© Professor Dr. Hunscha 1 Professor Dr. Axel Hunscha Dezember 2015 Dezember 2015 Grundzüge des Arbeitsrechts Literaturempfehlungen 1. Zur Vorbereitung Brox, Hans/Rüthers, Bernd/Henssler, Martin: Arbeitsrecht. 18. Aufl. 2011, Kohlhammer Dütz, Wilhelm/Thüsing, Gregor: Arbeitsrecht. 19. Aufl. 2014, C. H. Beck Junker, Abbo: Grundkurs Arbeitsrecht. 13. Aufl. 2014, C. H. Beck Krause, Rüdiger: Arbeitsrecht. 3. Aufl. 2014, Nomos 2. Nachschlagewerke Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. Hrsg. v. Dieterich/Müller-Glöge/Preis/ Schaub. 15. Aufl. 2015, C. H. Beck Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg): Arbeitsrecht Kommentar. 6. Aufl. 2014, Dr. Otto Schmidt Küttner, Wolfdieter: Personalbuch. 21. Aufl. 2014, C. H. Beck 3. Zur fallbezogenen Wissenskontrolle Krause, Rüdiger: Arbeitsrecht I, Individualarbeitsrecht. Rechtsfälle in Frage und Antwort. 1. Aufl. 2007, C. H .Beck (Prüfe dein Wissen) © Professor Dr. Hunscha 2 Dezember 2015 Inhaltsübersicht Allgemeiner Teil: Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses § 1 Das Arbeitsverhältnis S. 5 § 2 Die Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Überblick S. 14 § 3 Auf der Ebene des Gesetzesrechts stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen S. 18 § 4 Auf der Ebene des Arbeitsvertrages stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen S. 28 § 5 Der Tarifvertrag als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses und staatliche Ersatzhandlungen S. 44 § 6 Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats und die Betriebsvereinbarung als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses S. 58 § 7 Die Rangfolge der Gestaltungsfaktoren S. 70 § 8 Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten S. 77 § 9 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) S. 82 Besonderer Teil: Der Arbeitsvertrag § 10 Die Einstellung von Arbeitnehmern S. 90 § 11 Das Zustandekommen des Arbeitsvertrags S. 97 § 12 Teilzeitarbeitsverhältnisse S. 105 § 13 Das befristete Arbeitsverhältnis S. 108 § 14 Das Probearbeitsverhältnis S. 118 § 15 Die arbeitsvertraglichen Pflichten des Arbeitnehmers S. 120 § 16 Die arbeitsvertraglichen Pflichten des Arbeitgebers und die Rechtsfolgen ihrer Verletzung S. 134 § 17 Das Ausbleiben der Arbeitsleistung S. 152 § 18 Lohn ohne Arbeit gemäß § 326 II 1 Altn. 1 BGB S. 155 © Professor Dr. Hunscha 3 Dezember 2015 § 19 Lohn ohne Arbeit gemäß § 615 BGB S. 156 § 20 Lohn ohne Arbeit während eines Streiks? S. 160 I. bis III. § 21 Lohn ohne Arbeit gemäß § 616 BGB S. 165 2 § 22 Entgeltfortzahlung nach dem EFZG S. 168 § 23 Entgeltfortzahlung im Mutterschutz S. 172 § 24 Entgeltfortzahlung im Erholungsurlaub S. 175 § 25 Die Rechtsfolgen der Nichterfüllung der Arbeitspflicht S. 176 § 26 Die Schlechtleistung des Arbeitnehmers unter besonderer Berücksichtigung seiner Haftung auf Schadensersatz S. 181 § 27 Die Beschränkung der Haftung des Arbeitnehmers für Schäden bei betrieblich veranlasster Tätigkeit S. 189 § 28 Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses S. 196 § 29 Der Kündigungsschutz im Überblick S. 205 § 30 Der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG S. 209 § 31 Die Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung S. 227 § 32 Der Abfindungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung S. 229 § 33 Die außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB S. 230 § 34 Der Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 138, 242 BGB S. 236 § 35 Die Änderungskündigung des Arbeitsvertrags S. 238 § 36 Der Schutz des Arbeitnehmers bei Massenentlassungen S. 242 § 37 Die Verwirklichung des Kündigungsschutzes durch Klageerhebung S. 245 § 38 Der Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers S. 247 § 39 Das Nachschieben von Kündigungsgründen S. 250 § 40 Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung nach § 9 und § 13 KSchG sowie im Wege des § 12 KSchG S. 251 © Professor Dr. Hunscha Dezember 2015 4 § 41 Die Kündigung durch den Arbeitnehmer S. 253 § 42 Der Betriebsübergang nach § 613a BGB S. 257 § 43 Die Arbeitnehmerüberlassung S. 268 § 44 Ausschlussfristen/Verfallfristen S. 278 © Professor Dr. Hunscha 5 Dezember 2015 § 1 Das Arbeitsverhältnis I. Die individuelle und die kollektive Dimension des Arbeitsverhältnisses Das Arbeitsrecht beschäftigt sich mit den für Arbeitsverhältnisse geltenden Rechtsregeln. Dabei geht es zum einen um diejenigen Regeln, die die individuelle vertragliche Beziehung des Arbeitnehmers (künftig: AN) zu seinem Arbeitgeber (künftig: ArbG) betreffen. In ihrem Mittelpunkt steht der Arbeitsvertrag einschließlich der auf ihn einwirkenden gesetzlichen, richterrechtlichen und kollektivvertraglichen Bestimmungen. Man spricht insoweit vom Individualarbeitsrecht. Das Arbeitsrecht ist darüber hinaus durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass es Rechtsregeln gibt, die die Arbeitnehmerschaft als solche in ihrem Verhältnis zur Arbeitgeberseite betreffen: Die Arbeitnehmerschaft insgesamt oder einer bestimmten Branche in einer bestimmten Region oder in Gestalt der Belegschaft eines bestimmten Betriebes. Es handelt sich dabei einerseits um das aus der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG abgeleitete Koalitions-, Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht, andererseits um das Mitbestimmungsrecht entweder auf betrieblicher Ebene durch einen Betriebsrat nach den Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts oder auf Unternehmensebene durch AN-Vertreter im Aufsichtsrat großer Kapitalgesellschaften. Man spricht insoweit vom kollektiven Arbeitsrecht. Im Nachfolgenden geht es in der Hauptsache um das Individualarbeitsrecht. Das kollektive Arbeitsrecht wird dabei insoweit mitbehandelt, als es für das Verständnis des Individualarbeitsrechts unerlässlich ist. II. Die rechtliche Einordnung des Arbeitsverhältnisses 1. Ein Arbeitsverhältnis liegt vor, wenn sich jemand