlter freier Tage oder angemessener Zuschläge zum Monatslohn; andernfalls treffen den ArbG die gesetzlichen Ausgleichspflichten der §§ 6
V und 11 II ArbZG.
(2) Der ArbG kann aber auch Leistungsverpflichtungen in Ansehung von Zuwendungen übernommen haben, die nicht als unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit gelten, sondern im Wesentlichen auf den Ersatz von Aufwendungen gerichtet
sind, die der AN im Allgemeinen selbst tragen muss. Dazu gehört z.B. die Leistung von
Fahrkostenzuschüssen, von Essenszuschüssen, die Zahlung einer Trennungsentschädigung, die Bereitstellung eines kostenlosen Werksverkehrs, die Erstattung von Fortbildungskosten, die Übernahme der Reinigung von Dienstkleidung sowie die Bereitstellung eines kostenlosen Parkplatzes.
Sie werden als zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gewährte Leistungen oder Vergünstigungen
begriffen, die nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung stehen, sondern als „Nebenleistungen“ gelten, die im Grundsatz einen Freiwilligkeitsvorbehalt zulassen (oben § 4 II. 3. d) sowie
nachfolgend unter III.).
b) Nach der Definition in § 4a EFZG sind jährlich zahlbare Sondervergütungen
„Leistungen, die der ArbG zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt“. Damit
stehen sie – wie die vorstehend aufgeführten auf den Ersatz von Aufwendungen gerichteten Zuwendungen – nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung,
sondern gelten als „Nebenleistungen“, die im Grundsatz einen Freiwilligkeitsvorbehalt
zulassen, wie vor allem die Gratifikationen in Gestalt des Urlaubs- oder Weihnachtsgeldes, aber auch die allgemein zugesagten Tantiemen oder Boni (nachfolgend unter
III.).
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Beruhen sie jedoch auf einer speziellen leistungsbezogenen Absprache mit dem AN wie vor allem bei
einer Zielvereinbarung mit Bonus (vorstehend unter II. 2. e)), stehen sie zur Arbeitsleistung in einem
Gegenseitigkeitsverhältnis und können daher nicht unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt werden
(vgl. BAG v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13 – in NZA 2014 595).
c) Am Beispiel gerade der Weihnachtsgratifikation haben sich Rechtsregeln entwickelt, die teilweise auch für Jahressonderzahlungen in Gestalt von Boni von Bedeutung sein können. Es geht hierbei vor allem um Stichtagsklauseln, durch die der Anspruch des AN auf die Gratifikation davon abhängig gemacht wird, dass sein Arbeitsverhältnis mindestens bis zum 31.12. des Bezugsjahres noch besteht oder – weitergehend – der AN sich bis zum Ende des Bezugsjahres oder bis zu einem späteren Zeitpunkt des Folgejahres in einem noch ungekündigten Arbeitsverhältnis befindet.
In Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung kommt es dem BAG für die Zulässigkeit einer Stichtagsklausel nunmehr darauf an, ob der ArbG mit der Sonderzahlung ausschließlich die Betriebstreue seiner
AN belohnen und damit einen Anreiz für ihren weiteren Verbleib im Unternehmen schaffen will oder,
ob die Sonderzahlung ausschließlich, mindestens aber zugleich auch (Mischcharakter) dem Zweck
dient, seinen AN eine zusätzliche Vergütung für ihre in den letzten 12 Monaten erbrachte Arbeitsleistung zukommen zu lassen. (BAG v.18.1.2012 – 10 AZR 612/10 – in NZA 2012, 561 betreffend eine
Weihnachtsgratifikation; BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12 – in NZA 2014, 368) betreffend Sonderzahlungen/Boni für mehrere Jahre in Höhe von insgesamt 91.300 €. Hieraus folgt:
(1) Handelt es sich um eine Weihnachtsgratifikation, die nur oder – neben der Belohnung der Betriebstreue – auch den Zweck hat, die im Bezugsjahr erbrachte Arbeitsleistung zusätzlich zu vergüten, verletzt eine Stichtagsklausel aller aufgeführter Varianten den Grundgedanken des § 611 BGB und
ist darum nach § 307 I 1 BGB unwirksam, weil sie dem ArbG bei Nichterfüllung ihrer Voraussetzungen
das Recht gibt, dem AN die gesamte bereits erarbeitete Zusatzentgelt vorzuenthalten bzw. zu entziehen. Macht die Stichtagsklausel die Zahlung vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses am
31.12. des Bezugsjahres oder zu einem Zeitpunkt im Folgejahr, etwa dem 31.3., abhängig, erschwert sie
dem AN unter Verletzung der durch Art 12 I GG geschützten Berufsfreiheit (oben § 3 III. 2. (6))
auch noch die Ausübung des Kündigungsrechts und ist deswegen nach § 307 I 1 BGB unwirksam.
Gegen die Anwendung einer Kürzungsklausel bestehen in diesem Fall keine Bedenken, denn sie dient
ja gerade dem Zweck, die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung zu honorieren, da sie dem ArbG das
Recht einräumt, die Zuwendung pro Fehltag des AN zu einem angemessenen Prozentsatz zu kürzen. Der bei einer Gratifikation mit Mischcharakter gleichzeitig verfolgte Zweck, die Betriebstreue zu
belohnen, wird durch die Kürzung nicht verletzt.
Bei den Kürzungsgründen handelt es sich vor allem um Fehltage infolge Krankheit des AN (unter Beachtung von § 4a EFZG), Beteiligung an einem Arbeitskampf, unbezahlten Urlaubs und vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis. Eine Kürzung kommt auch bei Elternzeit in Betracht. Für Frauen
soll darin keine nach § 3 II AGG mittelbare Benachteiligung liegen, obwohl vor allem die Mütter Erziehungszeit in Anspruch nehmen. Nicht hingegen soll eine Kürzung in den Fällen der §§ 3 und 6 MuSchG
möglich sein. Die Kürzungsklausel gibt der Weihnachtsgratifikation den Charakter einer Anwesenheitsprämie.
(2) Dient die Weihnachtsgratifikation ausschließlich dem Zweck, die Betriebstreue zu belohnen,
sind Stichtagsklauseln möglich. Sofern sie die Zuwendung vom ungekündigten Bestehen des Arbeitsverhältnisses im Folgejahr abhängig machen, ist allerdings zu bedenken, dass die zeitliche Entfernung des
Stichtags vom Bezugsjahr nicht zu einer für den AN unangemessenen Kündigungserschwerung führten
darf. Ein Stichtag über den 30.4. des Folgejahres hinaus dürfte nach § 307 I 1 BGB unwirksam sein.
Die entscheidende Frage ist aber die, unter welchen Voraussetzungen einer Weihnachtgratifikation
der Zweck zukommt, ausschließlich die Betriebstreue der AN zu belohnen. Allein aus der Bezeichnung als Weihnachtsgratifikation folgt derlei nicht. Es ist im Gegenteil als Regelfall davon auszugehen,
dass die Gratifikation ein Ausdruck der Anerkennung des ArbG für den Arbeitseinsatz seiner AN in den
vergangenen 12 Monaten ist (ErfK/Preis, § 611 BGB Rn.534 ff.; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rn.101 f.).
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe zu vermuten, dass eine Weihnachtsgratifikation auch nicht
dadurch, dass der ArbG sie mit einer Stichtagsklausel versieht. ausschließlich zu einer Treuprämie wird.
Allenfalls handelt es sich dann um eine Jahressonderzahlung mit Mischcharakter, bei der die Anwendung
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der Stichtagsklausel – wie vorstehend unter (1) dargestellt – nach § 307 I 1 BGB unwirksam ist. Verwendet der ArbG hingegen eine Kürzungsklausel, bestätigt er den Regelfall einer zusätzlichen Vergütung
für erbrachte Arbeitsleistung. Das gilt auch für den Fall, dass die Sonderzahlung mindestens 25 % der
Gesamtvergütung des AN ausmacht (Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 BGB Rn.875).
Eine Sondervergütung, die ausschließlich die Betriebstreue belohnt, nicht aber zugleich die Arbeitsleistung, dürfte nach allem höchst selten sein (ErfK/Preis, § 611 BGB Rn.534). Es ist zu bezweifeln, ob die
ausdrückliche Erklärung des ArbG, dass die gewährte Weihnachtsgratifikation ausschließlich dem
Zweck dient, die Betriebstreue zu belohnen, eine Stichtags- und Rückzahlungsreglung rechtfertigen
könnte. Eine Aufteilung der Sonderzahlung in eine Treuprämie mit Stichtagsklausel und ein Zusatzvergütung für geleistete Arbeit mit Kürzungsklausel wäre denkbar.
III. Möglichkeiten und Grenzen der Kürzung oder Einstellung der Zahlung von
Zusatzentgelten
1. In Ansehung von Zusatzentgelten, die der ArbG seinen AN ohne gesetzliche oder tarifvertragliche Verpflichtung aus freiem Entschluss auf arbeitsvertraglicher Grundlage gewährt, besteht aus seiner Sicht das Interesse, sie aus wirtschaftlichen Gründen
kürzen oder einstellen zu können. Auf der anderen Seite steht das Interesse des AN am
Schutz seines Vertrauens in die Beständigkeit der ihm versprochenen Leistung. Beide
Interessen müssen miteinander in Einklang gebracht werden.
Hinweis: Beruhen die Zusatzentgelte auf einem den ArbG bindenden Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung, kann der ArbG versuchen, durch Verhandlungen mit der Gewerkschaft oder dem Betriebsrat eine Regelung zu erreichen, die seiner wirtschaftlichen Lage Rechnung trägt. Bei einer Betriebsvereinbarung könnte er eine Kündigung nach § 77 V BetrVG erwägen. Ist in einem Tarifvertrag eine Teilkündigung nicht vorgesehen, verbietet sich eine Vollkündigung als unverhältnismäßig. Mitunter
ist dem ArbG in dem Kollektivvertrag eine Änderungsbefugnis eingeräumt, von der er im Rahmen billigen Ermessens im Sinne des § 315 BGB Gebrauch machen darf.
2. Auf arbeitsvertraglicher Grundlage gewährte Zusatzentgelte können durch eine Änderungsvereinbarung zwischen ArbG und AN oder durch eine Änderungskündigung
seitens des ArbG eingeschränkt oder abgeschafft werden. Zur Vermeidung der damit
verbundenen Probleme werden vom ArbG auf arbeitsvertraglicher Grundlage gewährte Zusatzentgelte daher
●
häufig unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit oder des Widerrufs
●
seltener nur befristet,
●
speziell übertarifliche Zulagen zum Monatslohn oft unter Anrechnung auf künftige Erhöhungen des Tariflohns
zugesagt. Da der Arbeitsvertrag und seine späteren Ergänzungen jedoch den Charakter
allgemeiner Geschäftsbedingungen tragen (oben § 4 I. 2.), sind die §§ 305 ff. BGB
zu beachten, die zum Schutz des AN vor unangemessener Benachteiligung eine richterliche Inhaltskontrolle der vom ArbG verwendeten Änderungsklauseln ermöglichen.
Aus der jüngeren Rechtsprechung lassen sich die folgenden Leitlinien herauslesen.
a) Die Besonderheit des Freiwilligkeitsvorbehalts liegt darin, dass er einen Rechtsanspruch auf die Leistung erst gar nicht entstehen lässt. Näheres dazu bereits oben
unter § 4 II. 1. d) sowie 3. b).
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(1) Nach dem Urteil des BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06 – in NZA 2007, 853 ff.
ist ein vom ArbG formularmäßig verwendeter Freiwilligkeitsvorbehalt in Ansehung
laufenden Arbeitsentgelts in Gestalt einer monatlich zahlbaren Leistungszulage
nach § 307 I 1 i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB unwirksam.
Die Begründung des Urteils ist bereits oben unter § 4 II. 3. c) behandelt, wo es um
den vergleichbaren Fall geht, dass der ArbG seinen AN eine monatliche Leistungszulage zukommen lässt, ohne dazu aus irgend einem Grund verpflichtet zu sein und er darum das Entstehen einer Betrieblichen Übung durch die Verwendung eines Freiwilligkeitsvorbehalts verhindern will.
Das BAG stellt a.a.O. Rn.20/21 im Ergebnis fest, dass der ArbG sein Interesse an einer
Flexibilisierung von als laufendes Arbeitsentgelt einzustufenden Zuwendungen „in hinreichender Weise mit der Vereinbarung von Widerrufs- oder Anrechnungsvorbehalten (dazu nachfolgend unter b) und c)) verwirklichen (kann)“.
Die unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellte arbeitsvertragliche Zusage von zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gewährten Leistungen, die nach h.M. nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur
Arbeitsleistung stehen, verstößt hingegen nicht gegen 307 I 1 i.V.m. 307 II Nr. 1 BGB, kann aber das
Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB verletzen (nachfolgend unter (2)).
(2) Verwendet der ArbG einen Freiwilligkeitsvorbehalt in Ansehung von nicht zum
laufenden Arbeitsentgelt zählenden „Nebenleistungen“ (oben § 4 II. 3. d)), liegt darin kein Verstoß gegen § 307 I 1 i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB.
Jedoch kann in Ansehung von jährlich zahlbaren Sondervergütungen, die zu den
„Nebenleistungen“ gehören, nach der Rechtsprechung des BAG ein Verstoß gegen das
Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB in Betracht kommen.
So hat das BAG v. 20.2.2013 – 10 AZR 177/12 – in NJW 2013, 2844 die Wirksamkeit
eines Freiwilligkeitsvorbehalts bezüglich einer im Arbeitsvertrag zugesagten Weihnachtsgratifikation („zur Zeit wird gewährt“) verneint. Selbst wenn der ArbG unmittelbar im Anschluss an sein Leistungsversprechen erklärt, dass die Zahlung „in jedem
Einzelfall freiwillig und ohne Begründung eines Rechtsanspruchs für die Zukunft“ erfolgt, soll hierin regelmäßig ein zur Unwirksamkeit des Vorbehalts führender Verstoß
gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB liegen: Einerseits die nach Voraussetzungen und Höhe der Sonderleistung im Einzelnen festgelegte Zusage und andererseits
der anschließend erklärte Freiwilligkeitsvorbehalt können zu Zweifeln darüber führen,
was nun wirklich gelten soll; Zweifel, die nach § 305c BGB zu Lasten des ArbG als
dem Verwender des Arbeitsvertragsformulars gehen.
So im Wesentlichen auch schon BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07 – in NZA 2008,
1173, gleichfalls in Bezug auf eine Weihnachtsgratifikation sowie BAG v. 24.10.2007
– 10 AZR 825/06 – in NZA 2008, 40 in Bezug auf eine jährliche Bonuszahlung. Es ist
nicht ausgeschlossen dass diese Rechtsfolge auch andere Arten von „Nebenleistungen“
treffen kann. Gegen einen einwandfrei formulierten Widerrufsvorbehalt würden nach
Meinung des BAG a.a.O. keine Bedenken bestehen (nachfolgend unter b)).
Diese Rechtsauffassung überspannt den Transparenzbegriff und unterschätzt die Auffassungsgabe
des AN. Wie hätte das BAG wohl entschieden, wenn der Arbeitsvertrag einen einzigen Satz enthalten
hätte: „Wir zahlen Ihnen freiwillig ohne Anerkennung einer Leistungspflicht und ohne dadurch einen
Rechtsanspruchs für die Zukunft zu begründen eine Weihnachtsgratifikation in folgender Höhe…“?
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Wenn der ArbG seine volle Entscheidungsfreiheit behalten will, bleibt ihm angesichts
dieser Rechtsprechung nichts anderes übrig, als die Sondervergütung einfach ohne
eine ihn verpflichtende Rechtsgrundlage auszuzahlen und das Entstehen einer Betrieblichen Übung dadurch zu verhindern, dass er die jeweilige Zahlung mit einem klaren Freiwilligkeitsvorbehalt verbindet (Kock in NJW 2013, 2846 als Anmerkung zum
Urteil des BAG v. 20.2.2013). Näheres dazu oben § 4 II. 3.
b) Während der Freiwilligkeitsvorbehalt eine vertragliche Leistungspflicht des ArbG
erst gar nicht entstehen lässt, setzt der Widerrufsvorbehalt eine vertragliche Bindung
gerade voraus, denn man kann nur etwas Bestehendes widerrufen. (oben § 4 II. 1. d).
Da dem ArbG ein Widerrufsrecht nicht kraft Gesetzes zusteht, muss er es sich im Wege der Vereinbarung mit den AN ausbedingen, und zwar zusammen mit der Begründung seiner Leistungsverpflichtung. Würde er erst einmal seine Leistungsverpflichtung
gegenüber den AN eingehen und später versuchen, sich mit ihnen über einen Widerrufsvorbehalt zu einigen, hätte er dazu kaum eine Chance, da die AN etwas ohne Gegenleistung aufgeben müssten. Wenn der ArbG den Widerrufsvorbehalt aber mit dem
Leistungsversprechen verbindet, werden die AN sein Angebot unwidersprochen akzeptieren.
Bei einer bereits im Arbeitsvertrag enthaltenen und mit einem Widerrufsvorbehalt
verbundenen Leistungszusage des ArbG liegt eine beides umfassende ausdrückliche
Vereinbarung mit den AN vor. Sagt der ArbG die mit einem Widerrufsvorbehalt versehene Leistung seinen AN in einem ihnen später zugeleiteten Zusatz zum Arbeitsvertrag zu oder verspricht er sie im Wege einer Gesamtzusage, kommt die Vereinbarung
dadurch zustande, dass die AN das in dem Vertragszusatz oder in der Gesamtzusage
enthaltene Angebot des ArbG durch die widerspruchslose Entgegennahme der versprochenen Leistung konkludent annehmen.
In den Fällen, in denen der ArbG seinen AN eine Leistung oder Vergünstigung unter
gleichzeitiger Erklärung eines Widerrufsvorbehalts einfach zukommen lässt, ohne
schon dazu verpflichtet zu sein (Näheres dazu oben § 4 II. 1 a) und d)), macht er
ihnen mit der Vornahme der Leistung das konkludente Angebot einer ihn für die Zukunft bindenden, aber mit einem Widerrufsvorbehalt versehenen Leistungsverpflichtung, das die AN durch die widerspruchslose Entgegennahme seiner Zuwendung ebenso konkludent annehmen. Der Widerrufsvorbehalt des ArbG ist ein Bestandteil der zwischen ihm und seinen AN konkludent zustande gekommenen Vereinbarung über die
Begründung seiner Leistungsverpflichtung.
Nach § 3 i.V.m. § 2 Nr. 6 NachwG muss der ArbG die mit den AN widerruflich vereinbarte Leistungsverpflichtung in geeigneter Weise dokumentieren.
(1) Der Widerrufsvorbehalt gibt dem ArbG das Recht, die eingetretene Bindungswirkung durch einseitige Widerrufserklärung für die Zukunft zu beseitigen.
Das setzt allerdings voraus, dass der Widerrufsvorbehalt dem AN nach § 308 Nr.4
BGB i.V.m. § 307 BGB zumutbar ist. Hierzu ist ein sachlicher Grund erforderlich,
der im Widerrufsvorbehalt hinreichend konkret ausgeführt sein muss, z.B. die wirtschaftlichen Lage des Betriebs oder der Wegfall des Zwecks der Leistungszulage.
(2) Anders als der Freiwilligkeitsvorbehalt, ist der Widerrufsvorbehalt, auch auf monatlich zahlbare Leistungszulagen anwendbar. In diesem Fall erfordert die Erfüllung
des nach § 308 Nr.4 BGB i.V.m. § 307 BGB erforderliche Merkmal der Zumutbarkeit
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neben dem im Widerrufsvorbehalt hinreichend konkretisierten sachlichen Grund, dass
der widerrufliche Teil des laufenden Arbeitsentgelts zum Schutz des Kernbereichs des
Arbeitsvertrags unter 25 % des Gesamtverdienstes liegt und das Tarifniveau oder der
branchenübliche Lohn in der Region nicht unterschritten wird (BAG v.12.1.2005 – 5
AZR 364/04 – in NZA 2005, 465 ff.).
(3) Der Widerruf von jährlichen Sondervergütungen verletzt nicht den Kernbereich
des Arbeitsvertrags, erfordert aber auf jeden Fall einen transparenten sachlichen Grund.
c) Statt des Widerrufs kann die Zuwendung vom ArbG befristet werden. In diesem
Fall gelten die für den Widerrufsvorbehalt maßgebenden Regeln entsprechend.
d) Der Anrechnungsvorbehalt gibt dem ArbG das Recht, eine spätere Erhöhung
des Tariflohns auf ein übertarifliches Zusatzentgelt anzurechnen.
Wird der Tariflohn erhöht, bekommt der AN aber schon nach dem Arbeitsvertrag mehr
als den laufenden Tariflohn, kann der übertarifliche Lohn im Wege der Anrechnung auf
die Tariflohnerhöhung absorbiert (= aufgesaugt) werden. Da hierdurch der geltende Tariflohn nicht unterschritten wird, sieht die Rechtsprechung darin keinen Verstoß gegen
§§ 307 I 1, 308 Nr. 4 BGB, sondern verlangt lediglich eine dem Transparenzgebot des
§ 307 I 2 BGB genügende Klarstellung im Vertragstext. Heißt es z. B., dass die übertarifliche Zulage nur für die Laufzeit des Tarifvertrags gilt, kann der ArbG die nächstfolgende Tariflohnerhöhung mit der übertariflichen Zulage verrechnen.
Ebenso kann das Gegenteil vereinbart sein. Heißt es z.B. dass „zwei Euro über dem jeweiligen Tariflohn“ gezahlt werden, erhöht sich der vertraglich geschuldete Lohn um
die Tariflohnerhöhung. Was aber soll gelten, wenn das Wort „jeweiligen“ fehlt? Soll
das Zusatzentgelt qualifizierte Arbeitskräfte locken, wird im Zweifel eine Aufstockung
gewollt sein. Bei Auslegungszweifeln kann § 305c II BGB helfen.
Von Seiten vor allem der Gewerkschaften wird gelegentlich versucht, zur Vermeidung einer Anrechnung
in den Tarifvertrag die Regelung aufzunehmen, dass die übertarifliche Leistung zusammen mit der Tariflohnerhöhung den neuen Tariflohn bildet (Effektivgarantieklausel), zumindest aber die übertarifliche
Zulage als solche neben der Tariflohnerhöhung effektiv erhalten bleibt (begrenzte Effektivklausel).
Beide Klauseln werden von der Rechtsprechung als unzulässig angesehen. Sie sollen insbesondere gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, weil sie ohne sachlichen
Grund, nämlich abhängig vom jeweiligen übertariflichen Lohnanteil, für die einzelnen AN zu unterschiedlich hohen Tariflöhnen führen. (Kritisch dazu Gamillscheg a.a.O. Bd. I § 18 IV. 2., S. 867 ff.).
Wenn der ArbG die Höhe der Sonderzahlung nicht nach billigem Ermessen festsetzen will (siehe BAG v.
16.1.2013 - 10 AZR 26/12 - in ArbR 2013, 180 und NJW 2013, 1020,
3. Eine interessante Alternative
Insbesondere für die jährlich zahlbaren Sondervergütungen, die zu den „Nebenleistungen“ gehören, bietet sich als Alternative eine Vertragsgestaltung an, die eine für den
ArbG und seine AN eine gleichermaßen interessengerechte Lösung der Wirtschaftlichkeitsproblematik solcher Zuwendungen bietet. Es geht um die der Entscheidung des
BAG v. 16.1.2013 – 10 AZR 26/12 – in ArbR 2013, 180 = NJW 2013, 1020. zugrunde
liegende Regelung in einem Formulararbeitsvertrag, mit der der ArbG jährlich eine
Weihnachtsgratifikation dem Grunde nach gewährt, sich in Ansehung ihrer jeweiligen
Höhe jedoch ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht vorbehält. Das BAG a.a.O.
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stellt fest, dass es sich hierbei nicht um einen unzulässigen Änderungsvorbehalt im
Sinne des § 308 Nr. 4 BGB handelt und diese Regelung auch nicht unangemessen (§
307 I 1 BGB) oder intransparent (§ 307 I 2 BGB) ist. Es gilt vielmehr § 315 BGB, wonach die jeweils gewährte Gratifikation billigem Ermessen entsprechen muss; einem
Maßstab, der im Streitfall gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Damit haben die AN die
Gewähr eines dauernden, an die Wirtschaftslage des Unternehmens anknüpfenden Anspruchs und der ArbG die Möglichkeit, die Zuwendung an die jeweilige Wirtschaftslage anzupassen zu können und vorübergehend auch einmal auszusetzen.
IV. Die Lohnkosten des Arbeitgebers
Die Vergütungsabrede ist als Bruttolohnvereinbarung zu verstehen, so dass der AN
seine Steuerlast selbst trägt und darüber hinaus seinen Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe etwa der Hälfte von derzeit rund 40 % des Bruttolohnes selbst
aufbringen muss. Die Lohnsteuer des AN wird vom ArbG unmittelbar an das Finanzamt abgeführt (§§ 38, 41a EStG). Die Sozialversicherungsbeiträge (Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung),
die AN und ArbG jeweils etwa anteilig tragen, werden vom ArbG an die Krankenkasse
abgeführt, die ihrerseits die Verteilung an die einzelnen Leistungsträger besorgt.
Die Arbeitskosten je geleistete Arbeitsstunde setzen sich aus dem Entgelt für geleistete Arbeit einschließlich Überstundenzuschlägen, Schichtzulagen und regelmäßig gezahlten Prämien sowie den sog.
Personalzusatzkosten zusammen. Zu den Personalzusatzkosten des ArbG zählen zum einen die direkten Kosten in Gestalt vor allem der Entlohnung für arbeitsfreie Tage (gesetzliche Feiertage und Urlaub)
sowie Sonderzahlungen, wie etwa das Weihnachtsgeld, und zum anderen die indirekten Kosten, zu denen vor allem die Beiträge zur Sozialversicherung, die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung, die
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Umlagepflichten nach dem AAG sowie Aufwendungen für die
betriebliche Altersversorgung und die betriebliche Mitbestimmung gerechnet werden. Diese Kosten betragen im Durchschnitt mehr als das Doppelte dessen, was der AN als Nettolohn ausgezahlt bekommt.
V. Der Schutz der Arbeitsvergütung
1. Verletzt der ArbG seine Hauptleistungspflicht zur Zahlung der Arbeitsvergütung
dadurch, dass er „die fällige Leistung nicht…erbringt“ (vgl. §§ 281 I, 323 I BGB), gerät
er wegen Verzögerung der Leistung in Schuldnerverzug, der nach § 286 I 1, IV BGB
neben der Fälligkeit der Leistung auch noch die (An)mahnung der ausgebliebenen Leistung durch den Gläubiger (AN) und das „Vertretenmüssen“ in Gestalt der Verantwortlichkeit des Schuldners (ArbG) erfordert. Die Mahnung ist jedoch im Regelfall nach §
286 II Nr. 1 BGB entbehrlich und die Nichterfüllung einer fälligen Geldschuld stets ein
Fall des Vertretenmüssens.
Infolge des Verzuges schuldet der ArbG nach §§ 280 I, II, 286 I, 288 I BGB neben dem
ausstehenden Geldbetrag Verzugszinsen (5 % über dem Basiszinssatz des § 247 BGB)
und ggf. weiteren Schadensersatz über § 288 III BGB, z.B. wegen der Zinsen, die
dem AN durch Aufnahme eines Überbrückungskredits entstanden sind. Zugleich hat
der AN nach Ablauf einer angemessenen Schonfrist das Recht, durch Geltendmachung
der Einrede des nicht erfüllten Vertrages gemäß § 320 BGB seine Arbeitsleistung zu
verweigern (unter Beibehaltung des Lohnanspruchs gemäß § 326 II 1 Altn. 1 BGB,
aber auch gemäß §§ 615, 298 BGB, der kein Vertretenmüssen des Schuldners voraus-
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setzt) und schließlich die Möglichkeit, nach § 626 BGB das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund fristlos zu kündigen.
2. Wegen seiner für den AN existentiellen Bedeutung ist das Arbeitsentgelt auf unterschiedliche Weise vor Zugriffen und Verlust geschützt.
► Schutz vor Gläubigern des AN, die den Lohnanspruch des AN gegen den ArbG
auf der Grundlage eines Vollstreckungstitels pfänden, bieten die §§ 850 ff. ZPO.
So kann der Gläubiger nach § 850a ZPO bestimmte Bezüge überhaupt nicht pfänden und nach § 850c ZPO nur die Teile des Arbeitseinkommens, die außerhalb der
Pfändungsfreigrenzen liegen.
► Schutz vor dem Zugriff des ArbG bietet § 394 Satz 1 BGB, wonach der ArbG
mit einem gegen den AN gerichteten Zahlungsanspruch nicht gegen die Lohnforderung des AN aufrechnen kann, soweit die Lohnforderung nach den vorerwähnten §§
850 ff. ZPO unpfändbar ist.
► Schutz bei Insolvenz des ArbG bieten die §§ 183 ff. SGB III. Da Forderungen auf
rückständiges Arbeitsentgelt aus der Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Insolvenzforderungen sind (§ 38 InsO), die nur nach den Vorschriften über
das Insolvenzverfahren verfolgt werden können (§ 87, 174 ff. InsO), besteht die Gefahr, dass die AN mit ihrer Forderung ausfallen. Darum werden Entgeltrückstände
für die letzten drei Monate vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach Maßgabe
der §§ 165 ff SGB III von der Bundesagentur für Arbeit als sog. Insolvenzgeld gezahlt, dessen Mittel der ArbG in einem Umlageverfahren (U 3) zusammen mit dem
Gesamtsozialversicherungsbeitrag über die Krankenkasse als Einzugstelle monatlich entrichtet.
Besteht das Arbeitsverhältnis über das Insolvenzereignis (§ 183 I 1 Nr. 1., 2. oder 3. SGB III) hinaus
fort, muss unterschieden werden. Wurde das Insolvenzverfahren eröffnet, ist der Anspruch auf Lohn
bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (§ 113 I InsO) oder bei Weiterbeschäftigung durch den Insolvenzverwalter (§ 103 I InsO) Masseverbindlichkeit, die vom Insolvenzverwalter aus der Insolvenzmasse vorrangig zu befriedigen ist. Wurde das Insolvenzverfahren nicht eröffnet, muss sich der
AN an seinen ArbG halten.
Führt die Insolvenz des ArbG zu einer geplanten Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG,
kommen die §§ 125 ff. InsO zur Anwendung. Zum Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung siehe § 112 BetrVG.
Für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung gilt das Schutzsystem der §§ 7 ff. BetrAVG.
VI. Nebenpflichten des Arbeitgebers
Neben der den Arbeitsvertrag arbeitgeberseitig typisierenden Hauptpflicht, dem AN die
vereinbarte Vergütung zu gewähren, treffen den ArbG verschiedenartige weitere Pflichten, die man als Nebenpflichten zusammenfasst. Sie werden gemeinhin als Fürsorgepflichten bezeichnet (wohingegen die Nebenpflichten des AN als Treuepflichten bezeichnet werden; siehe oben § 15 IV.). Als Schutzpflichten im Sinne des § 241 II BGB
dienen sie vorwiegend dem Zweck, den AN vor den Gefahren zu bewahren, die aus
seiner betrieblichen Tätigkeit folgen.
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Im Falle ihrer Verletzung steht dem AN, soweit dies möglich und sinnvoll ist, ein Anspruch auf Erfüllung der jeweiligen Nebenpflicht des ArbG gemäß §§ 611, 241 II
BGB zu. Erleidet der AN durch die Verletzung arbeitgeberseitiger Nebenpflichten einen Schaden, steht ihm ein Anspruch auf Schadensersatz neben der Leistung wegen
Vertragsverletzung aus §§ 280 I, 241 II BGB, ggf. über § 278 BGB, oder wegen unerlaubter Handlung aus § 823 I/II BGB, ggf. nach § 831 I 1 BGB zu. Nach § 273 I BGB
kann dem AN ein Zurückbehaltungsrecht an seiner Arbeitsleistung zustehen, bis der
ArbG die ihm obliegende Nebenpflicht erfüllt hat (Leistungsverweigerungsrecht unter
Beibehaltung des Lohnanspruchs gemäß § 326 II 1 Altn.1 BGB).
Bei schwerwiegender Nebenpflichtverletzung kann der AN das Arbeitsverhältnis binnen zwei Wochen ab Kenntnis von der Pflichtverletzung nach § 626 BGB fristlos
kündigen. Nach § 628 II BGB ist der ArbG dem AN in diesem Fall zum Ersatz der
durch die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schadens verpflichtet.
1. Der Schutz von Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers
Der Schutz von Leben und Gesundheit des AN, den schon die Vorschriften der §§ 617
bis 619 BGB bezwecken, hat im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) von 1996 und den
auf Grundlage seiner §§ 18 bis 20 erlassenen Rechtsverordnungen eine umfassende
Regelung gefunden. Ergänzend sind die nach § 15 SGB VII erlassenen Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften zu beachten. Nach diesen Bestimmungen
kann der AN einen Erfüllungsanspruch haben (z.B. auf Zurverfügungstellung von
Schutzkleidung), ein Leistungsverweigerungsrecht erhalten und bei Sachschäden einen
Schadensersatzansprüche geltend machen.
Erleidet der AN dadurch einen Personenschaden (Körperverletzung oder Tod), dass
der ArbG seine Arbeitsschutzpflichten verletzt, handelt es sich um einen Arbeitsunfall
oder eine Berufskrankheit eines Beschäftigten (§ 2 I Nr. 1 SGB VII) im Sinne der §§ 7
bis 9 SGB VII. In diesen Fällen ist die Haftung des ArbG nach § 104 SGB VII durch
einen Anspruch auf Leistungen der zuständigen Berufsgenossenschaft als Unfallversicherer abgelöst, den der ArbG kraft Gesetzes verpflichtet ist, durch seine Beiträge zu
finanzieren. Die Berufsgenossenschaft hat für den ArbG damit die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Zur Ablösung der Haftung des AN gemäß § 105 SGB VII, der im
Rahmen seiner betrieblichen Tätigkeit einem Arbeitskollegen Personenschaden zufügt,
siehe unten § 27 III. 2.
2. Der Schutz von Besitz und Eigentum des Arbeitnehmers
Der ArbG ist zum Schutz von Besitz und Eigentum des AN an Gegenständen verpflichtet, die dieser mit sich führen muss oder darf (z.B. Tageskleidung, Arbeitskleidung,
Armbanduhr, Geldbörse, Pkw). Der ArbG hat im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren für eine sichere Aufbewahrung Sorge zu tragen. Bei Beschädigung und Verlust
haftet der ArbG unter der Voraussetzung des Vertretenmüssens (§§ 276, 278 BGB) auf
Schadensersatz aus Pflichtverletzung (§ 280 I BGB), ggf. aus. unerlaubter Handlung (§
823 I BGB). Eine verschuldensunabhängige Haftung des ArbG gegenüber dem AN auf
Ersatz analog § 670 BGB kommt nicht nur bei freiwilligen Aufwendungen des AN für
seinen ArbG in Betracht (z. B. Ersatz für Betriebsstoffe und Verschleiß bei dienstlicher
Fahrt mit eigenem Pkw), sondern auch bei Sachschäden des AN, die er bei betrieblicher veranlasster Tätigkeit erleidet (z. B. an seiner Kleidung).
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Rein vermögensbezogene Schutzpflichten zu Gunsten des AN treffen den ArbG z.B.
in Ansehung der ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Pflichten zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und der Lohnsteuer des AN. Hierher gehören ferner Aufklärungspflichten des ArbG z.B. über die Rechtsnachteile des AN aus dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages (unten § 28 III.).
3. Der Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers
a) Nach § 241 II BGB trifft den ArbG auch die arbeitsvertragliche (Neben-)Pflicht zum
Persönlichkeitsschutz des AN. Verfassungsrechtlich ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Art. 1 I und 2 I GG gewährleistet. Es hat seine spezielle Ausprägung in
zahlreichen Sondergesetzen gefunden. So z.B. im AGG, im BDSG und in den §§ 22,
23 KunstUrhG (Recht am eigenen Bild). Im Recht der unerlaubten Handlungen des
BGB wird es als „sonstiges Recht“ i.S.v. § 823 I BGB geschützt. Nach § 75 II BetrVG BetrVG sind ArbG und Betriebsrat verpflichtet, „die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern.“
Kollidiert das Persönlichkeitsrecht des AN mit gleichfalls grundgesetzlich geschützten
betrieblichen Interessen des ArbG (Art. 12 und 14 GG), ist dieser Konflikt im Wege der
Güter- und Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu lösen (oben § 3 III. 2 vor (1). So z.B. beim Fragerecht des ArbG im
Einstellungsgespräch und bei der Überwachung des AN am Arbeitsplatz sowie der Torund Taschenkontrolle.
b) Einzelfälle: Nach dem AGG ist der ArbG verpflichtet, Benachteiligungen des AN
wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zu verhindern oder zu beseitigen. Hierunter fällt auch das Mobbing. das für den ArbG zu Konsequenzen nach § 12, 14 und 15
AGG führen kann. Daneben kommen Ansprüche des betroffenen AN aus Pflichtverletzung und unerlaubter Handlung in Betracht. Das Mobbing aus anderen als den in § 1
AGG genannten Gründen fällt ausschließlich unter § 241 II BGB sowie §§ 823 I/II, §
826 BGB. Ohne die eingrenzende Bezugnahme auf die in § 1 AGG genannten Gründe
ist der ArbG auch verpflichtet, den AN am Arbeitsplatz vor sexueller Belästigung i.S.d.
§ 3 IV AGG zu schützen.
Dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dient das BDSG, das
sich auch an private ArbG richtet. Hierhergehört ferner der Anspruch des AN auf Beschäftigung (oben § 3 III. 2. (1)) sowie die Regeln über die Personalaktenführung, die
dem AN über seine (auch in betriebsratsfreien Betrieben geltenden) Rechte aus § 83
BetrVG hinaus auch die Befugnis geben, unzutreffende Eintragungen löschen zu lassen
(oben § 3 III. 2. (1)).
4. Die Pflicht zur Zeugniserteilung
§ 630 Satz 4 BGB weist darauf hin, dass der Anspruch des AN gegen den ArbG auf
Zeugniserteilung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus § 109 GewO folgt.
Auf Verlangen des AN ist vom ArbG entweder ein einfaches Zeugnis über die Art
und Dauer des Arbeitsverhältnisses und eine genaue Beschreibung der ausgeübten Tätigkeit oder ein qualifiziertes Zeugnis, zu erteilen, das darüber hinaus Angaben über
Leistung und Verhalten enthält. Bei sehr kurzen Arbeitsverhältnissen kann ein qualifiziertes Zeugnis allerdings nicht verlangt werden.
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Aus triftigem Grund kann der AN auch ein einfaches oder qualifiziertes Zwischenzeugnis verlangen, etwa im Falle seiner Versetzung, der Zuweisung einer neuen Tätigkeit, eines Wechsels des Vorgesetzen, bei längerem Ruhen des Arbeitsverhältnisses
z.B. infolge Elternzeit, ferner zur Teilnahme an einer Fortbildung sowie im Falle eines
beabsichtigten Stellenwechsels.
Bei Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses ist der Ausbildende nach § 16 BBiG verpflichtet,
dem Auszubildenden ein Zeugnis auszustellen, das zusätzlich Angaben über das „Ziel der Berufsausbildung sowie über die erworbenen beruflichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten des Auszubildenden“ enthalten muss. Auf Verlangen des Auszubildenden sind in das Zeugnis auch Angaben über Verhalten und Leistung aufzunehmen.
Das Zeugnis muss äußerlich eine ordentliche Form aufweisen. Die elektronische Form
ist nach § 630 Satz 3 BGB ausgeschlossen.
Nach § 109 II GewO muss das Zeugnis „klar und verständlich formuliert“ sein und
darf keine Geheimzeichen oder Geheimsprache enthalten. Da es für künftige ArbG
eine Grundlage ihrer Personalauswahl ist, muss es vollständig und wahrheitsgemäß
sein. Da es das berufliche Fortkommen des AN aber nicht unnötig erschweren darf, soll
es zugleich vom Wohlwollen eines verständigen ArbG getragen sein. Zwischen beiden Maßstäben besteht ein Spannungsverhältnis. Das führt häufig zu nichts sagenden
oder verschleiernden Wendungen sowie Auslassungen.
In der Praxis hat sich hat sich eine abschließende Beurteilung in Anlehnung an die
Schulnoten von „sehr gut“ bis „ungenügend“ durchgesetzt, wobei die Steigerung von
einer ausreichenden zu einer besseren Bewertung zumeist durch Fortlassen oder Hinzufügen des Wortes „stets“ und durch Fortlassen, Hinzufügen oder die (sprachlich fehlerhafte) Steigerung des Wortes „voll“ ergänzend zur behaupteten „Zufriedenheit“ des
ArbG zum Ausdruck gebracht wird: „zu unserer Zufriedenheit“ (= ausreichend), „stets
zu unserer Zufriedenheit (= befriedigend bis ausreichend), „zu unserer vollen Zufriedenheit“ (= befriedigend), „stets zu unserer vollen Zufriedenheit“ (= gut), „zu unserer
vollsten Zufriedenheit“ (= sehr gut bis gut), „stets zu unserer vollsten Zufriedenheit“ (=
sehr gut).
Kommt es zu einem Rechtsstreit, weil der AN eine über „befriedigend“ hinausgehende
Bewertung beansprucht, trägt er die Beweislast (BAG v. 18.11.2014 – 9 AZR 584/13 –
in NZA 2015, ). Der ArbG trägt die Beweislast für eine schlechtere Bewertung.
In der Praxis wird häufig die Note „gut“ vergeben, um zeitraubenden und kostenträchtigen Auseinandersetzungen mit dem ausgeschiedenen AN aus dem Wege zu gehen.
Das beeinträchtigt allerdings den Aussagewert der Schlussbeurteilung und führt nicht
selten dazu, dass der künftige ArbG den ehemaligen ArbG um erläuternde Auskünfte
bittet. Das Datenschutzrecht und die Rechtsprechung zum Persönlichkeitsschutz setzen
der Erfüllung dieses Verlangens allerdings Grenzen. Im Grundsatz ist hierzu die (vorherige) Einwilligung des ausgeschiedenen Mitarbeiters erforderlich und ihm auf Verlangen über Inhalt und Empfänger der Auskunft Mitteilung zu machen.
Die Wortwahl im Zeugnis liegt im „billigen Ermessen“ des ArbG, wobei er sich bei
seiner Abfassung im Einzelfall mit der gebotenen Vorsicht auch der Mitwirkung des
AN bedienen darf, schon um späteren Auseinandersetzungen mit dem ausgeschiedenen
Mitarbeiter vorzubeugen. Auf eine Schlussformel, wie z.B. „mit Dank und guten Wünschen“, hat der AN keinen Anspruch (BAG v. 11.12.2012 – 9 AZR 227/11 – in ArbR
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2013; 14), sie wird aber in der Regel verwendet. Ist der Zeugnisinhalt unzutreffend,
kann der AN nach § 611 BGB i.V.m. § 109 GewO eine Zeugnisberichtigung verlangen. Sagt der ArbG wider besseres Wissen Ungünstiges, kann er einem Schadensersatzanspruch des AN gegen ihn aus §§ 611 BGB, 109 GewO, 280 I BGB ausgesetzt
sein. Erteilt er dem AN ein zu günstiges Zeugnis, kann er dem späteren ArbG des AN
gegenüber aus § 826 BGB oder vertragsähnlichem Rechtverhältnis im Sinne von §§
311 II Nr. 3 oder III, 241 II, 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden.
5. Die Herausgabe der Arbeitspapiere
Bei der tatsächlichen Beendigung seines Arbeitsverhältnisses hat der ArbG dem AN die
in seinem Besitz befindlichen und ggf. ordentlich ausgefüllten Arbeitspapiere herauszugeben. Dazu gehören zum einen – mit Ausnahme des Lebenslaufs und der Bewerbungsschrift – alle Unterlagen, die der AN dem ArbG zu Beginn des Arbeitsverhältnisses überlassen hat, wie z.B. den Sozialversicherungsausweis, den Gesundheitspass, die
Arbeitserlaubnis und die Mitgliedsbescheinigung der Krankenkasse. Zum anderen geht
es vor allem um die Lohnsteuerbescheinigung nach § 41b I 2 EStG, die für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erforderliche Arbeitsbescheinigung nach § 312 SGB III,
die Urlaubsbescheinigung nach § 6 II BUrlG, die Bescheinigung über die Meldungen
an die Sozialversicherung nach § 25 DEÜV und ggf. Unterlagen über die betriebliche
Altersversorgung.
An den Arbeitspapieren hat der ArbG kein Zurückbehaltungsrecht wegen etwaiger
Gegenansprüche. Die Herausgabe der Papiere darf er auch nicht davon abhängig machen, dass der AN eine Ausgleichsquittung unterzeichnet, mit der er bestätigt, dass alle
Ansprüche des AN gegen den ArbG aus dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung
damit abgegolten sind. Die Empfangsbestätigung der Arbeitspapiere und die Erteilung
einer Ausgleichsquittung sind zwei voneinander unabhängige und deutlich zu trennende Rechtsakte.
Im Übrigen ist festzuhalten, dass der AN dem ArbG von Rechts wegen nur zur Erteilung einer Quittung
nach § 368 Satz 1 BGB, mit der er Empfangs einer Leistung des ArbG bestätigt, verpflichtet ist. Auf die
Erteilung einer Ausgleichsquittung hat der ArbG keinen Anspruch. Da sie im Regelfall den Zweck
hat, alle (oder eine bestimmte Gruppe von) bekannten oder unbekannten Ansprüchen zum Erlöschen zu
bringen (= konstitutives, negatives Schuldanerkenntnis i.S.d. § 397 II BGB), stellt sie für den AN ein hohes Risiko dar, auf das er sich nicht einlassen muss. Wird eine vom ArbG vorformulierte Ausgleichsquittung dennoch vom AN unterschrieben, kommen zu seinem Schutz die §§ 305 ff. BGB zur Anwendung.
Nach § 307 I 1 BGB sind den AN einseitig belastende Ausgleichsquittungen, die nur ihm einen Verzicht
abverlangen, ohne (wie etwa in einem Aufhebungsvertrag) eine entsprechende Gegenleistung zu gewähren, unwirksam (BAG v. 21.6.2011 – 9 AZR 203/10 – in NZA 2011, 180 ff. Rn. 47 ff.; vgl. einseitige
Ausschlussklauseln, die nur Ansprüche des AN gegen den ArbG erfassen, unten § 44 II.). – Ist die vom
ArbG vorformulierte Bestätigung des Empfangs der Arbeitspapiere unauffällig mit der Aussage verknüpft, dass weitere Ansprüche des AN gegen den ArbG nicht bestehen, wird die so versteckte Ausgleichsquittung schon nach § 305c I BGB als überraschende Klausel nicht Bestandteil der Vereinbarung
(vgl. die überraschende Ausschlussklausel, unten § 44 II.). Hat sich der AN über Inhalt der Vereinbarung
(die er wirklich gelesen und nicht nur blind unterschrieben hat) in einem Irrtum befunden, kann er seine
Erklärung ferner nach § 119 I BGB anfechten, im Fall arglistiger Täuschung nach § 123 BGB, um sich
bestehende Forderungsrechte zu erhalten.
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VII. Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitnehmers
Unter bestimmten Voraussetzungen hat der AN das Recht, die Arbeitsleistung zu
verweigern. Wie das Maßregelungsverbot des § 612a BGB klarstellt, darf der ArbG
die Leistungsverweigerung in diesem Fall nicht mit Sanktionen beantworten, wie etwa
mit einer Abmahnung oder einer Kündigung. Darüber hinaus behält der AN nach § 615
Satz 1 BGB seinen Entgeltanspruch, ohne die ausgefallene Arbeitszeit nachholen zu
müssen.
Solche Leistungsverweigerungsrechte enthält schon das Allgemeine Schuldrecht des
BGB:
► Nach § 320 BGB kann der AN seine Arbeitsleistung verweigern, wenn sich der
ArbG mit der ihm obliegenden Gegenleistung, die vereinbarte Vergütung zu zahlen,
in einem nicht unerheblichen Rückstand befindet;
► Nach § 273 BGB hat der AN an seiner Arbeitsleistung ein Zurückbehaltungsrecht,
wenn der ArbG seine Nebenpflichten aus dem Arbeitsvertrag verletzt, beispielsweise die nach § 618 BGB zum Schutz von Leben und Gesundheit des AN erforderlichen Maßnahmen nicht ergreift.
Im Übrigen enthalten z.B. § 9 III ArbSchG und § 14 AGG spezielle arbeitsrechtliche
Leistungsverweigerungsrechte.
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§ 17 Das Ausbleiben der Arbeitsleistung
I. Vorbemerkungen
Wenn die Leistung des Schuldners ausbleibt, ist das ein Tatbestand, der Anlass gibt,
danach zu fragen,
• ob der Schuldner die ausgebliebene Leistung nachholen muss oder nicht;
• welche Auswirkungen das Ausbleiben der Leistung des Schuldners im gegenseitigen
Vertrag auf die Pflicht des Gläubigers zur Erbringung seiner Gegenleistung hat;
• ob dem Gläubiger ein Anspruch gegen den Schuldner auf Ersatz des ihm durch die
Nichtleistung entstandenen Schadens zusteht.
Diese Fragen stellen sich auch für den Fall des Ausbleibens der Arbeitsleistung des AN.
Die Antworten jedoch, die das Allgemeine Schuldrecht des BGB bereithält, werden den
Besonderheiten des Arbeitsrechts nur teilweise gerecht. Vor allem bei der Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen der Nichtleistung von Arbeit auf den Lohnanspruch des AN geht das Arbeitsrecht eigene Wege.
II. Die Nichtleistung der Arbeit ein Fall der Unmöglichkeit der Leistung
Im Gegensatz zum Werkvertrag, dessen Gegenstand nach § 631 II BGB ein „durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg“ ist, verpflichtet sich der AN nach §
611 I BGB „zur Leistung der versprochenen Dienste“. Die Leistung ist also “nicht erfolgsbezogen, sondern zeitbezogen bestimmt“ (Richardi in NZA 2002, 1006). Darum
bemisst sich auch die Vergütung des AN regelmäßig nach Zeiträumen ohne Rücksicht
auf die Quantität oder Qualität seiner Arbeit (Zeitlohn; oben § 16 II. 2.). Und folgerichtig
spricht § 2 II EFZG von „Arbeitszeit, die infolge eines gesetzlichen Feiertages ausfällt“.
Der AN verpflichtet sich, Arbeit zu einer bestimmten Zeit zu leisten. Ist der AN in diesem
Zeitraum nicht tätig, ist die Erfüllung dieser Verpflichtung durch Zeitablauf endgültig
ausgeblieben. Die Verpflichtung zur Arbeitsleistung begründet somit eine absolute Fixschuld. Die ausgebliebene Arbeitsleistung ist darum nicht ein Fall der Leistungsverzögerung, sondern der Unmöglichkeit der Leistung im Sinne von § 275 I BGB. Der in dieser Vorschrift angeordnete Ausschluss von der Pflicht zur Leistung tritt mit dem Augenblick ein, in dem der AN zu dem vertraglich vorgegebenen Zeitpunkt tatsächlich nicht
tätig ist.
Natürlich kann ein AN, wenn dies arbeitstechnisch machbar ist, durch sein Fehlen liegen gebliebene Arbeit
nach Wiederaufnahme seiner Tätigkeit neben der nunmehr geschuldeten Leistung mit erledigen. Die ausgefallene Arbeitszeit wird dadurch aber nicht nachgeholt. Ausgefallene Arbeitszeit kann nur durch zusätzliche Arbeitszeit ersetzt werden, was in einem Betrieb normalerweise kaum möglich ist. Gelegentlich
sieht ein Tarifvertrag die Nachholung ausgefallener Stunden oder Schichten vor. Im Fall von Gleitzeitarbeit oder der Führung von Arbeitszeitkonten kann eine Nachleistungspflicht in Betracht kommen. Unmöglichkeit tritt dann erst ein, wenn die Arbeit in dem hiernach zur Verfügung stehenden Erfüllungszeitraum nicht geleistet wird. (Zit)
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III. Die Auswirkung des Ausbleibens der Arbeit auf den Lohnanspruch des AN
1. Ist der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Nacherbringung der ausgebliebenen Arbeitsleistung nach § 275 I BGB ausgeschlossen, würde nach der Regel des § 326 I 1
BGB auch der Anspruch des AN gegen den ArbG auf Lohnzahlung entfallen: Ohne Arbeit kein Lohn. Diese Rechtsfolge ist kein Fall des Schadensersatzes, sondern trägt ausschließlich der Tatsache Rechnung, dass der Arbeitsvertrag ein gegenseitiger, d.h. ein auf
den Austausch von einander geschuldeten Leistungen gerichteter Vertrag ist: Wenn es
dem einen Vertragsteil unmöglich ist, seine Leistung zu erbringen, soll er vom anderen
Vertragsteil auch nicht die Gegenleistung verlangen dürfen. Insoweit spielt es auch keine
Rolle, ob der Schuldner die Unmöglichkeit seiner Leistung zu vertreten hat oder nicht.
Das Vertretenmüssen des Schuldners ist erst dann von Bedeutung, wenn der Gläubiger
von ihm wegen der Nichterfüllung Schadensersatz (statt der – durch Zeitablauf endgültig
ausgebliebenen – Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB) begehrt (unten § 25).
Von der Regel des § 326 I 1 BGB kennt das Arbeitsrecht jedoch eine Vielzahl von Ausnahmevorschriften innerhalb und außerhalb des BGB, nach denen dem AN der Anspruch auf den Arbeitslohn trotz Unmöglichkeit seiner Arbeitsleistung erhalten bleibt
(Einzelheiten nachfolgend unter §§ 18 bis 24). In diesen Fällen erfüllt das Ausbleiben
der Arbeitsleistung noch nicht einmal den objektiven (= äußeren) Tatbestand einer Vertragsverletzung (= Pflichtverletzung): Wer aus den dort genannten Gründen keine Arbeit
leisten kann, leisten muss oder leisten darf, verletzt keine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis.
Fragt man nach Gründen für diese Abweichung von dem alle anderen Austauschverträge
kennzeichnenden Grundsatz des „do ut des“ (= ich gebe dir weil/damit du mir gibst), so
kann festgestellt werden, dass dem ArbG eine Vergütungspflicht ohne Arbeitsleistung im
Großen und Ganzen aus sozialen Gründen auferlegt wird. Dabei geht es um teilweise
sehr verschiedenartige Situationen. Das sind hauptsächlich die Fälle, in denen
(1) der Grund für das Ausbleiben der Arbeitsleistung darin liegt, dass das Gesetz den
AN von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung unter Beibehaltung seines Lohnanspruchs freigestellt. Dazu gehört die Entgeltzahlung an gesetzlichen Feiertagen nach § 2
EFZG und während des Erholungsurlaubs nach Maßgabe des BUrlG.
(2) der Grund für das Ausbleiben der Arbeitsleistung zwar in den persönlichen Verhältnissen des AN liegt, das Gesetz dem ArbG aber trotzdem die Verpflichtung zur
Lohnzahlung auferlegt. Hierbei geht es zum einen darum, dass dem AN die Erbringung
seiner Arbeitsleistung nach § 3 EFZG infolge Krankheit oder nach § 616 BGB infolge
persönlicher Verhinderung unmöglich oder unzumutbar ist. Zum anderen gehört hierher
auch die Zahlung des Arbeitsentgelts nach § 11 MuSchG oder des Zuschusses zum Mutterschaftsgeld nach § 14 MuSchG während der Beschäftigungsverbote nach §§ 3 ff.
MuSchG.
(3) der Grund für den Arbeitsausfall dem Verantwortungsbereich des ArbG zuzurechnen ist. Hierher gehört vor allem die Anwendung des § 615 BGB, wenn der ArbG den
AN entweder aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann (Annahmeunmöglichkeit) oder aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Überlegungen nicht beschäftigen will (Annahmeunwilligkeit). Von geringer praktischer Bedeutung ist die Vorschrift des § 326 II 1 Altn. 1 BGB.
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2. Bevor Einzelheiten der Entgeltzahlung trotz Nichtleistung der Arbeit behandelt werden, kommt es zu einem tabellarischen Überblick über die arbeitsrechtlichen Ausnahmen von der Regel des § 326 I 1 BGB:
Ausbleiben der Arbeitsleistung
Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung
(1) an gesetzlichen Feiertagen nach Maßgabe der (1) gemäß § 2 EFZG
§§ 9 ff. ArbZG
(2) von Funktionsträgern der Betriebsverfassung gemäß §§ 37 II, 38 BetrVG,
§ 14 I SprAuG, § 96 IV SGB IX
(2) gemäß §§ 37 II, 38 BetrVG, § 14 I SprAuG,
§ 96 IV SGB IX
(3) bei Betriebsratswahlen gemäß § 20 III BetrVG, zum Besuch des Betriebsrats gemäß §
39 III BetrVG und zur Teilnahme an der Betriebsversammlung gemäß § 44 I 2 BetrVG
(3) gemäß §§ 20 II, 39 III, 44 I 2 BetrVG
(4) Auszubildender wegen Teilnahme am Berufsschulunterricht und an Prüfungen gemäß § 7
BBiG
(4) gemäß § 12 I 1 Nr. 1 BBiG
(5) wegen Erholungsurlaubs nach Maßgabe der
§§ 1 ff. BUrlG
(5) in Gestalt des Urlaubsentgelts nach §§ 11, 12
BUrlG
(6) im Krankheitsfall nach § 3 EFZG
(6) gemäß § 3 EFZG; Aufwendungsausgleich für den
ArbG nach dem AAG
(7) aus Gründen des Mutterschutzes nach Maßga- (7) Arbeitsentgelt gemäß § 11 MuSchG oder Zuschuss
be der §§ 3 ff. MuSchG
zum Mutterschaftsgeld gemäß § 14 MuSchG; Aufwendungsausgleich für den ArbG nach dem AAG
(8) wegen vorübergehender Verhinderung nach
Maßgabe des § 616 BGB
(8) gemäß § 616 BGB
(9) weil der ArbG dafür allein oder weit überwie- (9) gemäß § 326 II 1, Alt. 1 BGB
gend verantwortlich ist, § 326 II 1, Alt. 1 BGB
(10a) weil der ArbG dem AN die Beschäftigung
(10a) gemäß § 615 S. 1 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB
verwehrt (Annahmeunwilligkeit), vor allem im
Falle arbeitsgeberseitig rechtswidriger Kündigung oder Aussperrung sowie bei wirtschaftlicher Schwäche des ArbG
(10b) weil der ArbG den AN aus betrieblichtechnischen Gründen nicht beschäftigen kann
(Annahmeunmöglichkeit)
(10b) gemäß § 615 S. 3 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB
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§ 18 Lohn ohne Arbeit gemäß § 326 II 1 Altn.1 BGB
I. Die Anordnung des § 326 II 1 Altn.1 BGB, dem Schuldner die Gegenleistung zu erbringen, wenn seine Leistung aus Gründen ausfällt, für die der Gläubiger „allein oder weit überwiegend verantwortlich“ ist, gilt auch im Arbeitsrecht. Wenn der AN
nicht leisten kann, weil der ArbG diesen Umstand zu vertreten hat, behält der AN seinen
Anspruch auf den Arbeitslohn. Angesichts des breiten Anwendungsbereichs des § 615
BGB (nachfolgend § 19), ist die praktische Bedeutung des § 326 II 1 Altn. 1 BGB gering.
Da der ArbG der Gläubiger der Arbeitsleistung ist, die §§ 276 ff. BGB aber von der Verantwortlichkeit des
Schuldners sprechen, finden die §§ 276, 278 BGB auf den ArbG hier analoge Anwendung. In den nachfolgend unter 1. und 2. aufgeführten Situationen ist allerdings von einer unmittelbaren Anwendung dieser
Vorschriften auszugehen, wenn man berücksichtigt, dass der ArbG hier Nebenpflichten zum Schutz des
AN (Fürsorgepflichten) verletzt (oben § 16 VI.).
1. § 326 I 1 Altn.1 BGB trifft zum einen den Sonderfall, dass der ArbG für die Arbeitsunfähigkeit des AN deswegen verantwortlich ist, weil er den Verlust, den Untergang oder die Beschädigung von besonderen, für dessen Arbeitsleistung unerlässlichen Arbeitsutensilien nach § 276 BGB oder § 278 BGB zu vertreten hat. Das ist z.B. der Fall,
wenn die für den Auftritt des angestellten Artisten notwendigen Tonbänder, Geräte oder
Tiere nicht zur Verfügung stehen, weswegen die Darbietung ausfallen muss.
Hier würde auch § 615 BGB greifen. Es handelt sich um einen Fall der Annahmeunmöglichkeit des ArbG,
weil er nicht in der Lage ist, dem AN das Substrat (= die Grundlage) in Gestalt der für seine Arbeitsleistung
technisch erforderlichen Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Dieses Manko, einerlei ob verschuldet oder nicht, belastet den ArbG als Ausdruck seines Betriebsrisikos (nachfolgend § 19 II. 1.).
2. Zum anderen bedarf es für den Fall einer vom ArbG verschuldeten Erkrankung des
AN der Anwendung des § 326 II 1 Altn. 1 BGB, wenn sie die Dauer von sechs Wochen
überschreitet; denn bis zur Dauer von sechs Wochen erhält der AN die Entgeltfortzahlung des § 3 EFZG auch und erst recht dann, wenn der ArbG für die Erkrankung des AN
verantwortlich ist.
II. Hierher gehören auch die Fälle, in denen der AN die Arbeitsleistung durch Geltendmachung der Einrede des nicht erfüllten Vertrages gemäß § 320 BGB wegen
arbeitgeberseitiger Verletzung seiner Hauptpflicht, die vereinbarte Vergütung zu entrichten, oder aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts wegen arbeitgeberseitiger Verletzung
von Nebenpflichten, etwa nach § 9 III ArbSchG oder § 14 AGG, ansonsten nach § 273 I
BGB, verweigert (oben § 14 III.). In all diesen Fällen bleibt dem AN der Anspruch auf
das Entgelt erhalten, wenn und weil er die Arbeit aus Gründen verweigert, für die der
ArbG allein oder weit überwiegend verantwortlich ist.
Dieses Ergebnis lässt sich allerdings auch auf der Grundlage von §§ 615, 298 BGB erreichen (nachfolgend
§ 19 III.).
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§ 19 Lohn ohne Arbeit gemäß § 615 BGB
I. § 615 BGB verdrängt § 326 II 1 Altn. 2 BGB
Im Arbeitsrecht tritt an die Stelle des § 326 II 1 Altn. 2 BGB der § 615 BGB.
§ 615 BGB erfasst die Fälle, in denen dem arbeitsfähigen und arbeitswilligen AN die
Arbeitsleistung unmöglich wird, weil der ArbG ihn nicht beschäftigt und deswegen
auch nicht bezahlt.
Einerlei, warum der ArbG den AN die Arbeitsleistung nicht erbringen lässt, er wird hierfür seine Gründe haben, aus denen ihm nicht immer ein Schuldvorwurf gemacht werden
kann. Mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit des AN ist er jedoch nicht befugt, dem AN
deswegen zugleich den Lohn vorzuenthalten. Darum bestimmt § 615 BGB i.V.m. §§ 293
ff. BGB, dass dem AN in diesen Fällen entgegen § 326 I 1 BGB der Anspruch auf die
Gegenleistung in Gestalt seines Arbeitslohnes aus § 611 BGB trotz ausbleibender Arbeitsleistung erhalten bleibt, ohne dass es darauf ankommt, ob der ArbG die Gründe für
das Zurückweisen der Arbeitsleistung des AN zu vertreten hat oder nicht.
Auch wenn der ArbG die Gründe für die Zurückweisung der Arbeitsleistung des AN zu vertreten hat,
braucht der seinen Lohn beanspruchende AN nicht den § 326 II 1 Altn. 1 BGB (siehe vorstehend § 18) zu
bemühen, sondern kann sich einfach auf § 615 BGB stützen.
II. Die Fallgruppen des § 615 BGB
Fragt man nach den Gründen, die den ArbG veranlassen, den AN nicht zu beschäftigen
und deswegen die Entlohnung einzustellen, lassen sich zwei Fallgruppen bilden.
1. Die eine Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der ArbG den AN aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann, so dass dem AN die Arbeitsleistung unmöglich ist. Man spricht man insoweit vom Fall der Annahmeunmöglichkeit des
ArbG, für die § 615 Satz 3 BGB gilt.
Als Situationen dieser Art kommen z.B. in Betracht: Brand im Betrieb, Maschinenschaden, Ausfall der
Stromversorgung, Ausfall der Heizung im Winter, Rohstoffmangel und behördliche Verbote sowie eine
Überschwemmung des Betriebsgeländes und andere Naturkatastrophen, die die Produktion verhindern. Es
sind dies Gründe, die den ArbG nach § 615 Satz 3 BGB als Ausdruck des Betriebsrisikos belasten mit der
Folge, dass er entsprechend § 615 S. 1 BGB lohnzahlungsverpflichtet bleibt.
2. Die andere Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der ArbG dem AN die Beschäftigung verwehrt, so dass dem AN die Arbeitsleistung unmöglich ist. Man spricht
insoweit vom Fall der Annahmeunwilligkeit des ArbG, für die § 615 Satz 1 BGB gilt.
Beispiele hierfür sind die Fälle,

in denen der ArbG nach dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung oder nach dem Ablauf der
ordentlichen Kündigungsfrist den gekündigten AN bei sich verständlicherweise nicht weiterbeschäftigt und auch nicht mehr entlohnt, weil er das Arbeitsverhältnis beendet hat, die vom AN dagegen angestrengte Kündigungsschutzklage jedoch die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung feststellt,
so dass der ArbG sich von Anfang an nach § 615 Satz 1 BGB im Annahmeverzug befindet;
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
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in denen der ArbG nicht genug Arbeit hat, weswegen es sich für ihn nicht lohnt, den AN zu beschäftigen, wie bei Auftrags- bzw. Absatzmangel, fehlender Verleihmöglichkeit im Arbeitnehmerüberlassungsgewerbe, ausbleibendem Abruf zur vereinbarten Tätigkeit. Es handelt sich hierbei jedoch
um Situationen, die der ArbG nicht zu Lasten des Entgeltanspruchs des AN abfedern darf. Den ArbG
trifft insoweit das Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko, das ihn ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Einsatz seiner AN zur uneingeschränkten Lohnzahlung verpflichtet, § 615 Satz 1 BGB. Auf der
gleichen Linie liegt es, wenn die vom ArbG wegen einer augenblicklichen Flaute angeordnete Kurzarbeit mangels Ermächtigungsgrundlage unwirksam ist (siehe oben § 15 III. 3.).
Auch das Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko kann als eine Form des Betriebsrisikos des ArbG:
Das in § 615 Satz 3 BGB genannte Betriebsrisiko ist betrieblich-technischer Natur, das Wirtschaftsbzw. Beschäftigungsrisiko ist ein den ArbG treffendes Betriebsrisiko betrieblich-wirtschaftlicher
Natur.
3. Beachte: Von der aus § 615 BGB fließenden Vergütungspflicht kann sich der ArbG
vor allem durch die (rechtmäßige) Anordnung von Kurzarbeit (oben § 15 III. 3.), bei
lang andauernder Störung durch betriebsbedingte Kündigungen befreien. Angesichts
dieser Möglichkeiten besteht für eine Einschränkung der Vergütungspflicht des ArbG im
Fall einer seine Existenz gefährdenden Notlage seines Unternehmens kein Bedarf.
4. Der Vergütungsanspruch des AN geht auf die Zahlung des Bruttolohns. Dass er nach
§ 615 S. 1 BGB zur Nachleistung nicht verpflichtet ist, folgt schon aus § 275 I BGB.
Nach § 615 S. 2 BGB muss der AN sich wie in § 326 II S. 2 BGB
tungsanspruch dreierlei anrechnen lassen:



auf den Vergü-
durch den Arbeitsausfall ersparte Aufwendungen, wie z.B. notwendige Fahrtkosten. Das gilt allerdings nicht im Fall des § 11 KSchG;
anderweitig erzielte Bruttoeinkünfte oder öffentlich-rechtliche Sozialleistungen;
böswillig unterlassenen Erwerb. Sein Vergütungsanspruch mindert sich daher um Einnahmen, die
der AN in der Zeit des Arbeitsausfalls hätte erzielen können, er die Erwerbsmöglichkeit aber vorsätzlich grundlos ablehnt oder vorsätzlich verhindert, obwohl sie ihm zumutbar ist.
III. § 615 BGB als Sonderfall des Gläubigerverzugs
§ 615 BGB ist ein Sonderfall des Gläubigerverzugs, so dass es in Ansehung seiner Voraussetzungen auf die Bestimmungen der §§ 293 ff. BGB ankommt. Daraus folgt,

dass § 615 BGB wie schon vorstehend unter I. hervorgehoben auch dann anwendbar ist, wenn der ArbG als der Gläubiger der Arbeitsleistung den Grund für
die Nichtbeschäftigung des AN nicht zu vertreten hat;

dass der AN zur Verdeutlichung seiner Arbeitsbereitschaft seine Arbeitsleistung tatsächlich (§ 294 BGB), ggf. nur wörtlich (§ 295 BGB) anbieten muss;
Gestützt vor allem auf § 296 S. 1 BGB (= ArbG unterlässt kalendarisch bestimmte [Arbeitszeit!] Mitwirkungshandlung durch Nichtzurverfügungstellung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes) lässt die
h.M. hiervon im Ergebnis sinnvolle Ausnahmen zu. So muss der gekündigte AN außer der Anrufung
des Arbeitsgerichts (§ 4 KSchG) nichts weiter unternehmen, um den Anspruch auf die Vergütung
Prozessgewinn vorausge
aufrecht zu erhalten. Das gleiche gilt für den Rechtsstreit über die
Wirksamkeit einer Befristung (§ 17 TzBfG). Selbst im Fall der unrechtmäßigen Anordnung von
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Kurzarbeit wendet das BAG v.27.1.1994 – 6 AZR 541/93 – in NZA 1995, 134 unter II. 1. § 296 S. 1
BGB an. Im Übrigen gerät der ArbG bei Abrufarbeit ohne weiteres in Annahmeverzug, wenn er die
Arbeitsleistung des AN nicht im Umfang des Mindestdeputats abruft.

wobei § 297 BGB klarstellt, dass die Fähigkeit und Bereitschaft des AN zur Arbeitsleistung im Augenblick seines tatsächlichen (§ 294 BGB) oder wörtlichen (§
295 BGB) Angebots der Arbeitsleistung oder bei dessen Entbehrlichkeit nach § 296
BGB Voraussetzungen des Annahmeverzugs des ArbG ist.
Aus diesem Grunde kann der ArbG für die Zeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des AN nicht in Annahmeverzug kommen. In diesem Fall hat der AN jedoch
Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG.
Der ArbG kommt auch dann nicht in Annahmeverzug, wenn der AN nicht in der Lage ist, den Weg zur Betriebsstätte zu bewältigen. Staus, Fahrverbote, Verkehrsstreiks, Unwetter und ähnliche Vorkommnisse gehen insoweit zu Lasten des AN.
Kann der AN den Betrieb wegen des Hochwassers nicht erreichen, entfällt der Lohnanspruch; bewirkt das Hochwasser dagegen nur den Stillstand des Betriebs, ohne den
AN am Kommen zu hindern, behält er seinen Lohnanspruch.
Das Wegerisiko trifft also den AN. Ausnahmefälle sind jedoch die eigene Autopanne des AN oder
seine persönliche Unfallbeteiligung. Sie unterliegen der Anwendung des § 616 BGB wonach der AN
des Anspruchs auf die Vergütung (allerdings arbeitsvertraglich abdingbar) nicht dadurch verlustig
geht, „dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden
Grund ohne sein Verschulden (Alkoholfahrt!) an der Dienstleistung verhindert wird“ (unten § 21).

Hält der AN seine Arbeitsleistung auf der Grundlage von § 320 BGB oder von § 273
I BGB u.ä. Gegenrechten mit Recht zurück, gerät der ArbG gemäß § 298 BGB trotzdem in Annahmeverzug. Im Übrigen bleibt der ArbG dann schon wegen § 326 II
Altn. 1 BGB zur Gegenleistung verpflichtet (oben § 18).
IV. Grenzen der Abdingbarkeit des § 615 BGB
Trotz seines überragenden Schutzzwecks muss man im Umkehrschluss zu § 619 BGB
davon ausgehen, dass § 615 BGB abdingbar ist. Dies aber nur im Wege einer wirklichen
Individualvereinbarung, einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrages mit der
Einschränkung, dass das den ArbG nach § 615 BGB treffende Entgeltrisiko nicht pauschal und generell auf den AN verlagert werden darf, sondern nur für bestimmte Störungen aus dem Kreis der Tatbestände, die nicht dem Einflussbereich des ArbG zugerechnet
werden können. Ein formularmäßiges Abbedingen hingegen scheitert regelmäßig an §
307 I 1, II Nr. 1 BGB mit Ausnahme von Gelegenheitstätigkeiten. Die Klausel „Bezahlt
wird nur die tatsächlich geleistete Arbeit“ schließt nur die Anwendung des § 616 BGB
aus (unten § 21).
Die formularmäßige Vereinbarung mit der für das Reinigen einer Schule eingestellten Arbeitskraft über das
Ruhen des Arbeitsverhältnisses während der Dauer der Schulferien verstößt nicht gegen § 307 BGB,
wenn das Reinigungsobjekt in dieser Zeit geschlossen ist und Reinigungsarbeiten nicht anfallen (BAG v.
10.1.2007 – 5 AZR 84/06 – in NZA 2007, 384). Unter dieser Voraussetzung wäre auch eine Sachgrundbefristung nach § 14 II Nr. 1 TzBefrG denkbar. Würde sich der ArbG allerdings vorbehalten haben, Reinigungsleistungen auch während der Schulferien im Bedarfsfall abzufordern, wäre die Ruhensvereinbarung
nach § 307 BGB unangemessen, weil sie die Arbeitspflicht des AN bzw. ihr Ruhen einseitig dem ArbG
überantwortet und damit gegen wesentliche Grundgedanken der in § 615 BGB getroffenen Regelung verstößt (vgl. BGH v.9.7.2008 – 5 AZR 810/07 – in NZA 2008, 1408).
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Nach § 11 IV 2 AÜG darf das Recht des Leih-AN auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers
nicht aufgehoben oder beschränkt werden (unten § 43 II. 2.).
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§ 20 Lohn ohne Arbeit während eines Streiks?
I. Das Arbeitskampfrisiko
Die Beeinträchtigung eines Betriebs durch Umstände, die auf Streikmaßnahmen der AN
beruhen, befreit den ArbG nicht nur von der Lohnzahlungspflicht gegenüber den Streikenden (nachfolgend II.), sondern entgegen § 615 BGB auch gegenüber den am Streik
nicht beteiligten, arbeitswilligen AN, sofern er sie wegen des Streiks nicht mehr sinnvoll
beschäftigen kann (nachfolgend III.). An die Stelle des den ArbG in Ansehung seiner
Lohnzahlungspflicht belastenden Betriebsrisikos (oben § 1 IV. sowie § 19 I./II.) tritt das
Arbeitskampfrisiko, das sich auf ArbG und AN angemessen verteilt, um ein annähernd ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen den kämpfenden Parteien zu gewährleisten (Kampfparität): Stillstand der Produktion – Lohnverlust (vgl. oben § 5 III. 1.).
II. Die Rechtsfolgen eines Streiks für die streikenden Arbeitnehmer
1. Der rechtmäßig streikende AN (einschließlich des streikbeteiligten Außenseiters)
verletzt nicht seine Arbeitspflicht, denn er darf die Arbeit niederlegen. (Zum Arbeitskampf als Instrument der Tarifautonomie und den Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit
eines Streiks siehe oben § 5 III. 2.). Nach der Rechtsprechung führt der rechtmäßige
Streik zum Ruhen der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsvertrag, also der Arbeitspflicht des AN und der Lohnzahlungspflicht des ArbG. Das Arbeitsverhältnis als
solches bleibt hingegen bestehen und damit auch die daraus fließenden Nebenpflichten
des AN und des ArbG.
Die durch ihre Streikbeteiligung arbeitslos gewordenen AN haben nach §§ 160 II, 100 SGB III weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch auf Kurzarbeitergeld; denn der Staat darf nach §§ 160 I 1, 100 I SGB III
durch die Leistung von Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld nicht in Arbeitskämpfe eingreifen. Es gilt der
Grundsatz staatlicher Neutralität im Arbeitskampf zum Schutz der Tarifautonomie (oben § 5 I.).
Streikende Gewerkschaftsmitglieder erhalten von ihrer Gewerkschaft ein Streikgeld nach Maßgabe der
Gewerkschaftssatzung.
Nach dem Urteil des BAG v.1.3.1995 – 1 AZR 786/94 – in NZA 1995, 996 muss der ArbG in dieser Zeit
auch dann nicht gemäß § 2 I EFZG Feiertagslohn zahlen, wenn die Gewerkschaft den Streik während eines
Feiertags aussetzt (unten § 22 II.).
2. Die Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik hingegen ist eine Verletzung des Arbeitsvertrages in Gestalt der Nichtleistung. Das Ausbleiben der Arbeitsleistung führt zur
Anwendung der §§ 275 I, 326 I 1 BGB.
Der Anspruch des ArbG gegen den rechtswidrig streikenden AN auf Erfüllung des Arbeitsvertrages
durch Arbeitsleistung kann im Wege einer einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO geltend gemacht werden, ist nach § 888 III ZPO aber nicht vollstreckbar. Der schuldhaft handelnde AN kann wegen
Vertragsverletzung nach § 280 I, III, 283 BGB sowie nach § 823 I BGB aus dem Gesichtspunkt der
Verletzung des „sonstigen Rechts“ des ArbG am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (betriebsbezogener Eingriff in das Recht des ArbG auf ungestörte Nutzung seines Gewerbebetriebes) schadensersatzpflichtig werden, sofern er sich nicht auf einen unverschuldeten Rechtsirrtum berufen kann, weil er
der Rechtmäßigkeit des Handelns der streikführenden Gewerkschaft vertrauen durfte. Deliktsrechtlich kann
ferner die Anwendung des § 823 II BGB i.V.m. § 240 StGB (Nötigung) und § 253 StGB (Erpressung) in
Betracht kommen sowie § 826 BGB. In allen Fällen einer unerlaubten Handlung gelten die für den ArbG
günstigen §§ 830, 840 BGB. Weiterhin kommt nach vorausgehender Abmahnung im Wiederholungsfall
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eine ordentliche, ggf. eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG in Betracht.
Als Rechtsbehelf gegen die streikführende Gewerkschaft kommt in der Praxis vor allem der im Wege
einer einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO geltend zu machende Anspruch auf Unterlassung
des Arbeitskampfes analog § 1004 I BGB i.V.m. § 823 I BGB, Art. 9 III GG in Betracht. Dieser Anspruch
erfordert kein Verschulden des Anspruchsgegners und greift schon bei erstmals drohender Beeinträchtigung des Gewerbebetriebes mit einem widerrechtlichen Eingriff.
Eine Haftung der streikführenden Gewerkschaft auf Schadensersatz nach § 280 I BGB (über § 31 BGB,
ggf. über § 278 BGB) wegen Verletzung des Tarifvertrags kommt nur bei einem schuldhaften Verstoß
gegen die Friedenspflicht aus einem laufenden Tarifvertrag in Betracht, die durch besondere tarifvertragliche Absprache bis zum Scheitern der Schlichtungsverhandlungen verlängert sein kann (oben § 5 II. 1. und
III. 1.). Daneben kann der bestreikte Arbeitgeber einen deliktischen Schadensersatzanspruch aus § 823 I
BGB (über § 31 BGB, ggf. nach § 831 BGB) wegen Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geltend machen. Eine ausschließlich deliktische Haftung trifft die Gewerkschaft in den anderen zur Rechtswidrigkeit des Streiks führenden Fällen (oben § 5 III. 1.).
Handelt es sich um einen nicht von der Gewerkschaft geführten sog. wilden Streik, muss sie, um Haftung
zu vermeiden, auf ihre Mitglieder zwecks Wiederaufnahme der Arbeit einwirken.
III. Die Rechtsfolgen eines Streiks für die arbeitswilligen Arbeitnehmer
1. Die arbeitswilligen AN des durch einen rechtmäßigen Streik betroffenen Unternehmens erhalten für die Dauer des Streiks dann keinen Lohn, wenn ihre Beschäftigung
dem ArbG wegen des Streiks betrieblich-technisch nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist. Dabei ist es einerlei, ob sie bei Teil- oder Schwerpunktstreiks in dem unmittelbar bestreikten Betrieb tätig sind oder in einem anderen Betrieb
desselben Unternehmens, selbst wenn dieser räumlich oder fachlich einem anderen Tarifvertrag unterfällt.
Der Grund dafür, dass § 615 BGB in dieser Situation keine Anwendung findet, liegt bei
vordergründiger Betrachtung darin, dass die streikbedingte Störung der Sphäre der
Arbeitnehmerschaft entstammt. Es scheint so, als würde den arbeitswilligen AN der
Lohn als eine Art von Solidaritätsopfer vorenthalten. Dahinter stehen jedoch spezifisch
arbeitskampfrechtliche Überlegungen, die maßgeblich auf die Gesichtspunkte der Partizipation und Parität abstellen.
Der Partizipationsgedanke stellt darauf ab, dass auch die arbeitswilligen AN des kampfbetroffenen Unternehmens an den Ergebnissen des erkämpften Tarifvertrages teilhaben, wenn und weil der ArbG zur
Vermeidung von Unfrieden innerhalb der Belegschaft und mit dem Ziel, die nichtorganisierten AN seines
Unternehmens nicht wegen §§ 3 I, 4 I TVG in die Organisiertheit zu treiben, den erkämpften Tarifvertrag
auf alle seine AN gleichermaßen anwendet (oben § 5 II. 2). Wer aber in den Genuss der Vorteile des Arbeitskampfes kommt, soll auch dessen Nachteile mittragen müssen.
Weitaus gewichtiger ist jedoch der Paritätsgedanke. Da Arbeitskämpfe den Zweck haben, die Voraussetzungen für den Abschluss von Tarifverträgen zu schaffen, darf die Rechtsordnung keiner Seite so starke
Kampfmittel zur Verfügung stellen, dass dem sozialen Gegenspieler keine gleichwertige Verhandlungschance bleibt. Entscheidend ist dabei der Druck, der durch die beiderseitigen Kampffolgen ausgeübt wird.
Bliebe dem ArbG in dieser Situation zusätzlich zum Produktionsausfall und den weiterlaufenden Gemeinkosten die Vergütungspflicht für seine arbeitswilligen AN aufgebürdet, wäre das Gleichgewicht der Arbeitskampfgegner (Kampfparität, Waffengleichheit) gestört. Angesichts der modernen Minimax-Strategie
der Gewerkschaften, mit wenigen AN Teil- oder Schwerpunktstreiks in Schlüsselstellungen zu führen,
würde der ArbG mit dem Lohn für alle Anderen faktisch den gegen ihn gerichteten Streik mitfinanzieren.
Das gilt vor allem für das unmittelbar bestreikte Unternehmen.
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Diese Sicht der Dinge wird durch die Anordnungen des § 160 III 1 Nr. 1 und des § 100 SGB III bestätigt,
wonach der Anspruch des AN auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld ruht, wenn er durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, in einem Betrieb arbeitslos geworden ist, der im räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages liegt.
Vor diesem Hintergrund eröffnet die Rechtsprechung des BAG v.31.1.1995 – 1 AZR
142/94 – in NZA 1995, 959 dem ArbG die Möglichkeit, im räumlichen und gegenständlichen Rahmen des Streikaufrufs der Gewerkschaft eine Stilllegung des hiernach unmittelbar bestreikten Betriebs oder Betriebsteils anzuordnen, ohne den Eintritt der streikbedingten Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Beschäftigung abwarten zu müssen.
Der ArbG soll sich vielmehr dem Streikaufruf beugen und durch sofortige Einstellung
der Beschäftigung die Situation vorwegnehmen dürfen, die durch den Streik herbeigeführt werden soll, nämlich die Lahmlegung eines bestimmten Betriebs oder Betriebsteils
des umkämpften Unternehmens. Die Stilllegung führt zu einem Ruhen der gegenseitigen
Hauptleistungspflichten auch der arbeitswilligen AN des unmittelbar bestreikten Betriebs
oder Betriebsteils des umkämpften Unternehmens.
In nicht unmittelbar bestreikten weiteren Betriebsstätten des umkämpften Unternehmens bleibt es hingegen bei der eingangs getroffenen Feststellung, dass die dort tätigen AN erst bei streikbedingt eingetretener Beschäftigungsunmöglichkeit oder -unzumutbarkeitarbeitslos werden können.
2. Im Falle eines rechtswidrigen Streiks behalten die arbeitswilligen AN ihren Lohnanspruch, sofern es dem ArbG möglich und zumutbar ist, die eingetretene Betriebsstörung mit den ihm gegen die Störer zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln zu bewältigen. So etwa bei einem mangels gewerkschaftlicher Führung sog. wilden Streik von
Belegschaftsmitgliedern, dessen er sich schon im Wege der Abmahnung unter Androhung der fristlosen Kündigung bei gleichzeitiger Einstellung der Lohnzahlung erwehren
kann. Führt die Gewerkschaft einen rechtswidrigen Streik z.B. unter Verletzung der Friedenspflicht, muss der ArbG versuchen, seinen Anspruch auf Unterlassung der Kampfmaßnahme gegen die Gewerkschaft im gerichtlichen Schnellverfahren der einstweiligen
Verfügung durchzusetzen.
IV. Die Fernwirkungen eines Streiks
Unternehmen, die nicht unmittelbar bestreikt sind, von den Fernwirkungen eines Streiks
aber derart betroffen werden, dass ihnen die Produktion faktisch unmöglich oder nicht
mehr zumutbar ist (z.B. stockt die Produktion infolge des Streiks beim Zulieferer oder es
stockt der Absatz des Zulieferers infolge des Streiks beim Abnehmer), sind nach der
Rechtsprechung des BAG von der Lohnzahlungspflicht befreit, wenn dies der Partizipationsgedanke rechtfertigt, aber auch aus dem Paritätsgedanken heraus, nach welchem
es in dieser Situation darauf ankommt, ob die Belastung des mittelbar kampfbetroffenen
ArbG mit der Lohnzahlungspflicht das Kräftegleichgewicht zwischen dem unmittelbar
kampfbetroffenen ArbG und der kampfführenden Gewerkschaft durch „Binnendruck im
Arbeitgeberlager“ zu Lasten des Bestreikten verschiebt (dazu nachfolgend unter 3.).
Die Möglichkeit, wie den unmittelbar, so auch den mittelbar streikbetroffenen Betrieb
einfach stillzulegen, ist dem ArbG hingegen verwehrt.
1. Liegt das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen im räumlichen und fachlichen
Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages, greift schon der Partizipationsgedan-
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ke, weil davon auszugehen ist, dass das Ergebnis des Arbeitskampfes auch seinen AN
zugute kommt. Hier gelten ferner die §§ 160 III 1 Nr. 1, 100 SGB III.
2. Liegt das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen außerhalb des räumlichen, aber
innerhalb des fachlichen Geltungsbereichs (Branche) des umkämpften Tarifvertrages,
greift der Partizipationsgedanke nur dann, wenn in dem räumlichen Geltungsbereich,
dem das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen angehört, auch schon „eine Forderung
erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des umkämpften Tarifvertrages nach Art
und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen, und das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrages im Wesentlichen übernommen wird“. So der Wortlaut des § 160
III 1 Nr. 2 SGB III, der unter diesen Voraussetzungen das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und damit über § 100 SGB III auch des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld
anordnet. Man spricht hier vom Fall der Tarifführerschaft des unmittelbar bestreikten
Unternehmens auf Grund koalitionspolitischer Verbindung zum mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen durch Mitgliedschaft im gleichen Arbeitgeber-(Spitzen-)Verband.
Ob beide Unternehmen derselben Gewerkschaft gegenüberstehen, ist gleichgültig.
3. In den vorstehend unter 1. und 2. beschriebenen Fällen kommt aber auch der Paritätsgedanke zum Tragen. Die durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ hervorgerufene Beeinflussung des Arbeitskampfes zu Lasten des unmittelbar Bestreikten wird von der
Rechtsprechung des BAG in der konzernbedingten wirtschaftlichen Abhängigkeit des
unmittelbar Bestreikten von dem oder den mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen gesehen.
•
•
Soweit Lohnzahlungen, die Konzernmitglieder als mittelbar Kampfbetroffene leisten müssen, den ganzen Konzern schwächen, wird das unmittelbar bestreikte Unternehmen dadurch zusätzlich getroffen.
Es ist davon auszugehen, dass die mittelbar kampfbetroffenen Konzernmitglieder, zu denen auch die
Konzernmutter gehört, wenn sie nicht gerade das unmittelbar bestreikte Unternehmen ist, zur Vermeidung schädigender Fernwirkungen des Streiks auf das unmittelbar bestreikte Unternehmen Druck ausüben, sich im Konzerninteresse mit der streikführenden Gewerkschaft schnell auf einen neuen Tarifvertrag zu einigen, auch wenn es dem Eigeninteresse des unmittelbar Bestreikten zuwiderläuft.
4. Die vorstehend unter 3. beschriebene Verletzung des Paritätsgedankens ist aber nicht
auf die vorstehend unter 1. und 2. behandelten Fälle beschränkt. Angesichts häufig anzutreffender Mischkonzerne und ferner der Tatsache zunehmenden Vernetzung und Abhängigkeiten der Unternehmen auch außerhalb von Konzernbindung, dürfte die erwähnte
Beeinflussung der Kampfparität durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ ein allgemeines Phänomen sein und damit auch dort sich auswirken, wo das bzw. die mittelbar
kampfbetroffenen Unternehmen nicht nur außerhalb des räumlich, sondern auch
außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrages liegen.
Man denke z.B. an einen Streik in Versorgungsbetrieben wie der Bahn oder der Energiewirtschaft. Das kommt ja schon einem Generalstreik gleich.
Die mittelbar streikbetroffenen ArbG dürften auch in diesen Fällen unter der Voraussetzung faktisch unmöglich gewordener oder nicht mehr zumutbarer Produktion berechtigt
sein, die Lohnzahlungen einzustellen.
Im Unterschied zu den vorstehend unter 1. und 2. beschriebenen Situationen gelten hier
die Verbote der §§ 160 III, 100 SGB III allerdings nicht. Vielmehr stellt § 160 I 2 SGB
III klar, dass kein verbotener staatlicher Eingriff in den Arbeitskampf vorliegt, „wenn
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Arbeitslosengeld Arbeitslosen geleistet wird, die zuletzt in einem Betrieb beschäftigt waren, der nicht dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zuzuordnen
ist“.
Wenn aber diese Bestimmung für Betriebe außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs
des umkämpften Tarifvertrages die staatliche Verpflichtung zur Gewährung von Arbeitslosengeld aufrechterhält, geht sie offensichtlich vom Wegfall des Lohnanspruchs aus!
5. Leidet die Produktion eines inländischen Unternehmens unter den Fernwirkungen
eines ausländischen Arbeitskampfs, ist diese Belastung nach bisheriger Rechtsauffassung Ausdruck des ausschließlich den ArbG treffenden Betriebs- und Wirtschaftsrisikos.
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§ 21 Lohn ohne Arbeit nach § 616 BGB
I. Der Grundsatz
Leistet der AN keine Arbeit mit der Rechtsfolge des § 275 I BGB, so bleibt ihm nach §
616 Satz 1 BGB entgegen § 326 I 1 BGB der Anspruch auf die Vergütung unter der Voraussetzung erhalten, „dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen
in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert
wird.“
§ 616 Satz 1 BGB wird zum Teil verdrängt durch spezialgesetzliche Vorschriften. Für Auszubildende
(§§ 1 II, 19 BBiG) gilt anstelle von § 616 BGB der § 19 I 1 Nr. 2 lit. b BBiG. Im Fall der Erkrankung des
AN (auch ein „in seiner Person liegender Grund“) wird § 616 BGB durch die Entgeltfortzahlung nach den
§§ 3 ff. EFZG verdrängt. Nur für die Erkrankung von Dienstverpflichteten, die keine AN sind, wie z.B.
freie Mitarbeiter, arbeitnehmerähnliche Personen und Organmitglieder, etwa der Geschäftsführer einer
GmbH, bleibt es bei der Anwendung des § 616 BGB. Für den Mutterschutz gilt das MuSchG.
II. Die in der Person des AN liegende Verhinderung
Die Arbeitsverhinderung muss ihren Grund in den persönlichen Verhältnissen des AN
haben. Sie darf nicht an allgemeinen Leistungshindernissen liegen, wie etwa Verkehrshindernissen durch Stau, Ausfall von Verkehrsmitteln, Demonstrationen, Naturereignissen, Fahrverboten u.Ä.
Bei dem persönlichen Leistungshindernis handelt es sich entweder um ein Ereignis, das dem AN keine
Wahl lässt, so dass ihm die Arbeitsleistung tatsächlich unmöglich ist, wie z.B. im Fall der Entführung des
AN oder seiner vorläufige Festnahme. Zum anderen kann es sich um ein Ereignis handeln, dessen Überwindung dem AN unzumutbar ist, so dass er nach § 275 III BGB die Leistung verweigern kann. Die hierbei erforderliche Abwägung zwischen den Interessen des AN und denen des ArbG muss ergeben, dass die
vertragsgemäße Leistungserbringung für den AN in außergewöhnlichem Maße belastend wäre. Überschätzt
der AN seine Zwangslage, findet § 616 BGB mangels Unzumutbarkeit keine Anwendung: Der AN müsste
vielmehr versuchen, vom ArbG die Zustimmung zu einer vorübergehenden Freistellung zu erlangen, regelmäßig unbezahlt oder unter in Anspruchnahme von Urlaub.
Fälle der Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung sind z.B. Arztbesuche, die sich nicht außerhalb der Arbeitszeit einrichten lassen; Pflege erkrankter Familienangehöriger und Lebenspartner; besondere Familienereignisse, wie etwa die Eheschließung, Niederkunft der
Ehefrau, Todesfälle und Begräbnisse naher Angehöriger; persönliche Unglücksfälle, wie
etwa Brand oder Einbruch, die eigene Autopanne oder die Beteiligung an einem Verkehrsunfall (das unerlaubte Entfernen vom Unfallort ist nach § 142 StGB strafbar!); die
gerichtliche Vorladung als Partei, als Angeklagter oder als Zeuge; der Einsatz bei der
Freiwilligen Feuerwehr oder als Schöffe; der Umzug.
Ist der Termin des persönlichen Hindernisses disponibel, muss der AN zeitliche Wünsche
des ArbG berücksichtigen. Ansonsten reicht die rechtzeitige Benachrichtigung des ArbG
über den Eintritt des Hindernisses aus.
Anders als § 275 III BGB gibt § 2 I PflegeZG dem AN ein bis zu zehn Tagen währendes
Leistungsverweigerungsrecht ohne Abwägungserfordernis, „um für einen pflegbedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte
Pflege zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen.“
Bei Erkrankung des Kindes gewährt § 45 SGB V dem AN unter strengen Vorausset-
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zungen zeitlich begrenzte Ansprüche auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitsleistung
und auf Krankengeld.
III. Die Verhinderung des AN ohne sein Verschulden
Die Pflicht des ArbG zur Fortzahlung der Vergütung tritt nur ein, wenn den AN an dem
Umstand, der zur Arbeitsbehinderung führt, kein Verschulden trifft. Das Verschulden
des AN im Sinne des § 616 S.1 BGB ist aber (genauso wie im Fall des § 3 I 1 EFZG) als
ein „Verschulden gegen sich selbst“ zu verstehen, durch das der AN gröblich gegen das
von einem verständigen Menschen im eignen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt.
Es genügt also nicht leichte Fahrlässigkeit, sondern erfordert eine vorsätzliche oder
„besonders“ grob fahrlässige Herbeiführung des Verhinderungsgrundes.
Beispiel: Unfallbeteiligung unter Alkoholeinfluss.
IV. Die Verhinderung des AN für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit
Verhinderung für eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“? Mangels gesetzlicher
Vorgaben besteht Rechtsunsicherheit. Die h.M. fordert eine ereignisbezogene Betrachtungsweise, insbesondere nach der Art und Schwere des Verhinderungsgrundes, will aber
gleichzeitig die Dauer des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt wissen. Ab einer Beschäftigung von einem Jahr sollen höchstens zwei Wochen in Betracht kommen. Demgemäß
soll auch bei der Erkrankung freier Dienstverpflichteter nicht die Sechswochenfrist des §
3 I 1 EFZG gelten. Die jeweils maßgebenden Erheblichkeitsgrenzen werden häufig durch
Tarifvertrag festgelegt.
Überschreitet die Arbeitsverhinderung die Erheblichkeitsgrenze, entfällt der gesamte
Vergütungsanspruch.
Wenn sich der ausländische AN angesichts der ihm in seiner Heimat drohenden Bestrafung dafür entscheidet, dem ausländischen Wehrdienst Folge zu leisten, ist er zwar an der
Arbeitsleistung persönlich verhindert, unterfällt jedoch nicht der Anwendung des § 616
BGB, wenn der Wehrdienst die im Einzelfall noch tragbare zeitliche Grenze überschreitet.
V. Die Abdingbarkeit der Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB
§ 616 BGB ist durch Individualvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag abdingbar; beim Vorliegen eines Formularvertrages unter Beachtung von § 305c BGB und §
307 I 1, II Nr. 1 BGB. Auf diese Weise können die Fälle und Zeiträume der Entgeltfortzahlung beschränkt werden. Sie kann aber auch völlig ausgeschlossen werden. Die
Klausel hierfür lautet regelmäßig: „Bezahlt wird nur die tatsächliche geleistete Arbeit“.
Hingegen kann der Anspruch des AN auf eine (dann eben unbezahlte) Freistellung von
der Arbeit nicht abbedungen werden.
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VI. Freizeit zur Stellensuche nach § 629 BGB
§ 616 S. 1 BGB findet auch im Fall des § 629 BGB Anwendung. Diese Bestimmung gibt dem
AN einen Anspruch auf angemessene Freizeitgewährung zum Zweck der Stellungssuche nach
der Kündigung. Da die Freizeitgewährung in diesem Fall in der Regel keinen Aufschub duldet,
wird man dem AN ausnahmsweise sogar ein Recht zur Selbstbeurlaubung zugestehen müssen.
Die Sollvorschrift des § 2 II Satz 2 Nr. 3 SGB III unterstreicht die Bedeutung des § 629 BGB.
Eine Regelung über die Zahlung der Vergütung während der Freistellung trifft § 629 BGB
nicht. Sie folgt vielmehr aus § 616 S. 1 BGB „für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“.
Wegen der Abdingbarkeit des § 616 BGB kann der Anspruch des AN auf allerdings entfallen
(siehe vorstehend V.), das Recht des AN auf Freizeitgewährung hingegen nicht, da § 629 BGB
unabdingbar ist,
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§ 22 Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz
I. Vorbemerkung
Das EFZG regelt nach seinem § 1 „die Zahlung des Arbeitsentgelts an gesetzlichen Feiertagen und die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall des Arbeitnehmers…“. Leistet also der AN keine Arbeit mit der Rechtsfolge des § 275 I BGB, weil die
Arbeit wegen eines gesetzlichen Feiertags ausfällt oder er ohne sein Verschulden arbeitsunfähig krank ist, hat er entgegen § 326 I 1 BGB nach Maßgabe der §§ 2 ff. EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Nach § 12 EFZG kann von diesen Vorschriften mit Ausnahme des § 4 IV EFZG nicht zu Ungunsten des AN abgewichen werden (einseitig
zwingendes Gesetzesrecht).
II. Die Entgeltfortzahlung an Feiertagen
Nach § 9 I ArbZG besteht an gesetzlichen Feiertagen im Grundsatz ein Beschäftigungsverbot. Ausnahmen hiervon enthalten die §§ 10 ff. ArbZG. Abgesehen vom durch Bundesgesetz bestimmten 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, ist die Festlegung von
Feiertagen eine Angelegenheit der einzelnen Bundesländer. Um zu verhindern, dass gesetzliche Feiertage das Entgelt der AN mindern, bestimmt § 2 I EFZG, dass der ArbG
dem AN für die „infolge eines gesetzlichen Feiertages“ ausgefallene Arbeitszeit „das Arbeitsentgelt zu zahlen (hat), das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte.“ Wer allerdings
„am letzten Arbeitstag vor oder am ersten Arbeitstag nach Feiertagen unentschuldigt der
Arbeit“ fernbleibt, hat nach § 2 III EFZG keinen Anspruch auf Feiertagslohn. Das soll
der eigenmächtigen Erweiterung der Freizeit entgegenwirken.
Der Feiertag muss die alleinige Ursache für den Arbeitsausfall gewesen sein. Hätte der
AN an diesem Tag sowieso nicht gearbeitet, z.B. weil er teilzeitbeschäftigt ist, oder wäre
die Arbeit z.B. infolge eines Arbeitskampfes ausgefallen, besteht kein Anspruch auf Feiertagslohn; während des Arbeitskampfes selbst dann nicht, wenn der Streik an dem Feiertag ausgesetzt wird (BAG v. 1.3.2995 - 1 AZR 786/94 - in NZA 1995, 996). Es gibt allerdings Grenzfälle, in denen das Gesetz sich für den Feiertagslohn entscheidet. Das gilt
zum einen nach § 2 II EFZG für den gleichzeitigen Arbeitsausfall infolge Kurzarbeit,
zum anderen nach § 4 II EFZG für den gleichzeitigen Arbeitsausfall infolge einer Erkrankung des AN. Liegt ferner der Feiertag im Erholungsurlaub des AN, wird er nach
§ 3 II BUrlG nicht auf den Urlaub angerechnet, so dass es deswegen beim Feiertagslohn
bleibt.
III. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
1. Die Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung
Nach § 3 EFZG hat der vollzeit- wie teilzeitbeschäftigte AN im Krankheitsfall gegen den
ArbG den Anspruch auf Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
•
Die schon vierwöchige (= 28 Tage) ununterbrochene Dauer des Arbeitsverhältnisses;
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Die Wartezeit des § 3 III EFZG beginnt mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme. Der Fristlauf
berechnet sich nach §§ 187 II, 188 II Hs. 2 BGB, z.B. von Mittwoch, den 5. 1. 2011, bis Dienstag, den
1. 2. 2011, so dass am Mittwoch, den 2. 2. 2011 der Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt; jetzt auch
erst für den bereits zuvor arbeitsunfähig erkrankten AN.
•
Ein noch bestehendes Arbeitsverhältnis;
Nach § 8 I EFZG bleibt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung allerdings dann erhalten, wenn der
ArbG das Arbeitsverhältnis aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit kündigt oder wenn der AN es nach §
626 BGB aus einem vom ArbG zu vertretenden Umstand fristlos beendet. Endet das Arbeitsverhältnis
gemäß § 8 II EFZG hingegen nach Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vor Ablauf der
Sechs-Wochen-Frist, ohne dass es einer Kündigung bedarf, z.B. weil es befristet ist oder infolge einer
Kündigung aus anderen als den in Abs. 1 bezeichneten Gründen, so endet der Anspruch mit dem
Ende des Arbeitsverhältnisses.
•
Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des AN;
Krankheit ist ein regelwidriger Gesundheitszustand, der einer Heilbehandlung bedarf. Er führt erst
dann zur Arbeitsunfähigkeit, wenn der AN infolge der Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen oder sie (nach objektiven medizinischen Kriterien) nicht ausüben sollte, weil die Weiterarbeit seine Heilung beeinträchtigt oder andere gefährdet. Ist der AN, der
sich z.B. den Fuß gebrochen hat, nur nicht in der Lage, den Arbeitsplatz mit seinem Pkw, öffentlichen
Verkehrsmitteln oder zu Fuß zu erreichen, wohl aber fähig, seine ohnedies oder ihm vorübergehend
zugewiesene sitzende Tätigkeit auszuüben, kann er im Einzelfall verpflichtet sein, für ein geeignetes
Transportmittel zu sorgen. Ob der ArbG dann für dessen Kosten einzustehen hat, ist umstritten, dürfte
aber analog § 670 BGB bejaht werden können. Die Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen ist von der
Arbeitsrechtsprechung als Krankheit anerkannt. Keine Krankheit im Sinne des EFZG ist das altersbedingte Nachlassen der körperlichen oder geistigen Kräfte.
Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des AN muss die alleinige Ursache für das Ausbleiben seiner Arbeitsleistung sein. Der Fortzahlungsanspruch entfällt, wenn der AN auch ohne die Erkrankung nicht gearbeitet hätte, z.B. während eines Arbeitskampfes, einerlei ob er am Streik teilnimmt
oder der Betrieb infolge des Streiks stillliegt. Für die durch Kurzarbeit ausfallende Arbeitszeit erhält
der AN nicht Entgeltfortzahlung, sondern Krankengeld in Höhe des Kurzarbeitergeldes, für die verbleibende Arbeitszeit Entgeltfortzahlung, bei Kurzarbeit Null nur Krankengeld. Erkrankt ein AN während des Erholungsurlaubs, gilt die Sonderregelung des § 9 BUrlG, wonach „die durch ärztliches
Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet (werden)“. Demgegenüber führt die Erkrankung des AN während der Freizeit, die ihm zum Ausgleich von
Überstunden gewährt wird, nicht zu einer Nachgewährung von Freizeit.
•
Kein Verschulden des AN am Eintritt der Arbeitsunfähigkeit;
Das Verschulden im Sinne des § 3 EFZG ist (genauso wie im Fall des § 616 BGB; oben § 21 III.) ein
„Verschulden gegen sich selbst“, durch das der AN gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartendes Verhalten verstößt. Es genügt also nicht leichte Fahrlässigkeit, sondern erfordert die vorsätzliche oder „besonders“ grob fahrlässige Herbeiführung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Geläufige Beispiele sind Verletzungen durch alkoholbedingte KfzUnfälle, wegen Missachtung der Anschnallpflicht oder von Arbeitsschutzvorschriften. Die auf einer
Suchterkrankung beruhende Arbeitsunfähigkeit wird nicht mehr als selbstverschuldet angesehen; auch
nicht der Suizidversuch. Verletzungen aufgrund sportlicher Aktivitäten sind nur dann selbstverschuldet, wenn der AN in grober Weise gegen anerkannte Sportregeln verstoßen oder sich krass überfordert
hat.
2. Dauer und Höhe der Entgeltfortzahlung
Nach § 3 I 1 EFZG besteht für jede einzelne Krankheit ein Anspruch des AN auf Entgeltfortzahlung „für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen“.
Danach erhält der AN von der Krankenkasse Krankengeld.
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Beruhen wiederholte Erkrankungen allerdings auf demselben Grundleiden, bleibt es bei einer Entgeltfortzahlung von insgesamt nicht mehr als sechs Wochen, es sei denn, dass der AN nach § 3 I 2 EFZG
entweder (Nr.1) „vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben
Krankheit arbeitsunfähig war“ oder (Nr.2) „seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben
Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist“. Nach dem Ablauf dieser Frist steht dem AN auch
wegen der Fortsetzungserkrankung wieder Entgeltfortzahlung für bis zu sechs Wochen zu.
Da der ArbG die Krankheitsursache im Regelfall nicht kennt, ist er normalerweise nicht in der Lage, das
Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung zu beweisen, um sich auf § 3 I 2 EFZG berufen zu können. Um
ihm diesen Beweis zu erleichtern, muss nach neuerer Rechtsprechung der AN, der innerhalb der Zeiträume
dieser Vorschrift länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank ist, auf Verlangen des ArbG darlegen, dass
es sich nicht um eine Fortsetzungserkrankung handelt und (nur) insoweit auch seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinden (Mitteilungen über die Tätigkeit des BAG im Jahre 2005 in NZA 2005, 1328 unter III.
1. e unter Bezugnahme auf BAG v. 13.7.2005 - 5 AZR).
Nach § 4 EFZG beträgt die Höhe der Entgeltfortzahlung 100 % des dem AN regelmäßig
zustehenden Brutto-Arbeitsentgelts einschließlich aller Zusatzentgelte und Sachbezüge,
wie z.B. eines Firmenwagens, nicht jedoch das für vorübergehend angeordnete Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt.
Das Entgeltausfallprinzip gilt auch in Ansehung von Leistungslohn (oben § 16 II. 2.). Arbeitet der erkrankte AN im Akkord, kann zum Vergleich die Leistung ebenso beschäftigter Arbeitskollegen herangezogen oder auf die Leistung des Erkrankten unmittelbar vor der Erkrankung oder im Durchschnitt der letzten Wochen abgestellt werden (ErfK/Dörner § 4 EFZG Rn. 14 f.).
Nach § 47 SGB V beträgt das von der Krankenkasse gezahlte Krankengeld 70 % des
letzten vollen monatlichen Bruttolohns, aber höchstens 90 % des letzten vollen monatlichen Nettolohns und ist grundsätzlich zur Renten-, Arbeitslosen und Pflegeversicherung
heranzuziehen, nicht aber zur Krankenversicherung. Effektiv beläuft sich das NettoKrankengeld auf etwa 75 % des regelmäßigen Nettoverdienstes.
3. Anzeige- und Nachweispflichten
a) Nach § 5 I 1 EFZG ist der AN verpflichtet, dem ArbG seine Arbeitsunfähigkeit und
deren voraussichtliche Dauer unverzüglich (= ohne schuldhaftes Zögern, § 121 BGB)
anzuzeigen, damit dieser sofort disponieren kann.
Im Arbeitsrecht bedeutet dies, dass die Mitteilung dem ArbG im Regelfall am ersten Tag der Erkrankung zugegangen sein muss, im Allgemeinen telefonisch, auch per Telefax oder E-mail, SMS, ggf. durch
persönliche Ablieferung. Das gilt auch für Teilzeit-AN, die an diesem Tag nicht gearbeitet hätten. Eine
briefliche Mitteilung, die erst am nächsten Tag zugeht, gilt als verspätet! Adressat der Anzeige ist der
ArbG, ein Mitarbeiter der Personalabteilung, ein sonst zur Entgegennahme solcher Erklärungen autorisierter Mitarbeiter, in Zweifelsfällen ein Vorgesetzter. Beim Einsatz eines Arbeitskollegen als Boten trägt der
AN das Risiko ordentlicher Übermittlung.
b) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage (also einschließlich eines etwa arbeitsfreien Sonnabend, Sonntag oder Feiertag), hat der AN nach § 5 I 2
EFZG dafür zu sorgen, dass dem ArbG eine ärztliche Bescheinigung als Nachweis über
das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an
dem darauf folgenden Arbeitstag (also an dem vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit) vorliegt (nicht etwa erst zugesandt wird!), sofern der AN an diesem Tag arbeiten müsste
(maßgebend ist die individuelle Arbeitsverpflichtung).
Beginnt die Arbeitsunfähigkeit am Donnerstag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am
Montag vorliegen, wenn für den AN nicht schon der Sonntag, sondern erst der Montag ein Arbeitstag ist.
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Beginnt die Arbeitunfähigkeit am Freitag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Montag vorliegen, wenn für den AN der Montag ein Arbeitstag ist. Beginnt die Arbeitsunfähigkeit am Samstag,
muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Dienstag vorliegen, wenn der AN montags bis
freitags zu arbeiten hat; in diesem Fall allerdings wird der am arbeitsfreien Wochenende erkrankte AN seine Arbeitsunfähigkeit zweckmäßigerweise erst am Montag mitteilen, so dass die ggf. erforderliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung spätestens am Donnerstag vorzulegen ist.
Nach § 5 I 3 EFZG ist der ArbG berechtigt, den Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen,
auch schon am ersten Tag der Erkrankung.
In einem mitbestimmten Betrieb kann der ArbG den einzelnen AN ohne Beteiligung des Betriebsrates allein aufgrund seines Weisungsrechts (unter Beachtung von § 315 I BGB) dazu auffordern; für eine generelle Anordnung bedarf es wegen § 87 I Nr.1 BetrVG einer Betriebsvereinbarung. Eine entsprechende
Regelung durch Tarifvertrag schließt ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates wegen des Tarifvorrangs
des § 87 I Einleitungssatz BetrVG aus. Häufig enthält schon der Arbeitsvertrag eine entsprechende Klausel, ohne dass ein etwa bestehender Betriebsrat sie aus dem Grunde des § 87 I Nr.1 BetrVG beanstanden
darf. § 99 II Nr. 1 BetrVG gibt ihm kein Recht zur Inhaltskontrolle einzelner Bestimmungen des Arbeitsvertrags (oben § 11 III.).
Eine Übergabe des Attestes am nächsten Tag ist unbedenklich, sofern der erste Tag der Arbeitsunfähigkeit
mit abgedeckt ist und eine Übergabe am ersten Tag weder möglich noch zumutbar war (ErfK/Dörner, § 5
EFZG Rn. 13). Um sicherzustellen, dass bereits der erste Tag krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch
ärztliches Attest belegt ist, genügt zur Vermeidung von zeitbedingten Nachweisproblemen allerdings die
Klausel: „Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss mit Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit innerhalb von drei Tagen dem ArbG vorgelegt werden.“ (Vgl. BAG v.1.10.1997 - 5 AZR 726/96 in NZA 1998, 396 ff.).
c) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als angezeigt, ist der AN nach § 5 I 4 EFZG verpflichtet, dem ArbG die Fortdauer der Erkrankung durch Vorlage einer neuen ärztlichen Bescheinigung unverzüglich nachzuweisen.
d) Hält sich der AN bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Ausland auf, im Regelfall
während des Urlaubs, gilt hinsichtlich der Nachweispflicht des AN die Regelung des § 5
I EFZG, was wegen der Postlaufzeit zu Schwierigkeiten führen kann, wenn sich die ärztliche Bescheinigung dem ArbG nicht vorab telefaxen lässt. In Ansehung der Anzeigepflicht enthält § 5 II EFZG eine Erweiterung.
So umfasst die Anzeigepflicht hier zum einen auch die Mitteilung des ausländischen Aufenthaltsortes
(einschließlich der Telefonnummer) und ist nicht nur unverzüglich, sondern „schnellstmöglich“ zu erfüllen, also nicht brieflich (Postlaufzeit!), sondern
durch Telefon, SMS,
Telefax oder E-Mail. Die dadurch entstehenden Kosten hat der ArbG zu tragen. Darüber hinaus ist der gesetzlich krankenversicherte AN verpflichtet, auch seine Krankenkasse zumindest über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer „unverzüglich“ zu informieren.
Bei Fortdauer Erkrankung im Ausland ist nicht nur die gesetzliche Krankenkasse,
sondern (obwohl § 5 II EFZG dazu schweigt) natürlich auch der ArbG erneut unverzüglich zu informieren und diesem ferner eine neue ärztliche Bescheinigung als Nachweis
zuzuleiten.
e) Bei schuldhafter Verletzung seiner Anzeige- und Nachweispflicht, kann der ArbG
den AN abmahnen und im Wiederholungsfall (verhaltensbedingt) ordentlich kündigen.
Mehrfache Pflichtverletzungen dieser Art können zu einer fristlosen Kündigung führen.
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4. Forderungsübergang bei Dritthaftung
Kann der AN aufgrund gesetzlicher Vorschriften von einem Dritten Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls beanspruchen, der ihm durch die Arbeitsunfähigkeit entstanden
ist, z.B. aus Vertragsverletzung gemäß § 280 I BGB oder aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 I BGB, ggf. aus § 7 StVG, so geht dieser Anspruch nach § 6 I EFZG insoweit
auf der ArbG über, als dieser dem AN Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall einschließlich der darauf entfallenden Beiträge zur Sozialversicherung leistet (Forderungsübergang
kraft Gesetzes = cessio legis). Nach § 6 II EFZG hat der AN dem ArbG unverzüglich die
zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Angaben zu machen;
andernfalls der ArbG nach § 7 I Nr.2 EFZG zur Leistungsverweigerung berechtigt ist.
5. Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitgebers
Nach § 7 I Nr. 1 EFZG ist der ArbG berechtigt, die Entgeltfortzahlung zu verweigern,
solange der AN den Anzeige- und Nachweispflichten des § 5 EFZG schuldhaft (§ 7 II
EFZG) nicht nachkommt. Das Leistungsverweigerungsrecht entfällt rückwirkend, sobald
der AN seine diesbezüglichen Pflichten erfüllt.
Nach § 7 I Nr. 2 EFZG steht dem ArbG ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht
zu, wenn der AN den Übergang seines Schadensanspruchs gegen den Dritten schuldhaft
verhindert, z.B. durch Erlassvertrag oder Vergleichsabschluss. Im Übrigen gilt das gleiche wie im Fall des § 7 I Nr.1 EFZG, solange der AN es schuldhaft unterlässt, dem ArbG
die zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Angaben zu machen.
IV. Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen
ArbG, die regelmäßig nicht mehr als 30 AN beschäftigen, erhalten nach dem durch das
Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (AAG)
geregelten „U 1-Verfahren“ einen Ausgleich der Aufwendungen, die ihnen bei Krankheit ihrer AN entstehen. Nach § 1 I AAG erstatten die Krankenkassen dem ArbG 80 %
der nach dem EFZG zu zahlenden Entgelte und bis zu 80 % der darauf entfallenden Arbeitgeberanteile zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Die Mittel zur Durchführung
des Ausgleichs werden nach § 7 AAG durch eine Umlage der am Ausgleichsverfahren
beteiligten ArbG aufgebracht. Ihre Höhe richtet sich nach der Satzung der Krankenkasse.
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§ 23 Entgeltfortzahlung im Mutterschutz
I. Vorbemerkung
Begleitend zum Kündigungsverbot des § 9 MuSchG (unten § 29 II. 1) kümmert sich der
Gesetzgeber zum einen um den Schutz der Gesundheit werdender oder stillender Mütter
vor den mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren durch die in § 2 MuSchG enthaltenen
Vorschriften zur Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsabläufen sowie durch die in den
§§ 3 bis 8 MuSchG aufgeführten Beschäftigungsverbote. Darüber hinaus geht es dem
Gesetzgeber darum sicherzustellen, dass werdende oder stillende Mütter, die ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nicht ausüben können oder dürfen, Schutz vor finanziellen Nachteilen erhalten.
II. Entgeltfortzahlung bei allgemeinen und besonderen Beschäftigungsverboten
Nach § 13 I MuSchG erhalten Frauen, die einer gesetzlichen Krankenkasse angehören,
für die Zeit der Schutzfristen der allgemeinen Beschäftigungsverbote des § 3 II und des
§ 6 I MuSchG (grundsätzlich 6 Wochen vor der Geburt und 8 Wochen nach der Geburt)
sowie für den Entbindungstag nach § 200 RVO (oder nach § 29 des Gesetzes über die
Krankenversicherung der Landwirte) ein Mutterschaftsgeld in Höhe von 13 € pro Tag.
In Höhe der Differenz zum durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsentgelt
einschließlich aller Zusatzleistungen und Sachbezüge, wie z.B. eines Firmenwagens, nicht
jedoch das für vorübergehend angeordnete Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt leistet
der ArbG nach § 14 MuSchG einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld.
Darf die Frau wegen der besonderen Beschäftigungsverbote der §§ 3 I, 4 bis 6 II und
III sowie 8 I, III oder V MuSchG nicht beschäftigt werden, hat der ArbG nach § 11
MuSchG das gesamte durchschnittliche Arbeitsentgelt allein fortzuzahlen.
Der Entgeltschutz der Schwangeren setzt voraus, dass ihre Arbeitsleistung allein wegen eines Beschäftigungsverbots entfällt. Weigert sie sich, vorübergehend eine nicht verbotene und zumutbare Ersatztätigkeit
auszuüben, entfällt ihr Anspruch in entsprechender Anwendung der in § 326 II 2 BGB / § 615 S. 2 BGB
enthaltenen Bestimmungen (Dütz/Thüsing Rn. 284; oben § 15 I. 4. c).
III. Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen
Wäre eine solche finanzielle Belastung des ArbG durch die Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin wirklich das letzte Wort, müsste befürchtet werden, dass er die Beschäftigung von Frauen einschränkt. Damit aber würden sich der Entgeltschutz des MuSchG auf
Arbeitnehmerinnen faktisch diskriminierend auswirken. Das hat auch das BVerfG in seinem Beschluss v. 18.11.2003 – 1 BvR 302/96 – in NZA 2004, 22 erkannt und den Gesetzgeber veranlasst, das Aufwendungsausgleichsgesetz für Entgeltfortzahlung (AAG)
zu schaffen, nach dessen § 7 alle ArbG zu einer Umlage herangezogen werden (U 2 Verfahren), aus deren Mitteln nach § 1 II AAG die Krankenkassen ihnen den nach § 14
I MuSchG gezahlten Zuschuss zum Mutterschaftsgeld sowie das nach § 11 MuSchG gezahlte Arbeitsentgelt in vollem Umfang erstatten. Die Höhe der Umlage richtet sich nach
der Satzung der Krankenkasse.
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Für AN, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, gilt Entsprechendes nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte.
Frauen, die nicht Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind, erhalten Mutterschaftsgeld zu Lasten des
Bundes. Im Übrigen gilt das Vorstehende.
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§ 24 Entgeltfortzahlung im Erholungsurlaub
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§ 25 Die Rechtsfolgen der Nichterfüllung der Arbeitspflicht
I. Grundlegendes
1. Das Erfordernis der Pflichtwidrigkeit
Die Hauptpflicht des AN ist die Arbeitspflicht. Bleibt er der Arbeit fern, kann der ArbG
den AN wegen Nichterfüllung seiner Arbeitspflicht auf verschiedene Weise rechtlich belangen. Nach den jeweils in Betracht kommenden gesetzlichen Vorschriften ist dafür
Grundvoraussetzung, dass die Arbeitsleistung des AN pflichtwidrig (= vertragswidrig)
ausgeblieben ist.
Ist hingegen im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder in einem Tarifvertrag eine Klausel über
die Kürzung von Sondervergütungen für Fehlzeiten vereinbart, kann sie auch Fälle erfassen, in denen
die Arbeitsleistung nicht pflichtwidrig ausgeblieben ist, wie z.B. bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit
(nachfolgend unter IV. 2.).
Sofern dem AN trotz der Tatsache, dass er der Arbeit fernbleibt, sein Anspruch auf die
Entgeltzahlung gemäß den oben unter §§ 17 III sowie 18 bis 24 aufgeführten arbeitsrechtlichen Sonderbestimmungen erhalten bleibt, entfällt schon der objektive (= äußere)
Tatbestand einer Pflichtverletzung. Denn wer aus den dort genannten Gründen keine Arbeit leisten kann, leisten muss oder leisten darf, handelt nicht pflichtwidrig (= vertragswidrig). Das gleiche gilt, wenn der AN durch eine besondere Vereinbarung mit dem
ArbG von der Arbeitspflicht befreit ist.
2. Objektiv pflichtwidriges Handeln
Bleibt der AN der Arbeit hingegen fern, ohne sich auf eine der Sonderbestimmungen
über die Entgeltfortzahlung oder eine besondere Vereinbarung mit dem ArbG berufen zu
können, handelt er, zwar nicht immer schuldhaft, auf jeden Fall aber objektiv
pflichtwidrig mit der Konsequenz, für die Zeit seines Fernbleibens mindestens seinen
Lohnanspruch zu verlieren (nachfolgend unter II. 2.) und ggf. auf die Erfüllung seiner
Arbeitspflicht (nachfolgend unter II. 1.) in Anspruch genommen zu werden; denn das
sind Rechtfolgen, die ein Verschulden des Anspruchsgegners nicht voraussetzen.
Beispiele: Liegt der Grund für die Arbeitsverhinderung nicht in den persönlichen Verhältnissen des AN,
sondern in allgemeinen Hindernissen, die eine unbestimmte Vielzahl von Personen zugleich treffen kann,
findet § 616 BGB keine Anwendung. So vor allem im Fall des Nichterscheinens bzw. Zuspätkommens
des AN zur Arbeit infolge von Verkehrshindernissen durch Staus, Straßensperrungen, Demonstrationen,
den Ausfall von Verkehrsmitteln, Naturereignisse wie Überschwemmungen oder Blitzeis, Fahrverbote u.ä
Störfälle. Der AN trägt insoweit das Wegerisiko, das ihn Teile des Lohns kosten kann, obwohl ihn an diesen Störfällen keine Schuld trifft (oben § 19 III. Pkt. 3 und § 21 II.). § 616 BGB kann z.B. auch deswegen nicht anwendbar sein, weil die unverschuldete persönliche Verhinderung des AN die Zeitgrenze des §
616 BGB überschreitet (oben § 21 IV.).
3. Subjektiv pflichtwidriges, weil schuldhaftes Handeln
Muss dem AN wegen seines Fernbleibens auch noch ein Schuldvorwurf gemacht werden
(§ 276 BGB), handelt er nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv pflichtwidrig (= innerer Tatbestand der Pflichtwidrigkeit in Gestalt des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit),
so dass ihn darüber hinaus weitere Konsequenzen treffen können, insbesondere eine
Schadensersatzpflicht (nachfolgend unter II. 3.)
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Beispiele: Der AN bleibt der Arbeit unentschuldigt fern, kommt unentschuldigt zu spät, verlässt zwischendurch eigenmächtig den Arbeitsplatz oder beendigt seine Arbeit eigenmächtig vor dem Arbeitsende, nimmt
oder verlängert sich eigenmächtig seinen Erholungsurlaub.
Die Verantwortlichkeit für den persönlichen Verhinderungsgrund in den Fällen des § 3
EFZG und des § 616 BGB greift allerdings erst dann, wenn der AN gröblich gegen das
von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt, er sich also vorsätzlich oder „besonders“ grob fahrlässig verhält (oben § 21 III. und
§ 22 III. 1. Pkt. 4).
Beispiele: Der AN ist arbeitsunfähig krank durch eine Verletzung, die er bei einem Kfz-Unfall infolge Alkoholgenuss oder Missachtung der Anschnallpflicht erlitten hat.
Der Vorwurf des Abwägungsfehlgebrauchs durch Überschätzen der zur Unzumutbarkeit führenden Zwangslage (§§ 275 III, 616 BGB) erfordert ein ungewöhnlich hohes Maß an Gedankenlosigkeit des AN.
II. Die dem ArbG gegen den AN im Fall des pflichtwidrigen Ausbleibens der Arbeitsleistung nach dem Gesetz zustehenden Rechte
1. Der Anspruch auf Erfüllung der Arbeitspflicht
In den Fällen, in denen der AN der Arbeit fernbleibt, weil er seine Arbeitsstelle nicht antreten will oder vorzeitig aufgibt, für eine ordentliche Kündigung aber eine lange Frist
vereinbart ist – selbst für die Probezeit kann nach § 622 V 3 BGB eine mehrmonatige
Kündigungsfrist vereinbart werden – und er darum fristlos kündigt, allerdings ohne sich
wirklich auf einen wichtigen Grund berufen zu können, kann es für den ArbG unter Umständen von Interesse sein, gegen den AN einen Anspruch auf Erfüllung der Arbeitspflicht aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag geltend zu machen. Ansonsten wird
von dem Erfüllungsanspruch kaum Gebrauch gemacht, zumal das hierauf gerichtete Urteil nach § 62 II 1 ArbGG, § 888 III ZPO nicht vollstreckbar ist: Schließlich kann der
vom ArbG beauftragte Gerichtsvollzieher den zur Erfüllung verurteilten AN nicht
zwangsweise dem Betrieb zuführen. Nach § 61 II 1 ArbGG kann die Erfüllungsklage allerdings mit einem Antrag auf Entschädigung verbunden werden.
2. Das Recht des ArbG, die Entgeltzahlung zu verweigern,
folgt aus §§ 275 I, 326 I 1 BGB. Auf ein Verschulden des AN stellen diese Vorschriften
nicht ab, doch setzt die Anwendung des § 326 I 1 BGB voraus, dass des AN weder kraft
Gesetzes (oben unter §§ 17 III. sowie 18 bis 24) noch auf Grund einer besonderen Vereinbarung mit dem ArbG von seiner Arbeitspflicht befreit ist, also mindestens objektiv
pflichtwidrig bzw. vertragswidrig gehandelt hat.
3. Der Anspruch des ArbG auf Schadensersatz statt der Leistung
Der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Schadensersatz statt der Leistung aus §
280 I, III, 283 BGB wegen infolge der Nichtleistung endgültig ausgebliebener Arbeitsleistung. tritt neben die Möglichkeit, die Vergütung des AN einzubehalten (vorstehend
unter 2.). Er setzt nach § 280 I BGB voraus, dass der AN die objektiv pflichtwidrige
Nichtleistung nach § 276 BGB zu vertreten hat. Der dem ArbG durch die Nichtleistung entstandene Schaden liegt zumeist in den Vermögensnachteilen, die er durch einen
Produktionsausfall oder in Gestalt der Mehrkosten erleidet, die er zur Vermeidung eines
Produktionsausfalls aufwenden muss.
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Hat der ArbG die durch das Ausbleiben der Arbeitsleistung des vertragsbrüchigen AN drohenden Vermögensnachteile dadurch auffangen können, dass seine AN ihren Einsatz verstärkt haben und/oder er selbst
die Arbeit des Vertragsbrüchigen mit übernommen hat, billigt ihm die Rechtsprechung Anspruch auf Ersatz
des sog. normativen Schadens in Gestalt eines angemessenen Entgelts zu, weil es unbillig wäre, den Vertragsbrüchigen durch die Mehrarbeit anderer zu entlasten.
In den Fällen, in denen der AN der Arbeit fernbleibt, weil er seine Arbeitsstelle nicht antreten oder vorzeitig aufgeben will und darum vorfristig kündigt, besteht kein Anspruch
des ArbG auf Ersatz der ihm wegen der Neubesetzung entstehenden Inserats- und Vorstellungskosten, da sie ihm auch bei vertragsgemäßer Kündigung durch den AN entstanden wären (= rechtmäßiges Alternativverhalten).
Die für den Fall der Schlechtleistung bei betrieblich veranlasster Tätigkeit für den AN richterrechtlich entwickelten Haftungserleichterungen (dazu unten § 27) finden im Fall der Nichtleistung keine Anwendung, auch nicht § 619a BGB. Daher muss der AN bei Nichtleistung seiner Arbeit diejenigen Umstände
beweisen, die ihn entschuldigen können (§ 280 I 2 BGB). Unterliegt der AN einem Rechtsirrtum, weil er
infolge fehlerhafter Einschätzung der Rechtslage eine Leistungspflicht nicht für gegeben hält, stellt die
Rechtsprechung an seine Einlassung, der Irrtum sei für ihn nicht vermeidbar gewesen, so dass ihn nicht
einmal leichte Fahrlässigkeit treffe, strenge Anforderungen.
4. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Nichtleistung, ggf. nach Abmahnung
Als spezifisch arbeitsrechtliche Sanktion kommt im Fall des Ausbleibens der Arbeitsleistung eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG wegen Pflichtverletzung
des AN in Gestalt der Nichtleistung der Arbeit in Betracht.
a) Hat der AN die zur Unmöglichkeit führende Nichtleistung der Arbeit i.S.d. § 276
BGB zu vertreten, kann ihn über die Rechtsfolgen der §§ 326 I 1 und 283 BGB hinaus
das Risiko treffen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Da es sich um einen Verhaltensfehler des AN handelt, ist der ArbG zunächst einmal verpflichtet, dem AN gegenüber eine
Abmahnung auszusprechen (unten § 30 IV. 3.). Erst im Wiederholungsfall kann der
ArbG das Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche (fristgemäße) Kündigung einfach
nach § 622 BGB, bei Geltung des KSchG durch eine verhaltensbedingte Kündigung
nach Maßgabe des § 1 KSchG (unten § 30 IV.) beenden.
Bei einer schweren Pflichtverletzung kann den AN – unter Umständen sogar ohne vorherige Abmahnung wegen eines ähnlichen Fehlverhaltens – eine außerordentliche (fristlose) Kündigung nach § 626 I BGB treffen (unten § 33). In diesem Fall ist der AN dem
ArbG nach § 628 II BGB auch zum Ersatz des durch die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schadens (vorstehend unter 3.) verpflichtet.
b) Kommt der AN seiner Arbeitspflicht für eine insgesamt erhebliche Zeitdauer nicht
nach, ohne dass ihn daran ein Verschulden trifft, z.B. wegen einer Langzeiterkrankung
oder häufiger Kurzerkrankungen, läuft er Gefahr – unter Beachtung der vor dem Ausspruch krankheitsbedingter Kündigungen erforderlichen Fürsorgemaßnahmen des ArbG
(unten § 30 III. 3.) – einfach nach § 622 BGB ordentlich gekündigt zu werden, wenn
dem ArbG die Fortführung des Arbeitsverhältnisses wirtschaftlich nicht mehr zumutbar
ist, bei Geltung des KSchG personenbedingt nach Maßgabe des von § 1 KSchG (unten §
30 III.).
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III. Vereinbarte Sanktionen für den Fall der Nichterfüllung der Arbeitspflicht
1. Der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Zahlung einer Vertragsstrafe
Der Anspruch des ArbG gegen den AN aus §§ 339, 340 ff. BGB wegen Nichterfüllung
der Arbeitspflicht, tritt neben die Möglichkeit, die Vergütung einzubehalten. Als pauschalisierte Form des Schadensersatzes statt der Leistung setzt er wie dieser voraus, dass
der AN die Nichtleistung nach § 276 BGB zu vertreten hat.
Insbesondere für den Fall, dass die Erfüllung der Arbeitspflicht ausbleibt, weil der AN
seine Arbeitsstelle entweder nicht antritt oder vorzeitig aufgibt, ohne nach § 626
BGB einen wichtigen Grund zur Kündigung zu haben, findet sich in den vom ArbG vorformulierten Arbeitsverträgen häufig eine Vertragsstrafeklausel. Da ein Anspruch auf Erfüllung der Arbeitspflicht nicht vollstreckbar ist (vorstehend unter II. 1.), ferner ein Anspruch auf Entschädigung oder auf Schadensersatz oft am Nachweis eines konkreten
Vermögensnachteils scheitert und die Entgeltverweigerung nach § 326 I 1 BGB den AN,
der eine bessere Stelle gefunden hat, von seiner Entscheidung sowieso nicht abhält, hat
sich die Vereinbarung eines Strafgeldes als eine im Arbeitsrecht geltende Besonderheit
dafür durchgesetzt, dem ArbG einen pauschalisierten Mindestschaden zu ersetzen. Darum unterliegt die vom ArbG vorformulierte Vertragsstrafeklausel nach § 310 IV 2
Halbs. 1 BGB auch nicht dem Klauselverbot des § 309 Nr. 6 BGB.
Die Vertragsstrafeklausel ist jedoch unwirksam, wenn sie den AN nach § 307 I 1 BGB
unangemessen benachteiligt. Das wäre der Fall, wenn die Vertragsstrafe höher ist, als
die Arbeitsvergütung, die für die Zeit zwischen dem Nichtantritt der Arbeit oder ihrer tatsächlichen vorzeitigen Beendigung und dem durch Kündigung rechtlich zulässigen Beendigungszeitpunkt zu zahlen wäre (BAG v. 18.12.2008 – 8 AZR 81/08 – in DB 2009,
2269 ff.). Bei langen Kündigungsfristen wird man jedoch von einem niedrigeren Betrag
ausgehen müssen. Die h.M. hält im Regelfall eine Vertragsstrafe in Höhe eines Brutto-Monatsgehalts für angemessen.
Kündigt der AN vor Arbeitsantritt, ist eine Vertragsstrafe von einem Brutto-Monatsgehalt
allerdings nicht angemessen, wenn sich der AN nach § 622 III BGB von dem Vertrag
rechtmäßig mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen lösen kann (BAG 4.3.2004 – 8
AZR 196/03 – in NZA 2004, 757 ff. Rn.61 ff.). Eine nachträgliche geltungserhaltende
Reduktion der Vertragsstrafe auf ein halbes Brutto-Monatsgehalt für Kündigungen während der Probezeit ist unzulässig, so dass der AN wegen Unwirksamkeit der Vertragstrafeklausel überhaupt keine Vertragsstrafe schuldet, wohl noch nicht einmal bei einer
späteren vorzeitigen Aufgabe des Arbeitsverhältnisses. Eine Herabsetzung der Vertragsstrafe auf das angemessene Maß nach § 343 BGB kommt nur bei verwirkten d.h. wirksam vereinbarten Vertragsstrafen in Betracht (BAG v. 4.3.2004 a.a.O. Rn.63 ff.).
Unwirksam ist eine Vertragsstrafe auch wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot
des § 307 I 2 BGB, wenn sie die strafbewehrte Pflichtverletzung nicht so klar benennt,
dass der AN sich darauf einstellen kann. Das ist z.B. der Fall, wenn Vertragsstrafe ganz
allgemein „für schuldhaft vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers“ vereinbart
worden ist (BAG v. 21.4. 2005 a.a.O. Rn.31).
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2. Das Recht des ArbG, Sondervergütungen zu kürzen
Im Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag kann für Fehlzeiten eine Vereinbarung über die Kürzung von zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt
gewährte Sondervergütungen, wie z.B. einer Weihnachtsgratifikation getroffen werden.
Eine solche Kürzungsklausel ist in den Grenzen des § 4a EFZG auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit zulässig. Weiteres oben § 16 II. 3. c) (1).
3. Die Betriebsbuße
Betriebsbußordnungen beruhen im Regelfall auf einer Betriebsvereinbarung und dienendem Zweck, das „arbeitsbegleitende Ordnungsverhalten der AN im Betrieb zu gewährleisten“ (Krause a.a.O. § 15 II. 2. e). Sie können auch in einem Tarifvertrag geregelt
sein. Im Bereich der Nichterfüllung der Arbeitspflicht könnten Arbeitszeitversäumnisse
wegen häufigen Zuspätkommens eine Betriebsbuße auslösen. Je nach Gewicht und
Häufigkeit der Verstöße kann eine Ermahnung, ein Verweis oder eine Geldbuße unter
Beteiligung des Betriebsrats aus gesprochen werden.
Es muss allerdings festgestellt werden, dass die Verhängung von Betriebsbußen weitgehend unüblich geworden ist. An ihre Stelle sind in der Praxis die Abmahnung durch den
ArbG getreten, die im Wiederholungsfall zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses
führen kann (vorstehend unter III. 4.).
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§ 26 Die Schlechtleistung des Arbeitnehmers unter besonderer Berücksichtigung seiner Haftung auf Schadensersatz
I. Die Schlechtleistung des AN im Überblick
1. Pflichtverletzung durch Schlechtleistung
Die Schlechtleistung bezeichnet eine Störung im Vollzug eines vertraglichen Schuldverhältnissen, die darin ihren Ausdruck findet, dass der Schuldner eine ihm hiernach obliegende Pflicht nicht ordentlich erfüllt.
Für den AN als Schuldner kann diese Pflichtverletzung dazu führen, dass der ArbG ihm
das Arbeitsverhältnis kündigt: Bei Geltung des KSchG ordentlich (fristgemäß) entweder
personenbedingt oder verhaltensbedingt unter Beachtung von § 1 I, II KSchG, ansonsten
einfach nach § 622 BGB. Im Falle grober Pflichtverletzung ist eine außerordentliche (fristlose) Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB möglich.
Erleidet der ArbG durch die Schlechtleistung des AN einen Schaden, kann er ihn, schuldhaftes Fehlverhalten vorausgesetzt, darüber hinaus auf Schadensersatz neben der Leistung unmittelbar aus § 280 I BGB, ggf. aus unerlaubter Handlung sowie aufgrund von
sondergesetzlichen Vorschriften in Anspruch nehmen.
Der nach dem System des Allgemeinen Schuldrechts des BGB für den Fall der Schlechtleistung an erster
Stelle stehende Anspruch des Gläubigers gegen den Sachschuldner auf Nacherfüllung durch Gutleistung, sein
in zweiter Linie bestehendes Recht auf Rücktritt wegen nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung (§ 323
BGB) und die daneben bestehende Möglichkeit, Schadensersatz statt der endgültig ausgebliebenen Leistung
verlangen zu können (§§ 280 I, III, 281 BGB), kommen hier nicht in Betracht. Auch ist der ArbG nicht berechtigt, dem AN wegen mangelhaft erbrachter Arbeitsleistung den Lohn zu kürzen. Der ArbG kann vom AN
kraft seines Weisungsrechts die Beseitigung von Qualitätsmängel verlangen, doch kommt dem AN auch für
die Zeit, die er zur Mangelbeseitigung benötigt, der volle Lohn zu.
In den Fällen, in denen der AN dem ArbG wegen schuldhaften Verhaltens schadensersatzpflichtig ist, kann es
allerdings faktisch zu einer Lohnkürzung dadurch kommen, dass der ArbG mit seinem Schadensersatzanspruch in den Grenzen des § 394 S. 1 BGB i.V.m. §§ 850 ff. ZPO gegen den Lohnanspruch des AN aufrechnet.
Durch eine im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag vereinbarte Kürzungsklausel kann dem ArbG das Recht eingeräumt werden, in Fällen schuldhafter Schlechtleistung zusätzlich
zum laufenden Arbeitsentgelt gewährte Sondervergütungen, wie z.B. eine Weihnachtsgratifikation, unter
Beachtung der Rechtsprechungsregeln über den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend unter 2.)
zu kürzen.
Liegt das Fehlverhalten des AN in einem Verstoß gegen die betriebliche Ordnung (oben unter § 15 VI. 3.),
kann der AN auf der Grundlage einer (nach § 87 I Nr. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtigen) Betriebsbußenordnung mit einer Betriebsbuße durch mündliche Verwarnung, schriftlichen Verweis oder Auferlegung einer Geldbuße belegt werden (gerichtsähnliches Verfahren unter paritätischer Beteiligung der Arbeitgeberseite und des Betriebsrats, arbeitsgerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar).
2. Pflichtverletzungen bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten
Für die Haftung des AN auf Schadensersatz gelten besondere Regeln, wenn sich der
schadenstiftende Vorfall bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit ereignet hat.
Das sind diejenigen Tätigkeiten, die dem AN nach dem Arbeitsvertrag obliegen, weil sie
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ihm zur Ausführung übertragen worden sind oder weil er sie in Verfolgung betrieblicher
Zwecke für den Betrieb ausführt (BAG vom 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in NZA 2003, 37
ff. unter II. 2. b).
Ein bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit entstandener Schaden liegt
zum einen dann vor, wenn der AN gerade die ihm gestellte Aufgabe als solche mangelhaft
erfüllt: Man spricht von der Verletzung der Haupt(leistungs)pflicht des AN nach §§ 611,
241 I BGB durch quantitative oder qualitative Minderleistung (Schlechtleistung im engen und eigentlichen Sinne; nachfolgend unter II. 1.). Ein Schaden bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit kann aber auch dadurch entstehen, dass der AN in sonstiger
Weise Vermögensinteressen des ArbG verletzt, vor allem dadurch, dass er im Zusammenhang mit seiner Arbeit Personen- oder Sachschaden anrichtet, mag er auch die ihm gestellte Aufgabe als solche fehlerfrei erfüllt haben: Man spricht davon, dass der AN seine
die Arbeitsleistung begleitende Nebenpflicht zur Rücksichtnahme „auf die Rechte,
Rechtsgüter und Interessen“ des ArbG nach § 241 II BGB verletzt habe (Schlechtleistung
im uneigentlichen, weiteren Sinne; nachfolgend unter II. 2.).
Weil der ArbG kraft seiner Leitungsmacht die Betriebsorganisation und die Betriebsabläufe
beherrscht, trifft ihn an derlei betriebsbezogenen Schadensfällen ein situationsbedingt
differenziertes Maß an Mitverantwortung als Ausdruck des Betriebsrisikos, das er als Unternehmer trägt. Es zeigt sich darin, dass der auf Schadensersatz in Anspruch genommene
AN eine Haftungserleichterung erfährt, und zwar dergestalt, dass der ArbG nach den
Grundsätzen über den innerbetrieblichen Schadensausgleich die von seinem AN herbeigeführten Schäden in angemessenem Umfang mittragen muss (siehe schon oben § 1
IV.).
Nachfolgend unter III. wird aufgezeigt, welche Haftungsrisiken den AN nach Maßgabe
der Vorschriften des BGB treffen können.
Die Haftungserleichterungen nach den Grundsätzen, die die Rechtsprechung zum innerbetrieblichen Schadensausgleich entwickelt hat, werden anschließend unter § 27 dargestellt.
3. Pflichtverletzungen außerhalb des Rahmens betrieblich veranlasster Tätigkeit
Liegt das Verhalten, das die Haftung des AN begründet, hingegen außerhalb des Rahmens
betrieblich veranlasster Tätigkeit, besteht für eine Haftungserleichterung des AN zu Lasten
des ArbG kein Anlass.
Dies ist z.B. dann der Fall, wenn sich die Schlechtleistung des AN (im weiteren Sinne) in der Beschädigung
des Firmenwagens während seiner privaten Nutzung äußert oder in Schäden als Folge einer eigenmächtigen „Spaßfahrt“ mit dem Gabelstapler zeigt, einerlei, ob sie in der Pause oder während der Arbeit geschah
(BAG vom 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in NZA 2003, 37 ff.). An einer betrieblich veranlassten Tätigkeit
fehlt es vor allem dann, wenn sich das Tun des AN bewusst gegen die betrieblichen Interessen richtet, wie
in den Fällen eines Verstoßes des AN gegen die Verschwiegenheitspflicht, ein Wettbewerbsverbot, das Verbot von unternehmensschädigenden Äußerungen; ferner bei strafbaren Handlungen, wie etwa Diebstahl und
Unterschlagung, Betrug und Untreue, Verrat von Geschäftsgeheimnissen sowie Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (Schmiergeldverbot). In diesen Fällen bleibt es bei der uneingeschränkten
Schadensersatzhaftung des AN nach § 280 I 1 BGB einschließlich der Beweislastumkehrregelung des § 280 I
2 BGB (§ 619a BGB gilt für diese Fälle nicht!), ggf. nach §§ 823 I/II, 826 BGB sowie spezialgesetzlichen
Vorschriften (oben § 15 V. 2.).
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II. Die Tatbestände der Schlechtleistung bei der Verrichtung betrieblich veranlasster
Tätigkeiten
1. Die quantitative und/oder qualitative Minderleistung
Die Schlechtleistung (im engeren und eigentlichen Sinne) beschreibt das BGB als eine
Pflichtverletzung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Schuldner „die fällige Leistung
… nicht wie geschuldet erbringt“ (§ 281 I BGB) bzw. „nicht vertragsgemäß erbringt“ (§
323 I BGB).
„Fällig“ im Sinne dieser Bestimmungen ist die Leistung des AN an jedem Arbeitstag, an
dem er dem ArbG zur Verfügung steht. Vom AN „geschuldet“ ist die Leistung, zu deren
Erbringung er vertraglich verpflichtet ist. Das ist mehr als die bloße Zurverfügungstellung
seiner Arbeitskraft und weniger als die Herbeiführung eines bestimmten Leistungserfolges.
Was der AN schuldet, ist die Arbeit als solche in Gestalt eines erfolgsorientierten Tätigwerdens. Schuldrechtlich gesprochen ist dies die Hauptpflicht des AN gemäß § 611
BGB (oben § 15 I.), mit deren Erbringung er den Anspruch des ArbG auf Arbeitsleistung
erfüllt.
„Nicht wie geschuldet erbracht“/„nicht vertragsgemäß erbracht“ ist die Arbeitsleistung des
AN, wenn die ihm obliegende Arbeit quantitativ oder qualitativ minderwertig ist. Da
die Menschen von unterschiedlichem Leistungsvermögen sind und noch dazu jeder von
ihnen Leistungsschwankungen unterliegt, kann von einer rechtserheblichen Schlechtleistung des AN erst dann gesprochen werden, wenn er seine Arbeit zu langsam oder zu fehlerhaft erbringt. Damit aber stellt sich die Frage nach dem Maßstab für die Beurteilung
der Arbeitsleistung.
Hierbei kommt es in erster Linie auf die im Arbeitsvertrag getroffenen Vereinbarungen
an. Lassen sich dem Arbeitsvertrag keine hinreichend deutlichen Vorgaben über Menge
und Beschaffenheit der zu leistenden Arbeit entnehmen, ist der vom ArbG in Ausübung
seines Weisungsrechts festgelegte Arbeitsinhalt maßgebend (BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR
667/02 – in NZA 2004, 784 unter B. I. 2. b). Dabei ist zu beachten, dass von einem AN nur
die Leistung verlangt werden kann, „die er bei angemessener Anspannung seiner geistigen
und körperlichen Kräfte auf Dauer ohne Gefährdung seiner Gesundheit zu leisten imstande
ist“ (ErfK/Preis § 611 Rn. 643). „Der AN muss tun, was er soll, und zwar so gut, wie er
kann“ (BAG a.a.O.). Vor diesem Hintergrund liegt eine Schlechtleistung jedenfalls in Gestalt einer Pflichtverletzung im objektiven Sinne erst dann vor, wenn die Leistung des
AN nicht nur vorübergehend so deutlich hinter der nach ihrer Tätigkeit vergleichbarer AN zurückbleibt, dass dem ArbG ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag nicht mehr
zumutbar ist. Die Zumutbarkeitsgrenze dürfte bei einer Leistungsminderung von mehr
als 1/3 überschritten sein (vgl. BAG a.a.O. unter B. I. 2. d sowie BAG v. 17.1.2008 – 2
AZR 536/06 – in NZA 2008, 693).
Ist der AN nach Kräften bemüht, seine Arbeit zu erledigen, wird ihm die (objektive)
Pflichtverletzung nicht (subjektiv) vorgeworfen werden können. Selbst wenn das Bemühen
des AN den normalen Sorgfaltsmaßstab des § 276 II BGB nicht erfüllen sollte, weil seine
individuelle Sorgfalt nicht den Anforderungen der allgemein „im Verkehr erforderlichen
Sorgfalt“ genügt, kann ihn kein Schuldvorwurf treffen. Der im Grundsatz abstrakte und objektive Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 II BGB lässt es zu, bereichsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen, wie sie gerade das Arbeitsrecht im Hinblick auf die Anforderungen an die Intensität der Arbeitsleistung des AN aufweist. Daraus folgt, dass der AN,
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der seine individuelle Leistungsfähigkeit ausschöpft und trotzdem zu langsam oder zu fehlerhaft arbeitet, dem ArbG mangels Verschuldens nicht schadensersatzpflichtig wird.
Wegen des in der objektiven Pflichtverletzung zutage tretenden Eignungsmangels des AN kann sich der
ArbG von ihm aber im Weg einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB trennen. Gilt das
KSchG, kommt eine personenbedingte Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG in Betracht (unten
§ 30 III. 1. b).
Beruht die Schlechtleistung des AN hingegen darauf, dass er seine Leistungsfähigkeit bewusst nicht ausschöpft, sich also mindestens keine Mühe gibt bzw. sich gehen lässt, seinen Dienst achtlos bis gleichgültig versieht und darum zu langsam und zu fehlerhaft arbeitet, liegt eine Pflichtverletzung auch im subjektiven Sinne vor, die den ArbG berechtigt,
vom AN wegen schuldhafter Schlechtleistung Schadensersatz zu verlangen.
Darüber hinaus kann sich der ArbG vom AN im Wege einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach §
622 BGB trennen. Gilt das KSchG, kann es zu einer verhaltensbedingten Kündigung unter Beachtung von
§ 1 I, II KSchG (unten § 30 IV. 1.) kommen. Bei grober Pflichtverletzung besteht die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB. In diesem Fall kann es nach § 628 II BGB dazu
kommen, dass der AN zum Ersatz des durch die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schaden
verpflichtet ist.
Quantitative wie qualitative Minderleistung des AN führt zu Zeit- und Materialverschwendung, stört das Zusammenspiel in der Arbeitsgruppe, bewirkt Reibungsverluste, belastet
die Betriebsabläufe und damit das Betriebsergebnis. Die Produktion des Betriebes
Verzögerungen und Ausfällen sowie den damit verbundenen Folgeschäden. Die dem Betrieb und damit dem ArbG daraus erwachsenden Vermögensnachteile sind allerdings oft nur schwer messbar und einem bestimmten
Störer oft nicht eindeutig zurechenbar. Es kommt hinzu, dass es dem ArbG Schwierigkeiten bereiten kann, dem störenden AN ein Verschulden nachzuweisen; denn nach §
619a BGB trägt die Beweislast hierfür entgegen § 280 I 2 BGB der ArbG. In diesen Fällen
wird der ArbG daher eher versuchen, sich von dem AN wegen Eignungsmangels im Wege
einer personenbedingten Kündigung zu trennen.
Kommt es hingegen bei oder durch die Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten dazu, dass der AN Sach- oder Personenschaden anrichtet, ist die darin liegende Pflichtverletzung leichter fassbar und zurechenbar. Das gleiche gilt, wenn der AN gegen gesetzliche
Vorschriften, wie etwa des Umwelt- oder des Arbeitsschutzrechts verstößt. Da es nicht um
die Arbeitsleistung als solche, sondern um die Begleitumstände der Arbeit geht, handelt es
sich in diesen Fällen um die Verletzung der vertraglichen Nebenpflicht des Schuldners
─ hier des AN ─ „zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen
Teils“ ─ hier des ArbG ─ nach § 241 II BGB (nachfolgend 2.).
2. Die Verletzung der Nebenpflicht des AN zur Rücksichtnahme
In den Fällen, in denen der AN bei oder durch die Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit Personen- oder Sachschaden verursacht, kommt es kaum zu den im Falle quantitativer oder qualitativer Minderleistung aufgezeigten Unsicherheiten. Denn hier sind die
Merkmale, die die Verantwortlichkeit des AN kennzeichnen, eindeutig definiert. So wie §
823 I BGB den eines Eingriffs in diese Rechtsgüter schuldigen Täter zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet, stellt § 241 II BGB klar, dass dieser Mangel an
Rücksichtnahme, wenn er im Rahmen eines Vertrages auftritt, zugleich eine Pflichtverletzung ist, die den Täter Vertretenmüssen nach § 276 BGB vorausgesetzt nach § 280 I
BGB schadensersatzpflichtig werden lässt. Das gleiche gilt für die sonstigen gesetzlichen
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Ge- und Verbote, die der AN bei der Verrichtung seiner Arbeit zu beachten hat. Sollten für
den entstandenen Schaden mehrere AN nebeneinander verantwortlich sein, verbietet der
Schutzzweck des Arbeitsrechts allerdings eine gesamtschuldnerische Haftung der beteiligten AN („Einer für alle“), wie sie § 840 BGB vorsieht.
Die schuldhafte Verletzung der Nebenpflicht des AN aus § 241 II BGB durch die Herbeiführung von Sachschäden bildet die Hauptmenge der Fälle, in denen der ArbG vom AN
Schadensersatz wegen der ihm dadurch entstehenden Einbußen verlangt. Es kommt z.B.
zur Beschädigung oder Zerstörung von Materialien, Werkzeugen, Gerätschaften, Maschinen, Fahrzeugen, Gebäuden und sonstigen Sachgütern des ArbG, als deren Folge durch den
damit verbundenen Nutzungsausfall sowie erforderlich werdende Reparatur- oder Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten finanzielle Einbußen entstehen. Dass der AN seinem ArbG
einen Personenschaden zufügt, ist demgegenüber eher selten. Zu einer schadenstiftenden
Verletzung von sonstigen nicht in Personen- oder Sachgütern gebundenen Vermögensinteressen des ArbG, kann es z.B. dadurch kommen, dass der Betrieb wegen des Verstoßes
des AN z.B. gegen Vorschriften des Umwelt- oder Sicherheitsrechts mit einer Geldbuße
belegt wird.
Fügt der AN einem anderen AN oder einem außenstehenden Dritten Schaden zu, verletzt er nicht eine diesen Geschädigten gegenüber bestehende vertragliche Nebenpflicht,
weil ihn mit diesen Personen kein vertragliches Schuldverhältnis verbindet. Ihnen gegenüber hat er einfach eine unerlaubte Handlung nach §§ 823 I/II BGB begangen. Darin liegt
jedoch zugleich eine Nebenpflichtverletzung gegenüber dem ArbG, wenn der ArbG von
dem Verletzten wegen des erlittenen Schadens aus seiner Haftung für den Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB und/oder aus seiner Verantwortlichkeit für den Erfüllungsgehilfen
nach §§ 280 I, 278 BGB in Anspruch genommen wird oder der vom AN geschädigte Arbeitskollege als Arbeitskraft ausfällt und/oder den ArbG wegen seines Schadens analog §
670 BGB in Anspruch nimmt. In diesen Fällen kann der ArbG den schadenstiftenden AN
nach §§ 241 II, 280 I BGB wegen Schlechtleistung (im weiteren Sinne) in Regress nehmen
(nachfolgend IV. 2./3.).
Neben der Inanspruchnahme des AN auf Schadensersatz kann es in diesen Fällen natürlich auch zu einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB, bei Geltung des KSchG zu einer verhaltensbedingten
Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG, im Falle grob fahrlässigen Fehlverhaltens des AN zu einer
außerordentlichen (fristlosen) Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB kommen.
III. Die nach Maßgabe der Vorschriften des BGB mögliche Haftung des AN auf
Schadensersatz bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten
(Zur Beschränkung der Haftung des AN nach Maßgabe der Rechtsprechung über den innerbetrieblichen Schadensausgleich siehe nachfolgend § 27).
Im Vordergrund steht der Fall, dass der AN dem ArbG haftet, weil er ihm unmittelbar einen Schaden zugefügt hat (nachfolgend unter 1.). Der AN kann dem ArbG aber auch
dann haften, wenn er einem Außenstehenden oder einem Arbeitskollegen einen Schaden
zugefügt hat und diese deswegen statt des AN den ArbG in Anspruch nehmen (nachfolgend
unter 2. und 3.). Der AN hat in diesem Fall den ArbG gleichsam mittelbar geschädigt
und wird dafür nun vom ArbG im Wege des Regresses zur Rechenschaft gezogen.
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1. Der AN schädigt unmittelbar den ArbG
Da AN und ArbG in einem vertraglichen Schuldverhältnis zueinander stehen, erfüllt das
schadenstiftende Verhalten des AN den Tatbestand der Verletzung