einem anderen gegenüber • auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags, der als Arbeitsvertrag in Anlehnung an den Dienstvertrag des Bürgerlichen Gesetzbuches seine gesetzliche Grundlage in den §§ 611 bis 630 BGB gefunden hat, (die Beamten, Richter und Soldaten stehen demgegenüber in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis; die Angestellten des öffentlichen Dienstes hingegen arbeiten aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages und sind AN, vgl. z.B. § 1 II 2 Nr.2, § 23 KSchG), • dazu verpflichtet hat, unselbständige Dienste zu leisten. Die Bestimmungen der §§ 611 bis 630 BGB regelten ursprünglich nur den sog. freien Dienstvertrag des selbständig Dienstleistenden, den z.B. der Rechtsanwalt mit seinem Mandanten, der Arzt mit seinem Patienten und der Unternehmensberater mit seinem Kunden schließt. Als das BGB im Jahre 1900 in Kraft trat, steckte das Arbeitsrecht noch in den Kinderschuhen. Erst während der Weimarer Republik begann es, als eigenständiges Rechtsgebiet in Erscheinung zu treten. Da der Gesetzgeber aber kein spezielles Arbeitsvertragsrecht schuf, begann die Rechtsprechung, Vorschriften über den Dienstvertrag, die sich als geeignet erwiesen, auch auf den Arbeitsvertrag anzuwenden. Im Laufe der Zeit reicherte der Gesetzgeber die §§ 611 ff. BGB dann selbst um rein arbeitsrechtliche Bestimmungen an mit dem Ergebnis, dass das Dienstvertragsrecht des BGB nunmehr zwei Varianten abdeckt: © Professor Dr. Hunscha 6 Dezember 2015 den Dienstvertrag des selbständig Dienstleistenden mit seinem Auftraggeber und den Arbeitsvertrag des Unselbständigen mit seinem ArbG. Auf das Arbeitsverhältnis sind ungeachtet der Wortwahl des Gesetzgebers (Dienstverhältnis = Arbeitsverhältnis / Dienstverpflichteter = Arbeitnehmer / Dienstberechtigter = Arbeitgeber / Dienstleistung = Arbeitsleistung) alle Bestimmungen der §§ 611 ff. BGB mit Ausnahme der §§ 621 und 627 BGB anwendbar. 2. Wie der Dienstvertrag, so ist auch der Arbeitsvertrag ein gegenseitiger Vertrag (§§ 320 ff. BGB), weil die Leistungen der Vertragsparteien in einem Austauschverhältnis stehen. Jede Vertragspartei verspricht der anderen eine Leistung um deren Gegenleistung willen. In Ansehung der den Vertrag typisierenden gegenseitigen Haupt(leistungs)pflichten ist darum jede Vertragspartei sowohl Gläubiger als auch Schuldner der anderen Vertragspartei. So schuldet nach § 611 I BGB einerseits der AN dem ArbG die Leistung von Arbeit (unten § 15) und andererseits der ArbG dem AN die Gewährung der vereinbarten Vergütung (unten § 16). Anders gewendet ist der ArbG der Gläubiger des gegen den AN gerichteten Anspruchs auf Arbeitsleistung und der AN der Gläubiger des gegen den ArbG gerichteten Anspruchs auf Vergütung. Darüber hinaus trifft beide Seiten eine Fülle unterschiedlicher Nebenpflichten, deren Vielzahl sich aus der Menge der Berührungspunkte erklärt, die das tägliche Miteinander im Betrieb mit sich bringt. Es ist auf diese Weise eine „Verdichtung des Pflichtengefüges“ eingetreten (Gernhuber, Das Schuldverhältnis, 1989, § 16 II 2a). Verletzt der AN seine Nebenpflichten, kann dieses Fehlverhalten genauso wie die Verletzung einer Hauptpflicht zu seiner Abmahnung oder gar Kündigung durch den ArbG führen. Im Übrigen kann es infolge von Nebenpflichtverletzungen durch den AN wie durch den ArbG zu Schadensersatzansprüchen des einen gegen den anderen kommen. Etwas patriarchalisch nennt man die Nebenpflichten auf der Arbeitgeberseite Fürsorgepflichten (§ 16 IV.) und auf der Seite des AN Treuepflichten (§ 15 V.). 3. Anders als der Kaufvertrag in seiner typischen Erscheinungsform ist der Arbeitsvertrag nicht auf einen einmaligen Leistungsaustausch gerichtet, sondern begründet ein Dauerschuldverhältnis über einen mehr oder weniger langen Zeitraum hinweg. Aus diesem Grund weist das Arbeitsverhältnis spezifische Wesenszüge auf, von denen auf drei ganz wesentliche Merkmale schon hier hinzuweisen ist. a) Wie dies durch den vorstehenden Hinweis auf das dichte Gefüge von Nebenpflichten als Folge der vielfältigen Berührungspunkte im betrieblichen Alltag bereits angedeutet wurde, bildet das Arbeitsverhältnis die Grundlage für das Entstehen menschlicher Beziehungen der AN untereinander und zu ihrem ArbG bzw. seinen Repräsentanten, die das Arbeitsklima prägen und auf den Inhalt der gegenseitigen Rechte und Pflichten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben. So fordert der Umgang miteinander ein besonderes Maß an kollegialer Rücksichtnahme und bildet sich normalerweise mit der Zeit zwischen dem ArbG und seinen AN ein besonderes Vertrauensverhältnis heraus, das von beiden Seiten ein loyales Verhalten zu einander fordert. b) Zum anderen folgt aus dem Dauerschuldcharakter des Arbeitsverhältnisses, dass die Modalitäten der von einem AN im Laufe der Zeit zu erbringenden Arbeitsleistung unmöglich in allen Einzelheiten arbeitsvertraglich vorherbestimmt werden können. Durch eine „offene Regelung“ muss den wechselnden Anforderungen des Tagesgeschäfts und dem Bedürfnis nach einer Anpassung des Arbeitsverhältnisses © Professor Dr. Hunscha 7 Dezember 2015 an die sich wandelnden wirtschaftlichen Gegebenheiten Rechnung getragen werden. So kommt es z.B. zu dem in § 106 GewO beschriebenen Weisungsrecht des ArbG, wonach er in bestimmten Grenzen berechtigt ist, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung näher zu bestimmen (unten § 15 II.). c) Was schließlich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis angeht, so bedarf es dazu besonderer rechtlicher Instrumente in Gestalt vor allem der Vereinbarung einer Befristung, des Abschlusses eines Aufhebungsvertrages oder des Ausspruchs einer Kündigung (unten § 28). III. Das Kriterium der Unselbständigkeit der Dienstleistung des Arbeitnehmers und seine soziale Schutzbedürftigkeit 1. AN ist, wer auf Grund eines Vertrages nach Maßgabe der §§ 611 ff. BGB einem anderen