entweder seiner Hauptpflicht aus dem Arbeitsvertrag nach §§ 611, 241 I BGB
durch quantitative oder qualitative Minderleistung (vorstehend unter II. 1.)

oder einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag nach §§ 611, 241 II BGB durch die
Herbeiführung von Sach-, Personen- oder reinem Vermögensschaden des ArbG (vorstehend unter II. 2. b).
der im Grundsatz zu einem Anspruch des geschädigten ArbG gegen den AN aus § 280 I
BGB auf Schadensersatz des (neben der Leistung) führen kann.
Ggf. kann es neben dem Anspruch aus § 280 I BGB auch zu einem Schadensersatzanspruch aus unerlaubter
Handlung, insbesondere nach § 823 I/II BGB sowie aus Sondergesetzen kommen.
Beachte: Erleidet der ArbG durch seinen AN einen Personenschaden als Arbeitsunfall, treten an die Stelle
einer möglichen Haftung des schadenstiftenden AN die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nach
§ 105 SGB VII (unten § 27 II. 1.).
Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Der Schadensersatzanspruch des ArbG gegen den AN erfährt analog § 254 BGB u.U. eine Kürzung,
ggf. bis auf null.
2. Der AN schädigt einen Außenstehenden
a) Da AN und Außenstehender nicht vertraglich verbunden sind, kommen Schadensersatzansprüche des Geschädigten gegen den AN nur aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach §§ 823 I/II BGB in Betracht.
Beachte: Diese Haftung geht nicht nur auf den Ersatz von Sachschaden, sondern auch von Personenschaden, da die gesetzliche Unfallversicherung den schädigenden AN vor der Inanspruchnahme aus einem
Personenschaden nur dann schützt, wenn es sich um einen Arbeitsunfall i.S.d § 8 I SGB VII handelt, der Geschädigte also ein/e Arbeitskollege/in ist.
b) Fügt der AN einem Außenstehenden Schaden zu, verletzt er damit zugleich gegenüber dem ArbG seine Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag gemäß § 241 II BGB zur
Rücksichtnahme auf die „Interessen“ seines ArbG, sofern der Außenstehende statt des
Schädigers den ArbG mit Erfolg auf Schadensersatz in Anspruch nimmt:

Ist der Außenstehende ein Vertragspartner des ArbG, kann er den ArbG wegen des erlittenen Personen- und Sachschadens auf Ersatz nach §§ 280 I, 278 BGB aus dessen Verantwortlichkeit für den AN
als seinen gegenüber Vertragspartnern eingesetzten Erfüllungsgehilfen in Anspruch nehmen. Statt aus
Vertragsrecht könnte der ArbG vom Außenstehenden aber auch aus § 831 BGB wegen eines Aufsichtsverschuldens über den AN als seinen Verrichtungsgehilfen in Anspruch genommen werden; dies
allerdings nur dann mit Erfolg, wenn der Verrichtungsgehilfe eines der in § 823 I aufgeführten Rechtsgüter des Außenstehenden oder ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 II BGB verletzt hat und dem ArbG der
Exkulpationsbeweis nach § 831 I 2 BGB nicht gelingen sollte.
Über diese Inanspruchnahme hinaus kann der Schaden des ArbG kann auch darin liegen, dass er wegen
des Fehlverhaltens seines AN den Auftrag verliert, weil der Außenstehende den Vertrag aus wichtigem
Grund nach § 314 BGB kündigt oder nach § 324 BGB vom Vertrag zurücktritt.
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Ist der Außenstehende nicht Vertragspartner des ArbG, kann der Schaden des ArbG darin liegen,
dass der Außenstehende ihn wegen Aufsichtsverschuldens über seinen Verrichtungsgehilfen nach § 831
BGB in Anspruch nimmt (siehe vorstehender Punkt). Eine Inanspruchnahme des ArbG aus §§ 280 I,
278 BGB, der keinen Exkulpationsbeweis kennt, kommt in diesem Fall mangels vertraglicher Beziehung zum Außenstehenden nicht in Betracht.
Wegen des dem ArbG aus seiner Inanspruchnahme entstehenden Schadens könnte dieser
den AN nach § 280 I BGB in Regress nehmen.
c) Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Zu
vorstehend 2. a) Der Schadensersatzanspruch des Außenstehenden gegen den AN besteht
uneingeschränkt, doch kann der AN in analoger Anwendung des § 670 BGB von seinem
ArbG Freistellung von der Haftung in dem Umfang verlangen, wie dieser analog § 254
BGB den Schaden im Ergebnis (mit)tragen muss. ─ Zu vorstehend 2. b) Nimmt der Außenstehende statt des AN den ArbG auf Schadensersatz in Anspruch, kann der ArbG von
seinem AN Regress nur in dem Umfang verlangen, wie der ArbG den Schaden analog §
254 BGB nicht (mit)tragen muss.
3. Der AN schädigt einen Arbeitskollegen
a) Da die AN im Verhältnis zueinander nicht vertraglich verbunden sind, kommen Schadensersatzansprüche des geschädigten Arbeitskollegen gegen den ihn schädigenden
AN nur aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach §§ 823 I, II BGB in Betracht. Dies
gilt aber nur in Ansehung von Sachschäden!
Beachte: Erleidet ein AN durch einen/e Arbeitskollegen/in einen Personenschaden als Arbeitsunfall, tritt
an die Stelle der Haftung des schadenstiftenden AN die Sonderregelung des § 105 I SGB VII (dazu unten §
27 IV. 2.).
b) Fügt der AN einem Arbeitskollegen einen Schaden zu, verletzt der AN damit zugleich
gegenüber dem ArbG seine Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag gemäß § 241 II BGB
zur Rücksichtnahme auf die „Interessen“ seines ArbG, sofern der Arbeitskollege statt des
Schädigers den ArbG wegen seines Sachschadens mit Erfolg auf Ersatz in Anspruch
nimmt.

Erleidet der Arbeitskollege einen Sachschaden, z.B. durch die Beschädigung von Arbeitskleidung,
Schuhwerk, Armbanduhr u.Ä., kann der Vermögensschaden des ArbG aus diesem Vorfall darin liegen,
dass er dem Geschädigten nach §§ 280 I, 278 BGB (denn der schädigende AN ist im Verhältnis zum
geschädigten AN ein Erfüllungsgehilfe des ArbG in Ansehung der Nebenpflicht des ArbG aus dem Arbeitsvertrag mit dem geschädigten AN, diesen davor zu schützen, im Betrieb durch Unachtsamkeit von
Kollegen Schaden zu erleiden), aber auch nach § 831 BGB wegen Aufsichtsverschuldens über seinen
Verrichtungsgehilfen (siehe vorstehend unter 2. a) und ggf. analog § 670 BGB Ersatz leisten muss (siehe oben § 16 III. 2. sowie unten § 27 III. 1.).

Erleidet ein AN bei der Verrichtung seiner Arbeit durch Fehlverhalten eines Arbeitskollegen einen
Körperschaden, entsteht dem ArbG kraft Gesetzes ein Vermögensschaden, weil er dem erkrankten AN
Entgeltfortzahlung leisten muss; dabei ist aber die Erstattung zu berücksichtigen, die ein ArbG, der
nicht mehr als 30 AN beschäftigt, nach § 1 I AAG erhält (oben § 22 IV.). Im Übrigen kann dem ArbG
ein Schaden durch den Ausfall der Arbeitskraft des Verletzten bzw. entsprechende Abhilfemaßnahmen
(Beschäftigung einer Ersatzkraft) entstehen.
Wegen des dem ArbG aus diesen Gründen entstehenden Schadens kann er den AN nach §
280 I BGB in Regress nehmen.
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c) Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Zu
vorstehend 3. a) Der Anspruch des geschädigten Arbeitskollegen wegen seines Sachschadens gegen den AN besteht uneingeschränkt, doch kann der AN in analoger Anwendung
des § 670 BGB von seinem ArbG Freistellung von der Haftung in dem Umfang verlangen,
wie dieser analog § 254 BGB den Schaden im Ergebnis (mit)tragen muss. ─ Zu vorstehend 3. b) Nimmt der geschädigte Arbeitskollege statt des AN den ArbG auf Schadensersatz in Anspruch, kann der ArbG von seinem AN Regress nur in dem Umfang verlangen,
wie der ArbG den Schaden analog § 254 BGB nicht (mit)tragen muss. Das gilt auch für
den Arbeitsausfall-Schaden des ArbG.
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§ 27 Die Beschränkung der Haftung des Arbeitnehmers für Schäden bei
betrieblich veranlasster Tätigkeit
(Zum Begriff der betrieblich veranlassten Tätigkeit siehe schon oben § 26 I. 2.)
I. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung des ArbG
1. Personenschaden
Erleidet der ArbG durch schuldhaftes Verhalten des AN unmittelbar einen Personenschaden als Arbeitsunfall, tritt an die Stelle der Haftung des schadenstiftenden AN die Sonderregelung des § 105 SGB VII (unten VI. 2.).
Das gilt nach § 105 II SGB VII ausdrücklich für den Fall, dass der ArbG nicht selbst unfallversichert ist. Die
h.M. wendet § 105 I SGB VII aber auch auf den Fall an, dass der ArbG nach § 2 I Nr. 5 bis 7, 9 SGB VII, § 3
SGB VII oder § 6 SGB VII versichert ist (vgl. HWK/Giesen, § 105 SGB VII Rn. 8/9).
2. Sachschaden und sonstigen Vermögensschaden
Erleidet der ArbG durch schuldhaftes Verhalten des AN in den oben § 26 III. 1. bis 3.
aufgezeigten Situationen unmittelbar einen Sachschaden oder unmittelbar wie mittelbar
einen sonstigen Vermögensschaden in Gestalt finanzieller Einbußen und könnte er den AN
deswegen auf Schadensersatz aus § 280 I BGB und ggf. auch aus § 823 I/II BGB in Anspruch nehmen, haftet der AN ihm aber nur unter Beachtung der nachstehend beschriebenen Beschränkungen.
a) Die Beweislastregel des § 619a BGB
Abweichend von der dem Schuldner hinsichtlich des Vertretenmüssens nachteiligen Beweislastumkehrregelung des § 280 I 2 BGB, die für die Mehrzahl der Schuldverträge sinnvoll ist, trägt in Fällen der Haftung des AN für den aus der Verletzung einer Pflicht aus
dem Arbeitsverhältnis entstehenden Schaden nach § 619a BGB der ArbG als Gläubiger die
Beweislast dafür, dass der AN die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Es gilt also wieder der
prozessuale Regelfall, wie er auch für Ansprüche aus § 823 BGB maßgebend ist, nämlich
dass den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast für alle anspruchsbegründenden
Tatsachen trifft. Im Fall eines Schadensersatzanspruchs aus § 280 I 1 BGB muss der ArbG
(entgegen §280 I 2 BGB) also nicht nur die Tatsache der Pflichtverletzung, der Schadensentstehung und des Ursachenzusammenhangs zwischen beidem darlegen und beweisen, sondern auch das Verschulden des AN. Dadurch soll verhindert werden, dass der
ArbG sein Betriebsrisiko über die Beweislastumkehr des § 280 I 2 BGB auf den AN abwälzen kann.
b) Der innerbetriebliche Schadensausgleich analog § 254 BGB
Kommt unter Berücksichtigung der Beweislastregel des § 619a BGB (vorstehend unter a)
eine Schadensersatzpflicht des AN wegen schuldhafter Pflichtverletzung in Betracht, ist
nunmehr die von der Rechtsprechung zum Schutz des AN vor finanzieller Überforderung entwickelten Doktrin vom innerbetrieblichen Schadensausgleich anwendbar.
Über die im Einzelfall mögliche Mitverantwortung des ArbG für den entstandenen Schaden auf Grund konkreter Organisationsmängel hinaus, die ihn in unmittelbarer Anwendung
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des § 254 BGB trifft (nachstehend unter c), rechnet ihm die Rechtsprechung generell in
entsprechender Anwendung des § 254 BGB den Umstand, dass er mit der Eröffnung des
Betriebs die Arbeitsbedingungen seiner AN geschaffen hat und beherrscht, als hinreichenden Grund dafür zu, durch betrieblich veranlasste Tätigkeiten seiner AN herbeigeführte
Schäden in angemessenem Umfang mittragen zu müssen (Sphärengedanke). Man spricht
von der mit der Ausübung von Leitungsmacht verbundenen Verantwortung des ArbG
für die tätigkeitsspezifischen Gefahren, denen seine AN ausgesetzt sind, als einem Aspekt
des Betriebsrisikos, das der ArbG trägt (oben § 1 III. 4.). Die daraus abgeleitete Verantwortlichkeit des ArbG wird auch durch die Erkenntnis unterstützt, dass es dem AN wegen
der regelmäßig fehlenden Äquivalenz von Arbeitsentgelt und Risiko nicht zugemutet werden kann, durch jeden Fehler seine wirtschaftliche Existenz zu gefährden, zumal der ArbG
die im Durchschnitt zu erwartenden Schadensfälle kalkulatorisch erfassen und in seine
Preise einrechnen sowie versichern kann. Aus diesem Grunde kommen dem AN, der einen
Schaden in Ausübung der ihm obliegenden Arbeit verursacht hat, erhebliche Haftungserleichterungen zugute. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs trifft den AN
• keine Haftung bei leichtester Fahrlässigkeit („Das kann jedem mal passieren“);
• eine anteilige Haftung bei mittlerer (= leichter) Fahrlässigkeit. Eine mittlere Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der AN die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (= objektiver, abstrakter, typisierender Maßstab) außer Acht gelassen hat (so die Legaldefinition des § 276 II BGB), ohne dass ihm ein schwerer Vorwurf zu machen ist („Das sollte
eigentlich nicht passieren“). Das entspricht genau dem Begriff der leichten Fahrlässigkeit nach dem BGB. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des BAG der Haftungsanteil
des AN unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu bestimmen und liegt
nach der Rechtsprechung in den meisten Fällen deutlich unter 50 % des Schadens.
Maßgebende Kriterien auf Seiten des AN sollen vor allem Art, Schwierigkeit und Gefährlichkeit seiner Tätigkeit sein, die Voraussehbarkeit des Schadenseintritts, die persönlichen und beruflichen Fähigkeiten des AN, seine Berufserfahrung oder seine Unerfahrenheit, seine Stellung im Betrieb, ferner die
Schadenshöhe und die Einkommenslage des AN. Auf Seiten des ArbG spielen die Möglichkeiten einer
vorsorglichen Verhinderung oder Begrenzung des Schadens eine Rolle; hierher kann auch der Abschluss
einer Kasko- oder Schadensversicherung durch den ArbG gehören (nachfolgend unter V.).
Es ist nicht zu verkennen, dass eine auf solche Umstände gestützte Abwägung zu Rechtsunsicherheit
führt. Dennoch hat sich das BAG bisher nicht zu einer generellen Beschränkung der Haftung des AN auf
einen Höchstbetrag durchringen können. Eine Haftungshöchstgrenze von drei Monatsgehältern
(brutto) sollte das Äußerste sein. Im Grunde genommen darf der AN nicht viel mehr als einen fühlbaren
„Denkzettel“ erhalten.
• eine geminderte Haftung bei grober Fahrlässigkeit („Das darf nicht passieren“) unter der Voraussetzung eines erheblichen Missverhältnisses zwischen Verdienst und
Schaden;
so z.B. in Höhe der Hälfte des über rund 110.000 DM entstandenen Eigenschadens des ArbG an seinem
Omnibus, mit dem der AN als Fahrer grob fahrlässig bei Rot in den Kreuzungsbereich eingefahren war
(BAG v. 12.10.1989 - 8 AZR 276/88 - in NZA 1990, 97); so z.B. in Höhe von 10.000 DM zur Abgeltung
eines Eigenschadens des ArbG von rund 75.000 DM an seinem auf dem Flughafengelände eingesetzten
Enteisungsfahrzeug, den der AN als Fahrer während der Frühschicht im Winter bei einem Blutalkoholgehalt von 1,4 Promille infolge kurzzeitigen Einnickens verursacht hat (BAG v. 23.1.1997 - 8 AZR
893/95 - in NZA 1998, 140); so z.B. in Höhe eines Jahresbruttogehalts von 3.840 € zu Abgeltung eines
Schadens von 30.500 €, den eine Reinigungskraft grob fahrlässig verursacht hat (BAG v. 28.10.2010 - 8
AZR 418/09 - in NZA 2011, 345).
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• volle Haftung bei gröbster (= besonders grober) Fahrlässigkeit und bei Vorsatz.
In diesen Fällen ist zu beachten, dass sich das Verschulden des AN
sons
auf den eingetretenen Schaden beziehen muss.
Wird ein mit dem Abladen von Waren beschäftigter AN angewiesen, den Gabelstapler hierfür nicht zu benutzen (nämlich weil er mit ihm noch nicht vertraut ist) und benutzt er ihn dennoch mit der Folge, dass er mit
ihm das Tor der Lagerhalle beschädigt, haftet er nur dann wegen vorsätzlicher Schädigung des ArbG, wenn er
diesen Schaden herbeiführen wollte oder ihn als möglich vorausgesehen und billigend in Kauf genommen
hat. Hat der AN sich über das ihm erteilte Benutzungsverbot zwar vorsätzlich hinweggesetzt, den Schaden
selbst aber nur grob fahrlässig herbeigeführt, weil er unüberlegt annahm, mit den beiden hochgefahrenen Gabeln unter dem nicht vollständig geöffneten Rolltor ohne weiteres hindurch zu kommen, hat er den ArbG
nicht vorsätzlich, sondern lediglich grob fahrlässig geschädigt, so dass die Haftung des AN gemindert werden
kann (BAG v. 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in ZIP 2002, 1909: „Ein vorsätzlicher Pflichtenverstoß führt nur
dann zur vollen Haftung des Arbeitnehmers, wenn auch der Schaden vom Vorsatz erfasst ist“).
c) Die Mitverantwortung des ArbG in unmittelbarer Anwendung des § 254 BGB
Nach § 254 BGB darf ein Geschädigter nicht den vollen Schadensersatz verlangen, soweit
er den Schaden in zurechenbarer Weise selbst mit ausgelöst hat. Dabei handelt es sich nicht
um eine arbeitsrechtliche Besonderheit, sondern um eine allgemeine Regel des Schadensersatzrechts. Ihre Anwendung kann dazu führen, dass die schon nach den Regeln des innerbetrieblichen Schadensausgleichs analog § 254 BGB geminderte Haftung des AN noch ein
weiteres Mal eine Minderung erfährt oder gar gänzlich entfällt.
Das „Mitverschulden“ des Geschädigten ist untechnisch zu verstehen, nämlich im Sinne eines Verstoßes
gegen das wohlverstandene Eigeninteresse, selbst so wenig wie möglich Schaden zu erleiden. Man spricht
auch von einem „Verschulden gegen sich selbst“. Nach § 254 I BGB ist darum bei der Ermittlung des Mitverschuldens des Geschädigten in erster Linie auf seinen Anteil an der Verursachung des eingetretenen Schadens abzustellen und zu fragen, in welchem Maße er den Schaden im Vergleich zum Schädiger wahrscheinlicher gemacht hat. Erst in zweiter Linie kommt es dann auf den Grad des beiderseitigen Verschuldens an.
Im Arbeitsrecht führen vor allem konkrete Organisationsmängel im Betrieb zu einer
Minderung, in Extremfällen sogar zu einem Erlöschen der AN-Haftung. Hierbei muss sich
der ArbG nach §§ 254 II 2, 278 BGB auch ein Verschulden einer für ihn tätigen Aufsichtsperson als Mitverschulden anrechnen lassen.
Beispiele eines konkreten Organisationsverschulden des ArbG sind fehlerhafte Arbeitszuweisung, Überforderung des AN, mangelhafter Arbeitsschutz, fehlende oder nachlässige Weisungen und Kontrollen sowie das
Unterlassen möglicher und zumutbarer Versicherungen. Der Abschluss einer Versicherung ist vor allem in
den Fällen geboten, in denen Schäden wegen der Art der Tätigkeit besonders häufig auftreten oder eine beträchtliche Größenordnung erreichen können.
keinen Reisepass mit sich führt, wegen der ihren ArbG deswegen treffenden Einreisestrafe diesem im Regresswege bei mittlerer Fahrlässigkeit nur in Höhe der Hälfte der Geldbuße, kommt es zu einer weiteren
Minderung ihrer Haftung, wenn der ArbG keine Kontrolle zur Überprüfung der Einreisedokumente seines
Personals vor Flugantritt vorgenommen hat (BAG v. 16.2.1995 – 8 AZR 493/93 – in NZA 1995, 565).
II. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung eines Außenstehenden
1. Erleidet ein Außenstehender durch schuldhaftes Verhalten des AN einen Sachschaden oder einen Personenschaden (anders als bei Schädigung des
oder eines
ist der Personenschaden des
Außenstehenden nicht durch die Berufsgenossenschaft versichert!) und nimmt er deswegen statt des ArbG den AN aus § 823 I/II BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des Geschädigten gemäß 254 BGB) auf
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Schadensersatz in Anspruch, kann der schädigende AN in Höhe des Betrages, der ihn
nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zum innerbetrieblichen Schadensausgleich analog § 254 BGB nicht treffen soll, von seinem ArbG analog § 670 BGB Freistellung von der Haftung verlangen.
Über seinen Wortlaut hinaus wird § 670 BGB als Ausdruck der Erkenntnis begriffen, dass derjenige, der
zum eigenen Nutzen einen anderen Tätigkeiten ausüben lässt, auch für die damit verbundenen Risiken und
dabei entstehenden Schäden in angemessenem Umfang einstehen muss. Die dem AN als gleichsam Beauftragtem aus der Verrichtung seiner Tätigkeit erwachsende Schadensersatzpflicht gegenüber dem Außenstehenden wird im übertragenen Sinn als eine unter Umständen ganz oder teilweise erforderliche Aufwendung
zum Zweck der Ausführung des Auftrags angesehen, die der ArbG als gleichsam Auftraggeber zu ersetzen
hat. Um zu verhindern, dass den AN mangels Drittwirkung des innerbetrieblichen Schadensausgleichs das
Risiko uneingeschränkter Außenhaftung trifft, kann er von seinem ArbG analog § 670 BGB die Befreiung
von der Verbindlichkeit gegenüber dem Außenstehenden in Höhe des Verantwortungsbeitrags des
ArbG verlangen.
Der Freistellungsanspruch ist allerdings nichts wert, wenn der ArbG insolvent ist. Hier kann dem AN nur
eine eigene Haftpflichtversicherung helfen. Entstand die Forderung aus einer Beschädigung von Sachen, die
dem Außenstehenden aufgrund der Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts, einer Sicherungsübereignung
oder eines Leasinggeschäfts mit dem ArbG gehören, könnte die Haftung den AN auch dem Außenstehenden
gegenüber nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleich dadurch begrenzt sein, dass der
fraglichen Vereinbarung eine zumindest stillschweigend „Haftungsbeschränkung zu Gunsten Dritter“, nämlich des AN, der die Gerätschaften ja typischerweise bedient, entnommen werden kann.
2. Nimmt der Außenstehende den ArbG nach §§ 280 I, 278 BGB oder § 831 BGB (unter
Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des Geschädigten gemäß § 254 BGB) mit Erfolg in Anspruch, kann der ArbG vom AN im
Wege des Regresses nach § 280 I BGB nicht mehr verlangen, als dieser ihm nach den
Grundsätzen über den innerbetrieblichen Schadensausgleich schulden würde, wenn er unmittelbar den ArbG auf diese Weise verletzt hätte (oben I. 2.).
III. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung von Arbeitskollegen
1. Sachschaden
Erleidet ein/e Arbeitskollege/in durch schuldhaftes Verhalten des AN einen Sachschaden z.B. durch Beschädigung der Arbeitskleidung, und nimmt der/die Geschädigte
deswegen den AN aus § 823 I BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung
wegen konkreten Mitverschuldens des/der Geschädigten gemäß § 254 BGB) auf Schadensersatz in Anspruch, kann der Schädiger in Höhe des Betrages, der ihn nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zum innerbebetrieblichen Schadensausgleich analog §
254 BGB nicht treffen soll, von seinem ArbG analog § 670 BGB Freistellung von der
Haftung verlangen. Zur Anwendbarkeit dieser Vorschriften siehe vorstehend unter II.
Nimmt der/die geschädigte Arbeitskollege/in den ArbG auf der Grundlage von §§ 280 I,
278 BGB oder von § 831 BGB, ggf. analog § 670 BGB (unter Berücksichtigung etwaiger
Schadensminderung wegen eigenen konkreten Mitverschuldens gemäß § 254 BGB) mit
Erfolg in Anspruch, kann der ArbG vom Schädiger im Wege des Regresses nach § 280
I BGB nicht mehr verlangen, als dieser ihm schulden würde, wenn er unmittelbar den
ArbG auf diese Weise verletzt hätte (oben II.).
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2. Personenschaden
Verletzt ein im Betrieb tätiger AN durch eine betriebliche Tätigkeit Leben oder Gesundheit eines/r Arbeitskollegen/in (oder weiterer nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherter
Personen), so liegt ein Arbeitsunfall i.S.v. § 8 I SGB VII vor, der zur Anwendung des §
105 I SGB VII führt; dies allerdings mit der Einschränkung, dass der Versicherungsfall
nicht vorsätzlich oder auf einem nach § 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt worden ist.
Hinweis: Zu dem von § 105 I SGB VII als Geschädigter betroffenen Personenkreis gehört auch der ArbG
(vorstehend unter I. 1.).
Das bedeutet im Einzelnen:
a) § 105 I SGB VII ist keine Anspruchsgrundlage, sondern eine Vorschrift, die bestimmt,

dass die als Folge des Arbeitsunfalls mögliche Haftung des schädigenden AN „nach
anderen gesetzlichen Vorschriften“ gegenüber dem Verletzten, seinen Angehörigen und
Hinterbliebenen, vor allem nach § 823 I/II BGB,

und infolgedessen auch die damit verbundene Verpflichtung des ArbG zur Freistellung des haftenden AN analog § 670 BGB nach Maßgabe der Regeln des innerbetrieblichen Schadensausgleichs

sowie die neben dem schädigenden AN mögliche Haftung des ArbG für das Verhalten seines AN als Erfüllungsgehilfen nach §§ 280 I, 278 BGB und als Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB
(vgl. oben § 26 III. 3.)
dadurch ersetzt wird, dass ausschließlich der Unfallversicherer, ─ im Regelfall die jeweilige Berufsgenossenschaft, der der ArbG seine Pflichtbeiträge leistet ─ für die Ausgleichung des Unfallschadens eintritt.
So wie die gesetzliche Unfallversicherung nach § 104 SGB VII den ArbG, der seinem AN
Personenschaden zufügt, vor einer Inanspruchnahme durch den Verletzten (und dessen
Angehörige oder Hinterbliebene) schützt (dazu oben § 16 VI. 1.), sind auch seine AN, die
(dem ArbG oder) Arbeitskollegen/innen Personenschaden zufügen, nach § 105 SGB VII
von einer Haftung gegenüber dem Verletzten befreit und infolgedessen auch der ArbG
nicht mittelbar durch eine Verpflichtung zur Freistellung seines AN oder eine Nebenhaftung gegenüber dem Verletzten belastet. Damit ist die gesetzliche Unfallversicherung nicht
nur für den zu ihrem Abschluss gesetzlich verpflichteten ArbG, sondern auch für seine AN
eine besondere Art der Haftpflichtversicherung. Es ist allerdings zu beachten, dass der
Unfallversicherer nach § 110 SGB IV bei dem ArbG oder dem Arbeitskollegen Rückgriff
nehmen kann, wenn diese den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben.
Obwohl der Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 26 SGB VII
nicht auch die Zahlung eines Schmerzensgeldes und eines etwaigen Verdienstausfalls
vorsieht, ist diese Haftungsersetzung zwingend: Der Schädiger und sein ArbG können also
noch nicht einmal wegen dieser vom Unfallversicherer nicht gezahlten „Schadensspitzen“
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in Anspruch genommen werden. Der hierin liegende Nachteil wird durch die Vorteile ausgeglichen, die diese Unfallversicherung bietet: Der Träger der Unfallversicherung ist nämlich im Gegensatz zum schädigenden AN stets solvent, leistet nach rein objektiven Kriterien ohne Rücksicht auf ein etwaiges Mitverschulden des Verletzten und auch bei Schuldlosigkeit des Schädigers. Außerdem führt die Haftungsablösung dazu, dass der Betriebsfrieden nicht durch die klageweise Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen von
AN untereinander oder im Verhältnis zwischen ArbG und AN gestört wird.
b) Schädiger und Verletzter müssen nicht AN desselben ArbG sein. Schädiger oder
Verletzter können auch AN eines anderen ArbG sein, wenn sie nur bei der Schadensverursachung gerade in dem Betrieb tätig sind, in dem der Arbeitsunfall durch eine betriebliche
Tätigkeit herbeigeführt wurde, z.B. durch Mithilfe beim Abladen angelieferter und dem
Aufladen abzuholender Waren.
c) § 105 I 1 SGB VII bestimmt in seinem letzten Satzteil zum einen, dass der im Zusammenhang mit dem Aufsuchen oder Verlassen des Betriebes außerhalb des Betriebes
stattfindende Wegeunfall (§ 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII) bereits zum allgemeinen Straßenverkehr zählt und darum keine Haftungsersetzung bewirkt: Nach § 8 II Nr. 1 bis 4 SGB
VII besteht zwar ein Anspruch des Verletzten auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, zugleich stehen ihm aber auch Ansprüche auf Schadensersatz gegen den
Schädiger nach anderen gesetzlichen Vorschriften zu, insbesondere nach BGB und StVG
(unter Berücksichtigung der Kfz-Haftpflichtversicherung). Diese Haftung ist allerdings
gemäß §§ 105 I 3, 104 III SGB VII gemindert um die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, so dass sie nur auf das Schmerzensgeld und den Ersatz von etwaigem
Verdienstausfall gehen wird. War der Weg außerhalb des Betriebes allerdings betrieblich
bedingt, d.h. durch Anordnung des ArbG zur dienstlichen Aufgabe erklärt worden, wie etwa Botengänge, Montageeinsätze bei Kunden, Lieferfahrten oder Dienst- und Geschäftsreisen, unterfällt der auf dem Wege erlittene Unfall als Arbeitsunfall auch dem § 105 I
SGB VII.
§ 105 I 1 SGB VII bestimmt in seinem letzten Satzteil zum anderen, dass auch für den
vom AN vorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfall keine Haftungsersetzung gilt. Auch
in diesem Fall besteht zwar ein Anspruch des Verletzten auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, zugleich stehen ihm aber auch Ansprüche auf Schadensersatz gegen den Schädiger nach anderen gesetzlichen Vorschriften zu.
IV. Der Abschluss einer freiwilligen Versicherung durch den ArbG?
Für den ArbG besteht die Möglichkeit, einen Schaden an Betriebsmitteln durch eine Sachversicherung sowie Personen- und Sachschäden Dritter durch eine Betriebshaftpflichtversicherung abzusichern. Auswirkungen auf den Haftungsumfang des AN hat eine solche
Versicherung aber nur dann, wenn der AN von dem Versicherer nicht in Regress genommen werden kann!
Eine Verpflichtung des ArbG zum Abschluss einer die Haftung des AN beschränkenden
Kasko- oder Sachversicherung kann sich nach Auffassung des BAG (Urteil v. 24.11.1987 8 AZR 66/82 - in NZA 1988, 584) nur aus dem Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung
oder einem Tarifvertrag ergeben. Ist dem AN allerdings die ihn aufgrund innerbetrieblichen
Schadensausgleichs bei mittlerer Fahrlässigkeit treffende anteilige Haftung für den am Kfz
des ArbG herbeigeführten Schaden nicht in voller Höhe zuzumuten, soll es nach dieser
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Rechtsprechung „bei Abwägung aller für den Haftungsumfang maßgebenden Umstände“
zu einer weiteren Ermäßigung u.U. bis auf den Betrag kommen können, der bei Abschluss
einer Vollkaskoversicherung als Selbstbeteiligung zu vereinbaren gewesen wäre (BAG
a.a.O.).
Die Rechtsprechung lehnt es jedoch ab, im Unterlassen des ArbG, zur Entlastung seines
AN von der Haftung für Schäden an einem betrieblich eingesetzten Kfz des ArbG eine
Vollkaskoversicherung abzuschließen, ein Mitverschulden des ArbG unmittelbar nach §
254 BGB zu sehen.
V. Der Sonderfall der Mankohaftung
Die Grundsätze über die Beschränkung der AN-Haftung gelten auch, wenn der AN wegen
einer Fehlmenge oder eines Fehlbetrages eines von ihm verwalteten Waren- oder Kassenbestandes in Anspruch genommen wird.
Einerlei, ob es sich um einen vom AN ausschließlich allein beherrschbaren Bereich handelt
oder der verwaltende AN keinen alleinigen Zugang zu den Gegenständen seiner Verwaltung hat, treffen ArbG und AN zur Regelung der Haftung für Fehlbestände häufig eine besondere Mankoabrede. So ist es z.B. zulässig zu vereinbaren, dass der AN für den innerhalb eines Jahres auftretenden Fehlbestand bis zur Höhe eines ihm für das Jahr zusätzlich
zu seiner Vergütung gewährten Mankogeldes ohne Verschuldensnachweis haftet. Da dem
AN das nicht verbrauchte Mankogeld als zusätzliche Vergütung verbleibt, besteht für ihn
der Anreiz zu besonderer Sorgfalt. Eine das Mankogeld überschreitende Haftung des AN
kommt nur dann in Betracht, wenn ihm mindestens grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen ist.
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§ 28 Die Beendigung des Arbeitverhältnisses
I. Vorbemerkung
Während der Kaufvertrag auf einen im Regelfall einmaligen Leistungsaustausch gerichtet ist und normalerweise durch die Erfüllung der gegenseitigen Leistungspflichten
ohne weiteres sein Ende findet, begründet der Arbeitsvertrag ein Dauerschuldverhältnis, dessen Beendigung durch einen ausdrücklichen rechtsgeschäftlichen Akt herbeigeführt werden muss. Als Instrumente hierfür stellt das Gesetz zum einen vertragliche
Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, nämlich die Vereinbarung eines befristeten
oder auflösend bedingten Vertrages oder den Abschluss eines Vertrages zur Aufhebung
des Dauerschuldverhältnisses (Aufhebungsvertrag). Zum anderen gibt es als einseitige
Lösungsmöglichkeit die Kündigung und den allgemeinen Rechtsbehelf der Anfechtung.
Aus dem Schutzbedürfnis des AN (oben § 1 III.) folgt, dass die Anwendung dieser
Werkzeuge seinem Interesse an der Erhaltung des Arbeitsplatzes soweit wie möglich
Rechnung tragen muss. Das gilt vor allem für die einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Wege arbeitgeberseitiger Kündigung und den arbeitsvertraglichen Beendigungstatbestand in Gestalt eines befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsverhältnisses.
II. Die einvernehmliche Beendigung bei Vereinbarung eines befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsvertrages
Zu einer einvernehmlichen Beendigung kann es dadurch kommen, dass ArbG und AN
meist schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages die Dauer des Arbeitsverhältnisses
nach § 620 III BGB unter Beachtung der §§ 14 ff. TzBfG durch Vereinbarung einer
Befristung begrenzen. Das Gesetz stellt als mögliche Gestaltungsformen die Sachgrundbefristung und die sachgrundlose Befristung zur Verfügung. Vor einem die ANInteressen vernachlässigenden Einsatz der Sachgrundbefristung schützen die von
Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an das Vorliegen eines
tragfähigen Sachgrundes. Bei der sachgrundlosen Befristung folgt der Schutz des AN
hauptsächlich aus seiner zeitlichen Begrenzung und dem Erfordernis, zur Vermeidung
einer unwirksamen Befristung bestimmte Formalien und Verfahrensweisen einzuhalten.
Die damit zusammenhängenden Rechtsfragen sind bereits oben unter § 13 behandelt.
Nach § 21 TzBfG ist die Vereinbarung einer den Arbeitsvertrag beendenden auflösenden Bedingung
nur entsprechend § 14 I TzBfG mit einem den Bedingungseintritt kennzeichnenden Sachgrund zulässig.
III. Die einvernehmliche Beendigung durch Aufhebungsvertrag
Viele Arbeitsverhältnisse werden einvernehmlich im Wege eines Aufhebungsvertrages beendet, etwa zur Vermeidung einer Kündigung durch den ArbG oder durch gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich (§ 779 BGB) bei vorangegangener Kündigung, über deren Wirksamkeit gestritten wurde. Zu einem Aufhebungsvertrag kommt
es ferner, mal auf Wunsch des AN, mal auf Wunsch des ArbG, in diesem Fall dann mit
einer Abfindung verbunden, um den Arbeitsvertrag mit einem unkündbaren oder nur
langfristig kündbaren AN zu beenden.
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Nach § 623 BGB (der von einem „Auflösungsvertrag“ spricht) ist Wirksamkeitsvoraussetzung die Einhaltung der Schriftform des § 126 BGB unter Ausschluss der elektronischen Form. Trotz Erfüllung dieses Erfordernisses versucht der AN gelegentlich, den
Aufhebungsvertrag wieder in Frage zu stellen mit der Begründung, er sei bei Vertragsschluss unter Druck gesetzt worden.
Über den Weg einer Inhaltskontrolle des Aufhebungsvertrages nach Maßgabe der
AGB-rechtlichen Grundsätze der §§ 305 ff. BGB hat der AN allerdings keinen Erfolg,
da die getroffene Vereinbarung regelmäßig individuell ausgehandelt wurde.
Außerdem sind nach § 307 III 1 BGB kontrollfähig nur die Nebenabreden, nicht aber die Beschreibung
und Leistung und Gegenleistung, vor allem nicht die Aufhebung des Arbeitsvertrages als solche. Auch
ein Verstoß gegen das Transparenzgebot nach § 307 I 2, III 2 BGB wird nicht in Betracht kommen.
Ein Widerruf des Aufhebungsvertrags nach § 312 I Nr. 1 BGB i.V.m. § 355 BGB
scheitert daran, dass sich diese Bestimmungen nur auf „besondere Vertriebsformen“
beziehen und der Betrieb der für den Abschluss derartiger Vereinbarungen typische Ort
ist.
Gelegentlich enthalten Tarifverträge die (wirksame) Klausel, wonach Aufhebungsverträge innerhalb einer bestimmten Bedenkzeit widerrufen werden können.
Eine Anfechtung des Aufhebungsvertrages wegen arbeitgeberseitiger Täuschung oder
Drohung gemäß § 123 I BGB setzt voraus, dass der AN beweisen kann, vom ArbG
hinters Licht geführt oder einer Drohung ausgesetzt worden zu sein. Wird der AN vom
ArbG vor die Alternative gestellt, entweder einen Aufhebungsvertrag zu unterzeichnen
(oder eine Eigenkündigung zu erklären) oder gekündigt zu werden, ggf. auch mit einer
Strafanzeige rechnen zu müssen, liegt ein zur Anfechtung nach § 123 I BGB berechtigende Fehlverhalten des ArbG nur dann vor, wenn ein verständiger ArbG in der konkreten Situation eine Kündigung/eine Strafanzeige nicht ernsthaft in Erwägung gezogen
hätte (BAG v. 30.1.1986 – 2 AZR 196/85 – in NZA 1987, 91; BAG v. 27.11.2003 –
AZR 135/03 – in NZA 2004, 597).
Ein Irrtum des AN über die sozialversicherungsrechtlichen Nachteile des Aufhebungsvertrags oder über seinen kündigungsrechtlichen Bestandsschutz, so z.B. einer
ANin über eine bestehende Schwangerschaft oder über deren mutterschutzrechtliche
Folgen, berechtigt nicht zu einer Anfechtung nach § 119 I oder II BGB (BAG vom
6.2.1992 – 2 AZR 408/91 – in BB 1992, 1286 bezüglich des entsprechenden Falles einer Eigenkündigung). Kommt der Aufhebungsvertrag auf Betreiben des ArbG zustande, fordert die Rechtsprechung von ihm allerdings als Nebenpflicht (§ 241 II BGB), einen erkennbar unwissenden AN über die Rechtslage angemessen aufzuklären, vor allem über Einbußen bei der betrieblichen Altersversorgung und die Nachteile einer
Sperrzeit beim Bezug von Arbeitslosengeld (§§ 144 I 1 Nr. 1, 128 I SGB III). Bei
schuldhafter Verletzung von Aufklärungspflichten haftet der ArbG dem AN auf
Schadensersatz nach § 280 I BGB in Verb. mit §§ 241 II, 311 BGB in Gestalt des finanziellen Ausgleichs entstandener Vermögensnachteile, aber nicht auf Wiedereinstellung.
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IV. Die einseitige Beendigung durch Kündigung seitens des Arbeitgebers
1. Die Kündigungstatbestände im Überblick
Der wichtigste Beendigungstatbestand ist die Kündigung. Sie kann sowohl vom ArbG
als auch vom AN im Wege einseitiger Willenserklärung in Gestalt entweder einer ordentlichen Kündigung oder einer außerordentlichen Kündigung ausgesprochen werden.
Da sich das Arbeitsrecht in erster Linie als AN-Schutzrecht versteht (oben § 1 III.),
geht es hier zunächst einmal nur um Fragen der Wirksamkeit einer (ordentlichen oder
außerordentlichen) Kündigung durch den ArbG. Die Kündigung durch den AN wird
in einem gesonderten Kapitel behandelt (unten § 41).
Das BGB verwendet weder den Begriff der ordentlichen, noch den der außerordentlichen Kündigung. Da
die fristgemäße Kündigung der Normalfall ist, wurde sie aber in der Literatur zum Arbeitsrecht schon
früh als „ordentliche“ Kündigung bezeichnet und im Gegensatz dazu die fristlose Kündigung aus wichtigem Grund die „außerordentliche“ Kündigung genannt. Der Gesetzgeber machte von diesen Bezeichnungen erstmals im KSchG von 1951 und im BetrVG von 1952 Gebrauch.
a) Nach dem in den §§ 622 ff. BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsverständnis des
BGB-Gesetzgebers bedarf die ordentliche Kündigung keines besonderen Grundes. Es
ist lediglich erforderlich, dass zwischen dem Ausspruch der Kündigung und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Kündigungsfrist eingehalten wird. Abgesehen
von der Beachtung der sondergesetzlichen Kündigungsverbote (unten § 29 II.), kann
bei einer begründungsfreien Kündigung nur ein minimaler Kündigungsschutz in Betracht kommen (unten § 34). Auf den größten Teil der Arbeitsverhältnisse ist jedoch
der allgemeine Kündigungsschutz des KSchG anwendbar, wonach die ordentliche
Kündigung nur dann zulässig ist, wenn sie aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt ist (unten §§ 30 bis 32).
Die Fristenregeln der ordentlichen Kündigung sind beschränkt abdingbar, nämlich für die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 des § 622 BGB nach Maßgabe der Absätze 4 bis 6. (nachfolgend unter 4.).
b) Die in § 626 BGB geregelte außerordentliche Kündigung verlangt nicht die Einhaltung einer Kündigungsfrist, sondern beendet das Arbeitsverhältnis fristlos sofort.
Sie kann allerdings ausnahmsweise mit einer Auslauffrist erklärt werden, doch muss
der Kündigende dann deutlich machen, dass er trotzdem außerordentlich kündigen will.
In jedem Fall aber ist sie davon abhängig, dass ein „wichtiger Grund“ gestützt auf Tatsachen vorliegt, nach denen „dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände
des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses…nicht zugemutet werden kann.“ Abgesehen von den
auch hier geltenden sondergesetzlichen Kündigungsverboten, führt dieser Begründungszwang zu einem spezifischen Kündigungsschutz (unten § 33).
Das Recht zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund ist
beidseitig zwingendes Recht. Durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag ist weder
seine Beseitigung noch seine Beschränkung, etwa durch Abhängigmachen von der Zustimmung des Betriebsrates, oder seine Erweiterung, etwa durch Erstreckung auf minder wichtige Gründe, möglich; auch
nicht in der Weise, dass bestimmte Kündigungsgründe abschließend vereinbart werden . In § 314 I BGB
hat die außerordentliche Kündigung ihren Ausdruck als allgemeiner Rechtsgrundsatz gefunden; nach§
314 II BGB auch die Regel, dass ihr eine Abmahnung vorausgehen muss.
c) Die vom ArbG erklärte Kündigung muss nicht immer ausschließlich auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zielen („Beendigungskündigung“). Sie kann vielmehr
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auch darauf gerichtet sein, nur bestimmte Arbeitsbedingungen zu ändern („Änderungskündigung“; unten § 35), dadurch dass sie dem Gekündigten AN die Möglichkeit gibt, das gekündigten Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen fortzusetzen. Auch die Änderungskündigung kann entweder als ordentliche oder als außerordentliche Kündigung erklärt werden.
d) Eine wirksam erklärte Kündigung kann nicht einseitig zurückgenommen werden.
Die Fortsetzung des wirksam gekündigten Arbeitsverhältnisses bedarf einer neuen Vereinbarung, die nach § 625 BGB auch stillschweigend erfolgen kann.
Zieht der ArbG während des Kündigungsschutzprozesses die Kündigung zurück.
anerkennt er das Klagebegehren des AN (§ 4 S. 1 KSchG) mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst ist.
2. Allgemeine rechtsgeschäftliche Wirksamkeitserfordernisse des Kündigung
a) Schriftform
Nach § 623 BGB bedarf die Kündigungserklärung der Schriftform des § 126 I BGB.
Die elektronische Form des § 126a BGB ist ausdrücklich ausgeschlossen; eine Kündigung per Telefax, durch E-Mail oder SMS ist also nicht möglich. Eine ohne Beachtung
dieser Erfordernisse erklärte Kündigung ist nach § 125 S. 1 BGB nichtig.
Die Angabe des Kündigungsgrundes im Kündigungsschreiben ist kein Wirksamkeitserfordernis der
Kündigung. Eine Ausnahme machen § 22 III BBiG und § 9 III 2 MuSchG. Im Übrigen kann ein solcher
Begründungszwang durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag vereinbart werden.
Spätestens im Kündigungsschutzprozess muss der ArbG als Beklagter den von ihm in Anspruch genommenen Kündigungsgrund dann aber darlegen und beweisen. Handelt es sich um eine außerordentliche
Kündigung, hat der Gekündigte nach § 626 II 2 BGB allerdings das Recht, vom Kündigenden schon
vorher zu verlangen, dass er ihm „den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilt“. Ferner hat im
Fall einer betriebsbedingten ordentlichen Kündigung nach dem KSchG der ArbG nach § 1 III 1 Halbs. 2
KSchG „auf Verlangen des Arbeitnehmers die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben“. Es führt aber nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn der ArbG in diesen
Fällen keine, unvollständige oder unrichtige Auskünfte gibt. Er kann jedoch dem AN nach § 280 I BGB
in Höhe der Prozesskosten schadensersatzpflichtig werden, die dieser nutzlos aufgewendet hat, weil er
die Erfolgsaussichten seiner Klage nicht einschätzen konnte. Im Fall des § 1 III KSchG ist der klagende
AN bei fehlenden oder unzureichenden Auskünften von der ihn nach dieser Vorschrift treffenden Darlegungs- und Beweislast befreit.
b) Eindeutigkeit
Die Kündigung ist eine einseitige (= sie bedarf keiner Annahmeerklärung des Empfängers) empfangsbedürftige (= sie muss dem Empfänger zugehen) Willenserklärung. Bei
Unklarheit darüber, ob eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung vorliegt, ist
die Kündigung als ordentliche zu behandeln.
Werden die Wörter „Kündigung“ oder „kündigen“ vom ArbG nicht verwendet, sondern das Arbeitsverhältnis „für beendet erklärt“ oder als „aufgelöst betrachtet“ oder auf ähnliche Weise der Wille, das Arbeitsverhältnis nicht fortsetzen zu wollen, zum Ausdruck gebracht, handelt es sich trotzdem um eine
Kündigung, wenn der ArbG damit auf eine während des Arbeitsverhältnisses eingetretene Störung reagiert. Führt jedoch eine im Vorfeld des Vertragschlusses verübte Täuschungshandlung des AN dazu, dass
der ArbG ihn einstellt, kann die Beendigungserklärung des ArbG nur eine Anfechtung sein.
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c) Zugang
Die Kündigung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung. Die Kündigungserklärung ist also erst wirksam, wenn das die Kündigung enthaltende Schriftstück
dem Gekündigten zugegangen ist. Der sicherste Weg, den Zugang herbeizuführen, ist
die persönliche Übergabe des Kündigungsschreibens im Betrieb unter Zeugen oder
gegen Empfangsbestätigung des Adressaten. Unter Abwesenden, wie im Falle des
Postversandes oder der Einschaltung eines Boten, wird die Kündigung durch Zugang
i.S.d. § 130 BGB wirksam, wenn das Kündigungsschreiben dergestalt in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass er von ihm unter den gewöhnlich zu erwartenden
Umständen Kenntnis nehmen kann. Ob und wann er tatsächlich Kenntnis nimmt, ist unerheblich. Ein Brief, der außerhalb der üblichen Postzustellungszeiten eingeworfen
wird, etwa am Abend, ist erst am nächsten Tag zugegangen.
Ortsabwesenheit, z.B. durch Urlaubsreise oder Krankenhausaufenthalt, hindert den Zugang nicht. Ist
deswegen die Frist für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage verstrichen, kann der AN nach § 5
KSchG, der trotz seiner Stellung im KSchG für alle Arten von arbeitgeberseitigen Kündigungen gilt
(vgl. § 13 KSchG), die nachträgliche Zulassung seiner verspäteten Klage beantragen; im Fall des Krankenhausaufenthaltes allerdings nur, wenn eine häusliche Vertretung unmöglich war, weil sonst Verschulden des AN angenommen werden kann; ein fehlender Nachsendeantrag bei urlaubsbedingter Abwesenheit begründet kein Verschulden des AN.
Trifft der Postbote, der das Kündigungsschreiben als Übergabe-Einschreiben (am besten mit Rückschein) abliefern soll, niemand an, geht es erst dann zu, wenn der Empfänger das Schreiben auf Grund
des eingeworfenen Benachrichtigungsscheins bei der Post abholt. Unterlässt der Adressat das Abholen,
kann darin eine Zugangsvereitelung liegen, weswegen er sich analog § 162 I BGB so behandeln lassen
muss, als sei ihm das Schreiben zugegangen. Das gleiche gilt, wenn er Zugangshindernisse schafft oder
tatenlos hinnimmt. Das von der Post neuerdings angebotene Einwurf-Einschreiben geht wie ein normaler Brief zu.
d) Stellvertretung
Die Kündigung kann nach § 164 I BGB durch einen Vertreter des ArbG erklärt werden,
etwa den Prokuristen des ArbG oder den Leiter der Personalabteilung. Handelt auf der
Arbeitgeberseite ein Außenstehender, wie z.B. ein Rechtsanwalt oder Unternehmensberater im Auftrag des ArbG, kann der AN nach § 174 S. 1 BGB die Kündigung unverzüglich zurückweisen, wenn der Kündigung keine ordentliche Vollmachtsurkunde (§
126 I BGB: Originalunterschrift!) beigefügt ist.
e) Allgemeine Nichtigkeitsgründe
Wie jede Willenserklärung kann auch die Kündigung nach § 134 BGB wegen Gesetzesverstoßes, nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit und nach § 242 BGB wegen
Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam (= nichtig) sein.
Hauptfälle der Nichtigkeit einer Kündigung wegen Gesetzesverstoßes sind Kündigungen unter Verstoß
gegen Vorschriften des sondergesetzlichen Kündigungsschutzes (unten § 29 II.). Zum Verstoß gegen die
Diskriminierungsverbote der §§ 1, 7 AGG (oben § 9) siehe nachfolgend § 29 unter VI.
Zur Nichtigkeit von Kündigungen wegen Sittenwidrigkeit oder Verstoßes gegen den Grundsatz von
Treu und Glauben siehe unten § 34.
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3. Die in mitbestimmten Betrieben zur Wirksamkeit der Kündigung erforderliche
Anhörung des Betriebsrates
a) In einem mitbestimmten Betrieb ist nach § 102 I BetrVG der Betriebsrat vor jeder
(arbeitgeberseitigen) Kündigung anzuhören, einerlei, ob es sich um eine ordentliche
oder eine außerordentliche Kündigung handelt. Sinn und Zweck dieser Regelung liegt
darin, den Ausspruch einer unberechtigten oder vermeidbaren Kündigung nach Möglichkeit zu verhindern.
Die Anhörung muss ordnungsgemäß sein. Das erfordert eine umfassende Unterrichtung des Betriebsrates über die Person des AN, die Art der Kündigung, die Kündigungsfrist, den Kündigungstermin und die mit konkreten Tatsachen belegten Gründe,
auf die er die Kündigung stützen will, einschließlich Erklärungen zur Verhältnismäßigkeit der Kündigung (unten § 30 II. 3.). Sind dem ArbG weitere Kündigungsgründe bekannt, die er dem AN gegenüber in der Hinterhand behalten möchte, kann er sie im
Kündigungsschutzprozess nur dann „nachschieben“, wenn sie von ihm in das Anhörungsverfahren schon eingebracht worden waren (zum sog. Nachschieben von Kündigungsgründen ausführlich unten § 38).
Geht es um (die für personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen nach dem KSchG kennzeichnenden) Pflichtverletzungen des AN, muss der ArbG auch ihm bekannte Umstände, die den AN entlasten,
vortragen. Geht es um die (bei betriebsbedingten Kündigungen nach dem KSchG erforderliche) Sozialauswahl unter mehreren AN, muss der ArbG die Auswahlkriterien für alle AN mit vergleichbarer Tätigkeit konkretisieren. Die Anhörung läuft über den Vorsitzenden des Betriebsrates oder des nach § 28 BetrVG gebildeten Personalausschusses, nicht über beliebige Gremienmitglieder. Die Anhörungsfrist kann
ggf. durch Vereinbarung zwischen ArbG und Betriebsrat verlängert werden. Bei unvollständiger Unterrichtung durch den ArbG trifft den Betriebsrat keine Erkundigungspflicht. Fragt er dennoch nach und erhält er ergänzende Informationen, die kündigungsrelevant sind, läuft die Äußerungsfrist des § 102 II BetrVG von neuem (Däubler/Kittner/Bachner, BetrVG § 102 Rn 157).
b) Eine ohne oder ohne ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates ausgesprochene Kündigung ist nach § 102 I 3 BetrVG unwirksam. Eine nachträgliche Anhörung ist nicht ordnungsgemäß und heilt den Mangel nicht. Eine erneute ordentliche
Kündigung aus demselben Grund ist erst nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates möglich, eine erneute außerordentliche Kündigung aus demselben Grund
wird an § 626 II 1 BGB scheitern.
Praxishinweis: Die Ordnungsgemäßheit der Anhörung zu bestreiten, ist eine oft erfolgreiche Einwendung des den AN vertretenden Rechtsanwalts gegen die Kündigung des ArbG, so wie umgekehrt der
Anwalt des ArbG gerne die Ordnungsgemäßheit des Widerspruchs des Betriebrates angreift (unten § 37
II.).
Ein Mangel des Anhörungsverfahrens, der im Verantwortungsbereich des Betriebsrates
liegt, z.B. schlechte Amtsführung oder fehlerhafte Beschlussfassung, führt auch dann
nicht zu einer Unwirksamkeit der Kündigung, wenn der ArbG den Mangel kannte. Der
Betriebsrat soll nicht dadurch, dass er Fehler begeht, eine arbeitgeberseitige Kündigung
unwirksam machen können.
c) Der Betriebsrat kann innerhalb der Äußerungsfristen des § 102 II schweigen
gegenüber einer ordentlichen Kündigung gilt das nach Ablauf der Äußerungsfrist als Zustimmung, in Ansehung einer außerordentlichen Kündigung einfach als unterlassene Stellungnahme oder der Kündigung ausdrücklich
zustimmen. Andererseits kann er aus beliebigen Gründen Bedenken erheben, insbesondere den Kündigungsgrund angreifen.
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Aber: Einer vom ArbG beabsichtigten ordentlichen Kündigung kann der Betriebsrat stattdessen aus
den besonderen Gründen des § 102 III Nr. 1 bis 5 BetrVG „widersprechen“. Die Widerspruchsgründe zielen auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung nach Maßgabe des KSchG. Das setzt anders als die
vorstehend unter a) und b) behandelte Anhörungsverpflichtung des ArbG nach § 102 I BetrVG und das
Recht des Betriebsrates zur Stellungnahme nach § 102 II BetrVG
die gleichzeitige Geltung des
KSchG voraus, von der bei Existenz eines Betriebsrates allerdings ausgegangen werden kann, weil es
wohl kaum einen mitbestimmten Betrieb mit weniger als elf vollzeitbeschäftigten AN (§ 23 I KSchG)
gibt. Die besondere Bedeutung des Widerspruchs liegt darin, dass er den betriebsverfassungsrechtlichen Weiterbeschäftigungsanspruch des AN nach Maßgabe des § 102 V BetrVG auszulösen vermag
(unten § 37 II.).
d) § 102 BetrVG beschränkt den ArbG nicht in seiner Kündigungsfreiheit. Einerlei, ob und wie der vom ArbG angehörte Betriebsrat zu der beabsichtigten Kündigung
Stellung genommen hat, ist der ArbG nach Ablauf der Äußerungsfrist darin frei, sich
nun für oder gegen eine Kündigung zu entscheiden. § 102 IV BetrVG macht deutlich,
dass selbst ein Widerspruch des Betriebsrates gegen die Kündigung ihren Ausspruch
nicht hindert.
Die Kündigungsfreiheit des ArbG kann durch eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat
nach Maßgabe des § 102 VI BetrVG beschränkt werden.
Kündigt der ArbG, obwohl der Betriebsrat nach § 102 III BetrVG der Kündigung widersprochen hat, so
hat er dem AN nach § 102 IV BetrVG mit der Kündigung eine Abschrift der Stellungnahme des Betriebsrates zuzuleiten. Dadurch wird der AN in die Lage versetzt, die Erfolgsausichten einer Kündigungsschutzklage besser einzuschätzen und sich vor Gericht auf den Widerspruch des Betriebsrates zu
berufen. Unterlässt der ArbG die Übermittlung der Stellungnahme, kann er aus § 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden.
e) Bei der Kündigung eines leitenden Angestellten bestimmt § 31 II SprAuG ähnlich § 102 I BetrVG,
dass der Sprecherausschuss vor jeder Kündigung zu hören ist, wobei der ArbG ihm die Gründe für die
Kündigung mitzuteilen hat. Auch hier ist eine ohne vorhergehende Anhörung ausgesprochene Kündigung unwirksam. Die gegen eine ordentliche Kündigung gerichteten „Bedenken“ des Sprecherausschusses können jedoch niemals zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Gekündigten führen. Derlei sieht
das SprAuG nicht vor. Es kann auch nicht zu einem sog. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des
leitenden Angestellten kommen.
4. Die Kündigungsfristen der ordentlichen Kündigung
(Zur Kündigung durch den Arbeitnehmer siehe unten § 41)
a) Die Mindestkündigungsfrist der ordentlichen Kündigung beträgt nach § 622 I
BGB vier Wochen (= 28 Tage) entweder zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats.
Nach § 187 I BGB beginnt der Lauf der Kündigungsfrist einen Tag nach dem Zugang der Kündigungserklärung. Das gilt auch dann, wenn die Kündigung an einem Sonnabend, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag zugeht: § 193 BGB findet keine Anwendung! Ebenso kann auch der Tag, an dem das Arbeitsverhältnis durch den Ablauf der Kündigungsfrist endet, ein Sonnabend, Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag sein: Der Ablauf der Kündigungsfrist richtet sich nach § 188 II Halbs. 1 BGB. Die spätesten Zugangsdaten für eine Kündigung nach § 622 I BGB sind also (Staudinger/Preis, § 622, Rn. 24):