unselbständige Dienste leistet. a) Die Unselbständigkeit der Dienstleistung wird entscheidend durch die persönliche Abhängigkeit des AN von seinem ArbG gekennzeichnet. Sie beruht auf der Tatsache, dass der Dienstverpflichtete (AN) dem Dienstberechtigten (ArbG) • im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses über einen mehr oder weniger langen Zeitraum hinweg seine Arbeitskraft im Regelfall (Vollzeittätigkeit) ausschließlich zur Verfügung stellt, • wobei er durch seine Eingliederung in den Betrieb des Dienstberechtigten den organisatorischen Zwängen unterworfen ist, die sich daraus ergeben, dass er im Zusammenwirken mit anderen einem fremdbestimmten Unternehmenszweck dient • und den Weisungen des Dienstberechtigten in Bezug auf Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung Folge zu leisten hat. b) Die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem durch berufliche Tätigkeit erworbenen Entgelt ist kein Merkmal gerade des AN. Auch der Selbständige ist darauf angewiesen, sich sein Geld zu erarbeiten und hängt wirtschaftlich davon ab, Kunden zu gewinnen. Die besondere Situation des Unselbständigen liegt allerdings darin, dass er sich nicht einer Vielzahl von Auftraggebern gegenüber frei verdingen kann und auch nicht will, sondern in den Dienst eines Selbständigen treten muss, der ihn in seinem Betrieb zu seinen Zwecken einsetzt. Der AN braucht einen Arbeitsplatz, damit er tätig werden kann. Dieses Angewiesensein auf die Bereitschaft eines Betriebsinhabers, den Arbeitsuchenden bei sich gegen Entgelt zu beschäftigen, und das damit verbundene Unvermögen, seine Beschäftigungsbedingungen im Einzelnen aushandeln sowie das Risiko seines Arbeitsplatzverlustes beherrschen zu können. begründet eine Situation struktureller Unterlegenheit des AN gegenüber seinem ArbG, die als ein weiteres Kennzeichen gerade seiner persönlichen Abhängigkeit zu begreifen ist. 2. Aus all dem folgt jenes Maß an sozialer Schutzbedürftigkeit des AN, das zur Entwicklung des Arbeitsrechts geführt hat. Dessen wesentliche Aufgabe ist es © Professor Dr. Hunscha 8 Dezember 2015 • sozialverträgliche Mindestarbeitsbedingungen durch geeignete Rechtsvorschriften sowie ergänzendes Richterrecht sicherzustellen, • die Möglichkeit kollektiver Selbsthilfe der AN auf der Grundlage von Art. 9 III GG (Koalitionsfreiheit/Tarifautonomie/Arbeitskampffreiheit) zu ermöglichen l, • die Mitbestimmung der AN im Betrieb durch den Betriebsrat sowie in Unternehmen großer Kapitalgesellschaften durch AN-Vertreter im Aufsichtsrat zu gewährleisten, und dies alles unter der Kontrolle einer eigenständigen Arbeitsgerichtsbarkeit. 3. Ein besonderes Maß an sozialer Sicherheit genießt ein AN, wenn ihm der allgemeine Kündigungsschutz nach Maßgabe des KSchG zuteil wird (unten §§ 30 bis 32). Denn hiernach ist eine ordentliche, d.h. fristgemäße Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG nur dann zulässig, wenn sie aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt ist. Glaubt der AN, die Kündigung wegen fehlender sozialer Rechtfertigung (aber auch wegen anderer Unwirksamkeitsgründe) angreifen zu können, muss er innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung den ArbG vor dem Arbeitsgericht verklagen mit dem Ziel, die Unwirksamkeit der Kündigung feststellen zu lassen. Die Belastung des ArbG mit der Notwendigkeit, die Entlassung des AN unter sozialen Gesichtspunkten rechtfertigen zu müssen, um einem Prozessverlust zu entgehen, trägt dem Sozialstaatsgebot der Art. 20 I, 28 I GG Rechnung und führt zu einem angemessenen Ausgleich zwischen den jeweils in Gestalt der Berufsfreiheit des Art. 12 I GG geschützten Interessen einerseits des Unternehmers an einer selbstbestimmten Unternehmensführung und andererseits des AN an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes. Trotzdem ist diese Form des Kündigungsschutzes nach wie vor Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. So wird oft behauptet, dass sie für das Entstehen von Arbeitslosigkeit mitverantwortlich sei, weil die Bereitschaft des ArbG, „zusätzliche“ Arbeitskräfte einzustellen, durch die Aussicht, sie bei schlechter Wirtschaftslage nicht einfach entlassen zu können, deutlich verringert werde. Die Stichhaltigkeit dieser Argumentation ist zu bezweifeln. Normalerweise stellt der ArbG sowieso nicht mehr AN ein, als er wirklich benötigt, aber auch nicht weniger, als er wirklich braucht. Keinesfalls wird er seinen Bedarf an qualifizierten AN nur deswegen nicht voll befriedigen, weil ihm später etwa erforderlich werdende Kündigungen nicht so einfach gelingen, wie sie nach dem Prinzip des „hire and fire“ möglich wären. Selbst in Zeiten einer Flaute ist der Unternehmer bestrebt, seine AN zu behalten und wird zunächst einmal Kurzarbeit, ggf. auf null Arbeitsstunden reduziert, anordnen (unten § 15 III.). Bei nur kurzfristigem Personalbedarf insbesondere zur Erbringung einfacher Tätigkeiten kann sich der ArbG mit befristeten Arbeitsverhältnissen oder durch den Einsatz von Leih-AN behelfen. Die der Arbeitsleistung förderliche Identifikation des AN mit dem Betrieb wird allerdings nur bei Zugehörigkeit zur Stammbelegschaft eintreten. IV. Das arbeitsrechtliche Unternehmerrisiko Jeder Unternehmer trägt das Risiko, sich unter Einsatz eigenen und fremden Kapitals im Wettbewerb zu behaupten. Vor diesem Hintergrund werden die zum Schutz des AN geltenden Regeln häufig als eine überreichlich zusätzliche Belastung betrachtet. Es ist jedoch zu bedenken, dass eine sozial ausgewogene Arbeitsrechtsord- © Professor Dr. Hunscha 9 Dezember 2015 nung eine wesentliche Voraussetzung erfolgreichen Wirtschaftens ist. Auf ihrer Grundlage kann ein umsichtiges Management ein Arbeitsklima schaffen, das durch Stärkung der Motivation seiner Mitarbeiter die Produktivität fördert und geeignet ist, das arbeitsrechtliche Unternehmerrisiko zu verringern. Abgesehen vom allgemeinen Kündigungsschutz des AN