Im Februar der 31.1. zum 28.2., im Schaltjahr der 1.2. zum 29.2. oder der 15.2. zum 15.3., im
Schaltjahr der 16.2. zum 15.3.;
In Monaten mit 30 Tagen der 2. des Monats zum 30. des Monats und der 17. des Monats zum 15.
des Folgemonats;
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
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In Monaten mit 31 Tagen der 3. des Monats zum 31. des Monats und der 18. des Monats zum 15.
des Folgemonats.
Der kündigende ArbG kann freiwillig mit einer längeren Frist kündigen. Kündigt der
ArbG mit einer zu kurzen Kündigungsfrist, ist seine Willenserklärung i.d.R. dahin
auszulegen, dass sie das Arbeitsverhältnis zum zutreffenden späteren Zeitpunkt beenden soll (BAG v. 15.12.2005 – 2 AZR 148/05 - in NZA 2006, 791 Rn. 22 ff.). Problemen bei der Auslegung seiner Willenserklärung kann der Kündigende dadurch begegnen, dass er die Kündigung des Arbeitsverhältnisses „fristgerecht zum…“ mit der Hinzufügung versieht, „hilfsweise zum nächstzulässigen Termin“.
Nach § 622 II BGB bestehen für eine Kündigung durch den ArbG gegenüber länger
beschäftigte AN gestaffelte längere Kündigungsfristen.
b) Nach § 622 III BGB kann während der vereinbarten Probezeit, längstens für die
Dauer von sechs Monaten, das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt werden. Nach § 622 IV BGB kann die Kündigungsfrist während der Probezeit
durch Tarifvertrag abgekürzt oder verlängert, nach § 622 V 3 BGB durch einzelvertragliche Vereinbarung lediglich verlängert werden. Bei einer längeren Probezeit gilt nach
Ablauf der sechs Monate die Frist des § 622 I BGB.
Ist die Probezeit nach § 14 I TzBfG befristet, kann es zu einer zwischenzeitlichen
Kündigung nur nach § 15 III TzBfG kommen.
c) Nach § 622 IV BGB darf durch Tarifvertrag von den gesetzlichen Fristen des §
622 I bis III BGB in jede Richtung abgewichen werden (tarifdispositives Gesetzesrecht).
d) § 622 V 1 BGB gestattet in zwei Sonderfällen die Vereinbarung kürzerer Kündigungsfristen auch durch Arbeitsvertrag (beschränkt dispositives Gesetzesrecht):nach
Nr. 1. bei einer Aushilfstätigkeit in den ersten drei Monaten bis auf Null, nach Nr. 2. in
einem Kleinunternehmen ohne die vorgeschriebenen Kündigungstermine. Nach § 622
V 3 BGB bleibt die einzelvertragliche Vereinbarung längerer als der in § 622 I bis III
BGB genannten Kündigungsfristen hiervon unberührt. Kürzere als die in § 622 II und
III BGB genannten Fristen können einzelvertraglich hingegen nicht vereinbart werden.
e) In jedem Fall gilt nach § 622 VI BGB, dass für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den AN keine längere Frist vereinbart werden darf als für die Kündigung
durch den ArbG (Fristenparität). Einzelheiten dazu unten § 41.
V. Die einseitige Beendigung durch Anfechtung des Arbeitsvertrages
Wie die Kündigung, so ist auch die Anfechtung der zum Abschluss des Arbeitsvertrages erforderlichen Willenserklärung (man spricht häufig ungenau von der Anfechtung
des Arbeitsvertrages) des ArbG durch den ArbG oder des AN durch den AN wegen Irrtums in den Fällen des § 119 BGB und wegen Täuschung oder Drohung nach § 123
BGB (oben § 10 IV. 4. und 5. sowie § 11 IV.) eine einseitige Willenserklärung, die das
Arbeitsverhältnis, das noch nicht in Vollzug gesetzt wurde, nach § 142 I BGB mit
Rückwirkung, das bereits in Vollzug gesetzte nach der Lehre vom faktischen Arbeitsverhältnis entgegen § 142 I BGB nur für die Zukunft vernichtet (oben § 11 IV.).
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VI. Die einseitige Beendigung durch Auflösung nach §§ 9, 12 und 13 KSchG
Eine einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird durch seine Auflösung einerseits auf Antrag des AN oder des ArbG im Kündigungsschutzprozess nach § 9 und §
13 KSchG, andererseits durch Erklärung des obsiegenden AN gegenüber dem ArbG
nach Rechtskraft des Urteils gemäß § 12 KSchG herbeigeführt (unten § 39),
VII. Sonderfälle
1. Aus der Höchstpersönlichkeit der geschuldeten Arbeitsleistung (§ 613 S. 1 BGB)
folgt, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Tod des AN endet. Stirbt hingegen der ArbG,
treten seine Erben nach §§ 1922, 1967 BGB in das im Regelfall fortbestehende Arbeitsverhältnis ein.
2. Der rechtsgeschäftliche Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils auf einen
neuen Inhaber führt nicht zu einer Beendigung der davon betroffenen Arbeitsverhältnisse. Der neue Inhaber tritt vielmehr nach § 613a BGB in die Rechte und Pflichten aus
dem im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein. Die Kündigung
des Arbeitsverhältnisses eines AN durch den bisherigen ArbG oder durch den neuen
Inhaber aus dem Anlass des Übergangs ist unwirksam (unten § 42).
3. Auch die Stilllegung des Betriebs führt nicht automatisch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Sie rechtfertigt aber eine (betriebsbedingte) ordentliche Kündigung
des AN.
4. Von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des ArbG bleibt
das Arbeitsverhältnis nach § 108 I 1 InsO zunächst einmal unberührt. Der Insolvenzverwalter, der kraft Amtes in die Stellung des ArbG rückt, kann dem AN jedoch unter
Beachtung der §§ 113 ff. InsO kündigen, muss jedoch den allgemeinen und besonderen
Kündigungsschutz beachten.
5. Mit dem Erreichen eines bestimmten Alters oder des Zeitpunkts, in dem der AN
eine Altersrente beanspruchen kann, tritt nicht automatisch ein Erlöschen des Arbeitsverhältnisses ein.
Die als Beendigungsakt notwendige Kündigung oder Aufhebungsvereinbarung muss die Vorgaben
des § 41 SGB VI beachten. Um zu vermeiden, dass eine Vereinbarung von Altersgrenzen im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag zu einer unzulässigen Befristung
des Arbeitsverhältnisses führt, bedarf sie der Rechtfertigung durch das Vorliegen eines sachlichen
Grundes, im Allgemeinen durch Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 SGB VI. Eine darüber hinausgehende befristete Weiterbeschäftigung kann als sachlich gerechtfertigt gelten, möglicherweise nach § 14 I 2 Nr. 6 TzBfG. Niedrigere Altersgrenzen werden nach dem AGG als diskriminierend
anzusehen sein; so z.B. die tarifliche Altersgrenze von 60 Jahren für Lufthansa-Piloten (EuGH v.
13.9.2011 – Rs. C-447/09 – in NZA 2011, 1039; dem folgt jetzt auch das BAG v.. 15.2.2012 – 7 AZR
946/10 – in NZA 2012, 866)..
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§ 29 Der Kündigungsschutz im Überblick
I. Vorbemerkung
Um einer besonderen Situation, in der sich der AN befindet, Rechnung zu tragen oder
ihn einfach vor einer willkürlichen Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu bewahren, genießt der AN gegenüber einer Kündigung durch den ArbG ein mehr oder weniger starkes Maß an Kündigungsschutz entweder in Gestalt eines Kündigungsverbotes oder einer Kündigungserschwerung, insoweit die Kündigung an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist.
II. Besonderer Kündigungsschutz
Der besondere Kündigungsschutz knüpft an die besondere persönlichen Situation oder
die besondere betrieblichen Stellung an, in der der AN sich zur Zeit der Kündigung befindet. Er ist überwiegend in Sondergesetzen geregelt, gelegentlich aber auch in Vorschriften des BGB und des BetrVG enthalten. Dabei ist zu beachten, dass die jeweiligen Regelungen spezifische Unterschiede aufweisen.
Sofern die in Betracht kommende Vorschrift die Kündigung nur sinngemäß verbietet, sie aber nicht ausdrücklich für nichtig, unwirksam oder unzulässig erklärt, tritt die bei Verstoß gegen das Kündigungsverbot beabsichtigte Nichtigkeitsfolge über § 134 BGB ein.
1. Der Kündigungsschutz für Schwangere und Mütter nach § 9 MuSchG
§ 9 I MuSchG schließt die ordentliche wie die außerordentliche Kündigung aus. Andere Beendigungstatbestände, wie die Anfechtung und der Aufhebungsvertrag, bleiben hingegen unberührt. Hat die
Nichterneuerung eines befristeten Arbeitsvertrages, dessen nochmalige Befristung zulässig wäre, erkennbar ihren Grund in der Schwangerschaft der Arbeitnehmerin, liegt darin eine vom ArbG zu vertretende diskriminierende Einstellungsverweigerung wegen des Geschlechts, die ihn nach § 15 I AGG
schadensersatzpflichtig werden lässt (EuGH v. 4.10.2001 - C 438/99 - in NZA 2001, 1243). Eine Eigenkündigung Frau, die sie in Unkenntnis der Schwangerschaft ausgesprochen hat, kann von ihr nicht wegen
Irrtums nach § 119 BGB angefochten werden.
Voraussetzung für die Anwendung des § 9 I MuSchG ist, dass die Arbeitnehmerin bei Zugang der
Kündigung schwanger oder das Kind noch nicht älter als 4 Monate ist. Das Kündigungsverbot bis
zum Ablauf von 4 Monaten nach der Entbindung gilt auch in den Fällen einer Totgeburt, dem Tod des
Kindes kurz nach der Geburt oder seiner alsbaldigen Freigabe zur Adoption. § 9 I MuSchG ist entsprechend anwendbar im Fall des Schwangerschaftsabbruchs, sofern das Kind ein Mindestgewicht von 500
gr erreicht hatte. Das Kündigungsverbot gilt nicht, wenn die Schwangerschaft erst während des Laufs der
Kündigungsfrist einsetzt.
Voraussetzung für die Anwendung des § 9 I MuSchG ist weiterhin, dass „dem ArbG zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der
Kündigung mitgeteilt wird; das Überschreiten dieser Frist ist unschädlich, wenn es auf einem von der
Frau nicht zu vertretenden Grund beruht, und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.“ Wie bei §
616 BGB und § 3 I EFZG wird das Vertretenmüssen als ein „Verschulden gegen sich selbst“ verstanden,
das erst dann vorliegt, wenn die Arbeitnehmerin in grober Weise gegen das von einem verständigen
Menschen im eigenen Interesse zu erwartenden Verhalten verstößt.
Nach § 9 III MuSchG kann die zuständige Behörde „in besonderen Fällen, die nicht mit dem Zustand
der Frau während der Schwangerschaft oder ihrer Lage…nach der Entbindung im Zusammenhang stehen, ausnahmsweise die Kündigung (einer Schwangeren oder einer stillenden Mutter) für zulässig erklären“. Erst nach Vorliegen dieses Verwaltungsaktes kann der ArbG (ordentlich oder außerordentlich)
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wirksam kündigen. Dieses Sonderkündigungsrecht erfordert außergewöhnliche Umstände im Verhalten
der Arbeitnehmerin oder in der wirtschaftlichen Situation des ArbG, die ihm die Aufrechterhaltung des
Arbeitsverhältnisses schlechthin unzumutbar machen.
§ 9 MuSchG wird durch § 18 BEEG ergänzt, wonach der ArbG das Arbeitsverhältnis auch während der
Elternzeit im Grundsatz nicht kündigen darf (siehe nachfolgend).
2. Kündigungsschutz während der Elternzeit nach § 18 BEEG
Der ArbG darf gemäß § 18 BEEG das Arbeitsverhältnis „ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt worden ist, höchstens jedoch acht Wochen vor Beginn der Elternzeit, und während der Elternzeit
nicht [ordentlich oder außerordentlich] kündigen“. In besonderen Fällen kann ausnahmsweise eine
Kündigung durch die für den Arbeitsschutz zuständige Behörde für zulässig erklärt werden, so
z.B. bei Wegfall des Arbeitsplatzes vor allem wegen Stilllegung des Betriebes oder einer Betriebsabteilung, ferner wegen besonders schwerer Vertragsverletzung durch den AN oder der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des ArbG.
3. Kündigungsschutz für den pflegenden AN nach § 5 PflegeZG
Siehe daselbst.
4. Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach § 85 ff. SGB IX
§ 85 SGB IX schließt weder die ordentliche noch die außerordentliche Kündigung des Schwerbehinderten durch den ArbG aus, sondern macht sie von der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes abhängig. Ist die Behinderung nicht offensichtlich und hat der ArbG weder von einer behördlichen Anerkennung der Behinderung des AN noch davon, dass dieser einen entsprechenden Antrag gestellt hat, Kenntnis, ist es Sache des AN, den ArbG hiervon zu unterrichten, andernfalls der Sonderkündigungsschutz entfällt (BAG v. 7.3.2002 - 2 AZR 612/00 - in NZA 2002, 1145).
Für andere Beendigungstatbestände, wie die Anfechtung, die Befristung, den Aufhebungsvertrag und die
Eigenkündigung gilt der Sonderkündigungsschutz nicht (oben § 10 IV. 2.).
5. Kündigungsschutz für Auszubildende nach Ablauf der Probezeit gemäß § 22 II
Nr. 1 BBiG
Das nach § 21 I BBiG durch den Ablauf der Ausbildungszeit befristete Berufsausbildungsverhältnis kann
gemäß § 22 II Nr. 1 BBiG vom ArbG nach dem Ablauf der Probezeit (§ 20 BBiG) nur „aus einem
wichtigen Grund ohne Einhalten einer Kündigungsfrist“, also außerordentlich, gekündigt werden.
6. Kündigungsschutz bei Teilzeitarbeit nach § 11 TzBfG
Unwirksam nach § 11 TzBfG ist die (ordentliche wie außerordentliche) Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus dem Grunde, dass der AN sich weigert, von Vollzeit- in Teilzeitarbeit und umgekehrt zu
wechseln.
7. Kündigungsschutz für betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger nach § 15
I KSchG
Nach § 15 I 1 KüSchG ist die ordentliche Kündigung von betriebsverfassungsrechtlichern Funktionsträgern mit Ausnahme der in § 15 IV/V KüSchG genannten Fälle unzulässig. 15 III/IIIa KüSchG erweitert den Sonderkündigungsschutz auf Mitglieder des Wahlvorstandes, auf (wählbare) Wahlbewerber und
auf (die ersten drei) Initiatoren einer Betriebratswahl. §§ 15 I 2, II 2 III 2 und IIIa 2 KSchG gewähren
darüber hinaus einen abgestuften nachwirkenden Kündigungsschutz. Andere Beendigungstatbestände,
wie z.B. die Anfechtung und die Befristung, sind hiervon nicht erfasst. Für Mitglieder des Sprecherausschusses gilt das Benachteiligungsverbot des § 2 III 2 SprAuG.
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Die außerordentliche Kündigung bleibt möglich, aber nur wegen einer Verletzung von Pflichten aus
dem Arbeitsvertrag, nicht von Amtspflichten, §§ 23, 120 BetrVG. Nach § 103 I BetrVG bedarf die außerordentliche Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrates und gleichgestellter Funktionsträger sowie
des Wahlvorstands und von Wahlbewerbern der Zustimmung des Betriebsrates. Nach § 103 II BetrVG
kann die verweigerte Zustimmung auf Antrag des ArbG durch das Arbeitsgericht ersetzt werden.
8. Kündigungsschutz für die Vertrauensperson der Schwerbehinderten nach §§
94, 96 III SGB IX
Siehe daselbst.
9. Kündigungsschutz für den sicherheitsbeauftragten AN nach § 22 III SGB VII
Siehe daselbst
10. Kündigungsschutz für den immissionsschutzbeauftragten AN nach § 58 BImSchG
Siehe daselbst
11. Kündigungsschutz für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten nach § 4f
III, 3, 6 BDSG
Siehe daselbst
12. Kündigungsschutz für Abgeordnete nach Art. 48 II S. 2 GG, § 2 III AbgeoG).
Siehe daselbst.
III. Allgemeiner Kündigungsschutz
Allgemein ist der Kündigungsschutz, der im Grundsatz allen AN zuteil wird und im
Wesentlichen an den Sachgründen für die jeweilige Kündigung anknüpft.
1. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber ordentlichen Kündigungen nach
Maßgabe von § 1 KSchG,
wonach die ordentliche Kündigung rechtsunwirksam weil sozial ungerechtfertigt ist,
„wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist“ (Einzelheiten
unten §§ 30, 31),
2. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber außerordentlichen Kündigungen
nach Maßgabe des § 626 BGB,
wonach die außerordentliche Kündigung nur rechtswirksam ist bei Vorliegen eines
wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB (Einzelheiten unten § 33)
3. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber sittenwidrigen oder treuwidrigen
ordentlichen und außerordentlichen Kündigungen,
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wonach die Kündigung nicht gegen § 138 und § 242 BGB verstoßen darf (Einzelheiten unten § 34).
4. Der Schutz des AN vor einer ordentlichen oder außerordentlichen Vergeltungskündigung nach § 612a BGB i.V.m. § 134 BGB
5. Der Schutz des AN vor einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung
wegen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils nach § 613a IV BGB
Dazu unten § 42 IV. 5.
IV. Gibt es einen Kündigungsschutz nach § 7 I AGG i.V.m. § 134 BGB?
Das Diskriminierungsverbot des § 7 I AGG führt nicht neben den Bestimmungen zum
allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz über § 134 BGB zu einem „zweiten
Kündigungsschutzrecht“ in Gestalt einer besonderen „Diskriminierungsklage“. Die
Vorschrift des § 2 IV AGG, nach der „für Kündigungen…ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz (gelten)“, ist vielmehr
richtlinienkonform (oben § 9 I. 1.) als Hinweis auf die Tatsache zu verstehen, dass
die in den §§ 1 bis 10 AGG enthaltenen Diskriminierungsverbote zugleich tragende
Gesichtspunkte im Rahmen der Anwendung schon des allgemeinen und besonderen
Kündigungsschutzes sind (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361): Im
Anwendungsbereich des KSchG als Konkretisierungen des Begriffs der Sozialwidrigkeit, außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG zur Ausfüllung der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB und im Fall der Kündigung nach § 626 BGB bei der Prüfung
des wichtigen Grundes.
Bei schwerwiegender Verletzung des Persönlichkeitsrechts kann der AN neben der
Kündigungsschutzklage auch einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 II AGG
geltend machen (BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12 – in ArbRB 2014, 163).
V. Vereinbarter Kündigungsschutz
Während das Recht zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB beidseitig
zwingendes Recht ist, kann einzelvertraglich oder durch Tarifvertrag, in den Grenzen
des § 77 III BetrVG auch durch Betriebsvereinbarung, die ordentliche Kündigung ausgeschlossen werden. Bekannt sind die tarifvertraglichen Kündigungsverbote im öffentlichen Dienst gemäß § 53 III BAT / § 34 II TV-L, ferner in der Metallindustrie für AN,
die das 55. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb 10 Jahre angehören. Man denke ferner an die Vereinbarung eines zumeist befristeten Ausschlusses betriebsbedingter
Kündigungen aus Anlass betrieblicher Umstrukturierungen in Gestalt von Rationalisierungsschutzabkommen oder zum Ausgleich einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses für Arbeit. In außergewöhnlichen
Fällen, wie etwa dem einer Stilllegung des Betriebs, muss dann die eigentlich in Betracht kommende ordentliche (betriebsbedingte) Kündigung durch eine „fristgemäße
Kündigung aus wichtigem Grund“ ersetzt werden.
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§ 30 Der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG
I. Die Anwendbarkeit des KSchG
Gegenüber einer ordentlichen Kündigung des ArbG genießt der AN Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 1 bis 14 KSchG unter zwei Voraussetzungen:
► Zum einen muss das Arbeitsverhältnis nach § 1 I KSchG in demselben Betrieb
oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden haben.
Die Wartezeit ist also auch dann erfüllt, wenn die Tätigkeit ununterbrochen nacheinander in
mehreren Betrieben desselben Unternehmens erbracht worden ist. Dabei ist es ohne Bedeutung,
ob der AN in Voll- oder Teilzeit tätig war. Auf die Wartezeit ist auch die in demselben Betrieb
oder Unternehmen unmittelbar vorausgehende Ausbildungszeit anzurechnen; ebenso ein betriebliches Praktikum im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Eine Unterbrechung liegt vor, wenn auf
ein rechtlich beendetes Arbeitsverhältnis ein neues Arbeitsverhältnis folgt. Eine rechtliche Unterbrechung kann allerdings unerheblich sein, wenn zwischen beiden Arbeitsverhältnissen ein
innerer sachlicher Zusammenhang besteht, etwa weil dem AN die Fortsetzung seiner bisherigen
Tätigkeit schon in Aussicht gestellt worden war. Im Übrigen ist eine Anrechnung von Vordienstzeiten wie auch eine Abkürzung der Wartezeit entgegen der (einseitig zwingenden) Bestimmung
des § 1 I KSchG stets durch einzel- oder kollektivvertragliche Regelung möglich, weil sie den
AN günstiger stellt.
Zweck der Wartezeit ist es, dem ArbG die Möglichkeit zu geben, den AN innerhalb der ersten 6 Monate auf Probe beschäftigen zu können, ohne bereits an
das Verbot sozial ungerechtfertigter Kündigungen gebunden zu sein.
► Zum anderen muss der ArbG im Augenblick der Kündigung nach § 23 I KSchG
in dem Betrieb, dem der Gekündigte angehört, in der Regel mehr als 10 AN mit
Ausnahme Auszubildender vollzeitig beschäftigen. Teilzeitbeschäftigungen
werden anteilig berechnet.
Nach dem Urteil des BAG v. 24.1.2013 – 2 AZR 140/12 – in DB 2013, 1494 sind hierbei auch
im Betrieb beschäftigte Leih-AN zu berücksichtigen, wenn sie auf einem Arbeitsplatz tätig sind,
der zum regelmäßigen Bestand des Betriebes gehört, ob er nun mit einem eigenen oder mit einem entliehenen AN besetzt ist.
Aus Gründen des Vertrauensschutzes bleibt denjenigen AN, die bei Anhebung des Schwellenwertes von mehr als 5 auf mehr als 10 AN ab 1.1.2004 bereits Kündigungsschutz genossen, der
Kündigungsschutz erhalten, sofern ihre Gruppe nicht unter den alten Schwellenwert absinkt.
Betrieb im Sinne des § 23 KSchG ist die Organisationseinheit, die über einen Leitungsapparat
verfügt, der die nach Maßgabe des KSchG relevanten Entscheidungen selbständig treffen kann.
Die Aufspaltung eines Unternehmens in mehrere diesbezüglich unselbständige oder nur scheinbar selbständige Betriebsstätten, in denen die Zahl der Beschäftigten den Schwellenwert nicht
überschreitet, führt darum nicht zu kündigungsschutzfreien Kleinbetrieben.
Zweck des § 23 I KSchG ist es vor allem, Kleinbetriebe vor den finanziellen Folgen
des allgemeinen Kündigungsschutzes in Gestalt vor allem der Weiterbeschäftigungspflicht (unten § 36) und den Abfindungsregeln der §§ 1a (unten § 31 III.), 9, 10
KSchG (unten § 38) zu schützen.
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Gemäß § 14 II KSchG gilt das KSchG auch für leitende Angestellte mit der Besonderheit, dass der ArbG einen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG (unten § 38) ohne
Begründung stellen kann. Demgegenüber sind die in § 14 I KSchG genannten Personen keine AN.
II. Das Verbot sozialwidriger Kündigungen
1. Die Vorgaben des § 1 KSchG
Nach § 1 I KSchG ist die ordentliche Kündigung gegenüber einem AN, dessen Arbeitsverhältnis unter das KSchG fällt, „rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.“ § 1 II 1 KSchG verdeutlicht diese Aussage durch die Feststellung, dass die
Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, „wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.“ § 1 II 2 Nr. 1 b) KSchG sowie Satz 3 dieses Absatzes heben hervor, dass die Kündigung „auch sozial ungerechtfertigt“ ist, wenn die
Möglichkeit besteht, den AN auf einem anderen Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen.
Die Bestimmungen des § 1 II 2 Nr. 1 a), III bis V KSchG betreffen Besonderheiten
nur der betriebsbedingten Kündigung.
Nach der Rechtssprechung des BAG sind bei richtlinienkonformer Auslegung des § 2 IV AGG die
Diskriminierungsverbote der §§ 1 bis 10 AGG bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des
KSchG in der Weise zu beachten, dass sie Konkretisierungen des Begriffes der Sozialwidrigkeit darstellen (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361). Siehe dazu oben § 29 IV.
2. Die Geltung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips
In dem Bemühen, das Verbot einer sozial ungerechtfertigten Kündigung interessengerecht zu konkretisieren, haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung aus den in § 1
KSchG enthaltenen Vorgaben die Erkenntnis abgeleitet, dass ein vernünftiger Ausgleich zwischen dem grundgesetzlich geschützten Interesse des AN an der Erhaltung
seines Arbeitsplatzes und dem ebenso grundgesetzlich geschützten Interesse des
ArbG, eine Entscheidung über die Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses eigenverantwortlich treffen zu können, unter Anwendung des VerhältnismäßigkeitsPrinzips herbeizuführen ist (oben unter § 3 III. 2. vor (1) sowie zu (6)). Danach ist der
in der Kündigung des Arbeitsverhältnisses liegende Eingriff in die Grundrechtsposition des AN nur dann sozial gerechtfertigt, wenn er eine zum Schutz der betrieblichen Interessen des ArbG nicht nur geeignete, sondern auch erforderliche und
darüber hinaus angemessene Maßnahme ist. Die Kündigung darf sich mit anderen
Worten nicht als eine Übermaßreaktion des ArbG erweisen.
Positive Aussagen über die Voraussetzungen der sozialen Rechtfertigung der Kündigung trifft § 1 II 1
KSchG zum einen dadurch, dass er drei Störungstatbestände nennt, die durch eine Kündigung beendet werden dürfen. Das Gesetz beschreibt sie als Gründe in der Person oder im Verhalten des AN
oder als dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des AN in diesem Betrieb entgegenstehen. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben für jeden dieser Gründe spezifische inhaltliche Anforderungen entwickelt (unten III. 1., IV. 1., V. 1.).
Das Vorliegen eines hiernach legitimen Kündigungsgrundes kann allerdings für sich allein eine Kündigung noch nicht rechtfertigen. Darum wird der legitime Kündigungsgrund auch nur als „an sich geeigneter Kündigungsgrund“ bezeichnet. Ob er im konkreten Fall wirklich zur Beendigung des Ar-
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beitsverhältnisses führt, hängt vielmehr davon ab, dass auch die auf ihn gestützte Kündigung legitim
ist. Man spricht deshalb von einem zweistufigen Prüfungsverfahren: Die Feststellung, dass ein als
solcher geeigneter Kündigungsgrund vorliegt, bildet die Grundlage für die anschließende Prüfung, ob
die zur Beseitigung der dadurch gekennzeichneten Störung ausgesprochene Kündigung verhältnismäßig ist. Der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand ist nur der Anlass dafür, die
Kündigung als ein zur Beseitigung der eingetretenen Störung im Grundsatz geeignetes Mittel in Erwägung zu ziehen.
Diese Zweiteilung findet ihren Niederschlag in der weiteren positiven Aussage des § 1 II KSchG, insoweit er die Forderung aufstellt, dass die Kündigung durch einen dieser Gründe „bedingt“ sein
muss. In dieser Wortwahl kommt zum Ausdruck, dass allein das Vorliegen eines dieser Störungstatbestände noch nicht zur Kündigung ausreicht. Es ist vielmehr unerlässlich, die Feststellung zu treffen,
dass die Kündigung zur Beseitigung der im Kündigungsgrund liegenden Störung nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich ist. Das ist aber nur dann der Fall, wenn zu diesem Zweck kein
gleichermaßen geeignetes, aber milderes Mittel zur Verfügung steht, wie etwa die in § 1 II 2 Nr. 1
b) KSchG und Satz 3 dieses Absatzes beschriebene Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen
Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens (= Geeignetheit
und Erforderlichkeit der Kündigung).
Aus der negativen Aussage des § 1 II 1 KSchG, dass die Kündigung dann nicht sozial gerechtfertigt
ist, wenn sie nicht durch einen der dort aufgeführten drei Kündigungsgründe bedingt ist, kann jedoch
nicht geschlossen werden, dass allein aus dem Bedingtsein der Kündigung durch einen der genannten
Kündigungsgründe schon die soziale Rechtfertigung der Kündigung folgt. Aus ihr kann nur abgeleitet
werden, dass eine Kündigung, wenn sie sozial gerechtfertigt ist, immer durch einen Kündigungsgrund
bedingt ist. Damit ist das Bedingtsein der Kündigung durch einen der genannten Kündigungsgründe
zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung ihrer sozialen Rechtfertigung
(Dathe a.a.O. S. 88). Mit seiner negativen Formulierung eröffnet § 1 II 1 KSchG vielmehr den Weg,
zusätzlich zum Bedingtsein der Kündigung durch einen der drei Kündigungsgründe auf die Notwendigkeit einer Abwägung der Interessen von ArbG und AN abzustellen, die der sozialen Schutzbedürftigkeit des AN Rechnung trägt (= Angemessenheit der Kündigung).
3. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips
a) Die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderliche Prognose
Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses dient dem Zweck, die durch Gründe in der
Person oder im Verhalten des AN oder durch ein betriebsbedingtes Weiterbeschäftigungshindernis entstandene Belastung des Betriebs zu beheben. Liegt ein als solcher
geeigneter Kündigungsgrund vor, besteht für den ArbG die Möglichkeit, die Kündigung auszusprechen, wenn sie das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel
ist, die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen
zu beenden.
Als empfangsbedürftige Willenserklärung wird die Kündigung mit dem Zugang der
Kündigungserklärung beim AN wirksam. Da es sich um eine ordentliche Kündigung handelt, endet das Arbeitsverhältnis aber erst mit dem Ablauf der Kündigungsfrist. Bezogen auf diesen Zeitpunkt muss sie sich als geeignet, erforderlich und
angemessen erweisen.
Wegen dieses die fristgemäße Kündigung kennzeichnenden Merkmals wird dem
ArbG für den Zeitraum zwischen der Kündigungserklärung und dem Ablauf der
Kündigungsfrist von Rechts wegen eine Prognose abverlangt. Er muss bereits im
Kündigungszeitpunkt davon ausgehen können, dass sich die Kündigung bei Ablauf
der Kündigungsfrist als verhältnismäßig erweist. Im Regelfall entsteht dem ArbG daraus kein Problem. Im Fall einer langen Kündigungsfrist kann es allerdings geschehen, dass sich die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Verhältnisse, die ihn zur
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Kündigung veranlassten, bis zum Ablauf der Kündigungsfrist so entscheidend verändert haben, dass sie eine jetzt ausgesprochene Kündigung nicht mehr rechtfertigen
würden. War die ursprüngliche Prognose nach dem damaligen Stand der Dinge aber
zulässig, wird die Kündigung durch die Veränderung der Umstände nicht unwirksam
(nachfolgend unter 4.).
Es kommt aber nicht nur wegen dieser rechtstechnisch bedingten Besonderheit der
fristgemäßen Kündigung zu einem Prognose-Spielraum. Als ein Mittel, die den Kündigungsgrund bildende Störung zu beseitigen, liegt der Zweck der Kündigung gerade darin, die Gefahr der Fortdauer der Störung oder ihrer Wiederholung zu unterbinden. Man spricht von der Zukunftsbezogenheit der Kündigung und meint damit, dass die Kündigung dann eine angemessene Reaktion ist, wenn die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Umstände die negative Prognose stützen, dass die im
Kündigungsgrund liegende Störung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus
auf nicht absehbare Zeit fortdauern oder sich wiederholen wird.
Sollte es für einen objektiven Betrachter auf Grund der im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Umstände hingegen erkennbar gewesen sein, dass die kündigungsrelevante
Störung zwar erst nach dem Ablauf der Kündigungsfrist, aber noch innerhalb einer
dem ArbG für die Hinnahme der Störung zumutbaren Zeitspanne von sich aus entfallen oder sich nicht wiederholten wird, würde es an der Angemessenheit der Kündigung fehlen (nachfolgend unter d) (1)). War die ursprüngliche negative Prognose
nach dem damaligen Stand der Dinge allerdings zulässig, wird die Kündigung durch
eine Veränderung der Umstände nicht unwirksam (nachfolgend unter 4.).
Eine solch weitgehende negative Prognose wird von der Rechtsprechung vor allem
im Fall der personenbedingten Kündigung wegen einer Langzeiterkrankung oder
häufiger Kurzerkrankungen, krankheitsbedingter Minderung der Leistungsfähigkeit
oder dauerhafter Arbeitsunfähigkeit verlangt (nachfolgend unter III. 1. a)). Sie kann
ferner bei der betriebsbedingten Kündigung eine Rolle spielen für den Fall, dass der
zur Kündigung Anlass gebende Auftragsmangel innerhalb einer absehbaren Zeitspanne nach Ablauf der Kündigungsfrist enden sollte. Bei einer verhaltensbedingten
Kündigung folgt die negative Prognose hingegen aus der Tatsache, dass die der
Kündigung vorausgegangene/n Abmahnung/en erfolglos war/en (nachfolgend unter
IV. 3.).
Im Fall einer krankheitsbedingten Kündigung erstreckt sich die „zunächst“ erforderliche negative Gesundheitsprognose nach der Rechtsprechung (hier in der Zusammenfassung des BAG v. 20.11.2014
– 2 AZR 755/13 – in NJW 2015, 1979 Rn.16 wiedergegeben) auf drei Schritte: (1) die Feststellung,
dass im Kündigungszeitpunkt objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis der Fortdauer der Erkrankung oder weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen, die (2) zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessenführen, sowohl in Gestalt von Betriebsablaufstörungen als auch wegen zu erwartender Entgeltfortzahlungskosten über den Umfang von sechs Wochen
hinaus. Im Rahmen der (3) „gebotenen Interessenabwägung“ sei sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom ArbG gleichwohl hingenommen werden müssen. Dies alles an den Anfang der Prüfung
zu stellen, ist unglücklich: Während die Stufen (1) und (2) die Frage nach dem als solchen geeigneten
Störungstatbestand betreffen, gehört die Interessenabwägung zur Angemessenheit am Ende der Prüfung. (nachfolgend unter d) und VI.)
b) Die Geeignetheit der Kündigung
Die Kündigung ist eine geeignete Maßnahme, wenn es durch ihren Einsatz möglich
ist, die eingetretene Störung mit dem Ablauf der Kündigungsfrist zu beseitigen.
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Das setzt voraus, dass der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand in diesem Zeitpunkt (noch) vorliegt. Ist die kündigungsrelevante Störung bis zu diesem
Zeitpunkt entfallen, z.B. weil der wegen einer Dauererkrankung personenbedingt
gekündigte AN vor Ablauf der Kündigungsfrist gesundet oder der für eine betriebsbedingte Kündigung Anlass gebende Auftragsmangel vor Ablauf der Kündigungsfrist
bis auf weiteres endet, fehlt es an der Geeignetheit der Kündigung. Der Wegfall
der Störung kann vor allem bei langen Kündigungsfristen vorkommen.
Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob
der Kündigende diese Tatsache im Kündigungszeitpunkt erkannt und trotzdem gekündigt hat oder sie hätte erkennen und die Kündigung deswegen unterlassen müssen.
Zum diesbezüglichen Prognoserisiko des ArbG siehe nachfolgend unter 4. a) bis c).
Hat allerdings ein legitimer, an sich geeigneter Kündigungsgrund in Wahrheit nie
bestanden, ist die darauf gestützte Kündigung ohne weiteres rechtsunwirksam.
Für eine Prognose ist hier kein Raum; siehe nachfolgend unter 4. d).
c) Die Erforderlichkeit der Kündigung
Das Merkmal der Erforderlichkeit der Kündigung gebietet, von mehreren gleich geeigneten Mitteln dasjenige anzuwenden, das den Betroffenen am wenigsten belastet.
Man spricht auch vom Gebot des ultima-ratio-Prinzips, die Kündigung des AN nur
als das unausweichlich letzte Mittel anzuwenden, um die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu beenden. Steht dem ArbG zu
diesem Zweck bei Ablauf der Kündigungsfrist ein gleichermaßen geeignetes, aber
milderes Mittel zur Verfügung, ist die Kündigung nicht erforderlich.
Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob
der Kündigende diese Tatsache im Kündigungszeitpunkt erkannt und trotzdem gekündigt hat oder sie hätte erkennen und die Kündigung deswegen unterlassen müssen.
Zum diesbezüglichen Prognoserisiko des ArbG siehe nachfolgend unter 4. a) bis c).
(1) Wie § 1 II 2 Nr.1b) KSchG einschließlich Satz 3 dieses Absatzes erkennen lässt, kommt der
Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG als gegenüber der Kündigung milderes Mittel besondere Bedeutung zu. Bevor der ArbG eine personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigung ausspricht, trifft ihn daher die „Initiativlast“ (ErfK/Oetker,
§ 1 KSchG Rn. 254) zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des AN „an einem anderen
Arbeitsplatz in dem selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens“ (§ 1 Absatz 2
Satz 2 Nr.1b) besteht oder „die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach [dem AN wie dem
ArbG; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 390 ff.] zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen“
(§ 1 Absatz 2 Satz 3 Altn. 1) dort möglich ist. Die Prüfung erstreckt sich über den Betrieb hinaus auf
das gesamte Unternehmen, nicht aber auf den Konzern.
Der ArbG ist nicht verpflichtet, einen freien Arbeitsplatz erst durch geeignete Organisationsmaßnahmen zu schaffen. Vielmehr muss der Arbeitsplatz beim Zugang der Kündigung frei sein oder bis zum
Ablauf der Kündigungsfrist frei werden. Es sollte sich in erster Linie um einen vergleichbaren Arbeitsplatz handeln, so dass der AN, falls er den Arbeitsplatzwechsel ablehnt, schon durch Weisung des
ArbG (und nicht erst im Wege einer Änderungskündigung) dorthin versetzt werden kann. In einem
mitbestimmten Betrieb ist aber in jedem Fall § 99 BetrVG zu beachten! Darüber hinaus erfasst die
Prüfung auch „eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unter geänderten Arbeitsbedingungen…
(sofern) der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat“ (§ 1Absatz 2 Satz 3 Altn. 2).
Kommt es hierüber zu keiner Einigung zwischen ArbG und AN, kann es als gegenüber der Beendigungskündigung milderes Mittel zu einer Änderungskündigung kommen (unten § 35).
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Im Fall von Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen kann der AN keine Weiterqualifizierung
für eine höherwertige Tätigkeit verlangen, sondern nur eine Einarbeitung in die besonderen Anforderungen eines seinem bisherigen gleichwertigen Arbeitsplatzes.
Entgegen dem Wortlaut des § 1 II Satz 2 und 3 KSchG gilt dies alles auch dann, wenn der Betriebsrat nicht widersprochen hat oder kein Betriebsrat besteht! Eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit ist nach dem ultima-ratio-Prinzip immer zu berücksichtigen!
Der gemäß § 1 II 2 Nr. 1 a) KSchG die Sozialwidrigkeit der Kündigung auslösende Verstoß gegen
eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG betrifft praktisch nur die zwischen ArbG und Betriebsrat
in einer Betriebsvereinbarung festgelegten Regeln zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen (§ 1 IV KSchG). Dazu unten § 31.
(2) Zu weiteren der Kündigung vorrangigen Maßnahmen, die speziell zu den einzelnen Kündigungsgründen passen, siehe nachfolgend III. 3., IV. 3. und V. 3.
d) Die Angemessenheit der Kündigung
Das Merkmal der Angemessenheit verlangt, im Wege einer Interessenabwägung zu
prüfen, ob dem ArbG trotz personen-, verhaltens- oder betriebsbedingt entstandener
Störung, zu deren Beseitigung die Kündigung das sowohl geeignete als auch erforderliche Mittel ist, nicht doch zugemutet werden kann, auf die Kündigung zu verzichten, weil der Vorteil, den sie ihm bringt, in keinem Verhältnis zu dem Nachteil steht,
den sie dem AN zufügt. Die Kündigung ist also nur dann das angemessene Mittel,
den im Kündigungsgrund liegenden Störungstatbestand zu beseitigen, wenn das Interesse des ArbG an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des AN am
Fortbestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist
bei vernünftiger Gewichtung überwiegt. Hierbei kommt es zu verschiedenen Prüfungsbereichen.
(1) Bei allen drei Kündigungsgründen kommt es darauf an, über den Ablauf der
Kündigungsfrist hinaus den Blick auf die künftige Entwicklung des gestörten
Arbeitsverhältnisses zu richten, um die mutmaßliche Fortdauer der Störung
einzuschätzen.
Dabei würde es an der Angemessenheit der Kündigung fehlen, wenn auf
Grund der bei der Kündigung obwaltenden Umstände erkennbar wäre,
 dass der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand nach dem Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der
Störung noch zumutbaren Zeitspanne von sich aus entfallen würde, oder
 dass nach dem Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG für
die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne ein milderes Mittel
zur Beseitigung der Störung zur Verfügung stehen würde.
Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon
ab, ob der Kündigende diese Tatsachen im Kündigungszeitpunkt erkannt und
trotzdem gekündigt hat oder sie hätte erkennen und die Kündigung deswegen
unterlassen müssen. Zum diesbezüglichen Prognoserisiko des ArbG siehe nachfolgend unter 4. a) bis c).
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Die Zumutbarkeitsgrenze für den ArbG, die personenbedingte, verhaltensbedingte oder betriebsbedingte Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen über
den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus hinzunehmen, könnte in Anlehnung an
die Rechtsprechung des BAG zur Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen, wenn die Beeinträchtigung des ArbG allein auf Entgeltfortzahlungskosten
beruht, bei höchstens drei Monaten liegen (vgl. Dathe a.a.O. S.151 f. unter Bezugnahme auf BAG v. 5.7.1990 – 2 AZR 154/1990 – in AP KSchG 1969 § 1
Krankheit Nr. 26 unter II. 3. a).
Für die negative Prognose über die Fortdauer oder Wiederholung der im Kündigungsgrund liegenden Störung der betrieblichen Interessen insbesondere im
Fall der krankheitsbedingten Kündigung (vorstehend unter 3. a)) über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus folgt daraus, dass die Kündigung angemessen
ist, wenn die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Umstände für einen objektiven Betrachter keine innerhalb der Zumutbarkeitsgrenze liegende Entstörung erkennbar werden lassen.
(2) Nur in den Fällen der personen- und der verhaltensbedingten Kündigung
kommt es darüber hinaus dazu, mit Blick auf den bisherigen Verlauf des Arbeitsverhältnisses sowie die besonderen Umstände des Störfalls und die persönliche Situation des AN die Tatsachen zu berücksichtigen, die es dem ArbG aus
sozialen Gründen gebieten, die eingetretene Beeinträchtigung der betrieblichen
Interessen als das kleinere Übel hinzunehmen.
Hierbei kommen zum einen die bei der betriebsbedingten Kündigung schon im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 III 1 KSchG maßgebenden Daten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des
Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung des AN in Betracht. Darüber
hinaus können hier aber z. B. auch der bisherige Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses, die
Bedeutung der verletzten Pflicht, das Ausmaß der eingetretenen Störung, der Grad des Verschuldens des AN, Mitschuld des ArbG, die Berufsbedingtheit des Kräfteverfalls oder der Erkrankung u. ä. Gesichtspunkte als Beurteilungskriterien herangezogen werden.
Ist eine hiernach erhebliche Tatsache nicht oder nicht angemessen berücksichtigt worden, fehlt es an der Angemessenheit der Kündigung, weshalb sie
ohne weiteres rechtsunwirksam ist. Für eine Prognose ist hier kein Raum; siehe nachfolgend unter 4. d).
(3) Bei der betriebsbedingten Kündigung hingegen findet eine Interessenabwägung zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen nicht statt; denn es ist dem
ArbG außer in den eingangs unter (1) aufgeführten zeitlich begrenzten Sonderfällen nicht zumutbar, den entstandenen Arbeitskräfteüberhang hinzunehmen.
An die Stelle einer Interessenabwägung aus sozialen Gründen zwischen ArbG
und AN tritt bei der betriebsbedingten Kündigung die Sozialauswahl nach § 1
III KSchG im Verhältnis der AN untereinander, die wegen vergleichbarer Arbeitsplätze gleichermaßen kündigungsbedroht sind, um den oder die AN zu ermitteln, dem oder denen die Kündigung aufgrund ihrer sie weniger belastenden
Sozialdaten eher zuzumuten ist (unten § 31).
Fehler bei der Sozialauswahl führen ohne weiteres zur Rechtsunwirksamkeit der Kündigung. Für eine Prognose ist hier kein Raum; siehe nachfolgend
unter 4. d).
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4. Das Prognoserisiko des Arbeitgebers
a) Die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips bringt es mit sich, dass der
Kündigende im Kündigungszeitpunkt teilweise mit dem Risiko von Prognosen bezogen auf die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist und noch darüber
hinaus belastet ist:
 Das gilt zum einen hinsichtlich des Vorliegens des kündigungsrelevanten Störungstatbestandes noch im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist (vorstehend unter 3. b) = Geeignetheit der Kündigung) und in Ansehung seiner Fortdauer über eine dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbare Zeitspanne über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus (vorstehend unter 3. d (1) =
Angemessenheit der Kündigung).
 Das gilt zum anderen hinsichtlich der Frage nach einem milderen Mittel als dem
der Kündigung, das dem ArbG bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (vorstehend
unter 3. c) = Erforderlichkeit der Kündigung) oder erst nach diesem Zeitpunkt
innerhalb einer ihm für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne
(vorstehend unter 3. d) (1) = Angemessenheit der Kündigung) zur Verfügung
steht.
Die Prognosen sind tragfähig, wenn sie sich für einen verständigen ArbG aus den im
Zeitpunkt der Kündigung bestehenden Verhältnissen rechtfertigen lassen. Liegt ein
Störungstatbestand vor, der einen (an sich geeigneten) personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Kündigungsgrund bildet, kommt es also darauf an, ob aus der Sicht
eines objektiven Betrachters auf Seiten des Kündigenden im Kündigungszeitpunkt die (negative) Prognose begründet erscheint,
 dass die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt (Geeignetheit),
 dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein milderes Mittel als das der Kündigung zur
Verfügung steht, die Störung zu beseitigen (Erforderlichkeit) und
 dass die Störung nicht innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung
noch zumutbaren Zeitspanne nach diesem Zeitpunkt von alleine entfällt oder dass
ihm in diesem Zeitraum ein milderes Mittel zur Beseitigung der Störung nicht
verfügbar sein wird (Angemessenheit).
b) Stellt sich bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der vom ArbG ausgesprochenen
Kündigung heraus, dass ein mit den Gegebenheiten im (damaligen) Kündigungszeitpunkt vertrauter verständiger ArbG mindestens eine dieser Prognosen nicht getroffen hätte, ist die Kündigung rechtsunwirksam. In dieser Rolle eines objektiven
Betrachters ex ante befindet sich das Arbeitsgericht und stellen sich im Kündigungsschutzprozess die Frage, ob auf der Grundlage der im Verlauf des Prozesses gewonnen Erkenntnisse über die im Kündigungszeitpunkt vorliegende Situation eine Kündigung damals hätte ausgesprochen werden dürfen.
Wie die Kündigung nach heutigem Kenntnisstand zu beurteilen wäre, ist unerheblich. Eine Ausnahme
hiervon bildet die Verdachtskündigung (unten § 32 II. 2. b).
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c) Nach der Kündigung eintretende Ereignisse und Entwicklungen, die die im Zeitpunkt der Kündigung zulässig prognostizierte Situation verändern, spielen keine Rolle. Erweist sich eine im Kündigungszeitpunkt zutreffende Prognose infolge damals
nicht voraussehbarer Veränderungen im Nachhinein als falsch, bleibt die Kündigung wirksam. Es gilt die Faustregel: Einmal wirksam, immer wirksam! (Gamillscheg).
Erweist sich jedoch eine im Kündigungszeitpunkt zutreffende Prognose aufgrund des Eintritts neuer
Umstände noch in dem Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist als unzutreffend, kommt
ausnahmsweise ein Anspruch des gekündigten AN auf Wiedereinstellung in Betracht. Es sind dies
die Fälle, in denen es an der Geeignetheit der Kündigung zur Beseitigung einer Beeinträchtigung der
betrieblichen Interessen z.B. darum fehlt, weil der Kündigungsgrund vor Ablauf der Kündigungsfrist
weggefallen ist; so wenn der wegen einer Dauererkrankung gekündigte AN in diesem Zeitraum gesundet (oben unter 3. a). Ist die Gesundung hingegen erst danach eingetreten, bleibt die Kündigung
geeignet und ist die Kündigung rechtswirksam, sofern nicht im Zeitpunkt der Kündigungszugangs erkennbar gewesen ist, dass der AN innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne nach Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsfähig werden würde. Dann nämlich würde es an der Angemessenheit
der Kündigung fehlen (oben unter 3. c).
d) Beachte: Ebenso wie in Ansehung des Bestehens eines an sich geeigneten
Kündigungsgrundes (oben 3. b)) kommt es auch bei der im Rahmen der Prüfung
der Angemessenheit der Kündigung erforderlichen Interessenabwägung aus sozialen Gründen (vorstehend unter 3. d) (2) nicht zu einer Prognose, denn es geht dabei
ausschließlich um die Berücksichtigung bereits feststehender Fakten. Liegt ein an
sich geeigneter Kündigungsgrund nicht vor oder ist eine für die Interessenabwägung
aus sozialen Gründen erhebliche Tatsache nicht oder nicht angemessen berücksichtigt worden, ist die Kündigung ohne weiteres rechtsunwirksam.
Das gleiche gilt in Ansehung der Tatsachen, die bei einer betriebsbedingten Kündigung für die Sozialauswahl (vorstehend unter 3. d) (3)maßgebend sind.
5. Zur Beweislast im Kündigungsschutzprozess
a) Es ist Aufgabe des AN, im Kündigungsschutzprozess (substantiiert) darzulegen,
dass die Kündigung wenigstens an einem der nachfolgend aufgeführten Fehler
krankt, nämlich
 dass kein als solcher geeigneter Kündigungsgrund vorgelegen hat,
 dass wenigstens eine Prognose des ArbG fehlerhaft ist.
 dass die Interessenabwägung aus sozialen Gründen fehlerhaft ist,
 Im Fall einer betriebsbedingten Kündigung muss der AN nach § 1 III 3
KSchG die Tatsachen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt erscheinen
lassen, weil die Sozialauswahl fehlerhaft ist, nicht nur (substantiiert) darlegen,
sondern auch beweisen. Wenn er die Sozialdaten seiner Arbeitskollegen nicht
kennt, hilft ihm der Auskunftsanspruch nach § 1 III 1 Halbs. 2 KSchG.
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b) Den ArbG trifft nach § 1 II 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast dafür,
 dass ein als solcher geeigneter Kündigungsgrund vorgelegen hat,
 die objektiven Verhältnisse im Kündigungszeitpunkt die Prognosen bezogen auf
die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist und darüber hinaus rechtfertigten,
 dass weder die Interessenabwägung aus sozialen Gründen noch die Sozialauswahl
fehlerhaft ist.
III. Der personenbedingte Kündigungsgrund
1. Der an sich geeignete Störungstatbestand
Der personenbedingte Kündigungsgrund entstammt der Sphäre des AN. Er erfordert
das Vorliegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses durch eine Pflichtverletzung des
AN in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung. Im Gegensatz zum verhaltensbedingten Kündigungsgrund beruht die Pflichtverletzung hier nicht auf einem willensgesteuerten Fehlverhalten des AN, sondern darauf, dass dem AN aufgrund von persönlichen Umständen, die er nicht willensgesteuert beherrschen kann, die Möglichkeit oder Fähigkeit fehlt, seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen. Mangels
Verschuldens des AN handelt es sich um eine Pflichtverletzung im (lediglich) objektiven Sinn.
Jede Nicht- oder Schlechtleistung ist schuldrechtlich eine Pflichtverletzung mindestens im objektiven Sinne sowie arbeitsrechtlich eine Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen und damit ein Störungstatbestand, der zu einer Kündigung führen
kann (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 68). Da die personenbedingte Nicht- oder
Schlechtleistung aber kein Verschulden des AN voraussetzt, soll sie im Grundsatz
von Ausnahmen abgesehen sozusagen als Ausgleich für das fehlende Merkmal des
Verschuldens erst dann einen Kündigungsgrund abgeben, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt hat. Das gilt vor allem
in den Fällen, in denen die personenbedingte Pflichtverletzung auf Krankheit beruht; denn der AN soll vor der Gefahr geschützt sein, seinen Arbeitsplatz aufgrund
einer im Regelfall vorübergehenden Schwächeerscheinung ohne sein Verschulden
allzu schnell zu verlieren.
a) Hauptfall eines personenbedingten Kündigungsgrundes ist die Krankheit des AN.
(1) Im Fall einer Langzeiterkrankung, kommt es für die Feststellung eines kündigungsrelevanten Störungstatbestandes zum einen auf die Art der Erkrankung sowie auf die Dauer der bisher aufgelaufenen
Fehlzeiten an, die ein gewichtiges Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit des AN bilden.
Zum anderen muss die anhaltende Arbeitsunfähigkeit des AN zu einer erheblichen Belastung der betrieblichen Interessen geführt haben und weiter führen, regelmäßig in Gestalt von Betriebsablaufstörungen. Dabei kommt es u. a. auf die Bedeutung des Arbeitsplatzes für den Betrieb an und darauf, ob
es für den ArbG möglich und wirtschaftlich tragbar ist, Überbrückungsmaßnahmen zu ergreifen. Als
solche kommen z.B. die Beschäftigung von Ersatzpersonal, die Schaffung von Vertretungsmöglichkeiten und die Vornahme organisatorischer Umstellungen in Betracht (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 133).
(2) Im Regelfall ungleich störender als die Langzeiterkrankung eines AN sind häufige Kurzerkrankungen. Dies gilt vor allem für kleinere Betriebe, für die das Vorhalten einer Personalreserve, die solche Ausfälle abfangen soll, finanziell oft nicht tragbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit einer
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Personalreserve ausgestattete Großbetriebe häufige Kurzerkrankungen großzügiger hinzunehmen hätten.
Für die Feststellung eines kündigungsrelevanten Störungstatbestandes kommt es zum einen auf die Art,
die Häufigkeit und die Dauer der bisher aufgetretenen Erkrankungen an, die die Wiederholungsgefahr indizieren. Zu dem weiteren Erfordernis einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen siehe zunächst vorstehend unter (1). Darüber hinaus sind im Fall häufiger Kurzerkrankungen
bei wiederholten Erkrankungen jeweils unterschiedlicher Ursache Belastungen mit über sechs Wochen
pro Jahr hinausgehenden Entgeltfortzahlungskosten von Bedeutung. Erhebliche Beeinträchtigungen
können ferner aus Störungen im Produktionsablauf folgen, insbesondere bei Arbeit in der Gruppe, ferner aus der wiederholt vorübergehenden Beschäftigung von Aushilfskräften, aus der Enttäuschung von
Kunden über Verzögerungen, aus dem Verlust von Kundenaufträgen und dem Unfrieden in der Belegschaft infolge wiederholter Vertretungsnotwendigkeiten sowie der Durchführung von Überarbeit (über
die regelmäßige betriebliche Arbeitszeit hinaus) oder Mehrarbeit (über die regelmäßige gesetzliche
Arbeitszeit hinaus) (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn 140).
Gerade häufige Kurzerkrankungen nähren den Verdacht, dass sich der AN gehen lässt und es sich angewöhnt hat, jeder kleinen Unpässlichkeit nachzugeben oder gar ganz bewusst gelegentlich „seine
Grippe zu nehmen“. Insoweit befindet sich dieser Störungstatbestand in einer Grauzone zwischen einem personenbedingten und einem verhaltensbedingten Kündigungsgrund. Letzterer würde als
regelmäßig schuldhafte Pflichtverletzung eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gerade nicht voraussetzen; siehe nachfolgend unter IV. In diesen Fällen gelingt es jedoch nur selten, die
Schuldfrage zu klären. Bemerkenswert ist allerdings die häufig anzutreffende Erkenntnis, dass ein
ernstes Gespräch des ArbG mit dem AN darüber, wie es in Zukunft weitergehen soll, oft Wunder
wirkt. Zu der entsprechenden Problematik im Fall der Minderleistung des AN siehe nachfolgend unter
b).
(3) Wie im Fall von Eignungsmängeln (nachfolgend unter b) ist im Fall krankheitsbedingter Minderung der Leistungsfähigkeit der kündigungsrelevante Störungstatbestand einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen eingetreten, wenn die Arbeitsleistung in dem Maße hinter den
berechtigten Erwartungen des ArbG zurückbleibt, dass sie in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis mehr zur Entlohnung steht. Von einer schweren Störung im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung kann bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 gegenüber der durchschnittlichen
Leistung vergleichbarer AN gesprochen werden.
(4) Im Fall krankheitsbedingt dauernder Leistungsunfähigkeit wird der kündigungsrelevante Störungstatbestand einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen aus der Tatsache abgeleitet, dass dem AN die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit unmöglich geworden ist.
(5) Leistungsausfälle infolge von Alkohol- und Drogensucht erfüllen den Tatbestand der Krankheit.
Sie sind personenbedingte Kündigungsgründe, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt haben und weiter führen. Es finden vor allem die für Langzeiterkrankungen geltenden Maßstäbe Anwendung (vorstehend unter (1)). Hinzu kommt, dass die Tätigkeit des AN
mit Gefahren für ihn selbst und Dritte verbunden ist. Da der ArbG stets befürchten muss, dass der AN
nicht nüchtern ist, ist er auf seinem Arbeitsplatz kaum mehr einsetzbar.
b) Fachliche Eignungsmängel körperlicher und/oder geistiger Art, die sich z.B. durch unzureichende
Kenntnisse, Fertigkeiten oder Fähigkeiten sowie das Nichtbestehen von Prüfungen bemerkbar machen,
sind ein personenbedingter Kündigungsgrund. Sie führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der
betrieblichen Interessen, wenn die Arbeitsleistung in dem Maße hinter der nach ihrer Tätigkeit vergleichbarer AN zurückbleibt, dass sie zu der Entlohnung in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis mehr stehen. Von einem nicht mehr hinnehmbaren Ungleichgewicht kann bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 gegenüber der durchschnittlichen Leistung vergleichbarer AN gesprochen
werden. (Vgl. oben § 26 II. 1. sowie BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02 – in NZA 2004, 784 sowie
BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06 – in NZA 2008, 693). Durch eine sorgfältige Personalauswahl, begleitende Beobachtung und Unterstützung des AN in der Probezeit, ggf. zunächst eine nur befristete
Einstellung, wiederholte Schulungen und eine aufmerksame Personalführung sollte derlei vermieden
werden können.
Auch persönliche Eignungsmängel, vorwiegend charakterlicher Art, können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse führen, etwa in Gestalt von mangelnder Kooperationsfä-
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higkeit, Entscheidungsschwäche, mangelnder Fähigkeit zur Menschenführung, autoritärer Führungsstil, fehlender pädagogischer Befähigung. Hierbei kann es auch zu einer Druckkündigung kommen
(nachfolgend unter i).
Der Eignungsmangel insbesondere in Gestalt der fachlichen Minderleistung kann seine Ursache auch
darin haben, dass der AN seine Leistungsfähigkeit willensgesteuert nicht ausschöpft und sich also
mindestens keine Mühe gibt, wenn nicht gar ganz bewusst langsam und nachlässig arbeitet. Eine dergestalt schuldhafte Pflichtverletzung setzt den AN einer verhaltensbedingten Kündigung aus, die keine
erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen voraussetzt (siehe nachfolgend unter IV.).
Die Grenze zwischen der willensgesteuerten Nachlässigkeit und der unwillentlichen Unfähigkeit
ist jedoch fließend. Überdies gelingt es in diesen Fällen oft nicht, die Schuldfrage zu klären. Anstelle
einer Abmahnung kann jedoch auch ein ernsthaftes Gespräch zwischen ArbG und AN darüber, wie es
in Zukunft weitergehen soll, zu einer Verbesserung der Situation führen. Zu der entsprechenden Problematik im Fall häufiger Kurzerkrankungen des AN siehe vorstehend unter a) (2).
c) Das Lebensalter als solches ist kein personenbedingter Kündigungsgrund, doch kann eine altersbedingte Leistungsminderung bei erheblicher Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen einen personenbedingten Kündigungsgrund bilden. Es gelten die Maßstäbe der krankheitsbedingten Leistungsminderung (vorstehend a (3)).
d) Beschäftigungsverbote wegen rechtskräftiger Versagung des Aufenthaltstitels nach §§ 4 III, 18
AufenthaltsG bilden ohne weiteres einen personenbedingten Kündigungsgrund, weil sie den Einsatz
des AN im Betrieb generell unmöglich machen. Das Fehlen der jeweils erforderlichen Erlaubnis zur
Berufsausübung z.B. als Kraftfahrer (Führerschein), Pilot (Fluglizenz), Arzt (Approbation) macht die
Ausübung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit unmöglich und kann darum ein personenbedingter
Kündigungsgrund sein, wenn der AN nicht anderweitig einsetzbar ist.
e) Die haftbedingte Arbeitsverhinderung bildet, abhängig von der Dauer der Haft sowie von Art
und Ausmaß der daraus folgenden betrieblichen Auswirkungen, einen personenbedingter Kündigungsgrund. Für den Fall einer Untersuchungshaft wird der ArbG den ersten Haftprüfungstermin abwarten
müssen. Auch ohne das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen
können außerhalb des Dienstes begangene Straftaten zu einer personenbedingten Kündigung führen, wenn sie „einschlägig“ sind, weil sie das Arbeitsverhältnis konkret berühren (z.B. Vermögensdelikt eines Bankangestellten, Trunkenheitsfahrt eines Berufskraftfahrers oder Zugführers bei der Bahn,
BTM-Delikt einer Krankenschwester).
f) Der Arbeitsplatzschutz deutscher AN nach § 2 I ArbPlSchG für Wehrübungen wird in Deutschland auch von AN aus einem EU-Staat in Anspruch genommen werden können. Überschreitet der
Wehrdienst eines ausländischen AN, dessen Heimatstaat nicht der EU angehört, den Zeitraum von
zwei Monaten, liegt darin allerdings regelmäßig ein personenbedingter Kündigungsgrund.
g) Glaubens- und Gewissenskonflikte des AN, die ihm übertragenen Arbeiten vertragsgemäß auszuführen, machen die vertraglich geschuldete Tätigkeit des AN unmöglich und können zu einer personenbedingten Kündigung führen, wenn der AN nicht anderweitig einsetzbar ist (oben § 3 III. 3. (2)).
h) Ist der AN bei einem Tendenzunternehmen oder einer Religionsgemeinschaft bzw. kirchlichen Einrichtung (siehe § 118 BetrVG sowie oben § 6 IV. 2. bis 4.) als Tendenzträger beschäftigt, darf der
ArbG von ihm erwarten, sich mit den Zielen des Unternehmens im Wesentlichen zu identifizieren und
durch seine Arbeitsleistung an ihrer Verwirklichung mitzuwirken. Läuft die persönliche Haltung des
AN bzw. die von ihm erbrachte Arbeitsleistung dem Tendenzzweck zuwider, liegt ein personenbedingter Kündigungsgrund vor.
i) Es kommt vor, dass der ArbG einem AN kündigt, weil die Belegschaft, der Betriebsrat oder ein Geschäftspartner dies von ihm unter Ausübung von Druck verlangt. Man spricht in diesem Fall von einer
Druckkündigung. Sofern sich das Entlassungsbegehren bei objektiver Betrachtung auf eine in der
Person oder im Verhalten des AN liegenden Störung der zurückführen lässt, bildet es einen besonderen, an der Person des AN anknüpfenden und darum personenbedingten Kündigungsgrund, wenn es
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dem ArbG trotz intensiver Bemühungen nicht gelingt, dem Druck entgegenzuwirken und die Kündigung das einzige Mittel ist, von dem Betrieb Schaden abzuwenden.
Fehlt es hingegen an einem dem AN zuzurechnenden Anlass für die Drucksituation, kann es nach der
Rechtsprechung des BAG zu einer betriebsbedingten Kündigung kommen. Das gilt insbesondere in
den Fällen, in denen ein Vertragspartner des ArbG den Druck dadurch ausübt, dass er mit Auftragsentzug droht. Entstünden für den ArbG bei Verwirklichung der Drohung schwere wirtschaftliche Schäden, muss der ArbG aus wirtschaftlichen Gründen handeln. Der Kündigungsgrund ist darum seiner
Sphäre zuzuordnen.
2. Zur Geeignetheit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. b).
3. Zur Erforderlichkeit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3. c) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG, im Fall einer krankheitsbedingten Kündigung die Weiterbeschäftigung auf einem „leidensgerechten“ Arbeitsplatz oder die Umgestaltung des
bisherigen Arbeitsbereichs. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll sich im
Einzelfall auch die Verpflichtung des ArbG ergeben können, dem AN vor einer Kündigung die Chance zu bieten, spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um
dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten auszuschließen.
In jedem Fall kommt als der personenbedingten Kündigung spezifisch vorrangige
Maßnahme vor allem in den Fällen häufiger Kurzerkrankungen (Nichtleistung) oder
anhaltender Minderleistung bzw. wiederholter Schadensfälle (Schlechtleistung) ein
klärendes Gespräch in Betracht, in dem der ArbG auf den Störungstatbestand hinweist und mit dem AN Maßnahmen zur Abhilfe bespricht. Da in diesen Fällen nicht
auszuschließen ist, dass der AN sich nur einfachen gehen lässt, kann ein solches Gespräch Wunder wirken.
Von besonderer Bedeutung ist es, vor jeder krankheitsbedingten Kündigung das in
§ 84 II SGB IX beschriebene betriebliche Eingliederungsmanagement durchzuführen, und zwar unabhängig davon, ob der AN behindert ist oder nicht (BAG v. 12.7.07
– 2 AZR 716/06 – in NZA 08, 173; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 – in NJW
2015, 1979 mit zustimmender Anm. von Kock a.a.O.). Es ist Sache des ArbG, hierzu
die Initiative zu ergreifen. Zu den erforderlichen Aktivitäten siehe § 84 II SGB IX
und die ausführliche Darstellung im Urteil des BAG v. 20.11.2014 a.a.O. Rn.30 ff.
Im Fall von Alkohol- oder Drogensucht soll von einer negativen Prognose nur ausgegangen werden dürfen, wenn der AN eine Entziehungskur ablehnt oder eine derartige Maßnahme sich als erfolglos erweist.
4. Zur Angemessenheit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3 d).
Da krankheitsbedingte Störungen zumeist vorübergehender Natur sind, kommt dem
unter II. 3. d) (1) aufgeführten Gesichtspunkt, dass die nach Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne eintretende Wiederherstellung des AN die Angemessenheit der Kündigung entfallen lässt, besondere Bedeutung zu. Er spielt eine entscheidende Rolle für die negative Zukunftsprognose
(siehe oben unter II. 3. a)).
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Überdies kann dem AN eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen Gründen zugute kommen (oben unter II. 3. d) (2).
Lehnt ein alkoholabhängiger AN eine Entziehungskur bzw. Therapie ab, kann der ArbG in aller Regel
davon ausgehen, dass der AN von seiner Alkoholkrankheit in absehbarer Zeit nicht geheilt sein wird
(BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 565/12 – in ArbRB 2014, 165).
IV. Der verhaltensbedingte Kündigungsgrund
1. Der an sich geeignete Störungstatbestand
Wie der personenbedingte, so entstammt auch der verhaltensbedingte Kündigungsgrund der Sphäre des AN und erfordert das Vorliegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses durch eine Pflichtverletzung in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung.
Im Gegensatz zum personenbedingten Kündigungsgrund ist die Pflichtverletzung hier
aber dadurch gekennzeichnet, dass der AN seine arbeitsvertraglichen Pflichten im
Wesentlichen willensgesteuert verletzt und damit im Regelfall schuldhaft handelt.
Darin liegt eine Pflichtverletzung nicht nur im objektiven, sondern zugleich im
subjektiven Sinne.
Da die verhaltensbedingte Kündigung grundsätzlich ein Verschulden des AN voraussetzt, liegt in der anlassgebenden Nicht- oder Schlechtleistung anders als im Fall
der personenbedingten Kündigung selbst dann ein an sich geeigneter Kündigungsgrund, wenn die Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen noch nicht erheblich ist. Geringe Schuld des AN kann allerdings bei der Prüfung der Frage, ob die
Kündigung im Sinne des Verhältnismäßigkeits-Prinzips angemessen ist, eine Rolle
spielen.
Typische Fälle verhaltensbedingter Kündigungsgründe sind unentschuldigtes Fehlen, Unpünktlichkeit, Erledigung privater Angelegenheiten während des Dienstes, Surfen im Internet zu privaten
Zwecken; Bummelei infolge Überziehens der Pausen, Zeitunglesens, Computerspielens und ausgedehnter privater Telefonate; eigenmächtiges Verlassen des Arbeitsplatzes, Verletzung eines betrieblichen Alkohol- oder Rauchverbots, Missachtung von Weisungen, unsorgfältiges Arbeiten, Störung des
Betriebsfriedens, aufdringliche Werbung für Parteien, Religionsgemeinschaften und Sekten, schadenstiftendes Verhalten, Verrat von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen, Beleidigung von Arbeitskollegen, sexuelle Belästigung von Mitarbeitern.
Aus der Sicht des ArbG kann es geboten sein, neben einer verhaltensbedingten Kündigung zugleich
eine entsprechende (ordentliche) Verdachtskündigung auszusprechen für den Fall, dass der Gekündigte die vom ArbG behauptete/n Pflichtverletzung/en beharrlich bestreitet, den dringenden Tatverdacht jedoch nicht entkräften kann. BAG 21.11.13 – 2 AZR 797/11 – ArbR 14, 101/ArbRB 14, 71
Eine Verdachtskündigung kommt in Betracht, wenn Tatsachen den dringenden Verdacht belegen,
dass der AN eine Pflichtverletzung begangen hat, die im Falle ihrer Erweislichkeit eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen würde. Sie ist jedoch nur wirksam, wenn der ArbG alle zumutbaren
Anstrengen zur (allerdings vergeblichen) Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere
dem AN im Wege der Anhörung die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verdachtskündigung kommt es entgegen dem Normalfall der Kündigung (oben § 30 II. 4.) nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung
beim AN, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Kündigungsschutzprozess an, auf deren Grundlage das Urteil ergeht. Wird der dringende Tatverdacht noch bis zu diesem
Zeitpunkt ausgeräumt, gewinnt der AN seinen Prozess. Stellt sich die Haltlosigkeit des Verdachts erst
danach heraus, kann der AN vom ArbG Wiedereinstellung verlangen, sofern sein Arbeitsplatz noch
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verfügbar ist. Mindestens hat der AN Anspruch auf eine entsprechende Ehrenerklärung in der Form eines Zeugnisses oder in sonst wie geeigneter Weise.
2. Zur Geeignetheit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. b).
3. Zur Erforderlichkeit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall
siehe schon oben unter II. 3. c) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen
Arbeitsplatz seines ArbG.
Weil der AN sein Verhalten im Grundsatz willensmäßig steuern kann, ist eine verhaltensbedingte Pflichtverletzung im Regelfall nur dann kündigungsrelevant, wenn auch
künftige Störungen zu besorgen sind. Darum kommt als der verhaltensbedingten
Kündigung spezifisch vorrangige Maßnahme die Abmahnung des AN wegen der
störenden Pflichtverletzung in Betracht mit der Folge, dass die Kündigung erst im
Wiederholungsfall als das zur Beseitigung der Störung erforderliche Mittel infrage
kommt, wenn nicht zunächst einmal eine weitere Abmahnung geboten sein sollte oder eine Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG
(dazu schon oben unter II. 3. b) die eingetretene Störung beseitigen kann.
Um ihre Funktion erfüllen zu können, muss die Abmahnung drei Elemente enthalte: (a) die Beanstandung einer Pflichtverletzung, (b) die Aufforderung, sich künftig vertragsgemäß zu verhalten und (c)
die Warnung vor der möglichen Konsequenz in Gestalt einer Kündigung im Falle einer erneuten
Pflichtverletzung vergleichbarer Art. Sie sollte schriftlich ausgesprochen und zur Personalakte genommen werden. Eine unberechtigte Abmahnung darf der AN in entsprechender Anwendung des §
1004 BGB aus der Personalakte entfernen lassen (oben § 3 III. 3. (1).
Einer vorangehenden Abmahnung bedarf es dann nicht, wenn von vornherein feststeht, dass sie die eingetretene Störung nicht beseitigen kann; denn sie ist dann kein
gegenüber der Kündigung geeignetes milderes Mittel. So etwa im Fall einer Pflichtverletzung, die das Vertrauensverhältnis zwischen ArbG und AN auf Dauer belastet.
Neben dem ArbG ist jeder zur Abmahnung berechtigt, der dem Betroffenen gegenüber weisungsberechtigt ist oder vom ArbG hierzu bevollmächtigt wurde. Die Abmahnung unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrates.
4. Zur Angemessenheit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall
siehe schon oben unter II. 3. d).
Dass die verhaltensbedingt eingetretene Störung nach Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne ohne eine Kündigung von alleine entfällt und es darum an der Angemessenheit fehlt, dürfte kaum vorkommen
Immer noch kann dem AN aber eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen
Gründen zugutekommen.
V. Der betriebsbedingte Kündigungsgrund
1. Der an sich geeignete Störungstatbestand
Das Gesetz bezeichnet die betriebsbedingte Kündigung als „durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt.“ Der Kündigungsgrund entstammt insoweit der Sphä-
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re des ArbG, als er einer betrieblichen Umgestaltung Rechnung trägt, die der ArbG
in Ausübung seiner Leitungsfunktion für notwendig erachtet.
a) Im Regelfall geht es darum, dass der ArbG sich dazu entschließt
 entweder als Reaktion auf wirtschaftliche Probleme, wie sie infolge von Auftrags- oder Rohstoffmangel, Absatzschwierigkeiten oder Kreditrestriktionen entstehen können
 oder als reiner Gestaltungsakt zur Verwirklichung seiner betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse, Vorstellungen oder Absichten
sich dazu entschließt, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, deren Vollzug den Beschäftigungsbedarf verringert, etwa durch die Umstellung, Einschränkung oder Einstellung von Produktionsbereichen oder die Auflösung von Abteilungen
bis hin zur Stilllegung des Betriebs, auf Grund von Rationalisierungsmaßnahmen
durch den Einsatz personalsparender Maschinen, der Einführung neuer Fertigungsmethoden, der Straffung der Arbeitsabläufe, der Leistungsverdichtung, des Abbau von
Hierarchieebenen, der Auslagerung von Tätigkeiten usw. Hierdurch entfallende Beschäftigungsmöglichkeiten führen nach § 615 BGB zu „Lohn ohne Arbeit“. Der darin
liegende Störungstatbestand des Arbeitskräfteüberhangs wird kündigungsrelevant, sobald die Organisationsentscheidung „greifbare Formen“ angenommen hat.
Eine das Arbeitsverhältnis beendigende Kündigung, durch die bei Fortbestand der Arbeitsplätze lediglich teures Personal entlassen werden soll, um es durch die Neueinstellung billigerer Arbeitskräfte zu
ersetzen, ist eine unzulässige Austauschkündigung. Eine Entgeltkürzung kann allerdings im Wege
einer betriebsbedingten Änderungskündigung herbeigeführt werden. Das setzt jedoch voraus, dass andernfalls der Abbau von Arbeitsplätzen oder gar die Stilllegung des Betriebs droht (unten § 34).
Keine unzulässigen Austauschkündigungen sind betriebsbedingte Kündigungen, die als Folge der Entscheidung des ArbG ausgesprochen werden, bisher von seinen AN wahrgenommene Tätigkeiten
künftig durch andere Unternehmer ausführen zu lassen. Ist der mit der Wahrnehmung dieser Tätigkeiten beauftragte Unternehmer reiner Nachfolger in der Funktion, liegt ein Betriebsübergang im
Sinne des § 613a BGB, der betriebsbedingte Kündigungen beim Auftraggeber hindern würde, nicht
vor (unten § 40 I. 5.). Überträgt der ArbG die Erledigung solcher Aufgaben aber künftig auf Leih-AN,
tragen deswegen gegenüber seinem Stammpersonal ausgesprochene betriebsbedingte Kündigungen
den Charakter unzulässiger Austauschkündigungen. Um derlei von vornherein zu begegnen, ist der Betriebsrat des Entleihbetriebs nach § 14 III AÜG vor dem Einsatz eines Leih-AN nach § 99 BetrVG zu
hören und kann nach § 99 II Nr. 3 BetrVG die Zustimmung zur Entleihe verweigern.
Die unternehmerische Entscheidung darf sich nicht allein in der Kündigung erschöpfen. Die Kündigung muss sich vielmehr als Folge einer innerbetrieblichen Organisationsaktes erweisen, andernfalls es an der Betriebsbedingtheit der Kündigung
fehlt. Es reicht auch nicht, sie nur mit Schlagworten, wie „wegen Auftragsmangels“,
„aus Rationalisierungsgründen“ oder „wegen des Abbaus von Produktionskapazitäten“ zu erklären. Im Kündigungsschutzprozess jedenfalls muss der ArbG im Einzelnen darlegen, welche außer- oder innerbetrieblichen Umstände zu welcher Organisationsmaßnahme geführt haben und wie sie sich auf die Beschäftigungsmöglichkeiten auswirkt.
Auf ihre wirtschaftliche Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit hingegen soll die
unternehmerische Entscheidung nicht überprüft werden dürfen. Als Grund hierfür wird hauptsächlich angeführt, dass es nicht Aufgabe der Arbeitsgerichte ist, dem
ArbG eine „bessere“ oder „richtigere“ Unternehmenspolitik vorzuschreiben. Nur um
groben Rechtsmissbrauch zu verhindern, soll es geboten sein, die Unternehmerent-
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scheidung daraufhin zu überprüfen, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist (BAG v. 26.9.2002 – AZR 636/01 – in NZA 2003, 549). Insoweit
allerdings trifft im Grundsatz den AN im Kündigungsschutzprozess die Last, derlei
Umstände darzulegen und zu beweisen (BAG v. 23.4.08 – 2 AZR 1110/06 – in NZA
2008, 939).
Der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit bedeutet immer eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse. Da es dem ArbG nicht zuzumuten ist,
die unproduktive Zahlung von Lohn ohne Arbeit aus sozialen Erwägungen auf Dauer
hinzunehmen, kennt die betriebsbedingte Kündigung auch keine zusätzliche allgemeine Interessenabwägung zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen. An ihre
Stelle tritt die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG unter den AN, die durch vergleichbare Arbeitsplätze gleichermaßen kündigungsbedroht sind (unten § 31).
Der betriebsbedingte Wegfall eines oder mehrerer Arbeitsplätze führt damit nicht zwangsläufig zur
Kündigung genau des oder der AN, die auf eben diesen Arbeitsplätzen beschäftigt sind. Der ArbG ist
vielmehr verpflichtet, unter all den AN, die auf vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigt sind, im
Wege der Sozialauswahl denjenigen oder diejenigen zu ermitteln, dem bzw. denen die Kündigung am
ehesten zugemutet werden kann. Bei der Auswahl hat der ArbG die Dauer der Betriebszugehörigkeit,
das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des AN zu berücksichtigen und ggf. nach den Vorgaben einer Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVerfG (siehe auch §§ 1 II Satz 2 Nr.1a,
IV KSchG) - zu gewichten (unten § 31).
b) Fälle einer betriebsbedingten Kündigung, die nicht auf die Beseitigung eines
Arbeitskräfteüberhangs gerichtet sind, liegen in der Änderungskündigung zur Entgeltkürzung wegen wirtschaftlicher Existenzgefährdung des Betriebs, ferner in der
Kündigung eines AN, für dessen Einstellung der Betriebsrat die Zustimmung nach §
99 II BetrVG verweigert hat sowie ggf. in der Druckkündigung (dazu oben III. 1. i.)).
2. Zur Geeignetheit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. b).
3. Zur Erforderlichkeit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
schon oben unter II. 3. c) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG.
Darüber hinaus kommt als der betriebsbedingten Kündigung spezifisch vorrangige
Maßnahme der Abbau von Überstunden und Leiharbeit, bei hohem Arbeitskräfteüberhang auch die Einführung von Kurzarbeit in Betracht, obwohl diese Maßnahme
ausschließlich der vorübergehenden Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit zu
dienen bestimmt ist.
4. Zur Angemessenheit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. d).
Kann der ArbG nur einen Teil der AN, die betriebsbedingt gekündigt werden sollen, auf freien Stellen
weiterbeschäftigen, hat er zum Zwecke ihrer Besetzung analog § 1 III KSchG eine Sozialauswahl
durchzuführen (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 253).
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VI. Die Prüfungsschritte
Um annähernd sicherzustellen, dass die Kündigung eines AN vom Arbeitsgericht
nicht mangels sozialer Rechtfertigung für rechtsunwirksam erklärt wird, müssen vor
Ausspruch der Kündigung folgende Fragen geklärt werden:
1. Liegt ein im Sinne des § 1 II KSchG legitimer, als solcher geeigneter personen-,
verhaltens- oder betriebsbedingter Kündigungsgrund wirklich vor?
2. Berechtigten die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Verhältnisse bei objektiver
Betrachtung zu der negativen Prognose,
a) dass der Störungstatbestand nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt (= die
Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses geeignete Mittel),
b) dass dem ArbG vor Ablauf der Kündigungsfrist nicht ein milderes Mittel als das
der Kündigung zur Verfügung steht, den Störungstatbestand zu beseitigen (= die
Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Mittel),
c) dass der Störungstatbestand nicht innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme
der Störung noch zumutbaren Zeitspanne nach dem Ablauf der Kündigungsfrist ohne
die Kündigung entfällt oder dem ArbG in diesem Zeitraum ein milderes Mittel zur
Beseitigung des Störungstatbestandes nicht verfügbar sein wird (= die Kündigung
ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses angemessene Mittel)?
3. Gibt es in den Fällen der personen- oder verhaltensbedingten Kündigung aufgrund einer sozialen Interessenabwägung zwischen dem ArbG und dem AN Gründe, aufgrund derer dem ArbG zuzumuten ist, die eingetretene Beeinträchtigung der
betrieblichen Interessen als das gegenüber dem Arbeitsplatzverlust des AN kleinere
Übel hinzunehmen (= ist die Kündigung das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses angemessene Mittel)?
4. Hat in dem Fall einer betriebsbedingten Kündigung statt einer allgemeinen Interessenabwägung zwischen dem ArbG und dem AN eine korrekte Sozialauswahl
unter den kündigungsbedrohten AN nach Maßgabe von § 1 III, IV KSchG stattgefunden?
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§ 31 Die Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung
I. Die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG
Nachdem feststeht, dass aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung ein Arbeitskräfteüberhang besteht, geht es bei der Sozialauswahl darum, zu ermitteln, welchem/welchen
konkreten AN es am ehesten zugemutet werden kann, betriebsbedingt gekündigt zu werden. Hierbei bedarf es zum einen der Feststellung, welche AN in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, und zum anderen der Ermittlung und Gewichtung ihrer Sozialdaten.
Hierzu haben Gesetzgebung und Rechtsprechung eine Reihe von Kriterien festgelegt.
1. Von der Sozialauswahl ausgenommen sind AN, deren ordentliche Kündigung durch
Gesetz ausgeschlossen ist.
Befristet beschäftigte AN fallen nur dann in die Sozialauswahl, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen
Kündigung einzelvertraglich oder durch Tarifvertrag vereinbart ist (§ 15 III TzBfG).
Nach h.M. sollen auch AN, deren ordentliche Kündigung durch Tarifvertrag oder
Arbeitsvertrag ausgeschlossen ist, nicht in die Sozialauswahl einbezogen sein. Der hierin liegende Verstoß gegen die zwingende Auswahlanordnung des § 1 III KSchG lässt
sich allerdings nicht mit dem Günstigkeitsprinzip rechtfertigen. Zwar stellt er den unkündbaren AN günstiger, als er bei Anwendung des § 1 III KSchG stünde, doch belastet
seine Herausnahme aus der gesetzlichen Verteilungsregelung zugleich den Rest der kündigungsbetroffenen AN.
2. Die Sozialauswahl erstreckt sich auf alle AN des Betriebs, auch wenn der Arbeitskräfteüberhang nur in einer von mehreren Abteilungen dieses Betriebs auftritt. Maßgebend ist der oben § 30 I. dargestellte Betriebsbegriff. AN in anderen Betrieben desselben
Unternehmens werden in die Sozialauswahl nicht einbezogen.
3. Die Sozialauswahl ergreift aber nur diejenigen AN des kündigungsbedrohten Betriebes, die auf dergestalt vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigt sind, dass der AN, dessen Arbeitsplatz wegfällt, auf einen dieser Arbeitsplätze aufgrund arbeitgeberseitiger Weisung (und nicht erst im Wege einer Änderungskündigung) versetzt werden
könnte und der Versetzte nach Fähigkeit und Qualifikation in der Lage wäre, die Tätigkeit des anderen AN zu übernehmen.
Es handelt sich um eine horizontale Vergleichbarkeit auf derselben Hierarchieebene, sofern nicht der Arbeitsvertrag ausdrücklich andere Einsatzmöglichkeiten vorsieht. AN mit einem weiten Einsatzbereich können sich im Fall einer betriebsbedingten Kündigung auf einen entsprechenden weiten Kreis von in die Sozialauswahl einzubeziehender AN berufen. Ist ein AN nur für eine ganz bestimmte Aufgabe eingestellt
worden, die wegfällt, kommt es mangels vergleichbarer Arbeitsplätze zu gar keiner Sozialauswahl.
3. § 1 III 1 KSchG enthält eine abschließende Aufzählung von vier Sozialdaten, die
der ArbG bei seiner Auswahl berücksichtigen muss: Er hat die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung der vergleichbaren AN des Betriebes zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen. Andere positive oder negative Kriterien dürfen keine Rolle spielen, wie etwa der Mitverdienst des
Ehegatten oder anderer Familienangehöriger, die Vermögensverhältnisse des AN, seine
Berufsaussichten, personen- und verhaltensbedingte Gründe oder Leistungsgesichtspunkte außerhalb von § 1 III 2 KSchG.
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Übrigens: Die in § 1 III 1 KSchG vorgesehene Berücksichtigung des Lebensalters als Sozialdatum stellt
zwar eine an das Alter anknüpfende unterschiedliche Behandlung dar, ist jedoch nach § 10 S. 1, 2 AGG
gerechtfertigt (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361).
Mangels eines allgemein verbindlichen Maßstabs für die Gewichtung der vorgeschriebenen Sozialdaten besitzt der ArbG einen Beurteilungsspielraum, den er nur dann verletzt,
wenn er einen dieser Gesichtspunkte überhaupt nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, so dass seine Entscheidung als nicht mehr vertretbar bezeichnet werden muss. Um
Transparenz zu schaffen, bedient sich der ArbG häufig eines eigenen Punkteschemas.
Zum Beispiel 3 Punkte pro Jahr der Betriebszugehörigkeit, 1 Punkt pro Lebensjahr, 10 Punkte pro unterhaltspflichtige Personen, 5 Punkte bei einem Behinderungsgrad von 50 und 1 weiterer Punkt für weitere 10
Gradeinheiten.
Nach § 1 III 1 HS. 2 KSchG hat der ArbG dem AN auf dessen Verlangen die Gründe anzugeben, die zur
getroffenen Sozialauswahl geführt haben. Aus § 242 BGB folgt, dass die Auskunft wie im Fall des § 626
II 3 BGB unverzüglich und schriftlich zu erteilen ist. Kommt der ArbG diesem Verlangen nicht oder nur
unzureichend nach, ist der AN von der ihn nach § 1 III 3 KSchG treffenden Darlegungs- und Beweislast
befreit. Außerdem könnte der ArbG dem AN nach § 280 I BGB wegen nutzlos aufgewendeter Prozesskosten schadensersatzpflichtig werden.
4. Nach § 1 III 2 KSchG darf der ArbG bestimmte AN von der Sozialauswahl ausnehmen. Dabei geht es zum einen um Leistungsträger, auf die der ArbG im betrieblichen
Interesse in besonderem Maße angewiesen ist. Zum anderen geht es um die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur in Gestalt eines gesunden Altersaufbaues der Belegschaft, der gerade bei Massenentlassungen (§§ 17 ff. KSchG) erheblich verzerrt werden kann.
5. Nach § 1 IV KSchG kann in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung
nach § 95 BetrVG festgelegt werden, wie die vier sozialen Gesichtspunkte des § 1 III 1
KSchG im Verhältnis zueinander zu bewerten sind. Auch hier wird meist mit Punkteschemata gearbeitet. Die vereinbarten Festlegungen können vom Arbeitsgericht nur auf
grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Das setzt aber voraus, dass sie jegliche Ausgewogenheit vermissen lassen.
Verstößt die Kündigung des ArbG gegen eine Richtlinie nach § 95 BetrVG, hebt § 1 II 2 Nr.1a KSchG
hervor, dass sie ohne weiteres rechtsunwirksam ist.
6. Kommt es bei Kündigungen aufgrund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG
dazu, dass die AN, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen ArbG und Betriebsrat nach § 112 I 1 BetrVG namentlich benannt werden, so
wird nach § 1 V KSchG vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 II KSchG bedingt ist. Die darin vorgenommene Sozialauswahl der AN kann
wie im Fall des § 1 IV KSchG
nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden, was dann voraussetzt, dass sie jegliche Ausgewogenheit vermissen lässt.
Da der individuelle Kündigungsschutz der betroffenen AN dadurch in starkem Maße beeinträchtigt wird,
verweigert der Betriebsrat häufig seine Mitwirkung an der Aufstellung solcher Namenslisten, es sei denn,
dass der ArbG in dem auf der Grundlage des Interessenausgleichs abzuschließenden Sozialplan großzügige
Abfindungen zusagt.
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§ 32 Der Abfindungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung
Mit der in § 1a KSchG getroffenen Regelung will der Gesetzgeber eine leichtere Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei betrieblicher Kündigung erreichen.
Sofern der ArbG in der Kündigungserklärung darauf hinweist,
 dass die Kündigung auf dringende betriebliche Erfordernissen gestützt ist
 und der AN bei Verstreichenlassen der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG die in § 1a II
KSchG vorgesehene Abfindung beanspruchen kann,
steht dem AN, der keine Kündigungsschutzklage erhoben hat, mit dem Ablauf der Kündigungsfrist ein Abfindungsanspruch in Höhe eines halben Monatsverdienstes für jedes
Beschäftigungsjahr im Sinne des § 1a II 3 KSchG zu.
Bei der Berechnung des Monatsverdienstes ist entsprechend § 10 III KSchG vom Bruttoarbeitsentgelt einschließlich aller Zulagen und einem Zwölftel evtl. zu beanspruchender Gratifikationen, wie Weihnachtsund Urlaubsgeld, auszugehen. Überstundenvergütungen bleiben außer Betracht.
Eine Anrechnung auf das Arbeitslosengeld nach § 158 SGB III entfällt, wenn der ArbG
die nach Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag geltende Kündigungsfrist eingehalten hat. Der gegenüber einem Aufhebungsvertrag entscheidende Vorteil der Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 1a KSchG liegt darin, dass es für den
AN nicht zu einer Sperrzeit nach § 159 I 2 Nr. 1 SGB III kommt; denn die bloße
Hinnahme einer Kündigung ist kein versicherungswidriges Verhalten.
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§ 33 Die außerordentlicher Kündigung nach § 626 BGB
I. Die gesetzliche Grundlage
Nach § 626 I BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem
Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, „wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des
Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zum vereinbarten Ende
des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.“
Wie oben (unter § 28 IV. 1.) betont, geht es auch an dieser Stelle mit Blick auf den Schutz des AN vor einer Kündigung, die den von Rechtslehre und Rechtsprechung konkretisierten gesetzlichen Anforderungen
nicht genügt, nur um die Kündigung durch den ArbG. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den
AN wird unter § 41 behandelt.
II. Das zweistufige Prüfungsverfahren
1. Um die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung fassbar zu machen, ist es
geboten, wie bei der ordentlichen Kündigung nach Maßgabe von § 1 II KSchG so auch
hier ein zweistufiges Prüfungsverfahren anzuwenden, bei dem die Prüfung der Legitimität des Kündigungsgrundes von der Prüfung der Legitimität der Kündigung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips getrennt wird (oben § 30 II. 2.). Allerdings
nötigt die besondere Struktur des § 626 I BGB zu Abweichungen von dem für die ordentliche Kündigung dargestellten Schema. Das zeigt sich unter anderem darin, dass in die
Prüfung der Erforderlichkeit der Kündigung bereits Elemente der Angemessenheit der
Kündigung einfließen können (nachfolgend unter IV. 3.).
2. Nach dem zweistufigen Prüfungsverfahren ist zunächst einmal festzustellen, ob ohne
Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles und die Abwägung der Interessen beider
Vertragsteile überhaupt ein „wichtiger Grund an sich“ als legitimer Anlass dafür vorliegt, die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses als im Grundsatz geeignetes Mittel
zur Beseitigung der eingetretenen Störung in Erwägung zu ziehen. § 626 I BGB definiert
den (als solchen geeigneten) wichtigen Grund mit dem Vorliegen von „Tatsachen…, auf
Grund derer dem Kündigenden…die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zum vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses nicht
zugemutet werden kann.“ Damit bezieht das Gesetz das für die Abwägung entscheidende Element der Zumutbarkeit bereits in die Definition des wichtigen Grundes ein. Um
aus diesem Tatbestand den „an sich geeigneten wichtigen Grund“ als den anlassgebenden
Ausgangspunkt für eine außerordentliche Kündigung als gesonderten Gesichtspunkt herausarbeiten zu können, ist es geboten, den wichtigen Grund als einen Störfall zu begreifen, der das Arbeitsverhältnis bei objektiver, vom Einzelfall losgelöster Betrachtung so schwer belastet, dass der Gesetzgeber dem ArbG zum Schutz der betrieblichen Interessen die Möglichkeit eröffnet, die Störung durch die sofortige Beendigung
des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen.
3. Ob aber der konkrete ArbG in der konkreten Situation von dieser Möglichkeit
auch wirklich Gebrauch machen darf, ist damit noch nicht gesagt. Von Extremfällen
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abgesehen, gibt es keine absoluten, unbedingten Kündigungsgründe. Jeder Fall liegt anders.
Mit den Worten des § 626 I BGB kommt es mithin darauf an, ob „dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen
beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann“. Aus der hiernach geforderten Zumutbarkeitsprüfung folgt die
Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips. Danach muss sich die Kündigung als
das sowohl geeignete als auch erforderliche und darüber hinaus angemessene Mittel erweisen, die im Kündigungsgrund liegende Störung des Arbeitsverhältnisses mit sofortiger Wirkung zu beseitigen. Seine Anwendung kann dazu führen, dass die besonderen
Umstände des Einzelfalles und die Abwägung der Interessen beider Vertragsteile eine
weniger gravierende Reaktion des ArbG gebieten.
III. Der an sich geeignete wichtige Grund im Einzelnen
1. Zur weiteren Konkretisierung des wichtigen Grundes ist es nützlich, in Anlehnung an
§ 1 II KSchG nach dem Bereich zu unterscheiden, dem der Kündigungsgrund entstammt (Krause, § 12 Rn.12).
Hierbei wird deutlich, dass ein personenbedingter oder betriebsbedingter Grund selten von solchem Gewicht ist, statt einer ordentlichen eine außerordentliche Kündigung
zu rechtfertigen. In der Praxis kommt eine außerordentliche Kündigung aus personenoder betriebsbedingtem Grund zumeist nur dann in Betracht, wenn die ordentliche Kündigung kollektiv- oder arbeitsvertraglich ausgeschlossen ist, gelegentlich auch schon
dann, wenn über den Zeitrahmen des § 622 II BGB deutlich hinausgehende Kündigungsfristen gelten oder eine entsprechend lange Vertragsdauer vereinbart worden ist.
Die außerordentliche Kündigung darf allerdings nicht zu einem Instrument werden, die Vereinbarungen
über den Ausschluss der ordentlichen Kündigung, über die Kündigungsfrist oder die Vertragsdauer ohne
weiteres zu unterlaufen. An die Beurteilung des wichtigen Grundes ist darum in diesen Fällen ein besonders strenger Maßstab anzulegen.
2. Den Schwerpunkt der außerordentlichen Kündigung bilden verhaltensbedingte Kündigungsgründe. Dabei geht es um schwerwiegende, im Regelfall schuldhafte Pflichtverletzungen in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung. entweder im Leistungsbereich
der §§ 611, 241 I BGB als Folge der Verletzung der Arbeitspflicht oder im Verhaltensbereich des § 241 II BGB als Folge der Verletzung der betrieblichen Ordnung, die nicht
nur zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, sondern
auch und gerade zu einer nachhaltigen Erschütterung des persönlichen Vertrauens
zwischen ArbG und AN geführt hat.
a) Typische Beispiele sind die Nichterfüllung der Arbeitspflicht in Gestalt z.B. des eigenmächtigen Urlaubsantritts, der eigenmächtigen Urlaubsüberschreitung, der Androhung einer Krankmeldung, um z.B. eine Urlaubsverlängerung zu erreichen; der beharrlichen Arbeitsverweigerung, der fortgesetzten Missachtung
von Weisungen, des Verstoßes gegen ein Wettbewerbsverbot sowie die Schlechterfüllung von Verhaltenspflichten, z.B. durch Mobbing, sexuelle Belästigung, körperliche Auseinandersetzungen, politische
Hetze, Kundgabe ausländerfeindlicher Parolen, insbesondere strafbares Handeln, wie grobe Beleidigung
(Werturteil) des ArbG, seiner Vertreter oder von Arbeitskollegen, ferner üble Nachrede (Behauptung einer
ehrenrührigen Tatsache, die nicht erweislich wahr ist) oder Verleumdung (Behauptung einer unwahren ehrenrührigen Tatsache wider besseres Wissen), Missbrauch von Einrichtungen der Anwesenheitskontrolle,
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Vortäuschen von Krankheit, Anstellungsbetrug, Spesenbetrug, Annahme von Schmiergeld (auch wenn keine „Gegenleistung“ erbracht wird), Diebstahl oder Unterschlagung im Betrieb, Veruntreuung von Betriebsvermögen, Verrat von Geschäftsgeheimnissen.
b) Eine vom AN gegen den ArbG sowie Vorgesetzte oder Mitarbeiter erstattete Anzeige bei einer Behörde („Whistleblowing“ = „Verpfeifen“) ist ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung bei wissentlich oder leichtfertig falschen Angaben oder dann, wenn sie als eine unverhältnismäßige Reaktion des Anzeigenden zu qualifizieren ist, etwa wegen seiner zweifelhaften Motivation oder weil die Möglichkeit innerbetrieblicher Abhilfe besteht. Nach dem Urteil des EGMR v. 21.7.2011 – 28274/08 – in NZA 2011, 1269, der
stark auf das Recht der Meinungsfreiheit abstellt, soll es neben der einwandfreien Motivation des Hinweisgebers vor allem darauf ankommen, (1) ob der AN nach sorgfältiger Prüfung, ob seine Information
zutreffend und zuverlässig ist, sie mindestens guten Glaubens für wahr hält, (2) dass die Weitergabe der
Information im öffentlichen Interesse liegt und (3) kein diskreteres Mittel zur Verfügung steht, gegen den
angeprangerten Misstand vorzugehen. Das Einschalten von Informationsmedien ist dem AN aber grundsätzlich nicht gestattet.
Die Druckkündigung (oben § 30 III. 1 i) und vor allem die Verdachtskündigung (oben § 30 IV. 1.) können auch als außerordentliche Kündigung in Betracht kommen.
IV. Die Verhältnismäßigkeit der Kündigung
1. Liegt ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB Kündigungszeitpunkt objektiv
vor, kommt die fristlose Kündigung als ein im Grundsatz geeignetes Mittel zur Beseitigung der im Kündigungsgrund zum Ausdruck kommenden Störung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. Da die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis sofort beendet, wird dem Kündigenden an dieser Stelle anders als bei einer fristgemäßen Kündigung keine Prognose auf das Ende der Kündigungsfrist abverlangt. Eine ausnahmsweise gewährte Auslauffrist ist hierbei ohne Bedeutung. Hat ein wichtiger Grund allerdings
in Wahrheit nicht bestanden, ist die fristlose Kündigung rechtsunwirksam. Zur Umdeutung einer unwirksamen fristlosen Kündigung in eine wirksame fristgemäße siehe nachfolgend unter V.
2. Auf die Frage, ob die außerordentliche Kündigung das erforderliche Mittel ist, die
Störung des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen, ist zu prüfen, ob dem ArbG ein gleichermaßen wirksames, aber milderes Mittel verfügbar ist. Dabei bringt es die Struktur des §
626 I BGB mit sich, dass die Gesichtspunkte der Erforderlichkeit mit denen der Angemessenheit der Kündigung in Gestalt einer Interessenabwägung (nachfolgend unter 3.)
häufig überschneiden.
Wie der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung (oben § 30 IV. 3.), muss auch der verhaltensbedingten außerordentlichen Kündigung im Regelfall eine erfolglose Abmahnung vorausgegangen sein. Für die
Kündigung aus wichtigem Grund folgt dies schon aus § 314 II BGB. Einer Abmahnung bedarf es nur dann
nicht, wenn bei objektiver Betrachtung das Vertrauensverhältnis zwischen ArbG und AN durch die
Schwere der Pflichtverletzung als dauerhaft zerstört anzusehen ist oder die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass trotz einer Abmahnung ein künftig vertragsgemäßes Verhalten des AN nicht zu erwarten ist.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Einschätzungen tragfähig sind, kommen Erwägungen ins Spiel, die unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung eine Rolle spielen. Das wird z.B. im Urteil des BAG v.
10.6.2010 – 2 AZR 541/09 – in NZA 2010, 1227 deutlich, wonach die Unterschlagung von zwei Pfandbons
im Gesamtwert von 1,30 € durch eine Kassiererin, die schon über 30 Jahre beanstandungslos beschäftigt ist,
das Vertrauensverhältnis zu ihrem ArbG nicht so nachhaltig zerstören kann, dass er nicht erst einmal zum
Mittel der Abmahnung greifen muss. Ist der AN wegen einer gleichartigen Pflichtverletzung innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens schon einmal abgemahnt worden, ist eine weitere Abmahnung allerdings
entbehrlich.
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Ebenso kann trotz Erschütterung des persönlichen Vertrauens zwischen AN und ArbG eine Versetzung des
AN im Wege einer Weisung des ArbG oder einer Änderungskündigung auf einen anderen freien Arbeitsplatz als ein gleichermaßen wirksames, aber milderes Mittel zur Beseitigung der eingetretenen Störung in
Betracht kommen, wenn die Beeinträchtigung den Leistungsbereich des AN oder sein Verhalten gegenüber
Mitarbeitern betrifft und dem ArbG im Wege der Interessenabwägung ein Einlenken zuzumuten ist.
Liegt ein wichtiger Grund zur Kündigung wirklich vor und kommt eine Abmahnung oder eine Versetzung
nicht in Betracht, kann eine ordentliche Kündigung kaum ein gleichermaßen wirksames Mittel zur Störungsbeseitigung sein. Allerdings kann es dem ArbG auf Grund einer Interessenabwägung (nachfolgend
unter 3.) unter Umständen zugemutet werden, statt der außerordentlichen Kündigung eine ordentliche auszusprechen, etwa um den Ruf eines langjährigen Mitarbeiters zu schonen oder um einem älteren AN die
Möglichkeit zu erhalten, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
Im Übrigen steht es dem Kündigenden frei, die außerordentliche Kündigung mit einer Auslauffrist zu erklären. Er muss dann nur deutlich machen, dass er damit nicht auf sein Recht zur außerordentlichen Kündigung verzichtet.
3. Auf die Frage, ob die außerordentliche Kündigung das angemessene Mittel ist, die
Störung des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen, ist zu prüfen, ob „unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“,
dem ArbG nicht doch zugemutet werden kann, auf die außerordentliche Kündigung zu
verzichten. Hierbei kommt es auf eine umfassende Interessenabwägung unter Beachtung des Übermaßverbotes
esichtspunkt der Erforderlichkeit der Kündigung eng verzahnt ist.
a) Die Prüfung der Angemessenheit der außerordentlichen Kündigung verlangt zum einen den Blick über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus auf seine künftige
Entwicklung. Dabei muss der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand bei
objektiver Betrachtung die Prognose einer über seinen Anlass hinauswirkende Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses zulassen; im Fall des § 626 BGB eine Selbstverständlichkeit, weil nach dieser Vorschrift schon der Begriff des wichtigen Grundes
Tatsachen fordert, „auf Grund derer dem Kündigenden eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist…nicht zugemutet werden kann“ (vorstehend unter II. 2.).
b) Darüber hinaus ist zwischen dem ArbG und dem AN eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen Gründen durchzuführen, die es dem ArbG im Einzelfall gebieten
kann, die eingetretene Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen als das gegenüber
dem sofortigen Arbeitsplatzverlust des AN kleinere Übel hinzunehmen (oben § 30 II. 3. c
(2)).
Hauptsächlich können hier der bisherige Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses, die Bedeutung der verletzten Pflicht, das Ausmaß der eingetretenen Störung, der Grad des Verschuldens des AN, die Höhe des
entstandenen Schadens und eine evtl. Mitschuld des ArbG als Gesichtspunkte herangezogen werden. Der
ArbG wird demgegenüber die fristlose Kündigung oft als ein notwendiges Mittel zur Wahrung der innerbetrieblichen Disziplin verteidigen. Darüber hinaus sind hier Gründe maßgebend, wie die im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 III 1 KSchG vorgegebenen Daten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung.
V. Die Kündigungserklärungsfrist
Nach § 626 II BGB kann eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Wochen erklärt werden: maßgebend ist der Zugang beim AN. Für
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die Berechnung der Ausschlussfrist gelten die §§ 187 I BGB, 188 II Halbs. 1 BGB unter
Beachtung von § 193 BGB.
Bei wiederholten Vorfällen beginnt die Ausschlussfrist mit dem letzten Vorfall, der ein Glied in der Kette
von Ereignissen bildet, die den Anlass für die außerordentliche Kündigung bilden (Küttner/Eisemann, Personalbuch 2010 Rn. 20).
Die Kenntnis Dritter, insbesondere von Vorgesetzten des AN, muss der ArbG sich zurechnen lassen,
wenn sie im Betrieb eine selbständige Stellung einnehmen und die Weitergabe der Informationen infolge
von Organisationsmängeln verzögert wurde oder unterblieb (Krause § 12 Rn. 14).
Der Lauf der Ausschlussfrist ist solange gehemmt, wie der Kündigungsberechtigte zur Aufklärung des
Sachverhalts „nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinende Maßnahmen zügig durchführt“
(ErfK/Müller-Glöge § 626 BGB Rn. 210). Unter Umständen können zwei Monate sachlich veranlasst sein.
Die bei einem mitbestimmten Betrieb nach § 102 I BetrVG vor Ausspruch der Kündigung erforderliche
Anhörung des Betriebrates verkürzt die Ausschlussfrist faktisch um die dem Betriebsrat nach § 102 II 3
BetrVG zustehende Überlegungszeit von drei Tagen.
VI. Die Umdeutung der außerordentlichen Kündigung
Eine unwirksame außerordentliche Kündigung kann nach § 140 BGB in eine wirksame
ordentliche Kündigung zum nächsten Kündigungstermin umgedeutet werden, sofern deren Voraussetzungen vorliegen. Erforderlich ist aber nicht nur, dass die Umdeutung dem
mutmaßlichen Willen des Kündigenden entspricht, sondern dieser Wille dem Gekündigten auch erkennbar ist. Das dürfte allerdings regelmäßig der Fall sein.
Muss zuvor der Betriebsrat angehört werden, ist eine nachträgliche Umdeutung nur möglich, wenn dieser der außerordentlichen Kündigung ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hatte; denn die Zustimmung zum Mehr schließt die Zustimmung zum Weniger
ein.
Eine Umdeutung ist nicht erforderlich, wenn der ArbG neben der außerordentlichen
Kündigung vorsorglich zugleich ordentlich kündigt. Dann nämlich hat er zwei Kündigungen ausgesprochen, deren Wirksamkeit getrennt geprüft werden muss. Der AN muss
seine Kündigungsschutzklage auch gegen beide Kündigungen richten (siehe unten § 36
III.).
Besteht ein Betriebsrat, muss der ArbG ihm bei der Anhörung mitteilen, dass er neben der außerordentlichen Kündigung vorsorglich zugleich die ordentliche Kündigung erklären will; andernfalls bei Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung die ordentliche Kündigung nicht wirksam werden kann.
VII. Schadensersatz bei fristloser Kündigung
Nach § 828 II BGB hat diejenige Vertragspartei, die durch das vertragswidrige Verhalten
der anderen Vertragspartei zur fristlosen Kündigung veranlasst wird, gegen die andere
Vertragspartei Anspruch auf Ersatz des ihr durch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses
entstehenden Schadens. Je nach Fallgestaltung kann der ArbG oder der AN Anspruchsberechtigter sein. Es handelt sich um den Sonderfall eines Schadensersatzanspruchs statt
der Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB und setzt darum ein schuldhaftes Verhalten
des Anspruchsgegners voraus.
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Die Vorschrift entspricht dem in § 314 IV BGB enthaltenen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass bei der
Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, durch die Kündigung nicht ausgeschlossen wird.
Zum Schaden des AN bei fristloser Eigenkündigung und seine Begrenzung siehe unten § 41 I
Der Schaden des ArbG, der dem AN fristlos kündigen musste, erfasst nur solche
Vermögensnachteile, die bei Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist (= bei einem
rechtmäßigen Alternativverhalten des ArbG) nicht entstanden wären, also den sog. Verfrühungsschaden. Das sind vor allem die Vermögensnachteile, die der ArbG durch einen
infolge der vorzeitigen Vertragsbeendigung herbeigeführten Produktionsausfall oder in
Gestalt der Mehrkosten erleidet, die er zur Vermeidung des Produktionsausfalls aufwenden muss (vgl. oben § 25 II. 3.).
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§ 34 Der Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 138, 242 BGB
I. Die Anwendbarkeit der §§ 138, 242 BGB
Nach § 138 BGB ist eine Willenserklärung nichtig, wenn sie gegen die guten Sitten
verstößt. Und aus § 242 BGB wird abgeleitet, dass eine Willenserklärung nichtig ist,
wenn sie wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben eine unzulässige Rechtsausübung
darstellt. Da die Kündigung eine Willenserklärung ist, kann sie an diesen Bestimmungen scheitern. So ist es nur folgerichtig, wenn § 13 II KSchG ausdrücklich anerkennt,
dass eine Kündigung sittenwidrig sein kann und für diesen Fall dem AN, nicht aber
auch dem ArbG, den Auflösungsantrag nach § 9 KSchG ermöglicht und auch § 12
KSchG für anwendbar erklärt (unten § 39). § 13 III KSchG erfasst die treuwidrige
Kündigung, allerdings ohne einen Auflösungsantrag zuzulassen.
Wenn die Kündigung des AN schon daran scheitert, dass ihr die nach § 1 KSchG erforderliche soziale
Rechtfertigung oder der nach § 626 BGB erforderliche wichtige Grund fehlt, besteht kein Bedürfnis danach, zu prüfen, ob zusätzliche Tatsachen vorliegen, die die Kündigung auch noch nach § 138 BGB oder
§ 242 BGB vernichten würden.
II. Die Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 138 BGB von dem des § 242
BGB
Die Abgrenzung kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Auf jeden Fall ist der
Anwendungsbereich des § 138 BGB enger als der des § 242 BGB: Jede sittenwidrige
Kündigung verstößt auch gegen Treu und Glauben, nicht aber umgekehrt. Die Annahme der Sittenwidrigkeit folgt aus Umständen, die dem Anstandsgefühl aller billig und
gerecht Denkenden gröblich widersprechen, insbesondere wegen der verwerflichen Gesinnung des Kündigenden. Die Annahme der Treuwidrigkeit folgt vorwiegend aus einem widersprüchlichen Verhalten des Kündigenden oder der verletzenden Art und
Weise der Kündigung.
So ist Sittenwidrigkeit z.B. anzunehmen, wenn den kündigenden ArbG niedere Beweggründe treiben, wie etwa bei einer Kündigung als Reaktion auf die arbeitnehmerseitige Zurückweisung von Annäherungsversuchen oder des Ansinnens strafbarer
Handlung, als Ausdruck von Mobbing oder wenn der ArbG durch die Kündigung eine
Arbeitnehmerin dafür bestrafen will, dass ihr Ehemann gekündigt oder einen Geschäftsabschluss mit dem ArbG verweigert hat.
Die Treuwidrigkeit betrifft vor allem Fälle, in denen der ArbG nach wenig zuvor aufwendiger Einwerbung des AN und/oder entgegenstehenden Versprechen bzw. Bekundungen plötzlich und unerwartet infolge bloßen Sinneswandels die Kündigung ausspricht und sich damit in Widerspruch zu seinem vertrauensbildenden Vorverhalten stellt. Hierunter fällt auch die Verdachtskündigung, ohne dem AN die Gelegenheit
gegeben zu haben, den Verdacht auszuräumen. Treuwidrig ist darüber hinaus auch eine
Kündigung unter entwürdigenden Umständen.
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III. Die besondere Bedeutung des § 242 BGB bei ordentlichen Kündigungen außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG
Über die vorstehend aufgeführten Situationen hinaus kommt vor allem dem § 242 BGB
besondere Bedeutung in den Fällen zu, in denen der AN gegenüber einer ordentlichen
Kündigung keinen allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG genießt. Um
den AN nicht völlig schutzlos zu stellen, verlangt die Rechtsprechung nämlich, dass der
ArbG auch in dieser Situation ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme einhalten
muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass dem ArbG in den Fällen der Nichtgeltung
des KSchG nicht über den Umweg der Anwendung des § 242 BGB praktisch die im
KSchG vorgegeben Maßstäbe der Sozialwidrigkeit auferlegt werden. Das würde vor allem dem in § 23 I KSchG verankerten Schutz des Kleinunternehmers vor finanzieller
Überforderung zuwiderlaufen (unten § 30 I. am Ende). Unter dem Gesichtspunkt des §
242 BGB kommt es darum nur zu einer Prüfung der Frage, ob der AN die Kündigung
billigerweise hinnehmen muss.
Daraus folgt, dass die Kündigung nur nicht völlig willkürlich oder sachfremd sein darf, sondern auf
einem nachvollziehbaren Grund beruhen muss, insbesondere wenn der ArbG eine Auswahl zwischen
mehreren AN zu treffen hat. So muss die Auswahlentscheidung erkennen lassen, dass der ArbG soziale
Belange des gekündigten und der vergleichbaren AN nicht völlig außer Acht gelassen hat. Kann er spezifisch eigene Interessen dafür ins Feld führen, warum er gerade den AN mit der längsten Betriebszugehörigkeit, dem höchsten Alter und den meisten Unterhaltspflichten entlässt, spricht wenig dafür, dass er bei
seiner Entscheidung das nach Art. 20 I GG gebotene Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme außer
Acht gelassen hat (BAG v. 21.2.2001 – 2 AZR 15/00 – in NZA 2001, 833).
Außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG führen die Diskriminierungsverbote der §§ 1 bis 10
AGG zur Ausfüllung der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in
NZA 2009, 361). Siehe oben § 29 V.
Im Unterschied zu § 1 III 4 KSchG trägt der AN für das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 138, 242 BGB die wenn auch abgestufte Beweislast.
Danach muss der AN zunächst einmal die Umstände vortragen und ggf. beweisen, aus denen eine verwerfliche Gesinnung oder ein anstößiges Verhalten des ArbG erkennbar wird. Der ArbG darf diesen Tatsachenvortrag aber nicht einfach bestreiten, sondern muss sich dazu substantiiert erklären. D.h. er muss
der Behauptung des AN „positive Gegenangaben gegenüberstellen, andernfalls die Annahme begründet
ist, dass er dies unterlässt, weil er sonst lügen müsste“ (Stein-Jonas/Leipold, § 138 ZPO Rn. 36/37). Es
trifft den ArbG also eine „sekundäre Behauptungslast“.
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§ 35 Die Änderungskündigung des Arbeitsvertrages
I. Bedeutung und Erscheinungsformen der Änderungskündigung
1. Der ArbG kann ein Interesse daran haben, die auf der Grundlage des Arbeitsvertrages
geltenden Arbeitsbedingungen zu ändern. Die Veränderung kann die Art der Tätigkeit,
den Einsatzort, aber auch die Lage und Länge der Arbeitszeit betreffen und ggf. zugleich
zu einer Verringerung des Arbeitsentgelts führen. Mitunter ist der Abbau von Zusatzentgelten, gelegentlich auch die Kürzung des Monatslohns selbst der einzige Grund für die
Änderungskündigung. Sofern die Maßnahme nicht von seinem Weisungsrecht (oben § 15
II.) oder arbeits- oder tarifvertraglichen Änderungsvorbehalten (oben § 16 III.) gedeckt
ist und eine einvernehmliche Neuregelung des Arbeitsverhältnisses mit dem AN nicht zustande kommt, kann der ArbG versuchen, eine einseitige Änderung des Arbeitsvertrages
im Wege seiner Ersetzung durch einen neuen Arbeitsvertrag mittels Änderungskündigung zu erreichen. Die Kündigung nur von Teilen des bisherigen Arbeitsvertrages ist
nicht zulässig.
2. Im Fall der Änderungskündigung gibt der ArbG zwei Willenserklärungen ab.
a) Erstens erklärt er dem AN die Kündigung des laufenden Arbeitsverhältnisses. Im
Regelfall handelt es sich dabei um eine ordentliche Kündigung.
Es kann allerdings auch eine außerordentliche Kündigung in Betracht kommen; so bei ordentlich nicht
kündbaren AN, wie etwa Mitgliedern des Betriebsrates (§ 15 KSchG/§ 103 BetrVG) oder als milderes Mittel gegenüber einer außerordentlichen Beendigungskündigung (oben § 33 IV. 2.). In diesem Fall gilt § 2
KSchG analog (ErfK/Oetker § 2 KSchG Rn. 8).
b) Zweitens verbindet der ArbG diese Kündigung mit dem Angebot, das Arbeitsverhältnis zu geänderten Arbeitsbedingungen fortzusetzen, die selbstredend genauso wenig gegen zwingende gesetzliche oder kollektivvertragliche Bestimmungen verstoßen
dürfen, wie die bisherigen Arbeitsbedingungen. Der ArbG kann stattdessen auch erst das
Änderungsangebot erklären und gleichzeitig die Kündigung (aufschiebend bedingt) für
den Fall aussprechen, dass der AN das Änderungsangebot nicht oder nicht rechtzeitig annimmt. Beide Erklärungen bedürfen der nach § 623 BGB für eine Kündigung vorgesehenen Schriftform und sollten in ein und demselben Schriftstück erklärt werden, um
den nach § 2 KSchG erforderlichen „Zusammenhang“ des Änderungsangebots mit der
Kündigung deutlich zu machen.
II. Reaktionsmöglichkeiten des AN
1. Annahme des Änderungsangebots
Der AN kann das Änderungsangebot des ArbG annehmen und zu den geänderten Arbeitsbedingungen weiter arbeiten. War das Angebot unbefristet, bestimmt sich die Annahmefrist nach § 147 II BGB. War das Angebot befristet, gilt als Mindestfrist die DreiWochen-Frist analog § 2 S. 2 KSchG.
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2. Ablehnung des Änderungsangebots und Erhebung der Kündigungsschutzklage
Der AN kann das Änderungsangebot des ArbG ablehnen bzw. innerhalb der jeweils
maßgebenden Frist einfach nicht annehmen und gegen die Kündigung die Kündigungsschutzklage erheben. Gewinnt der AN den Kündigungsschutzprozess, bleibt es bei den
ursprünglichen Arbeitsbedingungen. Verliert der AN den Kündigungsschutzprozess, ist
das Arbeitsverhältnis beendet.
Zu beachten ist hierbei, dass bei einer ordentlichen Änderungskündigung im Rahmen der Prüfung ihrer
sozialen Rechtfertigung der Kündigungsschutzklage auch das vom AN abgelehnte Änderungsangebot des
ArbG in Betracht gezogen werden kann. Erweist es sich seinerseits als sozial gerechtfertigt, kann dies dazu
führen, dass die Beendigungskündigung allein deswegen als sozial gerechtfertigt angesehen wird und der
AN den Prozess verliert.
3. Annahme des Änderungsangebots unter Vorbehalt und Erhebung der Änderungsschutzklage
Um den AN davor zu bewahren, das Änderungsangebot nur deswegen annehmen zu
müssen, damit er dem Risiko entgeht, bei Ablehnung des Angebots die Kündigungsschutzklage und dadurch seinen Arbeitsplatz zu verlieren, gibt § 2 KSchG ihm das Recht,
► das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt anzunehmen, dass die Änderung der
Arbeitsbedingungen nach Maßgabe von § 1 II 1 bis 3, III 1 und 2 KSchG nicht sozial ungerechtfertigt ist
► und dies oder andere Unwirksamkeitsgründe, bei deren Vorliegen es auf die soziale
Rechtfertigung gar nicht mehr ankommt durch die Änderungsschutzklage nach §
4 S. 2 KSchG gerichtlich feststellen zu lassen.
Nach § 23 I 2 KSchG gelten die §§ 4 bis 7 KSchG auch für AN, für die mangels entsprechender Beschäftigtenzahl kein allgemeiner Kündigungsschutz nach Maßgabe des KSchG gilt. Diese AN genießen nicht
den Schutz des § 1 KSchG, müssen aber alle anderen Unwirksamkeitsgründe gleichfalls in der Form und
der Frist des § 4 KSchG geltend machen. Da § 4 KSchG in seinem Abs. 1 Satz 2 auch die Änderungsschutzklage erfasst, spricht vieles dafür, diesen AN in entsprechenden Anwendung des § 2 KSchG auch
die Möglichkeit der Annahme eines Änderungsangebots unter Vorbehalt und nach § 4 I 2 KSchG
der Erhebung der Änderungsschutzklage zu geben. Mangels Anwendbarkeit des § 1 KSchG ist das Änderungsangebot dann aber nicht nach seiner sozialen Rechtfertigung zu beurteilen, sondern danach, ob der
AN die Änderung der Arbeitsbedingungen billigerweise hinnehmen muss. Vor diesem Hintergrund ist
es dann auch geboten, die AN, die nur mangels Erfüllung der Wartefrist des § 1 I 1 KSchG noch keinen
allgemeinen Kündigungsschutz genießen, in die Regelung der §§ 2, 4 I 2 KSchG einzubeziehen (KR-Rost,
§ 2 KSchG Rn 7a bis c). Nach h.M. gilt dies ebenso für die außerordentliche Änderungskündigung
(vorstehend unter I. 2. a).
III. Die Wirksamkeit der Änderungskündigung
1. Die Änderungskündigung soll zwar das Arbeitsverhältnis nicht beenden, ist der Sache
nach aber dennoch eine Kündigung. Darum gelten für sie die gleichen rechtsgeschäftlichen Wirksamkeitserfordernisse wie für eine Beendigungskündigung. Siehe oben §
28 IV. 2). Insbesondere muss auch sie in einem mitbestimmten Betrieb vor ihrem Ausspruch das Anhörungsverfahren nach § 102 I, II BetrVG durchlaufen haben. Im Fall einer
außerordentlichen Änderungskündigung ist die Ausschlussfrist des § 626 II BGB zu beachten (oben § 33 V.).
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Soll die Änderungskündigung eine Versetzung des AN ermöglichen, ist in einem mitbestimmten Betrieb
der Betriebsrat nicht nur nach § 102 BetrVG zur beabsichtigten Kündigung anzuhören, sondern auch gemäß § 99 I BetrVG (unter Beachtung von § 95 III BetrVG) zu der gleichzeitig beabsichtigten Versetzung.
Verweigert der Betriebrat seine Zustimmung zur Versetzung und wird sie nicht nach § 99 IV BetrVG durch
das Arbeitsgericht ersetzt, braucht der AN nach Ablauf der Änderungskündigungsfrist den neuen Arbeitsplatz trotz Vorbehaltsannahme nicht einzunehmen (BAG v. 30.9.1993 – 2 AZR 283/93 – in NZA 94, 615).
2. Der Änderungskündigung dürfen ferner keine sondergesetzlichen Kündigungsverbote entgegenstehen (oben § 29 II.).
3. Bei der ordentlichen Änderungskündigung kommt es im Grundsatz zu den gleichen
Prüfungsschritten wie bei der ordentlichen Beendigungskündigung (oben § 30 II. 2.
bis 4.), jedoch mit folgenden Abweichungen:
► Anders als bei der Kündigungsschutzklage nach § 1 KSchG kommt es bei der Änderungsschutzklage zu einem anderen Prüfungsgegenstand: Nach § 2 Satz 1 KSchG
wird nicht die soziale Rechtfertigung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern die soziale Rechtfertigung des Ansinnens des ArbG auf Änderung der Arbeitsbedingungen überprüft (Zöllner/Loritz/Hergenröder a.a.O. § 24 X. 1.). Dementsprechend ist die Änderungsschutzklage nach § 4 Satz 2 KSchG auf die Feststellung gerichtet, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt (oder aus
anderen Gründen rechtsunwirksam) ist. In dem Änderungsschutzprozess geht es mithin „nur um Inhalts-, nicht aber um Bestandsschutz“ (Lieb/Jacobs a.a.O. Rn. 398).
► Mit der Änderung des Prüfungsgegentandes ist nach h.M. zugleich eine Änderung
des Prüfungsmaßstabs verbunden: An die soziale Rechtfertigung des Ansinnens des
ArbG auf Änderung der Arbeitsbedingungen werden weniger strenge Anforderungen
gestellt als an die soziale Rechtfertigung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Der bloße Inhaltsschutz des Arbeitsverhältnisses soll nicht so weit gehen müssen, wie
der Bestandsschutz (Lieb/Jacobs a.a.O. Rn. 399).
a) Bei der Prüfung der sozialen Rechtfertigung der Änderungskündigung geht es darum
zunächst um die Frage, ob ein legitimer Grund für das Ansinnen des ArbG auf Änderung
der Arbeitsbedingungen des AN vorliegt. Es kommt also darauf an, ob Gründe in der Person oder im Verhalten des AN oder dringende betriebliche Erfordernisse einer Weiterbeschäftigung des AN zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen.
Ein personenbedingter Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen kommt hauptsächlich in den
Fällen in Betracht, in denen der AN aufgrund nachlassender Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage
ist, den Anforderungen seines bisherigen Arbeitsplatzes zu genügen, er aber auf einem anderen freien Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann. Das gleiche gilt, wenn der AN eine Allergie gegen bestimmte
Stoffe entwickelt, mit denen er auf seinem Arbeitsplatz in Berührung kommt: Weiterbeschäftigung einer an
Wollallergie leidenden Näherin als Küchenhilfe.
Ein verhaltensbedingter Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen kann z. B. in der Versetzung
eines AN in einen anderen Betriebsteil liegen, wenn dadurch ein Ende der den Betriebsfrieden störenden
Streitereien unter Arbeitskollegen herbeigeführt werden soll.
Betriebsbedingte Gründe bilden die Mehrzahl der Fälle einer Änderung der Arbeitsbedingungen. Dabei
geht es häufig um Veränderungen im Arbeitsbereich als Folge einer Umstrukturierung des Betriebs. Es
kommt aber auch vor, dass ohne jede Veränderung im Arbeitsbereich eine reine Entgeltkürzung herbeigeführt werden soll, um der schlechten wirtschaftlichen Lage des Betriebs zu begegnen.
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b) Besteht ein legitimer Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen, müssen die
vom ArbG angebotenen Bedingungen sich als das sowohl geeignete als auch erforderliche und darüber hinaus angemessene Mittel erweisen, die Störung zu beseitigen, die den
Betrieb bei einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen belasten.
Die Geeignetheit der vom ArbG im Wege der Änderungskündigung angebotenen Arbeitsbedingungen
muss z.B. verneint werden, wenn sie wegen der Verletzung von Bestimmungen auf der Ebene des Gesetzes
oder eines Kollektivvertrags unwirksam sind. Erforderlich sind die angebotenen Änderungen nur dann,
wenn sie sich nicht weiter vom Inhalt des bisherigen Arbeitsverhältnisses entfernen, als es zur Erreichung
des angestrebten Ziels unbedingt notwendig ist. So kann z. B. eine betriebsbedingte Änderungskündigung
zwecks reiner Entgeltkürzung nur dann erforderlich sein, wenn anderenfalls der Abbau von Arbeitsplätzen
oder gar die Stilllegung des gesamten Betriebs unvermeidlich ist. An der Erforderlichkeit einer verhaltensbedingten Änderungskündigung mit dem Angebot der Versetzung fehlt es, wenn ihr keine Abmahnung vorausgegangen ist. Bei Beurteilung der Angemessenheit muss eine Interessenabwägung durchgeführt werden. Im Falle der betriebsbedingten Änderungskündigung muss es stattdessen zu einer Sozialauswahl nach
Maßgabe des § 1 III KSchG kommen, sofern Auswahlmöglichkeiten bestehen.
4. Beachte: Wie vorstehend unter II. 3 am Ende hervorgehoben, gilt für die ordentliche