nach Maßgabe des KSchG (unten §§ 30 bis 32), über den vorstehend unter III. 3. schon ein Vorgeschmack vermittelt wurde, bildet eine weitere spezifisch arbeitsrechtliche Komponente des Unternehmerrisikos die Doktrin vom Betriebsrisiko des ArbG, das ihn als den Inhaber der betrieblichen Leitungsmacht trifft. Sie besagt zum einen, dass der ArbG nach § 615 S. 3 BGB auch dann zur Zahlung des Arbeitslohns verpflichtet ist, wenn er seine AN aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann (unten § 19). Sie besagt zum anderen, dass der ArbG in entsprechender Anwendung des § 254 BGB durch betrieblich veranlasste Tätigkeiten seiner AN herbeigeführte Schäden in angemessenem Umfang mittragen muss (unten § 27). Aus der Organisationsgewalt des ArbG über den Betrieb fließt aber auch sein Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko. Danach muss er z.B. bei Auftrags- oder Absatzmangel, fehlender Verleihmöglichkeit auf dem Gebiet der AN-Überlassung, fehlenden Einsatzmöglichkeiten der ihm auf Abruf zur Verfügung stehenden AN und ähnlichen wirtschaftlichen Flauten, in denen er nicht genug Arbeit hat, seinen AN nach § 615 S. 1 BGB dennoch den Arbeitslohn zahlen. Auch dieses Risiko ist als ein Ausdruck des Betriebsrisikos des ArbG zu begreifen (unten § 19, § 41 II.). Von der aus § 615 BGB fließenden Vergütungspflicht kann sich der ArbG vorübergehend durch die Anordnung von Kurzarbeit befreien (unten § 15 III. 2./3.). Bei unabsehbar langen Störfällen darf der ArbG als letztes Mittel zur betriebsbedingten Kündigung greifen (unten §§ 30 bis 32). V. Die Abgrenzung des Arbeitnehmers von anderen Beschäftigten 1. Nach § 5 I ArbGG sind AN im Sinne dieses Gesetzes Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten entstammt dem Sozialversicherungsrecht. Arbeitsrechtlich kommt ihr keine Bedeutung mehr zu. a) Zu den AN gehören auch die leitenden Angestellten. Eine einheitliche Begriffsbestimmung fehlt. Das BetrVG enthält in § 5 III 2, IV BetrVG ins Einzelne gehende Kriterien. Sie sind AN, die in gewissem Umfang Arbeitgeberfunktion ausüben und insoweit anders als die übrigen AN behandelt werden. So gilt für sie nach § 5 III 1 BetrVG nicht das BetrVG, sondern das Sprecherausschussgesetz (SprAuG). Nach § 3 I Nr. 2 MitbestG können sie aber als AN-Vertreter in den Aufsichtsrat eines vom MitbestG erfassten Unternehmens gewählt werden. Demgegenüber können „Geschäftsführer, Betriebsleiter oder Personalleiter, soweit sie zur Einstellung von Arbeitnehmern in den Betrieb berechtigt sind, oder Personen, denen Prokura oder Generalvollmacht erteilt ist“, nach § 22 II Nr. 2 ArbGG zu ehrenamtlichen Richtern nur aus dem Kreis der Arbeitgeber bestellt werden. Nach § 18 I Nr. 1 ArbZG gilt für leitende Angestellte das ArbZG nicht. Als AN genießen sie nach § 14 II 1 KSchG im Grundsatz Kündigungsschutz; sofern sie aber „zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind“, kommt ihnen nach § 14 II 2 KSchG kein Bestandsschutz, sondern nur ein Abfindungsschutz zugute, da der ArbG den Auflösungsantrag nach § 9 I 2 KSchG ohne eine Begründung stellen darf , um den weiteren Verbleib des AN im Betrieb zu verhindern; denn auch eine unwirksame Kündigung zerstört in der Regel das hier erforderliche besondere Vertrauensverhältnis. © Professor Dr. Hunscha 10 Dezember 2015 b) Keine AN sind die Organmitglieder einer juristischen Person oder einer rechtsfähigen Personengesellschaft (§ 14 I KSchG, § 5 II Nr. 1 BetrVG, 5 I 3 ArbGG). c) Keine AN sind der unabhängige und damit wirklich freie Mitarbeiter und der unabhängige und damit wirklich selbständige Handelsvertreter, die als Selbständige „im Wesentlichen frei…(ihre) Tätigkeit gestalten und…(ihre) Arbeitszeit bestimmen“ können; so die zur Anwendung auch auf den freien Mitarbeiter geeignete Definition der Selbständigkeit des Handelsvertreters in § 84 I 2 HGB. Bei hoher wirtschaftlicher Abhängigkeit werden sie allerdings zu arbeitnehmerähnlichen Personen (nachfolgend unter d). Beim Vorliegen zugleich persönlicher Abhängigkeit sind sie AN. d) Nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses tätig werden die sog. arbeitnehmerähnlichen Personen. Nach § 5 I 2 ArbGG, § 2 Satz 2 BUrlG und § 12a I TVG versteht man hierunter Mitarbeiter, die Leistungen auf Grund eines freien Dienstverhältnisses oder eines Werkvertrages erbringen, aber infolge ihrer wirtschaftlichen (nicht zugleich persönlichen, da sonst AN) Abhängigkeit eines gewissen sozialen Schutzes bedürfen. Zu ihnen gehören die nachfolgend unter (1) bis (3) aufgeführten Berufsgruppen. Sie sind Selbständige, für deren Klagen gegen ihre Auftraggeber aber das Arbeitsgericht zuständig ist, die Ansprüche auf bezahlten Erholungsurlaub haben, deren Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag geregelt werden können und die Arbeitsschutz nach Maßgabe des ArbSchG genießen. Weitere arbeitsrechtliche Regelungen finden auf sie weder unmittelbar noch entsprechend Anwendung, also z.B. nicht der gesetzliche Mindestlohn nach dem MiLoG, der gesetzliche Kündigungsschutz: Anstelle der gesetzlichen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach Maßgabe des EFZG kommt § 616 BGB zur Anwendung. (1) Neben den in den §§ 1 und 2 des Heimarbeitsgesetzes (HAG) aufgeführten Beschäftigten zählt zu den arbeitnehmerähnlichen Personen auch der selbständige Handelsvertreter, der als Einfirmenvertreter (§ 92a HGB) mit einem Kleinst-Verdienst in den (allerdings nicht mehr zeitgemäßen) Grenzen des § 5 III ArbGG tätig wird. Steht er kraft umfassender Weisungsbefugnis seines Unternehmers allerdings auch in persönlicher Abhängigkeit, gilt er mangels Selbständigkeit nach § 84 II HGB als AN. (2) Zu den arbeitnehmerähnlichen Personen gehört auch der freie Mitarbeiter, der auf Dauer und im Wesentlichen für nur einen Auftraggeber tätig ist, dessen Zahlungen seine Existenzgrundlage bilden. Steht er zu seinem Auftraggeber kraft dessen Weisungsbefugnis