Änderungskündigung von AN, die keinen allgemeinen Kündigungsschutz nach § 1
KSchG genießen sowie bei außerordentlichen Änderungskündigungen stattdessen das
Erfordernis der Zumutbarkeit des Änderungsangebots. Bei einer betriebsbedingten
Änderungskündigung kommt es in diesen Fällen auch nicht zu einer Sozialauswahl.
5. Die außerordentliche Änderungskündigung bedarf nach § 626 I BGB eines wichtigen Grundes. Ein solcher liegt nur vor, wenn die sofortige Änderung der Arbeitsbedingungen unabweisbar notwendig und dem AN zumutbar ist.
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§ 36 Der Schutz des Arbeitnehmers bei Massenentlassungen
I. Der Tatbestand der Massenentlassung
Nach § 17 I KSchG liegt der Tatbestand einer Massenentlassung vor, wenn der ArbG
innerhalb von 30 Kalendertagen Entlassungen auf Grund von ordentlichen Kündigungen (§ 17 IV KSchG) vornimmt, von denen
●
in Betrieben mit i.d.R 21 bis 59 AN mehr als 5 AN,
●
in Betrieben mit i.d.R 60 bis 499 AN 10 v.H. der regelmäßig beschäftigten AN
oder aber mehr als 25 AN,
●
in Betrieben mit mindestens 500 AN mindestens 30 AN
betroffen sind.
Teilzeitbeschäftigte
Ein unternehmerisches Konzept, das etappenweise Entlassungen in jeweils nicht meldepflichtigem Umfang
vorsieht, in Summe aber die vorstehenden Mengenangaben erreicht, gilt unabhängig von der 30-TageFrist als einheitliche Maßnahme.
Nach § 17 I 2 KSchG stehen den ordentlichen Kündigungen andere Beendigungsformen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom ArbG veranlasst werden, wie z.B. eine Änderungskündigung (wegen
ihres ungewissen Ausgangs), der vorübergehende Wechsel des AN in eine Transfergesellschaft, die einer Kündigung zuvorkommende Aufhebung oder Eigenkündigung des Arbeitsverhältnisses. Nach § 17
IV KSchG bleibt das Recht zur fristlosen Kündigung hingegen unberührt.
II. Möglichkeiten eines Arbeitnehmerschutzes
Aus der Tatsache, dass der ArbG nach § 17 I/II KSchG verpflichtet ist, die beabsichtigten Entlassungen zuvor der Agentur für Arbeit anzuzeigen und im Falle eines
mitbestimmten Betrieb noch zuvor mit dem Betriebsrat ein Konsultationsverfahren über die geplanten Entlassungen durchzuführen, folgt für den AN ein nicht unerheblicher Schutz vor drohenden Nachteilen. Hinzu kommt, dass Massenentlassungen
hauptsächlich bei einer Betriebsänderung ausgesprochen werden, so dass dem AN
eines mitbestimmten Betriebes die Einschaltung des Betriebsrats nach Maßgabe der
§§ 111 ff. BetrVG zugute kommt.
1. Beabsichtigt der ArbG, Massenentlassungen i.S.d. §§ 17 ff. KSchG durchzuführen, verlangt § 17 I KSchG von ihm, diese Absicht der Agentur für Arbeit anzuzeigen, „bevor er…die AN…entlässt.“ Das ist missverständlich ausgedrückt, weil
unter einer Entlassung die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach erfolgter Kündigung verstanden werden kann. Da die Arbeitsagentur durch die Anzeige
aber in die Lage versetzt werden soll, die entlassenen AN anderweitig zu vermitteln,
bedarf sie eines deutlich längeren Zeitvorlaufs. Schon deswegen ist es geboten, unter
einer „Entlassung“ den Ausspruch der Kündigung zu verstehen; also zu verlangen,
dass der ArbG die Anzeige vor dem Ausspruch der Kündigung erstattet.
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Diese Deutung ist erst recht zwingend, wenn man berücksichtigt, dass es nach § 17 II
KSchG in mitbestimmten Betrieben erforderlich ist, dass ArbG und Betriebsrat in
einem Konsultationsverfahren auf der Grundlage der dem ArbG nach Nr. 1 bis
6 vorgeschriebenen Angaben die Möglichkeiten haben sollen, zu beraten, ob und
wie Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern
sind. Nach § 17 III KSchG hat der ArbG seiner Anzeige an die Agentur für Arbeit
das dem Betriebsrat zur Verfügung gestellte Informationsmaterial sowie eine Stellungnahme des Betriebsrats über die Konsultation beizufügen. Hieraus folgt, dass
nicht nur die Anzeige, sondern auch die Konsultation noch vor dem Ausspruch
der zur Entlassung der AN führenden Kündigungen erfolgt sein müssen. „Entlassung“ i.S.d. §§ 17 ff KSchG ist darum die (mit ihrem Zugang beim AN wirksam werdende) Kündigung. (So jetzt auch BAG v. 23.3.2006 - 2 AZR 343/05 - in NZA 2006,
971).
Schon durch die mit der Anzeige einsetzende begrenzte Entlassungssperre des §
18 KSchG, die nach § 19 KSchG mit Kurzarbeit verbunden sein kann, erfährt der gekündigte AN eine gewisse Entlastung, weil sie die Entlassung hinauszögert. Darüber
hinaus bietet ihm das Konsultationsverfahren die Chance, u.U. nicht gekündigt
zu werden.
Es kommt hinzu, dass die Kündigungen nach § 134 BGB unwirksam sind, wenn
der ArbG die Anzeige der Massenentlassung ganz unterlässt oder der Agentur für
Arbeit erst nach dem Ausspruch der Kündigungen zukommen lässt oder ihr die nach
§ 17 II 1 Nr. 1. bis 5 KSchG vorgeschriebenen Angaben oder die Stellungnahme des
Betriebsrates über die Konsultationen (ggf. nach § 17 III 3 KSchG entbehrlich) nicht
beifügt. Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung ist die vor Ausspruch der Kündigung durchgeführte Konsultation des Betriebsrates auch dann, wenn schon Sozialplanverhandlungen stattgefunden hatten (BAG v. 21.3.2013 - 2 AZR 60/12 – in ArbRB 2013, 266). Für die Wirksamkeit der Konsultation kommt es darauf an, dass die
Betriebsparteien auch wirklich zu einer ernsthaften Beratung zusammengefunden haben und nicht bloß eine Anhörung des Betriebsrates stattgefunden hat.
Neben den Schutzwirkungen der §§ 17 ff. KSchG bleibt dem AN selbstverständlich der sonstige besondere Kündigungsschutz (oben § 29 II.) sowie der allgemeine Kündigungsschutz insbesondere
der §§ 1 ff. KSchG erhalten.
2. Die nach §§ 17 ff. KSchG eröffneten Möglichkeiten des Arbeitnehmerschutzes
werden durch Vorschriften der §§ 111 ff. BetrVG wirkungsvoll ergänzt. Nach § 111
BetrVG hat der ArbG in Unternehmen mit i.d.R. mehr als 20 wahlberechtigten AN
„den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für
die Belegschaft…zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten
und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten.“ Ziel der Beratungen ist der Abschluss eines Interessenausgleichs (a) und eines Sozialplans (b).
a) ArbG und Betriebsrat es haben zu versuchen, einen Interessenausgleich in Gestalt
einer Vereinbarung (§ 112 I 1 BetrVG) darüber herbeizuführen, ob überhaupt und
wenn ja, wann und wie die Betriebsänderung durchgeführt wird. Im Gegensatz
zum Sozialplan (§112 IV BetrVG) kann der Betriebsrat einen Interessenausgleich gegen den Willen des ArbG nicht erzwingen, da die Entscheidung über das Ob einer Betriebsänderung als ein Akt der Unternehmensorganisation allein beim ArbG liegt.
Kommt es allerdings zum Abschluss eines Interessenausgleichs und weicht der ArbG
von ihm zum Nachteil von ANn ohne zwingenden Grund ab, kann ihn nach § 113 Be-
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trVG eine Verpflichtung zum Nachteilsausgleich treffen. Das gleiche gilt, der ArbG
eine die AN benachteiligende Betriebsänderung durchführt, ohne einen Interessenausgleich versucht zu haben.
b) Nach Maßgabe der §§ 112, 112a BetrVG kann der Betriebsrat eine Einigung mit
dem ArbG über den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile,
die den ANn infolge der geplanten Betriebsänderung entstehen (Sozialplan), nach §
112 II bis V BetrVG über das Einigungsstellenverfahren erzwingen (oben § 6 II.),
3) Beabsichtigt der ArbG, nach § 17 I KSchG anzeigepflichtige Massenentlassungen
vorzunehmen, bedarf es trotz stattgefundener Sozialplanverhandlungen auch der
Durchführung des nach § 17 II KSchG erforderlichen Konsultationsverfahrens
mit dem Betriebsrat, anderenfalls die Kündigungen unwirksam sind. (BAG v.
13.12.2012 - 6 AZR 5/12 - in ArbR 2013, 262). Beide Verfahren sind nicht deckungsgleich.
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§ 37 Die Verwirklichung des Kündigungsschutzes durch Klageerhebung
I. Die Klageerhebung innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG
Seinen Kündigungsschutz muss der AN im Wege der Klage gegen den ArbG vor
dem Arbeitsgericht durchzusetzen versuchen.
Unter der Voraussetzung, dass dem AN eine schriftliche Kündigung zugegangen
ist, die er für rechtsunwirksam erachtet, muss der AN nach § 4 Satz 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach deren Zugang Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch die (genau zu bezeichnende) Kündigung nicht aufgelöst ist oder dass die im Wege der Änderungskündigung ausgesprochene Änderung der Arbeitsbedingungen unwirksam ist. Andernfalls gilt die
Kündigung nach § 7 KSchG als von Anfang an wirksam (nachfolgend unter II.).
Obwohl § 4 eine Vorschrift des KSchG ist, das die ordentliche Kündigung behandelt,
gelten nach § 13 I 2 KSchG die §§ 4 Satz 1 bis 7 KSchG auch für die außerordentliche Kündigung.
Auch wenn dem AN eine außerordentliche Kündigung nach Ablauf der Erklärungsfrist des § 626 II
1 BGB zugeht, muss er sie innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG mit der Kündigungsschutzklage angreifen.
Ebenso muss der Verstoß gegen das Kündigungsverbot des § 15 III TzBfG innerhalb der DreiWochen-Frist des § 4 KSchG geltend gemacht werden.
Sofern die Kündigung der Zustimmung einer Behörde bedarf, wie z.B. in den Fällen der §§ 9 III
MuSchG, 85, 91 SGB IX, läuft die Drei-Wochen-Frist nach § 4 S. 4 KSchG erst ab der Bekanntgabe
der Entscheidung der Behörde an den AN. Sonderregeln gelten nach § 10 ArbPlSchG für freiwillige
Wehrübungen. Nach § 24 IV KSchG gilt eine Sonderreglung ferner für AN der Schifffahrt und des
Luftverkehrs.
Die Drei-Wochen-Frist gilt nicht, wenn der AN den Mangel der Schriftform rügen will, z.B. weil
der ArbG entgegen § 623 BGB in elektronischer Form gekündigt oder § 126 I BGB missachtet hat (eigenhändige Namensunterschrift des Ausstellers der Urkunde!); denn § 4 S.1 KSchG spricht ausdrücklich von der Klage „innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung“. Die DreiWochen-Frist kann darum erst recht nicht gelten, wenn dem AN die Kündigung nicht zugegangen
ist.
Die Drei-Wochen-Frist gilt nicht, wenn der AN lediglich die Einhaltung der Kündigungsfrist geltend
macht, um vom ArbG wegen verfrüht vollzogener Entlassung Annahmeverzugslohn zu verlangen.
Die Drei-Wochen-Frist gilt nicht für eine Klage des AN, mit der er sich gegen eine Beendigung des
Arbeitsverhältnisses aus einem anderen Grund als dem der Kündigung wehrt, z.B. gegen einer Anfechtung des Arbeitsvertrages oder gegen einen Aufhebungsvertrag, die er für unwirksam hält.
Will der AN allerdings geltend machen, dass die Befristung des Arbeitsvertrages
unwirksam ist, muss er die entsprechende Drei-Wochen-Frist des § 17 TzBfG einhalten.
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II. Das Versäumen der Drei-Wochen-Frist
Nach § 7 KSchG gilt die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam, wenn der
AN ihre Unwirksamkeit nicht nach § 4 S. 1 KSchG, ggf. nach §§ 5 und 6 KSchG
rechtzeitig geltend gemacht hat.
Wer ohne Verschulden die dreiwöchige Klagefrist des § 4 KSchG versäumt hat, kann nach § 5
KSchG die Zulassung der verspäteten Klage beantragen. An ihre Begründung werden strenge Anforderungen gestellt. Den AN entschuldigen nicht schwebende Vergleichsverhandlungen mit dem ArbG
oder fehlerhafte Auskünfte über die Klagefrist etwa durch Betriebsratsmitglieder, Bekannte oder einen
unwissenden Rechtsanwalt. Im Fall des Krankenhausaufenthalts des AN trifft ihn keine Schuld, wenn
eine häusliche Vertretung wirklich unmöglich ist. Ein fehlender Nachsendeantrag bei urlaubsbedingter
Abwesenheit des AN begründet kein Verschulden des AN.
Nach § 5 III KSchG ist der Zulassungsantrag nur innerhalb von 2 Wochen nach Behebung des Hemmnisses zulässig. Nach Ablauf von 6 Monaten, gerechnet vom Ende der versäumten Frist, kann der Antrag nicht mehr gestellt werden.
Nach § 5 II KSchG ist der Zulassungsantrag mit der Klageerhebung zu verbinden. Mittel der Glaubhaftmachung der die nachträgliche Zulassung begründenden Tatsachen sind alle prozessualen Beweismittel: Der Beweis durch Urkunden, wie z.B. Flugscheine, Hotelrechnungen, die eidesstattliche
Versicherung des Antragstellers, aber auch der Beweis durch Zeugen, durch Sachverständige und
durch Augenschein.
III. Die Klageerhebung bei mehreren Kündigungen
Erhält der AN von seinem ArbG mehrere Kündigungen, muss er jede von Ihnen innerhalb der Dreiwochenfrist auch dann angreifen, auch wenn es sich um Wiederholungskündigungen aus demselben Anlass handelt!
Sofern dem AN eine Wiederholungskündigung in der Zeit des wegen der ersten Kündigung bereits
laufenden Gerichtsverfahrens zugeht, muss er gegen sie jedoch dann nicht gesondert vorgehen,
wenn er neben dem Klageantrag nach § 4 S. 1 KSchG auf Unwirksamkeit der Kündigung zugleich einen allgemeinen Feststellungsantrag nach § 256 ZPO auf Fortbestehen des Arbeitsverhältnis gestellt
hat. Das allerdings gilt nicht mehr gegenüber einer erst nach Schluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung des laufenden Gerichtsverfahrens zugegangenen Wiederholungskündigung.
Auch eine dem AN nach seinem rechtskräftigen Obsiegen zugehende Wiederholungskündigung
muss er innerhalb der Dreiwochenfrist angreifen. Dass er die neue Klage gewinnt, ist sicher, wenn ihr
ein Sachverhalt zugrunde liegt, der schon in dem vorangegangenen Gerichtsverfahren zu seinen Gunsten entschieden wurde. Keinesfalls darf er jedoch deswegen die Klageerhebung unterlassen; denn die
Rechtskraft des vorangegangenen Urteils erstreckt sich nicht auf die Urteilsgründe, sondern ganz formal nur auf die unter dem damaligen Datum ausgesprochene Kündigung; jetzt aber liegt eine Kündigung vor, die ein neues Datum trägt.
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§ 38 Der Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers
I. Die Weiterbeschäftigung während des Laufs der Kündigungsfrist
Der ordentlich gekündigte AN ist während des Laufs der Kündigungsfrist grundsätzlich
weiterhin zu beschäftigen, weil das Arbeitsverhältnis erst mit dem Ablauf der Kündigungsfrist endet. Solange der Arbeitsvertrag besteht, hat der AN auch das Recht, vom
ArbG vertragsgemäße Beschäftigung zu fordern (oben § 3 III. 3. (1). Eine Freistellung
von der Arbeit während der Kündigungsfrist kommt nur in Betracht, wenn beide Seiten damit einverstanden sind oder ein besonderes schutzwürdiges Interesse des ArbG
an der Nichtbeschäftigung vorliegt, das den Anspruch des AN auf vertragsgemäße Beschäftigung deutlich überwiegt. Die Freistellung durch den ArbG unterliegt nicht der
Mitbestimmung durch den Betriebsrat. Nach § 615 S.1 BGB besteht der Vergütungsanspruch des AN fort.
Typische Anlässe für eine Freistellung durch den ArbG sind z.B. der Ausspruch einer ordentlichen
(fristgemäßen) verhaltensbedingten Kündigung, berechtigte Bedenken wegen des Verrats von Betriebsgeheimnissen, die drohende Gefahr von Wettbewerbsverstößen oder des missbräuchlichen Umgangs mit
IT-Sytemen und -daten oder die erhebliche Störung des Betriebsfriedens.
Eine ähnliche Interessenlage kann in dem Fall bestehen, in dem der ArbG eine außerordentliche (fristlose) Kündigung beabsichtigt, vor deren Ausspruch er z.B. noch den BR anhören muss (Küttner/Kreitner,
Personalbuch 2010, Freistellung von der Arbeit, Rn 20).
II. Der gesetzliche Weiterbeschäftigungsanspruch
Nach § 102 V 1 BetrVG muss der ArbG den AN nach Ablauf der Kündigungsfrist bis
zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits bei unveränderten Arbeitsbedingungen
weiterbeschäftigen, wenn
 der Betriebsrat nach gemäß § 102 I BetrVG ordnungsgemäßer Anhörung durch
den ArbG (oben § 28 III. 2. e) der Kündigung nach § 102 III BetrVG frist- und
ordnungsgemäß widersprochen hat,
Die Widerspruchsfrist beträgt nach § 102 II 1 BetrVG eine Woche. Ordnungsgemäß ist der Widerspruch nur, wenn er, in Schriftform verfasst, auf einem nach § 33 BetrVG wirksamen Beschluss
beruht, sich einem der in § 102 III Nr.1 bis 5 BetrVG genannten Widerspruchsgründe zuordnen
lässt und dem ArbG erkennbar gemacht wird, auf welche konkreten Umständen der Betriebsrat sich
hierbei stützt. Die Widerspruchsgründe zielen auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung: Der Widerspruchsgrund der Nr.1 bezieht sich auf § 1 III KSchG, die Widerspruchsgründe der Nrn.2 bis 5 entsprechen den Argumenten in § 1 II 2/3 KSchG.
Praxishinweis: Die Ordnungsgemäßheit des Widerspruchs des Betriebsrates zu bestreiten, ist eine
oft erfolgreiche Einwendung des Rechtsanwalts des ArbG gegen den Weiterbeschäftigungsanspruch
des AN. Umgekehrt greift der Anwalt des AN gerne die Ordnungsgemäßheit der nach § 102 I BetrVG erfoderlichen Anhörung des Betriebsrates durch den ArbG an (oben § 28 IV. 3.).
 der ArbG dem AN trotzdem eine ordentliche Kündigung erklärt hat,
Nach § 102 IV BetrVG hat der ArbG in diesem Fall dem AN mit der Kündigung eine Abschrift der
Stellungnahme des Betriebsrates zuzuleiten.
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 der AN Kündigungsschutzklage nach dem KSchG erhoben hat
Auf den AN muss das KSchG Anwendung finden. Wenngleich nach § 1 I BetrVG „in Betrieben
mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind“ schon Betriebsräte gewählt werden können, kommt es in der Praxis zur Bildung eines Betriebsrates doch erst bei einer erheblich größeren Belegschaft. Da das KSchG bereits ab 11 vollzeitbeschäftigten AN anwendbar ist (oben § 30 I.), gilt in allen mitbestimmten Betrieben damit zugleich das KSchG. Davon gehen auch die Vorschriften des § 102 III, V BetrVG über das Widerspruchsrecht des Betriebsrates und den daraus folgenden Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten AN aus.
Die Kündigungsschutzklage muss innerhalb der Frist des § 4 KSchG erhoben worden sein und sich
zumindest auch auf die Sozialwidrigkeit im Sinne des § 1 II KSchG stützen.
 und der AN vom ArbG die Weiterbeschäftigung verlangt.
Der AN muss seine Arbeitskraft dem ArbG spätestens am ersten Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist in Person anbieten und seine Weiterbeschäftigung verlangen, damit keine Beschäftigungslücke
entsteht (BAG vom 11.5.2000 - 2 AZR 54/99 - in NZA 2000, 1055). Die weiterhin notwendige gerichtliche Geltendmachung des Weiterbeschäftigungsanspruchs erfolgt neben der Kündigungsschutzklage durch Klage auf Weiterbeschäftigung nach § 102 V 1 BetrVG, seltener durch Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Verfügung.
Sinn und Zweck dieser Vorschrift erschließen sich aus folgenden Überlegungen.
Nach dem Ablauf der Kündigungsfrist ist das Arbeitsverhältnis aufgelöst und der AN
beschäftigungslos geworden. Erhebt der AN Kündigungsschutzklage, ist dieser Akt allein noch nicht Grund genug dafür, eine Änderung der Rechtlage zu bewirken; denn es
besteht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits Ungewissheit über seinen
Ausgang. Verliert der AN die Klage, bleibt die Rechtslage so, wie sie ist. Gewinnt der
AN die Klage, wird im Urteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst wurde. Daraus folgt, dass der AN nach § 615 S.1 BGB (Annahmeunwilligkeit des ArbG) nunmehr den ihm seit der Entlassung vorenthaltenen Lohn
nachgezahlt erhält und er seine Tätigkeit wieder aufnehmen kann. Da der AN während
der Prozessdauer nicht beschäftigt war, besteht für ihn aber die Gefahr, den Anschluss
verloren zu haben und die Notwendigkeit, sich erneut einarbeiten zu müssen. Das kann
im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten, insbesondere wenn der Rechtsstreit lange gedauert hat.
Diese Probleme will § 102 V 1 BetrVG (aber nur) einer bestimmten Kategorie von AN
ersparen. Nur der ordentlich gekündigte AN, der unter das KSchG fällt und einem mitbestimmten Betrieb angehört, kann bei Erhebung einer Kündigungsschutzklage, die
mindestens auch auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung gestützt sein muss, von seinem ArbG die Weiterbeschäftigung verlangen, sofern der Betriebsrat der Kündigung
frist- und ordnungsgemäß widersprochen hat. Unabhängig davon, dass die Kündigung
wenigstens zunächst einmal bis zur endgültigen Entscheidung des Rechtsstreits wirksam ist, besteht das ursprüngliche Arbeitsverhältnis dann für die Dauer des Prozesses
mit unverändertem Inhalt fort, und würde erst durch eine rechtskräftige Abweisung der
Kündigungsschutzklage beendet sein. Aus den in § 102 V Nr.1 bis 3 BetrVG aufgeführten Gründen hat der ArbG allerdings die Möglichkeit, im Wege der einstweiligen
Verfügung zu erreichen, dass das Arbeitsgericht ihn von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung entbindet.
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III. Der allgemeine Weiterbeschäftigungsanspruch
In der Erkenntnis, dass die beschränkte Anwendbarkeit des gesetzlichen Weiterbeschäftigungsanspruchs Fälle unberücksichtigt lässt, in denen eine Weiterbeschäftigung des
AN nach Ablauf der Kündigungsfrist gleichfalls geboten erscheint, haben Rechtslehre
und Rechtsprechung den sog. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch entwickelt,
für den §§ 611 BGB i.V.m § 242 BGB Anspruchsgrundlage sein soll. Nach dem Beschluss des Großen Senats des BAG v. 27.2.1985 – GS 1/84 – in NJW 1985, 2968 ff.
muss das im Grundsatz schutzwerte Interesse des ArbG an der Nichtbeschäftigung des
gekündigten AN während der Dauer des vom AN durch Erhebung einer Kündigungsschutzklage eingeleiteten Gerichtsverfahrens dann zurücktreten
 wenn entweder die Kündigung offensichtlich unwirksam ist,
z.B. wegen fehlender Schriftform nach § 623 BGB, wegen unterbliebener oder nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates im Fall des § 102 I BetrVG oder fehlender behördlicher Zustimmung in den Fällen der §§ 85, 91 SGB IX oder des § 9 III MuSchG,
 oder wenn der AN ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil
erster oder zweiter Instanz erstritten hat, das wegen der Weiterführung des Prozesses zwar noch nicht rechtskräftig ist, die Rechtsposition des AN aber jedenfalls
vorläufig stärkt.
Der gekündigte AN kann in diesen Fällen vom ArbG unabhängig von den engen Voraussetzungen des § 102 V 1 BetrVG also auch wenn kein Betriebsrat besteht oder
weil der Betriebsrat der Kündigung nicht oder nicht ordnungsgemäß widersprochen
hat, ferner bei Nichtgeltung des KSchG oder bei einer außerordentlichen Kündigung
im Fall offensichtlich unbegründeter Kündigung spätestens mit Erhebung der Kündigungsschutzklage oder gleich nach Erlass des dem AN mindestens vorläufig günstigen
Urteils Weiterbeschäftigung verlangen und diesen Anspruch zusätzlich durch Klage auf Weiterbeschäftigung geltend machen.
Auch in diesen Fällen muss dem ArbG allerdings zugestanden werden, im Wege einer
einstweiligen Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des AN während des Rechtsstreits entbunden zu werden, wenn dies durch dringende betriebliche Interessen geboten erscheint.
Sofern ArbG und AN unter den vorstehend aufgeführten Voraussetzungen nicht freiwillig übereinkommen, das bisherige Arbeitsverhältnis befristet oder auflösend bedingt bis zum rechtskräftigen Abschluss
des Kündigungsschutzverfahrens weiterzuführen
sondern der ArbG den AN nur zur Vermeidung drohender Vollstreckungsmaßnahmen aus dem vorläufig
vollstreckbaren Urteil auf Weiterbeschäftigung erster oder zweiter Instanz gezwungenermaßen weiterbeschäftigt, würde ein Prozessverlust des AN in der letzten Instanz zu einer Rückabwicklung des Beschäftigungsverhältnisses nach Maßgabe der Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung gemäß §§ 812 ff. BGB führen. Infolgedessen dürfte der AN Bezahlung nur für die von ihm tatsächlich geleistete Arbeit in Höhe des Wertersatzes nach § 818 II BGB beanspruchen bzw. behalten können.
IV. Kein Weiterbeschäftigungsanspruch für leitende Angestellte
§ 31 II SprAuG kennt keinen Weiterbeschäftigungsanspruch für leitende Angestellte
bei „Bedenken“ des Sprecherausschusses gegen eine ordentliche Kündigung. Es gibt
für leitende Angestellte auch keinen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch.
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§ 39 Das Nachschieben von Kündigungsgründen
I. Die Wirksamkeit einer ordentlichen wie außerordentlichen Kündigung hängt
grundsätzlich nicht davon ab, dass der ArbG dem AN den Grund mitteilt, der ihn zur
Kündigung veranlasst hat.
Eine Ausnahme hiervon gilt nach § 22 III BBiG sowie im Fall des § 9 III 2 MuSchG. Darüber hinaus
kann ein Begründungszwang durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag vereinbart
sein.
Hat der AN gegen den ArbG die Kündigungsschutzklage erhoben, muss der ArbG
nun aber seine Kündigung rechtfertigen. Hierbei kann es dadurch zu einem „Nachschieben von Kündigungsgründen“ kommen, dass der ArbG seine Kündigung über
die ursprünglich anlassgebenden Umstände hinaus auf weitere Gründe stützen will.
II. Gegenüber diesem Bestreben sind zum Schutz des AN nachfolgende Einschränkungen geboten.
1. Kein Nachschieben von Gründen aus der Zeit nach der Kündigung.
Da die Kündigung in dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem sie dem AN zugeht, kann
der ArbG nur solche Gründe nachschieben, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits vorgelegen haben. Will er wegen späterer Ereignisse kündigen, muss er eine neue Kündigung aussprechen.
2. Nachschieben von Gründen aus der Zeit vor der Kündigung.
a) Wenn kein Betriebsrat besteht, kann der ArbG Gründe, die bis zum Zeitpunkt
des Zugangs der Kündigungserklärung bereits vorgelegen haben, uneingeschränkt
nachschieben. Ohne Rücksicht auf die Ausschlussfrist des § 626 II BGB gilt das auch
bei einer außerordentlichen Kündigung, denn wer innerhalb der Ausschlussfrist schon
außerordentlich gekündigt ist, bedarf dieses Schutzes nicht ein weiteres Mal.
b) Besteht ein Betriebsrat, der vor jeder Kündigung angehört werden muss, ist
zu unterscheiden
(1) Waren auch die neuen Gründe dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung bereits mitgeteilt, vom ArbG aber zunächst nicht verwendet worden, ist ihr Nachschieben zulässig.
(2) Waren die neuen Gründe dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung nicht
mitgeteilt worden, obwohl der ArbG sie bereits kannte, ist deren Nachschieben
unzulässig.
(3) Waren die neuen Gründe dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung nicht
mitgeteilt worden, weil sie der ArbG sie noch nicht kannte, ist deren Nachschieben erst nach Anhörung des Betriebsrat zulässig.
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§ 40 Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung nach
§ 9 und § 13 KSchG sowie im Wege des § 12 KSchG
I. Der Auflösungsantrag des AN nach § 9 KSchG
Wenn dem AN, der den Kündigungsschutzprozess wegen sozial ungerechtfertigter
ordentlicher Kündigung gewinnt, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht
zuzumuten ist, hat das Arbeitsgericht nach § 9 KSchG auf Antrag des AN das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zu einer angemessenen Abfindung nach §
10 KSchG zu verurteilen. Nach § 9 I 3 KSchG kann der Antrag bis zum Schluss der
letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz gestellt werden.
Unzumutbar ist dem AN die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, wenn die Besorgnis begründet ist,
dass er nunmehr z.B. schikaniert werden wird. Voraussetzung ist weiterhin, dass die Parteien um die
Wirksamkeit einer ordentlichen Beendigungskündigung streiten, die mindestens auch wegen fehlender
sozialer Rechtfertigung im Sinne von § 1 KSchG rechtsunwirksam ist. Eine Kündigung, die nur aus
anderen Gründen, z.B. mangels Schriftform oder wegen unterbliebener Anhörung des BR rechtsunwirksam ist, ermöglicht keine Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Eine Ausnahme bildet lediglich der
in § 13 II KSchG genannte Fall der sittenwidrigen Kündigung.
II. Der Auflösungsantrag des ArbG nach § 9 KSchG
Wenn dem ArbG, der den Kündigungsschutzprozess wegen sozial ungerechtfertigter
ordentlicher Kündigung verliert (nicht bei anderen oder zusätzlichen Unwirksamkeitsgründen!), die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, hat
das Arbeitsgericht nach § 9 KSchG auf Antrag des ArbG das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zu einer angemessenen Abfindung nach § 10 KSchG zu verurteilen. An die Voraussetzung der Unzumutbarkeit sind aber strenge Anforderungen zu
stellen. Sie kann z.B. in einer Beleidigung des ArbG durch den AN während des Prozesses oder in den ArbG herabwürdigenden Äußerungen des AN in der Öffentlichkeit
begründet liegen. Eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit kann
z.B. zu verneinen sein, wenn der AN infolge der Unterbrechung der Tätigkeit den
Kontakt zum Betrieb und zu seiner Arbeit so sehr verloren hat, dass er seine Aufgaben selbst nach angemessener Einarbeitungszeit nicht mehr sachgerecht erledigen
kann.
Beachte: Nach § 14 II 2 KSchG kann der ArbG den Verbleib eines leitenden Angestellten, der zur
selbständigen Einstellung oder Entlassung von AN berechtigt ist, ohne weiteres verhindern, weil er den
Abfindungsantrag ohne Begründung stellen darf.
III. Der Auflösungsantrag des AN nach § 13 I und II KSchG
Wenn dem AN, der den Kündigungsschutzprozess wegen unbegründeter außerordentlicher Kündigung gewinnt, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, hat das Gericht nach § 13 I KSchG auf seinen Antrag hin das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zu einer angemessenen Abfindung entsprechend §
10 KSchG zu verurteileln. Das gleiche gilt nach § 13 II KSchG für den Fall, dass der
AN den Kündigungsschutzprozess wegen Sittenwidrigkeit der Kündigung gewinnt.
Dem ArbG steht in diesen Fällen kein dem § 9 I 2 KSchG entsprechendes Antragsrecht zu.
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IV. Die Auflösung des alten Arbeitsverhältnisses nach § 12 KSchG
War der AN im Kündigungsschutzprozess wegen sozial ungerechtfertigter ordentlicher Kündigung oder wegen unbegründeter außerordentlicher Kündigung erfolgreich, ist er aber in der Zwischenzeit ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen, gibt
ihm § 12 KSchG ein außerordentliches Sonderkündigungsrecht gegenüber dem alten
ArbG, da der AN zumindest bei Vollzeitbeschäftigung nicht beiden Herren dienen
kann. Vom alten ArbG kann er den rückständigen Lohn gemäß § 615 BGB bis zum
Tag der Arbeitsaufnahme beim neuen ArbG verlangen. Einen niedrigeren Verdienst
im neuen Arbeitsverhältnis kann er nicht mit Ansprüchen gegenüber seinem alten
ArbG ausgleichen.
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§ 41 Die Kündigung durch den Arbeitnehmer
I. Die Kündigungsmöglichkeiten
Der ArbG genießt keinen Kündigungsschutz gegenüber einer ordentlichen Kündigung des AN. Der AN kann ihm nach § 622 BGB ohne Grund fristgemäß kündigen,
ohne dass es auf die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ankommt.
Der AN kann dem ArbG ferner nach § 626 BGB außerordentlich, d.h. fristlos kündigen, wenn dazu ein wichtiger Grund nach Maßgabe des Satzes 1 dieser Vorschrift
vorliegt. Insoweit gelten die gleichen Maßstäbe wie für die Kündigung durch den
ArbG zur Feststellung eines „an sich geeigneten wichtigen Grundes“ (oben § 33 III.
sowie BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 894/07 – in NZA 2009, 840). Darüber hinaus gilt
auch für eine durch den AN ausgesprochene Kündigung nach § 626 BGB, dass ihr im
Regelfall eine erfolglose Abmahnung vorausgegangen sein muss, wie z.B. vor einer
fristlosen Kündigung wegen erheblicher Lohnrückstände (BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR
494/00 – in NZA 2003, 816), wegen Arbeit unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen
(BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 296/06 – in NZA 2007, 1419), erheblicher Missachtung
des Arbeitsschutzrechts oder einer falschen Verdächtigung des AN durch den ArbG.
Nach § 628 II BGB ist der ArbG zum Ersatz des dem AN durch die fristlose Eigenkündigung entstehenden Schadens verpflichtet, wenn die Kündigung durch vertragswidriges Verhalten des ArbG veranlasst wird (vgl. oben § 33 VII.). Der Schaden des
AN besteht in entgangener Vergütung einschließlich Nebenleistungen, mindestens bis
zum Ablauf der Frist einer ordentlichen fiktiven Kündigung durch den ArbG, bei
Anwendbarkeit des KSchG zusätzlich in einer Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes nach Maßgabe des § 13 I 3 und 5 KSchG (HWK/Sandmann, § 628 BGB
Rn.63).
II. Die Kündigungsfristen der ordentlichen Kündigung
1. In Ansehung der ordentlichen Kündigung durch den ArbG ist der AN typischerweise an einer möglichst langen Kündigungsfrist interessiert. Sie kann zum
einen dazu führen, dass der ArbG sich weniger leicht zu einer Kündigung entschließt.
Zum anderen erhält der AN dadurch im Fall der Kündigung mehr Zeit, sich eine neue
Arbeitsstelle bei uneingeschränkter Lohnfortzahlung durch den ArbG zu suchen (§
629 BGB). In Ansehung der Fristenlänge für eine ordentliche Eigenkündigung ist
das Interesse des AN demgegenüber typischerweise auf eine möglichst kurze Frist
gerichtet. Wenn der AN von sich aus kündigt, hat er sich regelmäßig eine neue und
seiner Auffassung nach für ihn bessere Arbeitsstelle bei einem anderen ArbG bereits
beschafft, die er so schnell wie möglich antreten möchte oder antreten muss.
a) Das Gesetz kommt dem Interesse des AN insoweit entgegen, als die Grundkündigungsfrist nach § 622 I BGB für ihn wie für den ArbG vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats beträgt, sich für die Kündigung durch
den ArbG aber nach § 622 II BGB mit zunehmender Beschäftigungsdauer auf bis zu
sieben Monate verlängert (vertragliche Verlängerung nach § 622 V 3 BGB möglich).
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Zur Fristberechnung und den spätesten Zugangsdaten der Kündigung siehe oben § 28 IV. 4. Es
gelten die rechtsgeschäftlichen Wirksamkeitserfordernisse der Schriftform, der Eindeutigkeit, des
Zugangs und der Stellvertretung (oben § 28 IV. 2. (1) bis (4)). Eine Mitwirkung des Betriebsrates
kommt nicht in Betracht. Auch genießt der ArbG keinen Kündigungsschutz.
Kündigt der AN verspätet bzw. mit einer zu kurzen Kündigungsfrist, ist seine Willenserklärung in
der Regel dahin auszulegen, dass sie das Arbeitsverhältnis zum zutreffenden späteren Zeitpunkt beenden soll (BAG v. 15.12 2005 – 2 AZR 148/05 – in NZA 2006, 791 Rn. 22 ff.). Problemen bei der Auslegung seiner Willenserklärung sollte der Kündigende dadurch begegnen, dass er die Kündigung seines
Arbeitsverhältnisses „fristgerecht zum…“ mit der Hinzufügung versieht, „hilfsweise zum nächstzulässigen Zeitpunkt“.
b) § 622 III BGB enthält eine gesetzliche Verkürzung der Grundkündigungsfrist,
die besagt, dass das Arbeitsverhältnis durch den ArbG wie den AN während einer
vereinbarten Probezeit, längstens für die Dauer von 6 Monaten, mit einer Frist von 2
Wochen gekündigt werden kann (vertragliche Verlängerung nach § 622 V 3 BGB
möglich).
Ist die Probezeit nach § 14 I TzBfG befristet, kann es zu einer zwischenzeitlichen fristgemäßen Kündigung nur nach § 15 III TzBfG kommen. Dies entspricht auch § 620 BGB. Ist eine solche Kündigungsmöglichkeit nicht vorgesehen, kommt nur eine außerordentliche Kündigung unter den Voraussetzungen des § 626 BGB in Betracht. Bei einer längeren Probezeit gilt nach Ablauf der 6 Monate die
Frist des § 622 I BGB.
2. Nach § 622 IV BGB können von den Vorschriften des § 622 I bis III BGB abweichende Regelungen durch Tarifvertrag vereinbarten werden. Es sind m.a.W.
die Grundkündigungsfrist des § 622 I und II BGB sowie die Kündigungsfrist des §
622 III BGB während der vereinbarten Probezeit tarifoffen (tarifdispositives Gesetzesrecht). Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags gelten die abweichenden
tarifvertraglichen Bestimmungen bei entsprechender Vereinbarung auch zwischen
nicht tarifgebundenen ArbG und AN.
Aber auch in diesem Fall ist § 622 VI BGB zu beachten, wonach für die Kündigung
durch den AN keine längere Frist vereinbart werden darf, als für die Kündigung
durch den ArbG (nachfolgend unter 4.).
3. Die Möglichkeit einer einzelvertraglichen Verkürzung der Kündigungsfrist des
§ 622 I BGB für ArbG wie AN beschränkt das Gesetz auf zwei für den AN hinnehmbare Fälle (beschränkt dispositives Gesetzesrecht): Nach § 622 V 1 BGB zum
einen für den Fall einer kurzfristigen Aushilfstätigkeit, zum anderen in einem
Kleinunternehmen mit in der Regel nicht mehr als 20 Vollzeit-AN ausschließlich
Auszubildender, in diesem Fall durch die Beseitigung der festen Kündigungstermine.
4. Das Gesetz stellt in § 622 V 3 BGB klar, dass die Kündigungsfristen der § 622 I
bis III BGB für ArbG wie AN einzelvertraglich verlängert werden können. Zum
Schutz des AN vor einer Beeinträchtigung seines Kündigungsinteresses ist dann aber
in § 622 VI BGB bestimmt, dass für die Eigenkündigung des AN keine längere
Frist vereinbart werden darf, als für die Kündigung durch den ArbG; wohl aber
wäre eine umgekehrte Vereinbarung zulässig.
Diese Regelung enthält eine Aufforderung zur Fristenparität. In den Fällen, in denen
bei einzelvertraglicher Vereinbarung einer längeren Frist für die Kündigung durch
den AN der ArbG dem AN kündigt, ist nach dem Urteil des BAG v. 2.6.2005 – 2
AZR 296/04 – in NZA 2005, 1176 dem Grundsatz der Gleichheit der Kündigungsfris-
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ten dadurch Rechnung zu tragen, dass die längere Frist für den AN auch für den
ArbG gilt. Die Frage, ob nach dem Schutzzweck des § 622 VI BGB etwas anderes
gilt, wenn der AN sein Arbeitsverhältnis kündigt, lässt das BAG a.a.O. ausdrücklich
dahingestellt sein. Und dies mit gutem Grund!
Wenn nämlich eine für die Kündigung durch den AN zu Unrecht vereinbarte längere Kündigungsfrist nicht nur für die Kündigung durch den ArbG, sondern auch für die
Eigenkündigung des AN gelten würde, läge darin ein Verstoß gegen § 622 VI BGB,
der die Vereinbarung einer längeren Frist für die Kündigung durch den AN gerade
ausdrücklich verbietet („darf keine längere Frist vereinbart werden“). Durch eine Angleichung beider Fristen „nach oben“ wird das Gebot der Fristenparität zwar formal
erfüllt, das Verbot des § 622 VI BGB jedoch durchkreuzt. Die Heranziehung des § 89
II 2 HGB missachtet das Schutzbedürfnis des AN.
Es muss vor allem berücksichtigt werden, dass sich der AN einer gegen § 622 VI
BGB verstoßenden arbeitsvertraglichen Vereinbarung gar nicht widersetzen kann, da
der Inhalt des Arbeitsvertrags durch den ArbG vorformuliert wird (oben § 4 II.).
Wenn der ArbG für die Eigenkündigung des AN auf eine lange Frist Wert legt, kann
er dem Verbot des § 622 VI BGB nur dadurch begegnen, dass er auch seine Kündigung von vorn herein einer gleich langen Frist unterwirft. Tut er das nicht, darf seinem verbotswidrigen Handeln in Ansehung einer Eigenkündigung des AN nicht der
gleiche Effekt zukommen, als wenn er rechtmäßig gehandelt hätte. Es ist eben ein
Unterschied, ob der ArbG kündigt oder der AN. Eine dem Schutzzweck des § 622 VI
BGB gerecht werdende Lösung fordert, dass sich in diesem Fall die Frist für die
Kündigung durch den AN nach der gesetzlichen Regelung des § 622 VI BGB richtet,
von der abgewichen wurde. Daraus folgt, dass die kürzere Frist für die Kündigung
durch den ArbG auch für die Eigenkündigung des AN gilt (vgl. Küttner/Eisemann, Personalbuch 2013 Kündigungsfristen, Rn. 14). Die h.M. steht auf
dem entgegengesetzten Standpunkt, wobei sie Entscheidung des BAG a.a.O. und den
Schutzzweck des § 622 VI BGB verkennt (vgl. Staudinger/Peters (2012) § 622 Rn.55
bis 57)
Sind für die Kündigung durch den AN weniger Kündigungstermine vereinbart als
für eine Kündigung durch den ArbG, ist bei einer Eigenkündigung des AN wie vorstehend zu verfahren.
Die ordentliche Kündigung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses kann einzelvertraglich oder
in einem anwendbaren Tarifvertrag ausgeschlossen werden. Um den AN vor einer ihn u.U. belastenden Bindung an einen ArbG zu schützen, bestimmt § 15 IV TzBfG, der der inhaltsgleichen Vorschrift des § 624 BGB als die speziellere Norm vorgeht, dass ein Arbeitsverhältnis, das für die Lebenszeit des AN oder für länger als 5 Jahre eingegangen ist, (nur) vom AN nach Ablauf von 5 Jahren mit
einer Frist von 6 Monaten gekündigt werden kann. Eine fristlose Kündigung nach Maßgabe des § 626
BGB ist hingegen jederzeit möglich
§ 622 VI BGB ist der allgemeine Grundsatz zu entnehmen, dass die ordentliche
Kündigung durch den AN nicht faktisch erschwert werden darf. Deshalb sind
einseitig zu Lasten des AN wirkende Kündigungshindernisse, wie die Vereinbarung
z.B. einer Vertragsstrafe für den Fall der fristgemäßen Kündigung, der Verpflichtung
zur Rückzahlung von Gratifikationen u.ä. Sondervergütungen oder des Verfalls einer
vom AN gestellten Kaution nach § 307 I i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB unwirksam.
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II. Die Kündigung vor Arbeitsaufnahme
Aus einem nach § 626 BGB wichtigen Grund kann der AN den Arbeitsvertrag schon
vor Arbeitsantritt mit sofortiger Wirkung fristlos kündigen. Spricht der AN eine ordentliche Kündigung schon vor Arbeitsantritt aus, beginnt der Lauf seiner Kündigungsfrist im Zweifel (= wenn nicht deutliche Hinweise dagegen sprechen) mit dem
Zugang der Kündigung beim ArbG und nicht erst mit dem Tag des vereinbarten Arbeitsantritts. Liegen Fehlzeiten innerhalb der Kündigungsfrist des nicht angetretenen Arbeitsverhältnisses, können für diesen Zeitraum die den (fiktiven) Lohn des
nicht erschienenen AN übersteigenden Mehrkosten für eine Aushilfskraft als Schadensersatz statt der Leistung gemäß §§ 280 I, III, 283 BGB in Betracht kommen (sog.
Verfrühungsschaden). Wurde der Ausfall der Arbeitskraft durch Mitarbeiter aufgefangen, wird der Arbeitgeber einen entsprechenden „normativer Schaden“ ersetzt verlangt können. Ein Anspruch des ArbG auf Ersatz der erneut anfallenden Inseratsund Vorstellungskosten besteht nicht; denn diese Kosten wären dem ArbG auch
dann entstanden, wenn der AN nach Arbeitsantritt gekündigt hätte (= rechtmäßiges
Alternativverhalten).
Für den Fall einer Kündigung vor Arbeitsantritt enthält der Arbeitsvertrag nicht selten
eine Vertragsstrafeklausel. Dazu Näheres oben § 25 III. 1.
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§ 42 Der Betriebsübergang nach § 613a BGB (wird z.Zt. überarbeitet)
I. Die den Betriebsübergang kennzeichnenden Kriterien
1. Überträgt der ArbG die Vermögensgegenstände, die seinen Betrieb oder einen Betriebteil ausmachen, auf einen anderen Unternehmer, etwa im Wege der Veräußerung
oder der Verpachtung, entzieht er seinen AN ganz oder teilweise die Beschäftigungsgrundlage. Dem AN, der mangels Betriebssubstanz nicht mehr mit Arbeit versorgt
werden kann, würde die betriebsbedingte Kündigung drohen. Könnte der Erwerber
der Betriebsmittel frei entscheiden, ob er überhaupt und wenn ja, welche der beschäftigungslos gewordenen AN des früheren Betriebsinhabers er bei sich einstellt, und
dies u.U. auch noch zu schlechteren Arbeitsbedingungen, wäre die Möglichkeit eröffnet, durch Übertragung der Betriebsmittel auf eine eigens zu diesem Zweck gegründete GmbH unter Umgehung des Kündigungsschutzes die Personalkosten zu senken.
Angesichts solcher Szenarien fühlte sich der Gesetzgeber aufgerufen, eine Regelung
zu schaffen, die die Belange der AN schützt, ohne den Erwerber von Betriebsmitteln
mehr als unbedingt nötig mit ungewollten Personalkosten zu belasten. So kam es im
Jahre 1972 zur Einfügung des § 613a in das BGB, der auf Grund einer Reihe von späteren EG-RL mehrfach geändert und ergänzt wurde.
2. Unter der Voraussetzung, dass „ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft
auf einen anderen Inhaber über(geht)“, bestimmt § 613a BGB, dass der neue Inhaber
„in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein(tritt)“. Es handelt sich dabei um einen Vertragsübergang kraft
Gesetzes, ähnlich der Anordnung des § 566 BGB, wonach die Veräußerung von
Wohnraum an einen Dritten „nicht die Miete bricht“. Eine mit ihren europarechtlichen Vorgaben konforme Anwendung des § 613a BGB erfordert den Rückgriff auf
die aus der RL 77/187/EWG weiterentwickelten Betriebsübergangs-RL
2001/23/EG des Rates und die Heranziehung der hierzu ergangenen Vorabentscheidungen des EuGH (zur Vorabentscheidung des EuGH siehe oben § 3 IV.).
Vor dem Hintergrund, dass die wirtschaftliche Entwicklung zu Änderungen in den Unternehmensstrukturen führt, „die sich unter anderem aus dem Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch
Verschmelzung ergeben“ (Abs. 2 der Erwägungsgründe der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG), ist es
ein Anliegen des Rates der EU, die vom Inhaberwechsel betroffenen AN vor Rechtsnachteilen zu
schützen. Dabei geht es in erster Linie darum, zu verhindern, dass die AN wegen des damit bei ihrem
bisherigen ArbG eintretenden Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit ihre Arbeitsplätze verlieren.
In zweiter Linie soll der Gefahr einer Verschlechterung der Arbeitsvertrags-Bedingungen der unter
dem neuen Inhaber tätigen AN begegnet werden.
Angesicht der Vielfalt denkbarer Umstrukturierungsmaßnahmen steht die Frage im
Mittelpunkt, unter welchen Voraussetzungen darin ein Betriebsübergang liegt, der
den Fortbestand der zum bisherigen Betriebsinhaber bestehenden Arbeitsverhältnisse
in der Person des neuen Betriebsinhabers gebietet. Es ist m.a.W. zu entscheiden, was
an Substanz eines Betriebes oder Betriebsteils auf den Erwerber übergehen
muss, damit von einem Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des §
613a BGB gesprochen werden kann mit der Rechtsfolge, dass die Arbeitsverhältnisse
der im Betrieb oder Betriebsteil Beschäftigten auf den Erwerber als neuen ArbG
übergehen.
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3. Nach Maßgabe von Art. 1 (1) b) der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG gilt als
Betriebsübergang
► „der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im
Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit“.
Dabei ist der Unterschied zwischen dem Betrieb als Ganzem und einem Betriebsteil
rein quantitativ zu verstehen. Beim Betrieb wird die Gesamtorganisation übertragen,
beim Betriebsteil eine Teilorganisation, mit welcher der Betriebsinhaber innerhalb
des betrieblichen Gesamtzwecks bestimmte Teilzwecke verfolgte. Das ist leicht gesagt, doch kann gerade die Feststellung, ob die Übertragung eines Betriebsteils vorliegt, Schwierigkeiten bereiten.
Voraussetzung für einen die Anwendung des § 613a BGB auslösenden Übergang eines Betriebsteils
ist zum einen das Bestehen einer organisatorisch abgrenzbaren wirtschaftlichen Einheit schon
beim Veräußerer (BAG v. 13.10 2011 – 8 AZR 455/10 – in NZA 2011, VIII). Die weitere Aussage,
es müsse „der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit“ vorliegen, hat sich
bei der Übertragung gerade eines Betriebsteils indessen als problematisch erwiesen. Versteht man sie
nämlich in dem Sinne, dass der übertragene Betriebsteil seine organisatorische Selbständigkeit
bewahren müsse, wäre dies nicht mehr der Fall, wenn der Übernehmer den erworbenen Betriebsteil
auflöst und in seine eigene Struktur eingliedert.
Nach dem Urteil des EuGH v. 12.2.2009 (Vorabentscheidung; dazu oben § 3 IV.) in NZA 2009, 251
kann einer allein auf das Kriterium der organisatorischen Selbständigkeit abstellenden Auffassung von
der Identität der wirtschaftlichen Einheit angesichts des mit der RL verfolgten AN-Schutzes nicht gefolgt werden. Von einem Betriebsübergang soll vielmehr auch dann auszugehen sein, wenn der übertragene Betriebsteil „seine organisatorische Selbständigkeit nicht bewahrt, sofern die funktionelle
Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird, die es dem Erwerber erlaubt, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen“ (EuGH a.a.O. Rn. 53). Es kommt also darauf an, ob die übernommenen Ressourcen in ihrer funktionellen Verknüpfung auch dem Übernehmer einen der Situation beim Veräußerer vergleichbaren wirtschaftlichen Nutzen bringen.
Deutlicher ausgedrückt: „Wer sich durch Übernahme sächlicher, immaterieller oder personeller
Mittel in ein gemachtes Bett legt, soll als Betriebsübernehmer haften“ (ErfK/Preis § 613a BGB
Rn. 5).
4. Bei der Prüfung der Frage, ob eine wirtschaftliche Einheit auf den Erwerber übergegangen ist, sind sämtliche den Vorgang kennzeichnenden Tatsachen zu bewerten.
Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich das BAG angeschlossen hat (vgl.
BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04 – in NZA 2006, 723b ff.; BAG v. 13.6.2006 – 8
AZR 271/05 – Rn. 20 in NZA 2006, 1101 ff.) sind hierbei als Teilaspekte einer Gesamtbetrachtung vor allem nachfolgend aufgeführte, sich teilweise überschneidende
sieben Kriterien in die Prüfung einzubeziehen, denen je nach Art und Weise der im
fraglichen Bereich ausgeübten Aktivitäten unterschiedliches Gewicht zukommt.
Dabei macht der EuGH deutlich, dass ein Betriebsübergang nicht allein von der
Übertragung materieller und immaterieller Betriebsmittel abhängt, sondern bei
der Anwendung des § 613a BGB entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG
auch der Übernahme von Personal ein erheblicher Stellenwert zukommt. Nur darum wurde des möglich, auch Dienstleistungsbetriebe auf den Gebieten z.B. der Gebäudereinigung, der Bewachung und des Kundendienstes, die über so gut wie keine
materiellen und immateriellen Betriebsmittel verfügen, der Anwendung des § 613a
BGB zugänglich zu machen.
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(1) Die Art des Unternehmens bzw. Betriebes oder Betriebsteils
Ein Betrieb ist als eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen, in der unter Einsatz personeller, materieller und immaterieller Mittel eine marktfähige Leistung erbracht
wird. Welche Betriebsmittel übergehen müssen, um den Tatbestand des Betriebsübergangs zu erfüllen, hängt maßgeblich von der Art des Unternehmens ab. Dabei
kommt es entscheidend darauf an, wo der „Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs“ liegt (BAG v. 13.12.2007
in NZA 2008, 1021
Erf/K 613a Rn. 12).
Das produzierende Gewerbe ist überwiegend durch materielle Betriebsmittel geprägt, wie z.B. Gebäude, Produktionsanlagen, Maschinen, Werkzeuge, Einzelteile,
Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate und Transportgeräte. In zweiter Linie sind immaterielle Betriebsmittel von Bedeutung, wie vor allem Patente, Lizenzen, Marken,
Know-how, Goodwill und spezielle Computerprogramme. Dem Personal allein
kommt hier, auch bei besonderer Qualifikation und speziellem Wissen, eine prägende
Rolle bei der Prüfung, ob ein Betriebsübergang vorliegt, nicht zu. Erf/K Rn. 12
Im Handels- und Dienstleistungsgewerbe, dessen Betriebsvermögen im Wesentlichen aus Rechtsbeziehungen besteht, kommt den immateriellen Betriebsmitteln eine prägende Rolle zu, zu denen außer den im vorigen Absatz schon genannten Wertgegenständen dieser Art auch Konzessionen, Kundenstamm, Dienstleistungsverträge
und Lieferbeziehungen gehören. Hinzu kommen u.U. solche Merkmale, wie Geschäftsräume und Geschäftslage, das Warenangebot und die Verkaufsorganisation.
Erf/K 13
In bestimmten Dienstleistungsbereichen, wie etwa dem der Gebäudereinigung,
dem eines Call-Centers, des Caterings, einer Privatschule oder im Bewachungsgewerbe kommt es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft an. Hier kann eine Gesamtheit von AN in ihrer Verbindung zu gemeinsamer Tätigkeit eine wirtschaftliche Einheit bilden, die ihre Identität dadurch bewahrt, dass der Erwerber zur
Weiterführung dieser Tätigkeit einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des
Personals übernimmt, das der Veräußerer bei sich eingesetzt hatte. Auf diese Weise
kann eine wirtschaftliche Einheit auch ohne wesentliche materielle oder immaterielle
Betriebsmittel zustande kommen und als „Arbeitssubstrat“ auf einen anderen Inhaber
übergehen mit der Folge, dass er nach § 613a BGB der neue ArbG auch des Restes
der Belegschaft geworden ist. Erf/K 13.
(2) Der Übergang materieller Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter
Der Übergang dieser Aktiva ist ein wesentliches Indiz für die Annahme eines Betriebsübergangs, der zur Anwendung des § 613a BGB führen kann.
Ein Übergang materieller Betriebsmittel setzt nicht voraus, dass sie dem Übernehmer zu Eigentum
übertragen oder sonst wie zur „eigenwirtschaftlichen Nutzung“ überlassen werden. Es reicht vielmehr
aus, dass sie ihm genauso wie dem bisherigen Betriebsinhaber z.B. aufgrund eines Miet- oder Pachtvertrages zur Verfügung stehen. Nutzt z.B. der neue Auftragnehmer für die Fluggast- und Gepäckkontrolle die Räume, technischen Einrichtungen und Kontrollgeräte des Auftraggebers (= Flughafenbetreiber), die zuvor dem bisherigen Auftragnehmer zur Durchführung des Auftrags zur Verfügung standen, so sind die materiellen Betriebsmittel auf ihn übergegangen. „Ihr Einsatz macht den eigentlichen
Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs aus“ (BAG a.a.O. II. 2.b)
aa)), so dass von einer übergangsfähigen wirtschaftlichen Einheit auszugehen ist. Der Erwerb einer
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einzelnen Maschine, eines Kfz oder einer „nackten“ Immobilie hingegen kann regelmäßig nicht als
Übergang eines Betriebsteils angesehen werden.
(3) Der Übergang immaterieller Betriebsmittel
Zum Begriff der immateriellen Betriebsmittel siehe schon oben unter a). Sie können
im Einzelfall den Wert der materiellen Betriebsmittel deutlich übersteigen, so z.B.
das Know-how und der Goodwill. Die Übertragung von gewerblichen Schutzrechten
und Lizenzen ist stets ein Indiz für einen Betriebsübergang. Ihre Nichtübernahme
spricht gegen einen Betriebsübergang. Das Know-how wird im Wesentlichen durch
die AN verkörpert, so dass dieses Kriterium in die Gewichtung der Übernahme von
Teilen der Belegschaft einfließt (ErfK/Preis § 613a BGB Rn. 23 und nachfolgend d).
(4) Die Übernahme von Arbeitnehmern
Zum Betriebsbegriff im Sinne des § 613a BGB zählen nach der Rechtsprechung des
EuGH auch die AN des Betriebes. Auch sie können als wirtschaftliche Einheit übernommen werden, und zwar unabhängig von etwaigen materiellen oder immateriellen
Betriebsmitteln. Insbesondere im Dienstleistungsbereich ist die Übernahme eines
nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils der Belegschaft ein gewichtiges Indiz für die Annahme eines Betriebsübergangs. Im Bereich einfacher Tätigkeiten, wie
etwa der Reinigung oder Bewachung, dürfte eine Übernahme von mehr als zwei Drittel der bisher Beschäftigten für eine Betriebsübernahme sprechen. Bei qualifizierten
oder spezialisierten Tätigkeiten, wie etwa der Lehrtätigkeit auf einer Privatschule,
dürfte der Schwellenwert bei etwa der Hälfte des Personals liegen. Bei einem „Edelrestaurant“ könnte u.U. die Übernahme des einen Chefkochs ausreichen (BAG vom
11.9.1997 in NZA 1998, 31, 33). So gesehen können Betriebsmittel auch in Personen
„verkörpert“ sein, zumal wenn ohne deren Spezialkenntnisse eine Fortführung des
Betriebs kaum möglich ist (ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 41).
Fraglich ist, ob bei der Übernahme von Personal auch Arbeitsorganisation und Betriebsmethoden des bisherigen ArbG beibehalten werden müssen. Haben die übernommenen AN mit dem Übernehmer dieselben Aufgaben unter im Wesentlichen
gleichen Bedingungen zu erledigen, besteht kein Zweifel am Übergang einer „ihre
Identität bewahrenden wirtschaftliche Einheit“ mit der Folge, dass auch die Arbeitsverhältnisse der nicht übernommenen AN, die bisher zu dieser Einheit gehörten, auf
den Übernehmer übergegangen sind. Verfolgt der Übernehmer mit dem übernommenen Personal hingegen von Anbeginn im Rahmen einer grundlegend anderen Betriebsorganisation einen grundlegend andersartigen Betriebszweck, entstehen
Probleme. Nach dem Urteil des EuGH in seinem Urteil vom 12. 2 2009 in NJW 2009,
2029 ff. soll es im Einzelfall darauf ankommen, ob trotz des Verlustes der organisatorischen Selbständigkeit der übernommenen Einheit „die funktionelle Verknüpfung
zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird“, die „es dem Erwerber erlaubt diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.“ Im Falle der Übernahme von AN als dem wesentlichen Produktionsfaktor im Betrieb ihres bisherigen ArbG wird es demzufolge
darauf ankommen, ob sie dem Erwerber in ihrem Zusammenwirken einen ihrem bisherigen Arbeitsertrag vergleichbaren wirtschaftlichen Nutzen vermitteln (siehe oben
unter 3.).
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(5) Die Übernahme der Kundschaft
Das Merkmal der Übernahme oder Nichtübernahme der Kundschaft hat unterschiedliches Gewicht je nach Art des Betriebes, dessen Übergang in Frage steht. Geht es
um einen Produktionsbetrieb, kommt der Fortsetzung der Kundenbeziehungen neben dem Übergang der materiellen und immateriellen Betriebsmittel nur geringe Bedeutung zu und ist als alleiniges Merkmal bedeutungslos. Hingegen bildet der Eintritt
des Bewerbers in die Kundenbeziehung des bisherigen Betriebsinhabers ein ausschlaggebendes Indiz für die Annahme eines Betriebsübergangs bei Dienstleistungsunternehmen, wie z.B. im Gaststättengewerbe, im Handel, bei einer Werbeagentur
oder freiberuflichen Praxis eines Steuerberaters, Wirtschaftsprüfers, Rechtsanwalts,
Notars oder Arztes. Voraussetzung dafür ist, dass der bisherige Betriebsinhaber seinem Nachfolger Zugang zum Kreis seiner Kunden, Auftraggeber, Lieferanten, Mandanten oder Patienten gewährt, regelmäßig in Gestalt der Übertragung der Kundenkartei, der wesentlichen Mandatsakten, der Vertriebsberechtigung für ein bestimmtes
Gebiet u.ä. Dabei ist wesentlich, ob der Übernehmer nach wie vor denselben Kundenkreis anspricht.
Dienstleistungstätigkeiten, wie z.B. Reinigung und Bewachung, bilden eine „ihre Identität bewahrende
wirtschaftliche Einheit“ oft gerade dadurch, dass sie vom Übernehmer für einen bestimmten Auftraggeber schon des bisherigen Betriebsinhabers in Ansehung bestimmter Objekte, die schon der bisherige
Betriebsinhaber betreut hat, weitergeführt werden. Besonders deutlich wird dieses Merkmal z.B. bei
der Fluggast- und Gepäckkontrolle auf einem bestimmten Flughafen. Setzt der Übernehmer dazu auch
noch den Hauptteil der Belegschaft des bisherigen Betriebsinhabers ein, ergibt sich aus der Kombination beider Merkmale ein sicheres Indiz für einen Betriebsübergang.
(6) Die Ähnlichkeit der Tätigkeit vor und nach der Übernahme
Die Tatsache allein, dass der Nachfolger die Tätigkeit seines Vorgängers fortführt, ist
solange ohne Bedeutung, wie dies nicht mit Betriebsmitteln und/oder Personal geschieht, das der Nachfolger von seinem Vorgänger übernommen hat. Der bloße Umstand, dass die vom bisherigen und dem neuen Unternehmer erbrachten Leistungen
gleichartig sind, ist kein Fall eines Betriebsübergangs: So wenn A die Wartung seiner
Maschinen zunächst selbst und dann durch B als Auftragnehmer betreiben lässt, oder
erst der Auftragnehmer B und dann der Auftragnehmer C die Maschinen des A wartet. In diesen Fällen handelt es sich um eine bloße Funktionsnachfolge (unten 4.).
Bei Produktionsbetrieben ist die Ähnlichkeit der Tätigkeit des neuen Betriebsinhabers
regelmäßig durch die Art der materiellen Betriebsmittel, die er übernimmt, vorgeprägt. Im Dienstleistungsbereich wird die Feststellung einer signifikanten Ähnlichkeit
der Tätigkeit des übernommenen Personals vor und nach der Übernahme vor allem
davon abhängen, ob und inwieweit Betriebsmethoden und Arbeitsorganisation wenigstens zunächst einmal gleich bleiben bzw. die Tätigkeit auf der Grundlage eines
ähnlichen Konzepts erfolgt und sich an den gleichen Kundenkreis wendet
(ErfK/Preis, § 613a BGB Rn. 33). Nach dem Urteil des EuGH vom 12. 2. 2009 in
NJW 2009, 2029 ff. soll wenigstens „die funktionelle Verknüpfung zwischen den
übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten“ werden, die „es dem Erwerber erlaubt
diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.“ (siehe vorstehend unter d).
In dem Fall, dass ein Kommunalunternehmen, welches Krankenhäuser betreibt, eine Service-GmbH
gründet, die alle Reinigungskräfte dieser Krankenhäuser zu schlechteren Arbeitsbedingungen über-
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nimmt und sie im Wege der AN-Überlassung an das Kommunalunternehmen (zurück)verleiht, wo sie
die gleiche Tätigkeit verrichten wie bisher, hat das BAG mit Entscheidung vom 21.5.2008 in NZA
2009, 291 den mit den AN auf Anraten des Kommunalunternehmens abgeschlossenen Aufhebungsvertrag wegen Umgehung des § 613a BGB für rechtsunwirksam erklärt. Für die Feststellung der Ähnlichkeit der Tätigkeit vor und nach der Übernahme des Personals als Indiz für den „Übergang einer ihre
Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit“ stellt das BAG auf die Gleichartigkeit des tatsächlichen Einsatzes der übernommenen AN ab. Der unterschiedliche Betriebszweck einerseits des Kommunalunternehmens (Krankenhausbetrieb) und andererseits der Service-GmbH (AN-Verleih) fiel nach
dem BAG vor allem deswegen nicht ins Gewicht, weil die Zurverfügungstellung von Personal an das
Kommunalunternehmen (oder dessen Tochterunternehmen) der ausschließliche Gegenstand des Unternehmens der Service-GmbH war (unten § 40 I.2.).
(7) Die Dauer der Unterbrechung der Geschäftstätigkeit
Für die Annahme eines Betriebsübergangs ist wesentlich, dass der Erwerber den
übernommenen Betrieb oder Betriebsteil tatsächlich fortführt. Eine Unterbrechung
der Betriebstätigkeit vor dem Eintritt des Erwerbers ist solange unschädlich, wie
die wirtschaftliche Einheit dadurch noch nicht untergegangen ist, sondern vom Markt
nach wie vor als solche wahrgenommen wird und ihren bisherigen Nutzwert nun dem
Erwerber vermittelt.
Es kommt – wie immer – auf den Einzelfall unter Berücksichtigung der Art des Unternehmens an. So führt z.B. bei einem Saisonbetrieb die jahreszeitlich bedingte
Schließung dann nicht zu einem Identitätsverlust, wenn er zu Beginn der nächsten
Saison wieder öffnet. Modefachgeschäfte und Gaststättenbetriebe hingegen verlieren
bei längerer Schließung in der Regel ihre Kundschaft und damit ihre ursprüngliche
Identität. Der Erwerber muss eine neue Identität auf seine Weise aufbauen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Stilllegung eines Betriebes einen
Betriebsübergang ausschließt. Hat der bisherige Betriebsinhaber seine wirtschaftliche Tätigkeit in der Absicht eingestellt, den Betriebszweck auf Dauer, mindestens
aber für eine wirtschaftlich erhebliche Zeit nicht mehr zu verfolgen, und ist die Betriebsorganisation deswegen tatsächlich aufgelöst, kommt ein Betriebsübergang nicht
mehr in Betracht (Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 2008, § 21 III 2 c).
5. Die bloße Funktionsnachfolge
Die bloße Funktionsnachfolge, bei der keine Ressourcen übergehen, sondern der Betriebsinhaber einem anderen Betriebsinhaber den Auftrag erteilt, eine betriebliche
Aufgabe wahrzunehmen, ist kein Betriebsübergang. Dabei sind folgende Varianten
denkbar:

Das klassische Qutsourcing in Gestalt der Fremdvergabe von betrieblichen
Aufgaben in der Weise, dass A in seinem Betrieb bisher selbst wahrgenommene
Arbeiten erstmals einem B zur Durchführung vergibt, der sie unter Einsatz
seiner bei ihm bereits vorhandenen eigenen personellen, materiellen und/oder
immateriellen Mittel erfüllt;

Die Auftragsnachfolge, bei der A dem B übertragene Aufgaben entzieht und
einem C zur eigenständigen Durchführung überträgt;
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
Die Auftragsübernahme, bei der C in die von A dem B übertragenen Aufgaben mit dem Einverständnis von A und B eintritt und sie statt B eigenständig
weiterführt.

Die Auftragsrücknahme, bei der A dem B vergebene Aufgaben entzieht und
sie in seinem Betrieb wieder selbst wahrnimmt.
In all diesen Fällen kann es allerdings dann zu einem Betriebsübergang kommen,
wenn der neue Akteur zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben materielle oder
immaterielle Betriebsmittel des bisherigen Akteurs und/oder einen wesentlichen Teil
des von diesem mit der Durchführung dieser Aufgaben bisher betrauten Personals
übernimmt und einsetzt.
Ein gängiges Beispiel hierfür bildet auch das Qutsourcing in Gestalt eines Management-Buy-Out, bei
dem das Management eines Betriebsteils diesen im Wege eines Asset Deals erwirbt und nunmehr selbständig betreibt; etwa den Logistik-Bereich eines Unternehmens.
II. Der Übergang des Betriebs oder Betriebsteils auf einen neuen Inhaber
Der Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils i.S.d. § 613a I 1 BGB setzt einen
Wechsel der Rechtspersönlichkeit des Betriebsinhabers voraus. Der neue Betriebsinhaber wird im Regelfall Eigentümer der ihm übertragenen materiellen und
immateriellen Betriebsmittel werden. Das muss es aber nicht so sein. Es reicht z.B.
aus, dass er einen Betrieb als Pächter übernimmt und im eigenen Namen weiterführt,
wie dies häufig bei einer Gaststätte der Fall ist, die der Eigentümer als Verpächter einem Pächter zur Führung überlässt. Entscheidend für den Inhaberwechsel ist also
nicht zwingend die Vollrechtsübertragung der Gegenstände des Betriebsvermögens,
sondern der Wechsel der tatsächlichen Organisations- und Leitungsmacht von
einer Rechtspersönlichkeit auf eine andere.
III. Der Übergang durch Rechtsgeschäft
Nach § 613a I 1 BGB führt nur ein rechtsgeschäftlicher, d.h. einverständlich durch
Vertrag herbeigeführter Übergang zum Eintritt des Erwerbers in die bestehenden
Arbeitsverhältnisse. Daran fehlt es, wenn der Betriebsübergang kraft Gesetzes oder
sonstigen Hoheitsaktes, z.B. durch Privatisierung eines öffentlichen Rechträgers,
stattfindet. Bei einer Gesamtrechtsnachfolge durch Erbfall, einerlei, ob sie kraft Gesetzes oder auf Grund eines Testaments eintritt, bedarf es der Anwendung des § 613a
BGB schon deswegen nicht, weil die Arbeitsverhältnisse nach § 1922 BGB auf
den/die Erben übergehen. In den Fällen einer Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung auf Grund des UmwG verweist dessen § 324 ausdrücklich auf die
Anwendbarkeit des § 613a I und IV bis V BGB.
Der Übergang wird regelmäßig durch die Übertragung von Gegenständen des Betriebsvermögens und/oder der Übernahme von Teilen der Belegschaft des bisherigen
Betriebes auf der Grundlage eines Kauf-, Schenkungs-, Miet- oder Pachtvertrages
herbeigeführt. Entscheidend aber ist, wie schon unter vorstehend II. hervorgehoben,
die tatsächliche Übernahme der Organisations- und Leitungsmacht, so dass es
noch nicht einmal auf die Rechtswirksamkeit der vorgenannten Schuldverträge und
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der auf die Übertragung der verschiedenen Betriebsmittel gerichteten Einzelgeschäfte
ankommen soll (Krause a.a.O. § 16 II. 3. am Ende).
IV. Die Rechtsfolgen des Betriebsübergangs
1. Der Übergang der Arbeitsverhältnisse
Nach § 613a I 1 BGB besteht die Rechtsfolge des Betriebsübergangs in erster Linie
darin, dass der neue Betriebsinhaber „in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein(tritt)“. Es handelt sich um
einen Vertragsübergang kraft Gesetzes. Eine Einwilligung der betroffenen AN in
diesen Wechsel des Arbeitgebers ist nicht erforderlich. Allerdings kann der AN nach
§ 613a VI BGB dem Übergang des Arbeitsverhältnisses widersprechen (dazu nachfolgend unter 2.).
Im Fall der Übertragung nur eines Betriebsteils oder eines von mehreren Betrieben
kann es mitunter strittig werden, welche AN von dem Vertragsübergang betroffen
sind. Um Manipulationen zu unterbinden, bedarf es einer Zuordnung der AN nach
objektiven Kriterien. Hiernach kommt es entscheidend darauf an, in welche Einheit
der AN organisatorisch eingegliedert ist.
2. Die Unterrichtung der Arbeitnehmer und ihr Widerspruchsrecht
a) Nach § 613a V BGB hat der bisherige Arbeitgeber oder der neue Inhaber die von
einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer vor dem Übergang in Textform (§ 126a
BGB) umfassend zu unterrichten, damit sie eine ausreichende Wissensgrundlage
für die Ausübung oder Nichtausübung des ihnen nach Abs. 6 eingeräumten Widerspruchsrecht erhalten. Nach den gesetzlichen Vorgaben umfasst die Unterrichtungspflicht 1. den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Übergangs, 2. den Grund
für den Übergang, 3. die rechtlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die AN und 4. die hinsichtlich der AN in Aussicht genommenen Maßnahmen.
Einzelheiten zum Umfang der Unterrichtungspflicht enthält das Urteil des BAG vom
14. 12. 2006 - 8 AZR 763/05 - in NZA 2007, 682 ff. Es betont nachdrücklich, dass
nur eine ordnungsgemäße, also vollständige und zutreffende Unterrichtung die
Widerspruchsfrist des § 613a VI BGB in Gang setzt. Sie wird häufig durch den
Veräußerer vorgenommen, meistens jedoch gemeinsam mit dem Erwerber. In jedem
Fall richtet sich der Inhalt der Unterrichtung nach dem Kenntnisstand beider zum
Zeitpunkt der Unterrichtung. Beide sind für die Erfüllung der Unterrichtungspflicht
darlegungs- und beweispflichtig. Entspricht die Unterrichtung formal den Anforderungen des § 613a V BGB, ist es Sache des AN, einen Mangel (im Rahmen einer sog.
abgestuften Darlegungslast) näher darzulegen. Die Unterrichtungsverpflichteten müssen dem dann mit entsprechenden Darlegungen und Beweisantritten entgegentreten.
Wie insbesondere die Verpflichtung, über „die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer“ zu unterrichten, deutlich macht,
besteht für die Unterrichtungsverpflichteten ein hohes Maß an Unsicherheit darüber,
ob sie im Streitfall den Vollständigkeitsanforderungen der Gerichte genügt haben.
Auf jeden Fall müssen ihre Hinweise über die rechtlichen Folgen des Betriebsüber-
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gangs genau und fehlerfrei sein. Nach dem BAG a.a.O. genügt es nicht, dass die Belehrung wenigstens „im Kern richtig“ ist und lediglich eine „ausreichende“ Unterrichtung erfolgt.
So kann es- wie in dem durch das Urteil des BAG a.a.O. entschiedenen Fall - dazu kommen, dass ein
AN dem am 1.1.2004 stattgefundenen Übergang des Service-Bereichs (Wartung von Kundengeräten)
eines Produktionsbetriebs, über den er als im Service-Bereich Beschäftigter am 2.12.2003 nicht ordnungsgemäß unterrichtet worden war, noch am 26.10.2004 widersprechen konnte mit der Folge, dass
sein Arbeitsverhältnis nicht auf den Erwerber überging, sondern mit dem Veräußerer (Produktion) bestehen blieb. Das war für ihn ein besonderer Glücksfall, weil der Erwerber des Service-Bereichs Mitte
2004 in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet und alsbald insolvent wurde. Gut, dass sein Anwalt das
Unterrichtungsschreiben vom 2.12 2003 auf Fehler untersucht hat und herausfand, dass die Erläuterung der in § 613a II 2 BGB getroffenen Regelung rechtsfehlerhaft war. Damit war das BAG der Notwendigkeit enthoben, zu der Streitfrage Stellung zu nehmen, ob auch die Verpflichtung bestanden hätte, über die finanzielle Lage des Erwerbers zu berichten. Den Einwand der Beklagten, dass der widersprechende AN sein Recht zur Ausübung des Widerspruchs infolge illoyal verspäteter Geltendmachung verwirkt habe, hat das BAG im vorliegenden Fall nicht gelten lassen.
Nach dem Urteil des BAG vom 13. 7. 2006 - 8 AZR 382/05 - in NZA 2006, 1406 ff.
zu Rn. 44 kann der nicht, nicht zutreffend oder unzureichend unterrichtete AN gegen
den Veräußerer als seinen ehemaligen ArbG und/oder gegen den Erwerber als seinen
neuen ArbG auch Ansprüche auf Eratz eines ihm durch den Informationsfehler entstandenen Schadens wegen Pflichtverletzung aus § 280 I BGB (gegen den Erwerber
vor Betriebsübergang über §§ 311 II, 241 II BGB) geltend machen.
b) Der AN hat zwar kein Recht, dem Betriebsübergang als solchem zu widersprechen, wohl aber dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses vom Veräußerer auf den
Erwerber. Massenhafte Widersprüche in der (nachweisbaren) Absicht, den Betriebsübergang zu verhindern oder wesentlich zu erschweren, wären, weil rechtsmissbräuchlich, nach § 242 BGB unwirksam.
Nach § 613a VI BGB ist der Widerspruch innerhalb eines Monats nach Zugang
einer ordnungsgemäßen (siehe vorstehend unter a) Unterrichtung gegenüber dem bisherigen ArbG oder gegenüber dem neuen Inhaber schriftlich zu erklären. Dabei reicht
es aus, dass der entsprechende rechtsgeschäftliche Wille des AN z.B. in einem arbeitsgerichtlichen Schriftsatz „einen andeutungsweisen Ausdruck gefunden hat“
(BAG a.a.O. Rn. 26 ff,.) Der Widerspruch bedarf keiner Begründung. Nach seiner
Ausübung soll er vom AN nicht einseitig zurückgenommen werden können, sondern
nur im Wege eines dreiseitigen Aufhebungsvertrages zwischen dem AN, dem bisherigen ArbG und dem neuen Betriebsinhaber.
Ein wirksamer Widerspruch führt zum Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses mit dem
bisherigen ArbG. Dafür dass ein erst nach dem Betriebsübergang ausgesprochener
Widerspruch auf Zeitpunkt des Betriebsübergangs zurückwirken soll, lässt sich dem
Gesetz nichts entnehmen. Eine derartige Konstruktion ist auch nicht geboten (Rieble
in NZA 2004, 1 ff.).
Das Risiko des widersprechenden AN besteht darin, dass der bisherige ArbG ihm
betriebsbedingt kündigen kann, wenn er über keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit mehr verfügt. Das ist fraglos der Fall, wenn er nach der Veräußerung gar kein
Unternehmen mehr betreibt. Das kann aber auch der Fall sein, wenn nur ein Betriebsteil oder einer von mehreren Betrieben veräußert wurde. Das Kündigungsverbot des §
613a IV 1 BGB steht nicht entgegen, da die Kündigung hier nicht unmittelbar „wegen
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des Betriebsübergangs“ erfolgt. Bei Geltung des KSchG kommt es in dem Betriebsteil, dem der widersprechende AN wieder angehört, nun allerdings zu einer Sozialauswahl unter Beteiligung des widersprechenden AN nach Maßgabe des § 1 III
KSchG. Dadurch kann es dazu kommen, dass der Widersprechende einen vom Betriebsteilübergang nicht erfassten AN von seinem Arbeitsplatz verdrängt (BAG vom
31. 5. 2007 - AZR 276/06 – in NZA 2008, 33 ff.).
3. Die Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen
Sind die Rechte und Pflichten, die nach § 613a I 1 BGB auf den neuen Inhaber des
Betriebs oder Betriebsteils übergehen, durch Rechtsnormen eines (kraft Tarifbindung
nach § 3 I TVG anwendbaren) Tarifvertrag oder durch einen Betriebsvereinbarung
geregelt, so werden sie nach § 613a I 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem AN und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach
dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des AN geändert werden. Das gilt nach §
613a I 3 BGB allerdings nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber
durch Rechtsnormen eines anderen (kraft Tarifbindung nach § 3 I TVG anwendbaren)
Tarifvertrag oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Diese
Kollektivverträge verdrängen also die alten Bestimmungen. Es kommt auch nicht darauf an, ob die neuen Regeln besser oder schlechter als die alten sind; denn das
Günstigkeitsprinzip gilt in diesem Fall nicht.
Vor Ablauf der Jahresfrist des § 613a I 2 BGB können nach § 613a I 4 BGB die
Rechte und Pflichten geändert werden, wenn der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung nicht mehr gilt oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen Tarifvertrags dessen Anwendung zwischen dem neuen
Inhaber und dem AN vereinbart wird.
Der Grundsatz des § 613a I 2 BGB und seine in den Sätzen 3 und 4 enthaltenen Ausnahmen haben die Bedeutung einer Auffangregelung für den Fall, dass nicht ein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung kollektivrechtlich fortgeführt wird. Gehört
der Erwerber demselben ArbG-Verband an wie der Veräußerer, wirken die Normen
eines Verbands-Tarifvertrags ohne weiteres fort. Das gleiche gilt in Ansehung von
Betriebsvereinbarungen, sofern ein Betrieb als Ganzes übernommen wird und seine
Identität beibehält (Krause § 16 Rn. 10).
4. Die Weiterhaftung des Betriebsveräußerers
Nach § 613a II BGB haftet der bisherige ArbG neben dem neuen Inhaber als Gesamtschuldner für Verpflichtungen nach Abs. 1 Satz 1, soweit sie vor dem Zeitpunkt
des Übergangs entstanden sind und vor Ablauf von einem Jahr nach diesem Zeitpunkt
fällig werden. Werden solche Verpflichtungen nach dem Zeitpunkt des Übergangs
fällig, haftet der bisherige ArbG für sie jedoch nur in dem Umfang, der dem im Zeitpunkt des Übergangs abgelaufenen Teil ihres Bemessungszeitraums entspricht. Wer
seinen Betrieb am 31.3.veräußert hat, haftet also für ein Viertel der für das Jahresende
zugesagten Weihnachtsgratifikation als Gesamtschuldner neben dem Erwerber. Für
drei Viertel haftet der Erwerber allein. Im Innenverhältnis zu einander können Veräußerer und Erwerber allerdings eine abweichende Regelung treffen.
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5. Das Kündigungsverbot durch den bisherigen ArbG wegen des Betriebsübergangs
Nach § 613a IV 1 BGB ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines AN durch
den bisherigen ArbG oder durch den neuen Inhaber „wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils“ unwirksam. Das ist nur dann der Fall, wenn der Betriebsübergang der ausschlaggebende Beweggrund für die Kündigung ist, etwa weil
ein bestimmter AN dem Erwerber „zu teuer“ ist (Krause § 16 Rn. 12). Das Kündigungsverbot schützt nur die AN, die unmittelbar vom Betriebsübergang betroffen
sind, nicht aber solche, die zurückbleiben oder deren Arbeitsverhältnis infolge ihres
Widerspruchs mit dem bisherigen ArbG fortbesteht.
Wie § 613a IV 2 BGB ausdrücklich klarstellt, bleibt das Recht des Veräußerers oder
des Erwerbers zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen unberührt. Nach dem Urteil des BAG vom 20. 3. 2003 - 8 AZR 97/02 - in NZA 2003,
1027 ff. fallen hierunter auch Kündigungen des Veräußerers zur Umsetzung eines
Erwerberkonzepts oder eines Sanierungsplanes, dessen Durchführung im Zeitpunkt
des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat.
Das gleiche gilt, wenn der Erwerber den übernommenen Betrieb umstrukturiert und
dabei Arbeitsplätze abbaut (Krause a.a.O.).
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§ 43 Die Arbeitnehmerüberlassung (wird z.Zt. überarbeitet)
I. Vorbemerkung
Die §§ 1 bis 3 und 4 bis 8 AÜG enthalten Sonderregeln bezüglich der gewerberechtliche Zulässigkeit der AN-Überlassung, insbesondere über die Erlaubnispflicht, die Erteilung und das Erlöschen der Erlaubnis, ihre Versagung, ihre Rücknahme oder ihren Widerruf sowie Anzeige- und Auskunfts- und Meldepflichten des
Verleihers. § 3a AÜG und die Vorschriften der §§ 9 bis 14 AÜG enthalten die
arbeitsrechtlichen Sonderregeln, so über die Festlegung einer Lohnuntergrenze (§
3a AÜG), über die Rechtsfolgen unerlaubter AN-Überlassung (§§ 9 und 10 AÜG),
über den arbeitsrechtlichen Schutz des Leih-AN (§§ 11, 13 bis 14) und über die
Rechtsbeziehungen zwischen Verleiher und Entleiher (§ 12 AÜG). Die §§ 15 ff. betreffen das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie die Durchführung des
AÜG durch die Bundesagentur für Arbeit und die Zusammenarbeit mit anderen Behörden.
Man lasse sich nicht durch gelegentliche Wiederholungen irritieren, so z,B. im
Fall einerseits des § 3 I Nr. 3 und andererseits der §§ 9 Nr. 2, 10 IV. Es sind dieselben tatbestandlichen Voraussetzungen, die zum einen zur gewerberechtliche Versagung der Erlaubnis zur AN-Überlassung führen und zum anderen die Unwirksamkeit bestimmter Vereinbarungen zwischen dem Verleiher und seinem Leih-AN
nach sich ziehen.
II. Überblick
1. Die erlaubnispflichtige Arbeitnehmerüberlassung
Nach § 1 I 1 AÜG bedürfen ArbG, die als „Verleiher“ ihre AN als „Leih-AN“ „im
Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit“ Dritten als „Entleihern“ zur Arbeitsleistung überlassen, der Erlaubnis der Bundesagentur für Arbeit, die durch die Landesarbeitsämter (Regionaldirektionen) bzw. einzelnen Stützpunkt-Arbeitsämter
(Agenturen für Arbeit) erteilt werden. Zum Schutze der Leih-AN unterliegt die Tätigkeit der Verleiher damit behördlicher Kontrolle.
Die Verleiher müssen die AN-Überlassung nicht mehr mit Gewinnerzielungsabsicht betreiben, sondern nur noch „im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit“. Deswegen musste auf das Merkmal der
Gewerbsmäßigkeit ihrer Tätigkeit verzichtet werden. Damit unterliegen nunmehr auch konzerninterne Personalservicegesellschaften, die entlassene Stamm-AN als billigere Leih-AN zum Selbstkostenpreis zurückverleihen, der Erlaubnispflicht des § 1 I 1AÜG und damit der Kontrolle nach
Maßgabe dieses Gesetzes (vgl. oben § 13 III. 3.).
Der Leih-AN wird bei seinem ArbG mit dem Ziel eingestellt, ihn anderen Unternehmern zur Leistung von Arbeit in deren Betrieb zur Verfügung zu stellen. Nach §
1 I 2 AÜG gilt, dass die Überlassung nur „vorübergehend“, also nicht auf Dauer
erfolgen soll. Man bezeichnet die Leiharbeit darum auch als „Zeitarbeit“. Es fehlt
allerdings an einer zeitlichen Höchstgrenze der Überlassung.
Bei einem offensichtlich nicht nur vorübergehenden Einsatz des Leih-AN sieht das Gesetz keine
Sanktion vor. Es kommt insbesondere nicht in analoger Anwendung des § 10 I 1 AÜG zu einem
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Arbeitsverhältnis zwischen dem Leih-AN und dem Entleiher (BAG v. 10.12.2013 - 9 AZR 51/13 in ArbR 2014, 15). Allerdings kann der Betriebsrat des Entleihers dem Einsatz von Leih-AN auf
Dauerarbeitsplätzen nach § 14 III AÜG, § 99 II Nr. 1 BetrVG wegen des Verstoßes gegen § 1 I 2
AÜG widersprechen. In diesem Fall sind auch die Voraussetzungen des § 100 BetrVG nicht gegeben
(LAG Berlin-Brandenburg v. 9.1.2013 in ArbR 2013, 247). Der Betriebsrat des Entleihers könnte
auch auf der Grundlage von § 99 II Nr. 3 BetrVG widersprechen.
2. Die Rechtsverhältnisse zwischen den Beteiligten
In dem aus dem Verleiher, dem Leih-AN und dem Entleiher bestehenden DreiPersonen-Verhältnis sind drei verschiedene Rechtsbeziehungen zu unterscheiden.
 Zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN besteht das arbeitsrechtliche
Grundverhältnis in Gestalt des Arbeitsvertrages.
Der Verleiher ist der ArbG des Leih-AN. Den Verleiher treffen die üblichen ArbG-Pflichten
einschließlich der in seinem Verantwortungsbereich liegenden Schutz- und Fürsorgepflichten.
Ihn trifft vor allem die Pflicht zur Gewährung der Vergütung sowie der Entgeltfortzahlung aus
allen in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen. Im Krankheitsfall muss der Leih-AN
aber nicht nur den Verleiher, sondern auch den Entleiher über die Erkrankung unverzüglich unterrichten, weil er ja in dessen Betrieb tätig ist.
Der Leih-AN ist der AN des Verleihers. Er schuldet ihm die Leistung von Arbeit im Betrieb des vom Verleiher bestimmten Entleihers. Da der Anspruch auf
die Dienste nach § 613 S. 2 BGB aber nicht ohne weiteres übertragbar ist, bedarf der verleihende ArbG des Einverständnisses seines AN zur Überlassung an
Dritte. Diese Erklärung kennzeichnet
 Zwischen dem Leih-AN und dem Entleiher besteht das sog. arbeitsrechtliche Erfüllungsverhältnis, wonach der Entleiher dem Leih-AN gegenüber gewisse ArbG-Funktionen ausübt. Auf der einen Seite steht dem Entleiher daher
das Recht zu, die Arbeitsleistung, für deren Erfüllung ihm der Leih-AN vom
Verleiher zur Verfügung gestellt wurde, unmittelbar vom Leih-AN einzufordern
und entsprechende Weisungen zu erteilen. Auf der anderen Seite treffen den
Entleiher in dem hierdurch umrissenen Verantwortungsbereich dann aber auch
arbeitsrechtliche Schutz- und Fürsorgepflichten. Wie der Verleiher, so unterliegt
auch der Entleiher nach § 6 II 2 AGG dem Benachteiligungsverbot des § 7
AGG (Einzelheiten nachfolgend unter III.).
In dieser eigengearteten „Personalhoheit“ des Inhabers des Einsatzbetriebs liegt das entscheidende Kriterium der AN-Überlassung. Sofern der Fremdfirmeneinsatz eines AN nicht mehr von
seinem Vertrags-ArbG, sondern von dem Inhaber des Einsatzbetriebs gesteuert wird, befindet
sich der AN nämlich in einer Situation besonderer Schutzbedürftigkeit, die die Anwendung des
AÜG mit seinem strengen Reglement herausfordert.
 Zwischen dem Verleiher und dem Entleiher besteht ein ANÜberlassungsvertrag. Bei ihm handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag
eigener Art, der im BGB kein Vorbild hat. In dem Bestreben, ihn in die gesetzlich vorgesehene Vertragslandschaft begrifflich einzuordnen, wird er als
Dienstverschaffungsvertrag bezeichnet. Nach ihm schuldet der Verleiher dem
Entleiher die Überlassung seines AN zur Arbeitsleistung im Betrieb des Entleihers und der Entleiher dem Verleiher die Überlassungsvergütung, aus deren
Mitteln der Verleiher dem Leih-AN den als ArbG geschuldeten Lohn zahlt
(Einzelheiten nachfolgend unter IV.).
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Keine AN-Überlassung liegt vor, wenn ein ArbG seine AN als seine Erfüllungsgehilfen zur Erbringung einer eigenen Werkleistung im Betrieb des Auftraggebers
einsetzt. Der Verdacht illegaler AN-Überlassung unter dem Deckmantel des Werkvertrags kann z.B. dadurch ausgeräumt werden, dass der ArbG nachweist, die Gewährleistung für das im Betrieb des Auftragsgebers erbrachte Werk zu tragen und
über eine Betriebsorganisation zu verfügen, die ihn in den Stand setzt, mit eigenen
Produkten an den Markt zu gehen (ErfK/Wank, § 1 AÜG Rn. 8 ff,).
Ferner sind die Ausnahmebestimmungen des § 1 III AÜG zu beachten.
3. Das unternehmerische Konzept der Leiharbeit
In Deutschland sind z.Zt. mehr als 900.000 Menschen, also bald 3 % aller AN als
Leih-AN beschäftigt. Die Tendenz ist bislang steigend.
Die Attraktivität der Leiharbeit beruht entscheidend darauf, dass für den Entleiher der Einsatz von Leih-AN zur Erbringung bestimmter Tätigkeiten in bestimmten
Bereichen seines Unternehmens gegen Zahlung einer Überlassungsvergütung (einschließlich 19 % Umsatzsteuer!) insgesamt vorteilhafter ist, als die Beschäftigung
eigener AN. Der Vorteil der Leiharbeit für den Entleiher liegt vor allem darin, dass
er die entliehenen Arbeitskräfte ganz nach Bedarf einsetzen kann und nicht durch
die Risiken belastet ist, die sich in Ansehung eigener AN ergeben können, insbesondere auf Grund der durch das Befristungs- und Kündigungsrecht entstehenden
Probleme und Kosten. Darüber hinaus treffen ihn keine direkten und indirekten Personalzusatzkosten (oben § 16 II. 5.). In diesem Zusammenhang ist ferner die Tatsache von Bedeutung, dass die Leih-AN bei der Ermittlung des Schwellenwertes der
§§ 1 und 9 BetrVG für die Errichtung und Größe des Betriebsrates im Entleiherbetrieb auf jeden Fall dann nicht mitzählen, wenn sie nicht auf Langzeitarbeitsplätzen
zum Einsatz kommen.
Für den Verleiher ist entscheidend, dass er aus der Überlassungsvergütung die
Personal- und Sachkosten seines Unternehmens einschließlich der Personalkosten
seiner Leih-AN bezahlen kann und darüber hinaus Gewinn erzielt. Das Risiko von
Einnahmeausfällen auf Grund verleihfreier Zeiten muss er durch professionelle
Handhabung des Verleihgeschäfts, vor allem durch die Herstellung fester Beziehungen zu potentiellen Entleihern sowie die Einwerbung geeigneter Leih-AN und
ihre möglichst lückenlose Unterbringung bei den Entleihern zu vermeiden suchen.
Das finanzielle Risiko des Verleihers ist umso geringer, je mehr der zwischen ihm
und dem und dem Leih-AN vereinbarte Lohn den Lohn vergleichbarer AN des Entleihers unterschreitet. Im Interesse der Attraktivität der Leiharbeit für Arbeitsuchende sowie zum Schutze des Leih-AN vor finanzieller Ausbeutung und der AN
des Entleihers vor einer ihren Arbeitsplatz gefährdenden Billigkonkurrenz muss
dem Leih-AN allerdings ein angemessener, nach Leistungsmerkmalen gestaffelter
Mindestlohn gewährt werden, so dass sich der Einsatz von Leih-AN eigentlich nur
für Betriebe mit mittlerem und hohem Entgeltniveau lohnt: Leiharbeit kann nicht
dazu dienen, die Entgelte des Niedriglohnsektors noch zu unterbieten.
Für Arbeitssuchende bedeutet Leiharbeit die Aussicht auf einen Arbeitsplatz, dessen Bezahlung mit einem angemessenen Mindestlohn beginnt verbunden mit der
Chance, ggf. in den AN-Stamm des Entleihers zu wechseln. Um diese Möglichkeit
zu fördern, sind nach § 9 Nr. 3 und 4 AÜG Vereinbarungen, die es dem Entleiher
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oder dem Leih-AN untersagen, einen Arbeitsplatzwechsel des Leih-AN zum Entleiher herbeizuführen, unwirksam. Stattdessen darf der Verleiher mit dem Entleiher
für den Fall des Wechsels eine Vermittlungsvergütung vereinbaren. Vereinbarungen, nach denen der Leih-AN eine Vermittlungsvergütung an den Verleiher zu zahlen hat, sind nach § 9 Nr. 5 AÜG unwirksam.
Nach § 13a AÜG trifft den Entleiher die Pflicht, den Leih-AN (mindestens im Wege allgemeiner
Bekanntgabe) über Arbeitsplätze, die bei ihm besetzt werden sollen, zu informieren.
II. Einzelheiten im Rechtsverhältnis zwischen dem Verleiher und dem LeihAN
1.
In Ansehung der AN-Pflichten des Leih-AN gilt, dass sie während der Verleihzeit
dergestalt aufgespalten sind, als neben dem Verleiher auch der Entleiher berechtigt
ist, vom Leih-AN ihre Erfüllung einzufordern und Pflichtverletzungen zu verfolgen.
Der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN ist als ein Vertrag zugunsten Dritter i.S.v. § 328 BGB zu begreifen, insoweit die zwischen ihnen vereinbarte Hauptleistungspflicht
des Leih-AN darin besteht, die Arbeitsleistung dem durch den jeweiligen Überlassungsvertrag konkretisierten Entleiher (als dem außerhalb des Arbeitsvertrages stehenden Dritten) gegenüber zu erbringen. Auf dieser Rechtsgrundlage erwirbt der Entleiher unmittelbar das Recht, vom Leih-AN die
Arbeitsleistung zu fordern und ihm entsprechende Weisungen zu erteilen, ohne sein Arbeitsgeber zu
sein. Obwohl der Entleiher nicht in die Rechtsstellung eines Vertragspartners des Leih-AN einrückt,
wird man doch davon ausgehen müssen, dass in einer solchen Rechtsbeziehung auch ihm das Recht
zustehen muss, vom Leih-AN Schadensersatz statt der Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB zu verlangen, wenn er durch schuldhafte Nichtleistung, z.B. durch unerlaubtes Fernbleiben von der Arbeit, einen Schaden erleidet. Ebenso kann der Entleiher bei Schädigung durch eine schuldhafte
Schlechtleistung den Leih-AN nicht nur aus §§ 823 ff. BGB, sondern auch aus § 280 I BGB auf
Schadensersatz (neben der Leistung) in Anspruch nehmen; freilich unter Beachtung der Grundsätze
des innerbetrieblichen Schadensausgleichs (siehe dazu oben § 27). Ist es der Verleiher, der durch
schuldhafte Nicht- oder Schlechtleistung des Leih-AN einen Schaden erleidet, so haftet der Leih-AN
ihm als seinem ArbG ohne weiteres aus §§ 280 I, III, 283 BGB, aus § 280 I BGB oder aus §§ 823 ff.
BGB unter Beachtung der genannten Einschränkung.
Schädigt der Leih-AN bei seiner Arbeit im Betrieb des Entleihers einen außenstehenden Dritten, der
den Leih-AN aus § 823 ff. BGB auf Schadensersatz in Anspruch nimmt, besteht der dem Leih-AN
nach den Grundätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs zustehende Freistellungsanspruch
nicht gegenüber dem Verleiher, sondern gegenüber dem Entleiher.
Erleidet der Leih-AN beim Verleiher oder Entleiher einen Körperschaden, gilt § 104 SGB VII. Für
Sachschäden des Leih-AN haftet je nach Tatort der Verleiher oder der Entleiher in entsprechender
Anwendung des § 670 BGB.
Der zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN abgeschlossene Arbeitsvertrag
grenzt die Tätigkeit ein, für deren Ausführung der Leih-AN eingesetzt wird. Für die
Lage der Arbeitszeit kann mit Blick auf die unterschiedlichen Verhältnisse bei den
jeweiligen Entleihern nur ein Rahmen vorgegeben werden. Die Verpflichtung des
Leih-AN zur Leistung von Mehrarbeit nach Weisung des Entleihers setzt voraus,
dass der Leiharbeitsvertrag dies zulässt und der AN-Überlassungsvertrag den Entleiher dazu ermächtigt. Auch deren Vergütung erfolgt durch den Verleiher, dem der
Entleiher das hierfür zusätzlich vereinbarte Überlassungsgeld schuldet.
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Leiharbeit ist auch als Teilzeitarbeit möglich. Vielfach wird zwischen Verleiher
und Leih-AN Arbeit auf Abruf vereinbart.
2. Das Arbeitsentgelt des Leiharbeitnehmers
In Ansehung des Arbeitsentgelts, das der Leih-AN vom Verleiher beanspruchen
kann, gibt es im AÜG zahlreiche Vorschriften, von denen einige verwirrende Wiederholungen enthalten.
a) Der neu eingefügte § 3a AÜG enthält Grundlegendes über die Festsetzung einer
Lohnuntergrenze einheitlich für Verleihzeiten und verleihfreie Zeiten. Hiernach können Gewerkschaften und ArbG-Vereinigungen, die zumindest auch für ihre jeweiligen in der AN-Überlassung tätigen Mitglieder zuständig sind und bundesweit tarifliche Mindeststundenentgelte im Bereich der AN-Überlassung miteinander vereinbart haben, dem BMAS gemeinsam vorschlagen, diese für die Laufzeit des Tarifvertrages als einheitliche Lohnuntergrenze in eine Rechtsverordnung für alle in ihren Geltungsbereich fallenden ArbG sowie Leih-AN zu übernehmen. Dabei können die Mindeststundenentgelte nach dem jeweiligen Beschäftigungsort differenzieren. Es handelt sich um ein Verfahren, das dem des § 7 AEntG gleichkommt (oben § 5 III. 2
Da die Lohnuntergrenze auch für verleihfreie Zeiten gilt, hat die Vorschrift des § 11 IV 2 AÜG, wonach das Recht des Leih-AN auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers (§ 615 Satz 1 BGB)
nicht durch Vertrag (gänzlich) aufgehoben oder (nur auf bestimmte Fälle) beschränkt werden kann,
nur noch insoweit Bedeutung, als es an einer entsprechenden Rechtsverodnung fehlt. In diesem
Fall folgt die Pflicht des Verleihers zur Vergütung des Leih-AN aus der uneingeschränkten Anwendung des § 615 BGB. Der Verleiher trägt also in jedem Fall das Beschäftigungsrisiko des LeihAN! Demgemäß bestimmt § 11 I 2 Nr. 2 AÜG, dass in die Niederschrift der Arbeitsvertragsbedingungen zusätzlich zu den in § 2 I NachwG geforderten Angaben auch Angaben über die Vergütung des Leih-AN für Zeiten enthalten muss, in denen er nicht verliehen ist. Über die Höhe der
Vergütung (beim Fehlen einer durch Rechtsverordnung verbindlichen Lohnuntergrenze) wird allerdings nichts gesagt. Unter Beachtung der nach § 138 BGB gezogenen Grenzen, dürfte eine Entgeltvereinbarung knapp über der Grenze der Sittenwidrigkeit (oben § 11 II. am Ende) zulässig sein.
Der Entgelt-Tarifvertrag zwischen dem DGB und dem Bundesverband Zeitarbeit (BZA) sieht mit
Wirkung vom 1. 11. 2011 eine Lohnuntergrenze von 7,89 (West) und 7,01 (Ost) vor, die in die erste
Rechtsverordnung dieser Art übernommen werden wird.
b) In Vollzug des durch die LeiharbeitsRL 2008/104/EG vorgegeben Benachteiligungsverbots, enthalten die Vorschriften der §§ 9 Nr. 2 und 10 IV AÜG (siehe
auch § 3 I Nr. 3 AÜG, der sich auf die Versagung der Erlaubnis bezieht) die Regel,
dass der Verleiher verpflichtet ist, dem Leih-AN (nur) für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren AN
des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Man spricht neudeutsch vom Grundsatz des equal pay
and equal treatment.
§ 3 I Nr. 3 AÜG bestimmt, dass ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot die Erlaubnisbehörde, nach § 17 AÜG die Bundesagentur für Arbeit, zur Versagung der Erlaubnis zur AN-Überlassung
oder ihrer Verlängerung berechtigt. § 9 Nr. 2 AÜG bestimmt, dass eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, die gegen das Benachteiligungsverbot verstößt, unwirksam ist. Durch § 10 IV 4 AÜG werden die Rechtsfolgen der nach § 9 Nr. 2 eintretenden Unwirksamkeit eines Arbeitsvertrages geregelt.
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Das Benachteiligungsverbot bestimmt den Inhalt der wesentlichen Arbeitsbedingungen eines zwischen Verleihern und Leih-AN abgeschlossenen Arbeitsvertrages.
Das betrifft vor allem die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt einschließlich evtl.
Sonderzuwendungen. Verletzt der Verleiher das Benachteiligungsverbot, kann der
Leih-AN von ihm nach § 10 IV 4 AÜG Gleichstellung verlangen. Da von dem Benachteiligungsverbot des § 3 I Nr. 3 Satz 1 AÜG (ebenso § 9 Nr. 2 Halbs. 1 AÜG)
allerdings gemäß dem jeweils nachfolgenden Satz bzw. Halbsatz der genannten
Vorschriften durch einen Tarifvertrag abgewichen werden kann (nachfolgend
unter c), findet das Benachteiligungsverbot in der Praxis kaum Anwendung.
Die aufgrund des Benachteiligungsverbots maßgebenden Arbeitsbedingungen des Entleihers kommen dem Leih-AN in der Zeit der Überlassung an den betreffenden Entleiher zugute. Mit jedem
neuen Entleiher kommen wieder andere Arbeitsbedingungen zur Anwendung. Nicht geregelt ist die
Frage, welche Arbeitsbedingungen in verleihfreien Zeiten gelten sollen. Keinesfalls folgt aus § 11
IV 2 AÜG, dass dem Leih-AN nach Beendigung einer Überlassung der aus dieser Tätigkeit bezogene Lohn für die Zeit bis zur nächsten Überlassung fortzuzahlen ist. Denn diese Bestimmung soll nur
klarstellen, dass dem AN für die Zeit, in der er nicht verliehen ist, eine gewisse Geldleistung nicht
vorenthalten werden darf. Unter Beachtung der nach § 138 BGB gezogenen Grenzen dürfte eine
Entgeltvereinbarung knapp über der Grenze der Sittenwidrigkeit zulässig sein. Gilt eine nach § 3a
AÜG durch Rechtsverordnung festgelegte Lohnuntergrenze, ist diese maßgebend.
c) Nach § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG (siehe auch § 3 I Nr. 3 Satz 2 AÜG, der sich auf
die Versagung der Erlaubnis bezieht) kann von dem Benachteiligungsverbot
durch einen Tarifvertrag abgewichen werden (tarifdispositives Gesetzesrecht),
soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a II AÜG festgesetzte
Lohnuntergrenze unterschreitet und dann § 10 IV 3 AÜG gilt (equal pay). Während die Regelung des § 3 I Nr. 3 Satz 1 (ebenso § 9 Nr. 2 Halbs. 1; vorstehend unter b) dem Leih-AN in Verleihzeiten das Optimum bietet, geht es hier darum, durch
einen Tarifvertrag nach unten abweichen zu können durch die Festlegung eines einheitlichen Lohnes, der unter dem vom Benachteiligungsverbot geforderten Standard
des „equal pay“ liegt, aber auch für verleihfreie Zeiten gilt. Um den Leih-AN nun
aber vor Niedriglohn-Tarifverträgen mit kleinen fragwürdigen BranchenGewerkschaften zu schützen, hat der Gesetzgeber die in § 3a AÜG enthaltene Regelung über eine Lohnuntergrenze geschaffen.
Sofern es an der für die Geltung des Tarifvertrages unerlässlichen beiderseitigen
Tarifgebundenheit (§ 4 I TVG) fehlt, eröffnet § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG die Möglichkeit, dass „im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags nicht tarifgebundene
Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren.“ Vom Grundsatz der Gleichbehandlung kann also auch durch Bezugnahme
auf einen Tarifvertrag abgewichen werden, aber nur dann, wenn auf den für den
Betrieb des Verleihers geltenden Tarifvertrag im Ganzen verwiesen wird.
Besondere Bedeutung kommt der Vorschrift des § 9 Nr. 2 Halbs. 4 AÜG zu, wonach eine abweichende tarifliche Regelung nicht gilt für Leih-AN, die in den
letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem ArbG, der mit dem Entleiher einen Konzern i.S.d. §
18 AktG bildet, ausgeschieden sind. Diese Vorschrift richtet sich gegen den „Drehtüreffekt“ und soll verhindern, dass fest angestellte AN trotz fortbestehenden Beschäftigungsbedarfs gekündigt und in ein Verleihunternehmen gedrängt werden,
das sie ihrem bisherigen ArbG zum Einsatz auf ihrem vormaligen Arbeitsplatz (zurück) verleiht, allerdings zu deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen: Sale and
lease back von AN! (Drogeriemarkt Schlecker und andere). Der Rückverleih erfolg-
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te in vielen Fällen über ein mit dem Entleihunternehmen verbundenes oder von einer Konzernobergesellschaft abhängiges konzerninternes Verleihunternehmen.
3. In allen Fällen hat der Leih-AN nach § 13b AÜG Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen oder –diensten des Entleihers zu den gleichen Bedingungen wie vergleichbare AN des Entleihers, insbesondere zu Kinderbetreuungseinrichtungen,
Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmitteln.
4. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN kann im
Grundsatz befristet abgeschlossen werden, doch wird eine sachgrundlose Befristung wegen des Vorbeschäftigungsverbotes des § 14 II 2 TzBfG nicht praktikabel
sein (oben § 13 III. 2./3.). Allerdings kann nach § 14 II 3 TzBfG die Anzahl der
Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung durch einen Tarifvertrag abweichend festgelegt werden (tarifdispositives Gesetzesrecht), aber gewiss nicht das
Gebot der Nahtlosigkeit der Anschlussbefristung oder gar das Vorbeschäftigungsverbot aufgehoben oder gelockert werden.
Eine Sachgrundbefristung kann nach § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG in Betracht kommen,
wenn man akzeptiert, dass der vorübergehende, ggf. zeitlich befristete Beschäftigungsbedarf beim Entleiher auch beim Verleiher gleichsam mittelbar einen nur vorübergehenden betrieblichen Bedarf an der Arbeitsleistung des Leih-AN sachlich
begründet. Ansonsten müsste an einen in § 14 I TzBfG nicht aufgeführter weiterern
Sachgrund („insbesondere“) speziell für Leiharbeitsverträge gedacht werden.
5. Da der Leih-AN von dem Verleiher auch in verleihfreien Zeiten Lohn beanspruchen kann, ist der Verleiher im eigenen Interesse gehalten, seine Leih-AN möglichst lückenlos bei den ihm zur Verfügung stehenden Entleihern unterzubringen.
Gelingt ihm dies nicht, ist manch einer von ihnen versucht, den Leih-AN ohne Lohnzahlung einfach
„freizustellen“ und ihm auch im Krankheitsfall keine Entgeltfortzahlung zu gewähren. Nicht selten
stellt der Verleiher den Leih-AN unter Missachtung des Vorbeschäftigungsverbots für jeden einzelnen Fall einer Überlassung immer wieder nur (sachgrundlos) befristet ein oder kündigt ihm am Ende
der jeweiligen Überlassungszeit. Verbreitet ist auch die Vorgehensweise, vom Leih-AN die Unterzeichnung eines meist undatierten Aufhebungsvertrages oder einer undatierten arbeitnehmerseitigen
Kündigung schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages zu verlangen sowie die Vereinbarung von unbezahltem „Urlaub“ für die verleihfreie Zeit zu treffen (vgl. Schüren in Schüren/Hamann, AÜG,
Einl. Rn. 240). In vielen Fällen ist die Hoffnung der Verleiher nicht unberechtigt, dass der Leih-AN
derlei Rechtsverstöße klaglos hinnimmt, nicht zuletzt aus dem Grunde, demnächst wieder beschäftigt zu werden.
6. Das Leiharbeitsverhältnis kann vom Verleiher und vom Leih-AN durch ordentliche oder außerordentliche Kündigung beendet werden. Der Entleiher hingegen
kann den Leih-AN nicht entlassen.
Für die ordentliche Kündigung gelten die Fristen des § 622 BGB, seiner Tarifdisposivität (§ 622
IV BGB) zufolge jedoch mit nicht unerheblichen Abweichungen. So gilt nach dem MantelTarifvertrag zur Leiharbeit zwischen dem BZA und DGB-Gewerkschaften vom 22. 7. 2005 der Arbeitsvertrag bei unentschuldigtem Nichterscheinen am ersten Arbeitstag als nicht zustande gekommen und ist während der ersten drei Monaten der auf sechs Monate festgelegten Probezeit mit einer
Frist von nur einer Woche kündbar, die bei Neueinstellungen während der ersten zwei Wochen des
Beschäftigungsverhältnisses auf einen Tag verkürzt werden kann.. Als Neueinstellungen gelten Arbeitsverhältnisse mit AN, die mindestens drei Monate lang nicht in einem Arbeitsverhältnis zum
ArbG gestanden haben.
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Arbeitet der Leih-AN für den gleichen Verleiher, der mehr als 10 AN beschäftigt,
ununterbrochen mehr als 6 Monate lang, genießt er Kündigungsschutz nach Maßgabe des KSchG. Die Kündigung bedarf dann nach § 1 KSchG einer besonderen
sozialen Rechtfertigung. Besteht beim Verleiher ein Betriebsrat, muss dieser gemäß
§ 102 I BetrVG vor jeder Kündigung angehört werden.
Häufigster Fall der personenbedingte Kündigung ist die krankheitsbedingte Kündigung.
Da der Verleiher gegenüber dem Entleiher aufgrund des Überlassungsvertrages verpflichtet ist, bei
Ausfall eines Leih-AN für dessen Ersatz zu sorgen, kommt er nicht umhin, sich mit einer Personalreserve für übliche Fehlzeiten auszustatten. Da es sich dabei um Ersatzkräfte handelt, die er zwar
bezahlen muss, aber weder bei sich beschäftigen noch anderweitig verleihen kann, ist es für ihn wirtschaftlich jedoch nicht tragbar, diese Vorsorge auch für unzumutbar lange oder unzumutbar häufige
Krankheitszeiten eines Leih-AN zu treffen. Deshalb muss in Verleihunternehmen eine krankheitsbedingte Kündigung schon dann möglich sein, wenn die Krankheit/en eines Leih-AN eine überdurchschnittliche Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse des Verleihers erwarten lässt (Schüren
in Schüren/Hamann, AÜG, Einl. Rn. 273 ff.).
Eine Kündigung des Leih-AN wegen Mängeln seiner Leistungsfähigkeit wird nur dann gerechtfertigt sein, wenn es dem Verleiher nicht gelingt, den Betreffenden AN bei Entleihern unterzubringen,
die geringere oder andere Anforderungen stellen
Eine verhaltensbedingte Kündigung kann mit Pflichtverletzungen sowohl gegenüber dem Verleiher wie auch gegenüber dem Entleiher begründet werden.
Für die regelmäßig zuvor erforderliche Abmahnung des AN ist ausschließlich der Verleiher als
ArbG zuständig.
Eine betriebsbedingte Kündigung kommt dann in Betracht, wenn der Verleiher
den Leih-AN nicht verleihen kann.
Die nur kurzfristig fehlende Beschäftigungsmöglichkeit ist allerdings noch kein hinreichender Kündigungsgrund. Dem Verleiher dürfte es zuzumuten sein, den Leih-AN nach Beendigung einer Überlassung noch etwa 3 Monate unter Vertrag zu halten, ehe er ihm mangels Verleihmöglichkeit betriebsbedingt kündigen kann.
Sind mehrere Leih-AN verleihfrei, Anschlussaufträge aber nur für einen Teil der in Betracht kommenden Leih-AN absehbar, muss der Verleiher nach Maßgabe des § 1 III KSchG eine Sozialauswahl treffen. Es ist allerdings zu beobachten, dass Leih-AN unzulässige betriebsbedingte Kündigungen häufig über sich ergehen lassen, weil die hoffen, bald wieder eingestellt zu werden.
Der dem AN nach § 102 V BetrVG oder nach der Rechtsprechung zustehende Anspruch auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses ist
für den Verleiher nur schwer erfüllbar, so dass er von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Leih-AN i.d.R. vom Gericht auf Antrag im Wege einstweiliger
Verfügung entbunden werden wird.
III. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Entleiher und dem Leih-AN: Das
Beschäftigungsverhältnis
1. Durch den Arbeitsvertrag besteht ein Arbeitsverhältnis nur zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN. Dennoch hat der Entleiher dem Leih-AN gegenüber bestimmte Arbeitgeberrechte und -pflichten, wie umgekehrt auch der Leih-AN be-
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stimmte Arbeitnehmerrechte und –pflichten gegenüber dem Entleiher hat. Vergleiche dazu schon oben II.1.
Nach § 11 VI AÜG ist noch einmal hervorgehoben, dass auch der Entleiher dem Leih-AN gegenüber zur Einhaltung des Arbeitsschutzes verpflichtet ist. Erleidet der Leih-AN im Betrieb des Entleiher einen Arbeitsunfall, tritt unter Beachtung insbesondere von §§ 104, 105 SGB VII die gesetzliche
Unfallversicherung des Entleihers gemäß den Bestimmungen des SGB VII ein.
2. Nach § 14 I AÜG sind Leih-AN auch während der Überlassungszeiten dem Betrieb des Verleihers betriebsverfassungsrechtlich zugeordnet. Im Entleihbetrieb
sind sie nach § 14 II 1 AÜG nicht als AN-Vertreter wählbar, nach § 7 II BetrVG
wohl aber wahlberechtigt. Während ihrer Tätigkeit im Entleihbetrieb stehen ihnen
nach § 14 II 2 und 3 AÜG gewisse Betriebsverfassungsrechte zu. Bei der Ermittlung des Schwellenwertes der §§ 1 und 9 BetrVG für die Einrichtung und Größe
des Betriebsrates im Entleihbetrieb zählen sie auf jeden Fall dann nicht mit, wenn
sie nicht auf Langzeitarbeitsplätzen zum Einsatz kommen.
3. Nach § 14 III AÜG ist der Betriebsrat des Entleihbetriebs vor der Übernahme
eines Leih-AN nach § 99 BetrVG zu hören. Er kann dem Einsatz von Leih-AN auf
Dauerarbeitsplätzen nach § 99 II Nr. 1 BetrVG wegen des Verstoßes gegen § 1 I
2 AÜG (vorübergehende Überlassung) widersprechen. In diesem Fall sind auch
die Voraussetzungen des § 100 BetrVG nicht gegeben (LAG Berlin-Brandenburg v.
9.1.2013 in ArbR 2013, 247). Darüber hinaus wäre denkbar, dass der Betriebsrat
die Entleihe Auf der Grundlage des § 99 II Nr. 3 BetrVG mit der Begründung verweigert, der Entleiher wolle Stamm-AN langfristig durch Leih-AN ersetzen.
4. Nach § 11 V AÜG muss der Verleiher den Leih-AN darauf hinweisen, dass es
ihm freisteht, ob er bei einem Entleiher, der unmittelbar bestreikt wird, als Streikbrecher arbeiten will. Keinesfalls aber darf er sich an den Streik aktiv beteiligen.
5. Für AN-Erfindungen und technische Verbesserungsvorschläge gilt nach § 11 VII
AÜG der Entleiher als ArbG i.S.d. AN-ErfindungsG.
IV. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Verleiher und dem Entleiher: Das
Überlassungsverhältnis
1. Zum Inhalt des Arbeitnehmerüberlassungsvertrages sagt das AÜG kaum etwas.
Nach § 12 AÜG bedarf der Vertrag der Schriftform und bestehen gewisse Hinweispflichten.
2. Der Verleiher schuldet dem Entleiher die Arbeitnehmerüberlassung, nicht
aber die Arbeitsleistung selbst. Diese schuldet vielmehr der Leih-AN aufgrund
des mit dem Verleiher geschlossenen Arbeitsvertrages, der als Vertrag zu Gunsten
Dritter auch den Entleiher berechtigt, die Arbeitsleistung vom Leih-AN zu fordern,
so als wäre er sein ArbG (siehe oben II. 1.). Weil der Verleiher dem Entleiher nicht
die Arbeitsleistung selbst schuldet, ist der Leih-AN bei der Arbeit im Entleiherbetrieb auch nicht der Erfüllungsgehilfe des Verleihers. Deshalb muss der Verleiher
für die Schlechtleistung des Leih-AN nicht nach § 278 BGB einstehen. Es besteht auch keine Haftung des Verleihers aus § 831 BGB.
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Der Verleiher ist dem Entleiher gegenüber verpflichtet, einen oder mehrere AN
auszuwählen und zur Verfügung zu stellen. Dabei hat er dafür zu sorgen, dass
dem Entleiher ein für die vorgesehene Arbeitsaufgabe geeigneter, d.h. leistungsbereiter und leistungsfähiger AN zur Verfügung steht. Trifft den Verleiher (oder seine Verwaltungskräfte) hierbei ein Auswahlverschulden, haftet er dem Entleiher
für die schuldhafte Schlechterfüllung seiner Überlassungspflicht auf Schadensersatz nach §§ 280 I, 241 II BGB. Ansonsten trifft ihn ähnlich einem Gattungsschuldner das Risiko der vertraglich zugesagten Personalbeschaffung, wofür er
nach § 276 I 1 BGB (strengere Haftung des Schuldners aus der Übernahme eines
Beschaffungsrisikos) auch ohne Verschulden einzustehen hat. Schickt der Verleiher dem Entleiher keinen geeigneten AN, kommt er deshalb dem Entleiher gegenüber in Verzug und haftet auf Schadensersatz nach §§ 280 I, II, 286 BGB, ggf.
nach §§ 280 I, III, 281 BGB, bei nicht nachholbarer Leistung nach §§ 280 I, III,
283 BGB. Erweist sich der AN als ungeeignet oder fällt er aus, z.B. infolge Krankheit, muss der Verleiher zur Vermeidung einer Schadensersatzhaftung Personalersatz stellen. Er sollte sich daher eine Personalreserve halten, zumindest den
schnellen Zugriff auf neue AN sichern.
3. Als Hauptleistungspflicht schuldet der Entleiher dem Verleiher die Zahlung der
Überlassungsvergütung. Eine dem Verleiher gegenüber bestehende Nebenpflicht
des Entleihers kann er z.B. dadurch verletzen, dass er dem Leih-AN einen Körperschaden zufügt, der sich beim Verleiher in Gestalt der Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall auswirkt und bei einer die Zeit der Überlassung überschreitenden
Einsatzunfähigkeit des Leih-AN dessen Weiterverwendung zum Nachteil des Verleihers verzögern. Hierin liegt dann ein nach §§ 280 I, 241 II BGB zum Schadensersatz verpflichtende Schlechterfüllung des Überlassungsvertrages.
Der Leih-AN selbst ist im Fall eines im Entleiherbetrieb erlittenen Körperschadens
als Versicherter des Entleihers nach Maßgabe des SGB VII geschützt.
Kann der Entleiher den Leih-AN in der Überlassungszeit nicht beschäftigen, ist er
von seiner Pflicht zur Zahlung der Überlassungsvergütung nicht befreit: Der Entleiher trägt das Verwendungsrisiko.
4. Der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag ist regelmäßig befristet, so dass er mit
Fristablauf ohne weiteres endet. Die zusätzliche Möglichkeit einer ordentlichen
Kündigung ist regelmäßig nicht vorgesehen. Eine außerordentliche Kündigung ist
nach § 314 BGB, ein Rücktritt nach § 323 BGB bei Verzug oder Schlechtleistung
möglich.
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§ 44 Ausschlussfristen/Verfallfristen
I. Die Vorschriften der §§ 194 bis 218 BGB über die Verjährung von Ansprüchen
gelten – von einigen nicht passenden Regelungen abgesehen – auch für Ansprüche
des AN gegen den ArbG und umgekehrt aus dem Arbeitsverhältnis. Gestützt auf §
202 I BGB, der – unglücklich formuliert– zum Ausdruck bringen soll, dass diese
Vorschriften – außer bei Haftung wegen vorsätzlichen Tuns – durch Vereinbarung
zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner abdingbar sind (= dispositives Gesetzesrecht), enthalten die meisten Tarifverträge, aber auch viele Arbeitsverträge,
kaum jedoch Betriebsvereinbarungen, in der Regel Bestimmungen, die die gesetzliche Verjährungsfrist der §§ 195, 199 BGB durch eine sehr viel kürzere Ausschlussfrist verdrängen. Die Praxis begnügt sich also nicht nur damit, die Frist zu
verkürzen, sondern setzt an die Stelle der Verjährungsfrist eine Ausschlussfrist. Das
bedeutet, dass bei Fristablauf nicht die §§ 214, 215 BGB gelten, sondern der verfristete Anspruch schlicht untergegangen ist. Darum spricht man insoweit auch von
Verfallfristen. Der Fristwahrung dient die rechtzeitige schriftliche Aufforderung an
den Schuldner, den näher bezeichneten Anspruch zu erfüllen; es genügen im Allgemeinen Fax oder E-Mail. Bei einer zweistufigen Ausschlussfrist muss der Anspruch innerhalb einer zweiten Frist auch eingeklagt werden.
II. Da der Arbeitsvertrag als vertragliche Einheitsregelung der gerichtlichen Inhaltskontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB unterliegt, wird hiernach im Falle
eines Rechtsstreits eine den AN unangemessen benachteiligende Ausschlussklauseln für unwirksam erklärt. Die von ihr betroffenen Ansprüche verjähren dann wieder gemäß dem gesetzlichen Verjährungsrecht.
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen unterliegen allerdings nicht dem AGB-Recht, da ihre gerichtliche Inhaltskontrolle mit dem Grundsatz der Tarifautonomie des Art 9 III GG nicht vereinbar
wäre (§ 310 IV 1 BGB). Sollten trotz grundsätzlich gleichgewichtiger Verhandlungsmacht beider
Seiten unangemessene Ausschlussklauseln in einen Kollektivvertrag gelangen, können sie aber mit
gleicher Wirkung an der Verbotsvorschrift des § 138 BGB bzw. an der Missachtung der Gebote von
Treu und Glauben des § 242 BGB scheitern.
Auf der Grundlage der §§ 305 ff. BGB hat die Rechtsprechung für die Rechtswirksamkeit von Ausschlussfristen folgende Maßstäbe entwickelt.
►
Die nach § 307 I 1 BGB zulässige Mindestdauer einer Ausschlussfrist beträgt 3 Monate. Eine kürzere Frist ist mit den wesentlichen Grundgedanken des
gesetzlichen Verjährungsrechts, von dem abgewichen wird, nicht vereinbar,
weil sie die Geltendmachung von Ansprüchen unzumutbar einschränkt (BAG
v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04 – in NZA 2005, 1111 ff. Rn. 24 ff.; BAG v.
28.9.2005 – 5 AZR 52/05 – in NZA 2006, 149 ff.). Bei einer zweistufigen
Ausschlussfrist, bei der der Anspruch innerhalb einer ersten Frist gegenüber
dem Schuldner geltend gemacht und innerhalb einer zweiten Frist eingeklagt
werden muss, beträgt die Mindestfrist jeweils 3 Monate.
► Eine einseitige Ausschlussklausel, die nur Ansprüche des AN gegen den ArbG
erfasst, widerspricht einer ausgewogenen Vertragsgestaltung und benachteiligt
den Vertragspartner des Klauselverwenders (das ist der ArbG) entgegen den
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Geboten von Treu und Glauben unangemessen i.S.d § 307 I 1 BGB (BAG v.
31.8.2005 – 5 AZR. 545/04 – in NZA 2006, 324 ff. Rn. 27 ff.).
► Eine Ausschlussklauseln wird als überraschende Klausel nach § 305c I BGB
dann nicht Vertragsinhalt, wenn sie im Arbeitsvertrag an unerwarteter Stelle
versteckt ist (BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04 – in NZA 2006, 324 Rn.25).
►
Wegen der weitreichenden Folgen einer Ausschlussklausel erfordert das
Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB regelmäßig den Hinweis darauf, welche
Rechtsfolgen bei nicht fristgerechter Geltendmachung des Anspruchs eintreten.
Mindestens muss der Begriff „Ausschlussfrist“ oder „Verfallfrist“ deutlich
hervorgehoben werden (BAG v. 31.8.2005 a.a.O.).
Darüber hinaus muss für den AN erkennbar sein, von welchem Zeitpunkt an
die Ausschlussfrist zu laufen beginnt. Wird im Arbeitsvertrag allein auf die
Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgestellt, ist die Klausel nach 307 I 1
BGB wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgedanken in § 199 I Nr. 2 BGB
unwirksam. Danach kommt es auf die Fälligkeit des Anspruchs unter Einbeziehung des Kenntnisstandes des Anspruchsinhabers (hier: des AN) „und subjektiver Zurechnungsgesichtspunkte“ (= Unkenntnis des AN infolge grober
Fahrlässigkeit) an (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 511/05 – in NZA 2006, 394 ff.
Rn. 14).
► Ansprüche aus vorsätzlichem Tun, deren gesetzliche Verjährung nach § 202
I BGB nicht abbedungen werden darf, sollten aus dem Anwendungsbereich der
Ausschlussklausel ausdrücklich ausgenommen werden. Es droht sonst die Unwirksamkeit des ganzen Klausel wegen eines unzulässig miterfassten Falles
nach dem Vorbild der Rechtsprechung zu pauschalen Freiwilligkeitsvorbehalten (oben § 4 II. 3. b).
III. Beiderseitige Tarifgebundenheit vorausgesetzt, können nach § 4 IV 3 TVG
Ausschluss- bzw. Verfallfristen für die Geltendmachung tarifvertraglicher Ansprüche nur im Tarifvertrag und nicht etwa im Arbeitsvertrag vereinbart werden..
Weist der ArbG entgegen § 2 I 2 Nr. 10 NachwG den AN nicht auf den anwendbaren Tarifvertrag hin und versäumt der AN eine dort vereinbarte Ausschlussfrist,
kann der ArbG dem AN nach § 280 I BGB schadensersatzpflichtig sein.
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Ende
In der Praxis werden in den Betrieben zunehmend Arbeitszeitkonten gebildet, auf denen die Überstunden mit ihrem Lohnwert gutgeschrieben werden. Oft werden auf diese Weise bis zu 300 Stunden angespart. Je nach Vereinbarung können es weniger, aber auch wesentlich mehr Stunden sein. Es gibt in diesem Bereich keine gesetzliche Regelung. Die Verwendung dieser Gutschriften dient zunehmend der Finanzierung von Arbeitsausfällen infolge von Umsatzeinbrüchen. Muss in einem Unternehmen unter
der betriebsüblichen Arbeitszeit gearbeitet werden, erhalten die AN dennoch ihren vollen Arbeitslohn
aus den gutgeschriebenen Überstunden. In vielen Unternehmen kann das Arbeitszeitkonto auch unter
null fallen, wenn der ArbG die Vergütung dann als Vorschuss zahlt, der bei anziehender Konjunktur mit
den dann wieder notwendig werdenden Überstunden verrechnet wird.
Vor der Inanspruchnahme der Arbeitszeitkonten wegen Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit
wird in den Betrieben regelmäßig zuerst einmal die Leiharbeit abgebaut. Als ergänzende Maßnahme
bieten sich vom Urlaub abgebuchte Brückentage sowie die Einführung von Betriebsferien an. Nach
Verbrauch der Mittel aus den Arbeitszeitkonten kommt es zur Anordnung von Kurzarbeit (siehe
nachfolgend unter 2.). Als Maßnahme zur Überwindung wirtschaftlicher Flauten sind betriebsbedingte
Kündigungen nur wenig geeignet, denn sie belasten den ArbG nicht nur durch Abfindungszahlungen,
sondern auch durch die Tatsache, dass er bei einer Verbesserung der Wirtschaftslage neue Mitarbeiter
genauso kostenträchtig anwerben und einarbeiten muss.
Vor diesem Hintergrund muss erkannt werden, dass das Arbeitsrecht ein breites personalpolitisches Instrumentarium bietet, eine Rezession verhältnismäßig lange unter Beibehaltung seines eingearbeiteten
Mitarbeiterstammes zu ertragen.
I. Die individuelle und die kollektive Dimension des Arbeitsverhältnisses
II. Die rechtliche Einordnung des Arbeitsverhältnisses
III. Das Kriterium der Unselbständigkeit der Dienstleistung des Arbeitnehmers und seine soziale Schutzbedürftigkeit
IV. Das arbeitsrechtliche Unternehmerrisiko
V. Die Abgrenzung des Arbeitnehmers von anderen Beschäftigten
VI. Erscheinungsformen des Arbeitsverhältnisses
I.
Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis und ihre Rechtsgrundlagen
1, Vertrag und Gesetz als Rechtsquellen
2. Das Richterrecht als gesetzesähnliche Rechtsquelle
3. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers als vertragsausfüllende Rechtsquelle
4. Gesamtzusage und Betriebliche Übung als vertragsergänzende Rechtsquellen
5. Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung als kollektivvertragliche Rechtsquellen
II. Die Rangordnung der Rechtsquellen im Überblick
I. Einfachgesetzliche Vorschriften
II. Die Entstehung und Geltungskraft des Richterrechts
III. Die Bedeutung des Grundgesetzes für das Arbeitsrecht
1. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit durch Art. 9 III GG
2. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte
3, Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz
IV. Supranationales EU-Recht
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I.
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Der Arbeitsvertrag als privatautonomer Rechtsakt
1, Grenzen der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit
2. Insbesondere die richterliche Inhaltskontrolle des Arbeitsvertrages nach Maßgabe des AGB-Rechts
II. Die Gesamtzusage
III. Die Betriebliche Übung
IV. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers
I. Der Tarifvertrag als Mittel koalitionsgemäßer Betätigung
II. Inhalt und Wirkungen des Tarifvertrages
III. Der Arbeitskampf als Instrument der Tarifautonomie
1. Die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines Streiks
2. Die Abwehraussperrung durch die Arbeitgeberseite
IV. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages gemäß § 5 TVG
V. Die Geltungserstreckung tarifvertraglicher Normen nach Maßgabe des AEntG
VI. Mitarbeiterentgelte durch Rechtsverordnung nach Maßgabe des MiArbG
I. Die Wahl des Betriebsrates
II. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates
III. Die Rechtswirkungen der Betriebsvereinbarung
IV. Einschränkungen des Geltungsbereichs der Betriebsverfassung
V. Der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten
I. Das Verhältnis des einfachen Gesetzesrechts zu nachrangigen Regelungen
II. Das Verhältnis der Normen eines Tarifvertrages zu nachrangigen Regelungen
1. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG
2. Tarifvertragliche Öffnungsklauseln nach § 4 III Altn. 1 TVG und § 77 III 2 BetrVG
III. Einzelheiten zum Tarifvorbehalt und zum Tarifvorrang
IV. Das Verhältnis der Normen einer Betriebsvereinbarung zu nachrangigen Regelungen
V. Die Rangordnung aller Gestaltungsfaktoren
I. Die Arbeitsgerichtsbarkeit
II. Zwei Verfahrensarten
1. Das Beschlussverfahren
2. Das Urteilsverfahren
I. Die Abschlussfreiheit des Arbeitgebers
II. Vorbereitende Maßnahmen
1. Die innerbetriebliche Ausschreibung von Arbeitsplätzen nach § 93 BertVG
2. Die Verwendung von Personalfragebögen und die Aufstellung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze
nach § 94 BetrVG
3. Die Aufstellung von Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG
III. Das Erfordernis diskriminierungsfreier Ausschreibung
IV. Informationsrechte des Arbeitgebers und seine Befugnis zur Anfechtung des Arbeitsvertrages bei Informationsdefiziten
V. Vorvertragliche Aufklärungs- und Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers
VI. Der Anspruch des Stellenbewerbers auf Ersatz der Vorstellungskosten
VII. Rechtsfolgen bei Nichtantritt der Arbeit
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Hinweis: Vgl. die Problematik bei der Rückzahlung von Kosten, die der ArbG für die Ausbildung des
AN aufgewendet hat. Gemäß § 12 II Nr. 1 BBiG unzulässig sind Rückzahlungsvereinbarungen mit Auszubildenden in Ansehung der Kosten der Berufsausbildung. Bei vom ArbG finanzierter Aus- und Fortbildung, die den „Marktwert“ des AN steigert, kann je nach Dauer, Qualität und Kosten der Bildungsmaßnahme eine u.U. nach Jahren degressiv gestaffelte Rückzahlungspflicht des AN vereinbart werden,
wenn er den Betrieb vor Ablauf von 3 bis 5 Jahren verlässt.
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Nachfolgend unter II. 5.: § 308 Nr. 5 BGB: Durch Schweigen der AN auf einen dreimaligen
nachträglichen Freiwilligkeitsvorbehalt des ArbG bezüglich einer Weihnachtsgratifikation entsteht keine gegenläufige Betriebliche Übung (BAG v.25.11.2009 - 10 AZR 779/08 - in NZA
2010, 283).
Nachfolgend unter II. 3. sowie unten § 11 I. 2.: §§ 305b, 307 I BGB: Eine im Arbeitsvertrag
enthaltene doppelte Schriftformklausel scheitert am Vorrang individuelle Vertragsabreden.
Sie kann aber das Entstehen einer Betrieblichen Übung verhindern, wenn sie den Vorrang individueller Vertragsabreden nicht in Frage stellt (BAG v.20.5.2008 - 9 AZR 382/07 - in NZA
2008, 1233).
Unten § 12 III. 2./3.: § 307 I 1, II Nr. 1 BGB: Die formularmäßige Festlegung von Arbeit auf
Abruf über eine vertragliche Mindestarbeitszeit hinaus ist nur dann angemessen, wenn sie
nicht mehr als 25 % der vereinbarten Arbeitszeit beträgt. Eine vereinbarte Höchstarbeitszeit
darf um bis zu 20 % verringert werden (BAG v.7.12.2005 - 5 AZR 535/04 - in NZA 2006, 423).
Unten § 15 II. 2. b) § 307 I 1, II Nr. 1 BGB; § 307 I 2 BGB: Eine arbeitsvertragliche Versetzungsklausel ist unangemessen, wenn sich der ArbG darin vorbehält, ohne den Ausspruch einer
Änderungskündigung einseitig die vertraglich vereinbarte Tätigkeit unter Einbeziehung geringerwertiger Tätigkeiten zu Lasten des AN verändern zu können (BAG v.25. 8. 2010 - 10 AZR
275/09 - Rn. 26 ff. in NZA 2010, 1355 ff.). Bestimmt der ArbG durch die Versetzungsklausel
hingegen lediglich den Umfang der vom AN geschuldeten Leistung, so entspricht dies der Regelung des § 106 GewO. Die nähere Bestimmung der Hauptleistung unterliegt nicht einer Inhaltskontrolle nach § 307 I 1 BGB, sondern ausschließlich der Transparenzkontrolle des § 307 I
2 BGB (BAG v.25.8.2010 a.a.O. Rn.21 ff.; BAG v.19.1.2011 - 10 AZR 738/09 - in NZA 2011,
631 ff. Rn.15 ff.).
Unten § 16 II. 4. b (1): § 307 I 1, II. Nr. 1 BGB: Der formularmäßige Freiwilligkeitsvorbehalt
in Ansehung einer monatlich zahlbaren Leistungszulage, die nicht ausdrücklich an besondere
Voraussetzungen geknüpft ist, benachteiligt den AN unangemessen (BAG v.25.4.2007 - 5 AZR
627/06 - in NZA 2007, 853).
Unten 3 16 II. 3. b): Eine in ABG enthaltene Stichtagsregelung, die die Gewährung einer Jahressonderzahlung auch für bereits erbrachte Arbeitsleistung vom ungekündigten Bestand des
Arbeitsverhältnisses im Bezugsjahr oder zu einem späteres Zeitpunkt abhängig macht, verstößt
gegen § 307 I 1 BGB (BAG v.18.1.2012 – 10 AZR 612/10 – in NZA 2012, 561; BAG v.
13.11.2013 – 10 AZR 848/12 – in NZA 2014, 368).
Unten § 16 III. 2.a): § 307 I 2 BGB: Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot liegt vor, wenn
der ArbG sich in einem von ihm vorformulierten Arbeitsvertrag zunächst uneingeschränkt zu
einer Bonuszahlung verpflichtet und im Widerspruch dazu in einer anschließenden Vertragsklausel einen Rechtsanspruch des AN auf eine Bonuszahlung durch Freiwilligkeitsvorbehalt
ausschließt (BAG v.24.10.2007 - 10 AZR 825/06 - in NZA 2008, 40).
Unten § 16 III. 2. b): §§ 307, 308 Nr. 4 BGB: Ein formularmäßiger Widerrufsvorbehalt des
Inhalts, dass dem ArbG das Recht zustehen soll, „übertarifliche Lohnbestandteile jederzeit unbeschränkt zu widerrufen“ ist unwirksam (BAG v.12.1.2005 - 5 AZR 364/04 - in NZA 2005,
465).
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Die im Bereich des Individualarbeitsrechts entstehenden Auseinandersetzungen
zwischen ArbG und AN bezeichnet § 2 I Nr. 3 ArbGG als bürgerliche Rechtsstreitigkeiten „aus dem Arbeitsverhältnis“ und fügt klarstellend hinzu, dass es
dabei auch um den Rechtsstreit „über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses“, „aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und dessen Nachwirkungen“, „aus unerlaubten Handlungen, soweit diese mit
dem Arbeitsverhältnis in Zusammenhang stehen“ und „über Arbeitspapiere“ geht.
Häufiger Streitgegenstand sind Klagen des AN gegen den ArbG auf Feststellung
des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses wegen Unwirksamkeit der arbeitgeberseitigen Kündigung (§ 4 Satz 1 KSchG) oder wegen Unwirksamkeit der Befristung
des Arbeitsverhältnisses (§ 17 Satz 1 TzBfG).
In den Fällen, in denen der Kläger vom Gericht nicht die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung verlangt, sondern die Feststellung, dass zwischen ihm und dem Beklagten eine bestimmte
Rechtslage besteht, spricht man nicht davon, dass er gegenüber dem Beklagten einen Anspruch geltend macht; denn nach § 194 I BGB ist der Anspruch auf eine Leistung des Anspruchsgegners („Tun
oder Unterlassen“) gerichtet. Da die Feststellungsklagen aber in jedem Fall dem Zweck dienen, das
Recht des AN auf seinen Arbeitsplatz dem ArbG gegenüber gerichtlich durchzusetzen, dürfte dem
nichts entgegenstehen, in diesen Fällen von einem Anspruch zumindest im weiteren Sinne zu
sprechen.
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Neben den genannten Feststellungsklagen kommt es vielfach auch zu Leistungsklagen des AN gegen den ArbG zur Durchsetzung von Ansprüchen (im engeren
und eigentlichen Sinne) vor allem auf Vergütung, Schadensersatz, Aufwendungsersatz, Freistellung, Urlaub oder Zeugniserteilung sowie umgekehrt zu Leistungsklagen des ArbG gegen den AN zur Durchsetzung von Ansprüchen (im engeren und
eigentlichen Sinne) auf Schadensersatz, Rückforderung von Zahlungen, Auskunft
und Rechenschaft oder Herausgabe von Erlangtem (unten § 8 II. 2.).
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in denen der ArbG schon vor dem Ausspruch einer außerordentlichen oder bei Ausspruch der ordentlichen Kündigung den AN wegen Sicherheitsbedenken von der Arbeit einseitig freistellt und unter
Verstoß gegen § 615 Satz 1 BGB nicht mehr entlohnt.
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