allerdings auch in persönlicher Abhängigkeit, gilt er als AN. (3) Auch der Franchisenehmer kann im Einzelfall von seinem Franchisegeber so stark wirtschaftlich und gelegentlich sogar persönlich abhängen, dass er als arbeitnehmerähnliche Person oder gar als AN anzusehen ist. 2. Aufgrund der wirtschaftlichen Belastungen, die das Arbeitsrecht und das Sozialversicherungsrecht (fast hälftige Beteiligung an den Sozialversicherungsbeiträgen des AN) dem ArbG aufbürden, sind Unternehmer gelegentlich versucht, AN wie Selbständige einzusetzen, etwa als „beauftragte Werkunternehmer“. Sofern diese Personen aber nach dem Gesamtbild ihrer Tätigkeit die Kriterien abhängiger Arbeit erfüllen, nämlich in die Arbeitsorganisation des Unternehmers eingegliedert nach seinen Weisungen tätig sind (§ 7 I 2 SGB IV), ihre Arbeitsleistung ausschließlich persönlich erbringen und ganz überwiegend nur diesem einen Unternehmer zur Verfügung stehen, liegt ein Fall von Scheinselbständigkeit vor. Wird derlei durch eine Betriebsprüfung deutlich oder weil der Scheinselbständige im Falle seiner „Entlassung“ AN-Kündigungsschutz geltend macht, trifft den Unternehmer das Risiko der Nachzahlung der als ArbG vom Lohn des AN einzubehaltenden und an das Finanzamt abzuführenden Lohnsteuer bis zur Grenze der regelmäßig vierjährigen Festsetzungsverjährung sowie nach §§ 28d ff. SGB IV der Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Nach § 28g Satz 3 SGB IV darf ein bei dem Beschäftigten „unter- © Professor Dr. Hunscha 11 Dezember 2015 bliebener Beitragsabzug nur bei den drei nächsten Lohn- oder Gehaltszahlungen nachgeholt werden, danach nur dann, wenn der Abzug ohne Verschulden des Arbeitgebers unterblieben ist“. Markantes Schulbeispiel ist der Kellner, der als „gewerbsmäßiger Vermittler“ von Speisen und Getränken des Gastwirts oder als „gewerbsmäßiger Verkäufer“ der zuvor dem Gastwirt abgekauften Speisen und Getränke auftritt. Geläufig ist auch der Fall des LKW-Fahrers, der mit dem von seinem bisherigen ArbG gemieteten LKW nunmehr als „Selbständiger“ dessen Frachtaufträge ausführt. Zu Einzelfällen siehe den „Katalog bestimmter Berufsgruppen zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit“ der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger im Internet. VI. Erscheinungsformen des Arbeitsverhältnisses 1. Die idealtypische Erscheinungsform des Arbeitsverhältnisses ist die für eine unbegrenzte Zeitdauer, also unbefristet, eingegangene Vollzeitbeschäftigung über etwa 35 bis 40 Stunden pro Woche. Hieran knüpft auch das Sozialversicherungsrecht an, das nur auf dieser Grundlage den Aufbau einer hinreichenden Altersrente gewährleisten kann. 2. Eine Abweichung hiervon bildet das befristete Arbeitsverhältnis (unten § 13). a) Auf der Grundlage von § 14 TzBfG ist es zulässig, die Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses zu begrenzen. Das ist dort selbstverständlich, wo es dafür einen sachlichen Grund gibt (§ 14 I TzBfG), so z.B. bei wirklich nur vorübergehendem Beschäftigungsbedarf, wie etwa im Fall von Saisonarbeit, bei der Vertretung eines erkrankten AN oder wenn in der Person des AN liegende Gründe die Befristung rechtfertigen, wie etwa im Fall eines nur in der vorlesungsfreien Zeit zur Verfügung stehenden Studenten. b) Darüber hinaus macht § 14 II TzBfG es aber auch möglich, einen AN ohne Sachgrund für zunächst einmal höchstens 2 Jahre befristet zu beschäftigen. Der Gesetzgeber will es dem ArbG auf diese Weise schmackhaft machen, einen Arbeitsuchenden einzustellen, ohne sich damit zugleich kostenträchtige Kündigungsprobleme einzuhandeln. Dabei gibt sich der Gesetzgeber der Hoffnung hin, dass der AN sich in der Zeit befristeter Beschäftigung so sehr bewährt, dass der ArbG ihn nach Ablauf der Befristungsmöglichkeit in ein auf Dauer gerichtetes Arbeitsverhältnis übernimmt. 3. Das (unbefristete oder befristete) Arbeitsverhältnis kann statt einer Vollzeitbeschäftigung auch nur eine Teilzeitbeschäftigung bieten (unten § 12 I./II.). Oft ist das durchaus im Interesse des AN, der z.B. mehr Zeit für die Erziehung seiner Kinder haben will. Und dies vor allem dann, wenn der andere Elternteil gleichfalls in Brot und Lohn ist. Aus diesem Grund gewährt § 8 TzBfG einem AN den Anspruch auf eine Verringerung seiner vereinbarten Arbeitszeit, also von Vollzeit auf Teilzeit, aber auch von einer höheren Teilzeit auf eine geringere Teilzeit. Ein AN kann aber auch von vornherein als nur Teilzeitbeschäftigter eingestellt werden. Beide Arten Teilzeitbeschäftigter haben nach § 9 TzBfG unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf die Verlängerung ihrer Arbeitszeit bis hin zur Vollzeit, sofern ein entsprechender Arbeitsplatz im Betrieb frei wird. © Professor Dr. Hunscha 12 Dezember 2015 Eine besondere Art der Teilzeitbeschäftigung ist die geringfügige Beschäftigung nach Maßgabe der § 8 SGB IV zu einem regelmäßigen Entgelt von nicht mehr als monatlich 450 Euro. Nach § 13 TzBfG können ArbG und AN vereinbaren, dass mehrere AN sich die Arbeitszeit an einem Vollzeitarbeitsplatz teilen („Job-sharing“). Es handelt sich dann um Teilzeitbeschäftigte in einem Gruppenarbeitsverhältnis. Die Altersteilzeit nach Maßgabe des AltersteilzeitG soll älteren AN einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in die Altersrente ermöglichen. 4. Bei einem (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsverhältnis kann vereinbart werden, dass der AN seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat. Dann erbringt er die Arbeit auf Abruf durch den ArbG. a) Handelt es sich um ein Teilzeitarbeitsverhältnis, ist normalerweise die gesamte Arbeitszeit auf Abruf gestaltet. Dies ist der Fall, den § 12 TzBfG im Auge hat (unten § 12 III. 1.). b) Bei einem Vollzeitarbeitsverhältnis ist es möglich, die Arbeitszeit in der Spitze als Abrufarbeit zu gestalten. Dann kann die Arbeitszeit etwa im oberen Drittel einer Wochenarbeitszeit des AN von z.B. 35 Stunden je nach Abruf durch den ArbG zwischen einer Mindestarbeitszeit von maximal minus 20 % von 35 und einer Höchstarbeitszeit von maximal plus 25 % von 35, also zwischen 28 und 43,75 Wochenstunden schwanken (unten § 12 III. 2. bis 4. sowie § 15 IV.). c) Von der Arbeit auf Abruf im Sinne des § 12 TzBfG zu unterscheiden sind die nach der Intensität der Inanspruchnahme des AN von der Vollarbeit abzugrenzenden Fälle der Arbeitsbereitschaft, des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft (unten § 15 I. 3. b). 5. Jedes Arbeitsverhältnis beginnt normalerweise mit einer Probezeit, deren rechtliche Bedeutung darin liegt, sich bei Nichtgefallen leichter und schneller sich von einander trennen zu können (unten § 14). Zwei Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich an. a) Die Probezeit kann zum einen Teil des Arbeitsverhältnisses sein. Dann dient ein bestimmter Zeitraum am Anfang des Arbeitsverhältnisses der Probe mit der Maßgabe, dass hier jeder Vertragsteil kurzfristig kündigen kann. Unterbleibt eine Kündigung, setzt sich das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Probezeit ohne weiteres fort. b) Nach § 14 I Nr. 5 TzBfG kann die Probezeit zum anderen dem Arbeitsverhältnis als sachgrundbefristetes Probearbeitsverhältnis vorgeschaltet sein, nach dessen Ablauf die Probezeit ohne weiteres endet. Die Möglichkeit einer vorzeitigen kurzfristigen Kündigung kann zusätzlich vereinbart werden. Die Fortführung des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der Probezeit hinaus bedarf eines neuen Vertragsschlusses. 6. Wenn der ArbG die Erlaubnis zur AN-Überlassung besitzt, kann er AN bei sich einstellen mit der Maßgabe, sie Dritten zur Arbeitsleistung zu überlassen. Der ArbG © Professor Dr. Hunscha 13 Dezember 2015 wird vom AÜG als Verleiher, der AN als Leih-AN und der Dritte als Entleiher bezeichnet. Der Arbeitsvertrag besteht zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN. Nach ihm schuldet der Leih-AN dem Verleiher die Leistung von Arbeit im Betrieb des vom Verleiher eingeworbenen Entleihers und der Verleiher dem Leih-AN die Zahlung des Arbeitslohns. Zwischen dem Verleiher und dem Entleiher besteht ein sog. ANÜberlassungsvertrag. Nach ihm schuldet der Verleiher die Überlassung seines AN und der Entleiher die Zahlung einer Überlassungsvergütung. Das Rechtsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leih-AN ist dadurch gekennzeichnet, dass der Entleiher die Arbeitsleistung unmittelbar vom Leih-AN einfordern kann und ihm gegenüber weisungsbefugt ist. Im Gegenzug treffen den Entleiher dem Leih-AN gegenüber die hierbei einschlägigen Schutzpflichten (unten § 41). 7. Ausbildungsverhältnisse sind atypische Arbeitsverhältnisse, die aber im Grundsatz dem Arbeitsrecht unterstehen. a) Das gilt zum einen für das Berufsausbildungsverhältnis des BBiG. Nach dessen § 10 II sind auf den Arbeitsvertrag des Auszubildenden die für das Arbeitsrecht geltenden Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden, soweit sich „aus seinem Wesen und Zweck“ und den im BBiG enthaltenen Sonderbestimmungen nichts anderes ergibt. Auf die Vergütung von zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten findet das MiLoG nach seinem § 22 III keine Anwendung. Die Höhe der Vergütung kann durch einen Tarifvertrag oder den Einzelarbeitsvertrag festgelegt werden. Nach § 17 I BBiG muss sie „angemessen“ sein und pro Ausbildungsjahr ansteigen. Die nach § 71 BBiG zuständigen Kammern geben diesbezüglich Empfehlungen. Ist für den Ausbildungsbetrieb ein Tariflohn maßgebend, sollte die Vergütung der Auszubildenden ihn nicht um mehr als 20 % unterschreiten. b) Das gilt zum anderen für das echte Praktikum, das zum Erwerb von beruflichen Fertigkeiten, Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen führen soll. Es dient Ausbildungszwecken, aber nicht in Gestalt einer systematischen Berufsausbildung im Sinne des BBiG. Darum wird es nach § 26 BBiG als ein Rechtsverhältnis behandelt, auf das die §§ 10 bis 23 und 25 BBiG nur mit bestimmten Einschränkungen anwendbar sind. § 22 I 3 MiLoG enthält eine eigene Definition des Praktikanten, die aber die Rechtslage gegenüber § 26 BBiG nicht verändert (ErfK/Franzen § 22 MiLoG Rn. 7). Nach § 22 I 2 MiLoG unterfallen Praktika i.S.d. § 26 BBiG im Grundsatz den Vorschriften über den Mindestlohn (unten § 5 VI.). Findet § 26 BBiG keine Anwendung, weil zwischen dem Ausbildungssuchenden und dem Inhaber des Betriebs ein normaler Arbeitsvertrag abgeschlossen wurde, gilt das MiLoG ohnedies. Von der Geltung des MiLoG ausgenommen sind nach § 22 I 2 Nr. 1 MiLoG jedoch Pflichtpraktika gemäß Schulrecht, einer Ausbildungsordnung, Hochschulrecht oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie; ferner die in § 22 I 2 Nr. 2 und Nr. 3 MiLoG aufgeführten freiwilligen Praktika sowie die unter Nr. 4 genannten Maßnahmen. Das vordergründig „Praktikum“ genannte unechte Praktikantenverhältnis, bei dem ein fertig ausgebildeter Berufsanfänger übliche Arbeitsaufgaben wahrnimmt, ist ein normales Arbeitsverhältnis mit vollem Lohnanspruch unter Beachtung des MiLoG. © Professor Dr. Hunscha 14 Dezember 2015 § 2 Die Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Überblick (Einzelheiten zu den verschiedenen Gestaltungsfaktoren nachfolgend §§ 3 bis 6) I. Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis Das Arbeitsverhältnis ist ein Rechtsverhältnis zwischen dem ArbG und seinem AN, das durch spezifische Rechte und Pflichten dieser Personen im Verhältnis zu einander gekennzeichnet ist. Im Unterschied zu der Rechtslage im sonstigen Privatrecht ist im Arbeitsrecht neben dem (Arbeits-)vertrag und den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften vor allem des Vertragsrechts des BGB sowie zahlreicher arbeitsrechtlicher Sondergesetze eine ganze Reihe weiterer rechtlicher Regelungsinstrumente zu berücksichtigen, die den Inhalt der Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis mitgestalten. Hansjörg Otto a.a.O. vor Rn. 114 bezeichnet sie plastisch als die Bauelemente des Arbeitsrechts. Im Allgemeinen spricht man von den Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses und meint die verschiedenen Quellen, aus denen Rechte und Pflichten von ArbG und AN fließen. 1. Vertrag und Gesetz als grundlegende Gestaltungsfaktoren Bei der Prüfung der Frage nach den Rechten und Pflichten von ArbG und AN steht auch im Arbeitsrecht der zwischen den beiden abgeschlossene Vertrag, der Arbeitsvertrag nach § 611 BGB, im Mittelpunkt der Betrachtung. Da er regelmäßig ein vom ArbG verfasster Formularvertrag ist, der für alle Betriebsangehörigen im Wesentlichen gleichlautende Arbeitsbedingungen vorsieht, trägt er als „arbeitsvertragliche Einheitsregelung“ der Charakter von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Sinne der §§ 305 ff. BGB (unten § 4 I.). a) Der Vertrag ist ein Produkt der privatautonomen Gestaltung eines Rechtsverhältnisses. Schon von Anfang an ist dabei aber auch der Gesetzgeber im Spiel, insoweit er den Ordnungsrahmen vorgibt, innerhalb dessen die sich die Vertragsschließenden entfalten können. Für jedes vertragliche Schuldverhältnis legt das Gesetz die Struktur des jeweiligen Vertragstyps fest und stellt allgemeine Regeln über das Zustandekommen, die Durchführung und die Beendigung des Rechtsverhältnisses auf. Für den Arbeitsvertrag sind dies zum einen die §§ 611 bis 630 BGB – mit Ausnahme der §§ 621 und 627 BGB – und zum anderen vor allem die allgemeinen Bestimmungen der §§ 104 bis 218 BGB über Rechtsgeschäfte sowie die allgemeinen Bestimmungen der §§ 241 ff. BGB über Schuldverhältnisse, soweit sie sich zur Anwendung auf den vom BGB ursprünglich nicht bedachten Arbeitsvertrag (oben § 1 II. 1.) eignen, und schließlich § 670 BGB sowie einige Vorschriften aus dem Recht der ungerechtfertigten Bereicherung, §§ 812 ff. BGB und dem Recht der unerlaubten Handlungen §§ 823 ff. BGB. b) Darüber hinaus ist es aber das besondere Anliegen des Gesetzgebers im Arbeitsrecht, den AN vor sozial unverträglichen Arbeitsbedingungen zu schützen. Mangels einer Gesamtkodifikation des Arbeitsvertragsrechts als Teil des BGB oder in einem gesonderten „Arbeitsgesetzbuch“ geschieht dies durch zumeist zwingende Rechtsvorschriften in einer Vielzahl von nur punktuell eingreifenden, zu unterschiedlichen Zeiten und aus begrenzten Anlässen entstandenen und kaum auf einander abge- © Professor Dr. Hunscha 15 Dezember 2015 stimmten besonderen AN-Schutzgesetzen (siehe die einschlägigen Gesetzessammlungen, insbesondere die Ausgabe „Arbeitsgesetze“, Beck-Texte im dtv). c) Zur Bedeutung des Grundgesetzes und des supranationalen EU-Rechts für das Arbeitsrecht siehe unten § 3 III. und IV. Hinweis: Das Bestreben des Gesetzgebers, den AN vor sozial unverträglichen Arbeitsbedingungen zu schützen, findet eine gewisse Parallele im Verbraucherschutz und im Mieterschutz des BGB. 2. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers als vertragsausfüllender Gestaltungsfaktor Da der Arbeitsvertrag die Leistungspflichten des AN unmöglich in allen Einzelheiten im Voraus festlegen kann und es auch immer wieder erforderlich wird, den Einsatz des AN an die sich verändernden wirtschaftlichen Verhältnisse anzupassen, ist der ArbG aufgrund der ihm als Betriebsinhaber zustehenden Leitungsmacht befugt, durch Ausübung des ihm in den Grenzen des § 106 GewO zustehenden Weisungsbzw. Direktionsrechts eine fortlaufende Konkretisierung der Leistungspflichten des AN herbeizuführen (unten § 4 IV. und vor allem § 15 II.). 3. Betriebliche Übung und Gesamtzusage als vertragsergänzende Gestaltungsfaktoren Durch die von Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelten Regelungsinstrumente zum einen der Betrieblichen Übung (unten § 4 II.), als der auf einem wiederholten tatsächlichen Verhalten des ArbG gegenüber der Belegschaft beruhenden Gewährung einer zusätzlichen geldwerten Leistung und zum anderen der Gesamtzusage (unten § 4 III.), als der von Seiten des ArbG der Belegschaft als Ganzes gegenüber erklärten Gewährung einer zusätzlichen geldwerten Leistung, erfährt der Arbeitsvertrag eine inhaltliche Ergänzung. In den Fällen, in denen der ArbG die Belegschaft auf Grund einer selbst geschaffenen Regel kollektiv „behandelt“, muss er dann aber beachten, dass der sog. allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz I GG abgeleitete Rechtsnorm im Rang einer einfachgesetzlichen Vorschrift (unten § 3 III. 3. ohne sachlichen Grund anders zu behandeln, hier also von Gewährungen auszunehmen oder sie schlechter zu stellen. 4. Das Richterrecht als gesetzesähnlicher Gestaltungsfaktor Abgesehen von dem Richterrecht, das sich bei der Anwendung gesetzlicher Vorschriften durch die Rechtsprechung zwangsläufig als Folge der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln durch Auslegung der Vorschriften herausbildet, entsteht Richterrecht im Arbeitsrecht vor allem dadurch, dass die Arbeitsgerichte im Wege ergänzender Rechtsfindung Gesetzgebungsdefizite ausgleichen müssen, die in Gestalt unvollkommener oder fehlender gesetzlicher Regelungen zutage treten (unten § 3 II.). Hierbei fällt dem Gericht die Aufgabe zu, die grundgesetzlich geschützten Rechtspositionen und Interessen des ArbG und des AN zu beachten und zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen (unten § 3 III. 2.). Das gesetzesvertretende Richterrecht kann auch neue Ansprüche schaffen, z.B. den richterrechtlichen bzw. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten AN gegen den ArbG (unten © Professor Dr. Hunscha 16 Dezember 2015 § 38 III.), den man als eine richterrechtliche Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 611 BGB i.V.m. § 242 BGB begreift (unten § 38 III.). Das Richterrecht kann sogar das Gesetz korrigieren und z.B. das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG auf drei Jahre begrenzen (unten § 13 III. 3.). 5. Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung als kollektivvertragliche Gestaltungsfaktoren Bei der Festlegung von Arbeitsbedingungen muss der ArbG die dem übrigen Privatrecht fremde Kategorie der Kollektivverträge beachten. Bei ihnen handelt es sich zum einen um die auf überbetrieblicher Ebene von einer Gewerkschaft mit einem ArbG-Verband (oder einem einzelnen ArbG) ausgehandelten Tarifverträge über Mindestarbeitsbedingungen (unten § 5). Zum anderen geht es um die auf betrieblicher Ebene zwischen dem von der Belegschaft gewählten Betriebsrat und dem ArbG ausgehandelten Betriebsvereinbarungen vor allem auf dem Gebiet der sozialen Angelegenheiten des § 87 BetrVG, deren Bestimmungen bei der Ermittlung der Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis als zusätzliche Gestaltungsfaktoren zu beachten sind (unten § 6). Auch dies sind privatrechtliche Verträge, in denen die Vertragsparteien innerhalb der vom Gesetzgeber durch das Tarifvertragsgesetz (TVG) und das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) gezogenen Grenzen selbständig verbindliche Festlegungen treffen können. Man spricht von der Tarifautonomie und kann im Bereich der Betriebsverfassung von einer Betriebsautonomie sprechen. Da das Gesetz diesen Vereinbarungen die Qualität gibt, durch ihre Normen wie ein Gesetz unmittelbar und zwingend auf die Arbeitsverhältnisse einzuwirken die Betriebsvereinbarungen nach § 77 IV BetrVG auf die Arbeitsverhältnisse der Belegschaft eines Betriebes, die Tarifvereinbarungen nach § 4 I TVG auf die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen AN und ArbG kommt ihnen als sog. Normenverträgen (Gamillscheg Bd. I, S. 482: „Gesetzgebung durch Vertrag“) gegenüber dem Arbeitsvertrag ein höherer Rang zu. Und im Verhältnis zu einander besitzt der Tarifvertrag als typisch überbetriebliches Instrument Vorrang vor der rein innerbetrieblichen Betriebsvereinbarung. II. Die Rangordnung der Gestaltungsfaktoren im Überblick Angesichts dieser Vielzahl von das Arbeitsverhältnis bestimmenden Gestaltungsfaktoren kommt der Rangordnung, in der sie zueinander stehen, besondere Bedeutung zu; denn wenn Rechte und Pflichten von verschiedenen Regelungen erfasst sind, kann es zu Widersprüchen kommen. Für diesen Fall muss Klarheit darüber herrschen, welche der anwendbaren Bestimmungen denn nun maßgebend sein sollen. Im Grundsatz gilt, dass den auf der Ebene des Gesetzes bestehenden Rechtsregeln, ─ zu denen allen voran die arbeitsrechtlich einschlägigen Grundrechtsartikel der Verfassung gehören (zum EU-Recht siehe unten § 3 IV.), sodann die einfachgesetzlichen Vorschriften des BGB und der besonderen AN-Schutzgesetze einschließlich des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes sowie des Richterrechts ─ im Kollisionsfall der Vorrang vor den auf der Ebene des Arbeitsvertrages stehenden Regelungen ─ zu denen neben dem Arbeitsvertrag das Weisungsrecht des ArbG als vertragsausfüllendes Element und als vertragsergänzende Elemente die Betriebliche Übung und die Gesamtzusagen des ArbG gehören─ © Professor Dr. Hunscha 17 Dezember 2015 zukommt: Das Gesetz und das Richterrecht bilden den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen eine arbeitsvertragliche Gestaltung vorgenommen werden kann. Was die Kollektivverträge angeht, so steht die Betriebsvereinbarung als Instrument des den Belegschaftsinteressen verpflichteten Betriebsrats über dem das Einzelarbeitsverhältnis begründenden Arbeitsvertrag und der Tarifvertrag als grundsätzlich überbetrieblicher Gestaltungsfaktor über der Betriebsvereinbarung, und beide stehen natürlich im Rang unter dem Gesetz. So wird schon hier eine Rangleiter (von unten nach oben) vom Arbeitsvertrag (einschließlich der seinen Inhalt im Nachhinein konkretisierenden Arbeitgeberweisungen sowie der ihn ergänzenden Betriebsübung oder Gesamtzusage), über die Betriebsvereinbarung und den Tarifvertrag hin zu den auf der Ebene des Gesetzesrechts stehenden Regeln sichtbar. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die in § 105 S. 1 GewO enthaltene Bestimmung, dass die Freiheit von ArbG und AN, den Arbeitsvertrag nach ihren Vorstellungen zu gestalten, nur soweit geht, wie nicht (von oben nach unten) „zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen“. Und ebenso wird klar, warum § 106 GewO das Weisungsrecht des ArbG, die Arbeitsbedingungen zu konkretisieren, mit den Worten begrenzt, „soweit diese Arbeitsbedingungen nicht [von unten nach oben] durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.“ Hierher gehört auch § 87 I Einleitungssatz BetrVG, der bestimmt, dass eine Betriebsvereinbarung in den dort aufgeführten sozialen Angelegenheiten nur soweit möglich ist, wie eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Einzelheiten zur Rangfolge und zu dem davon abweichenden Günstigkeitsprinzip unter werden unten § 7 behandelt. © Professor Dr. Hunscha 18 Dezember 2015 § 3 Auf der Ebene des Gesetzesrechts stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen I. Einfachgesetzliche Vorschriften Das Arbeitsrecht gestaltende gesetzliche Vorschriften sind vor allem die auf der Grundlage der Art. 72 I, 74 I Nr.12 GG erlassenen, nicht mit Verfassungsrang ausgestatteten und darum sog. einfachen Bundesgesetze sowie die nach Maßgabe von Art. 80 GG erlassene Rechtsverordnungen, die sich im Arbeitsrecht vorwiegend im Arbeitsschutzrecht sowie in den Wahlordnungen zum BetrVG und zu den Mitbestimmungsgesetzen finden. Rechtssetzungsakte eigener Art sind die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nach § 5 TVG (unten § 5 IV.), die Rechtsverordnungen des BMAS nach den §§ 7 und 7a AEntG (unten § 5 III.) und nach § 3a AÜG (unten § 43 II. 2. a) sowie die Rechtsverordnungen der Bundesregierung nach § 1 II 2 MiLoG (unten § 5 VI.). 1. Zu den maßgebenden Bundesgesetzen gehören zum einen die einschlägigen Bestimmungen des BGB. Wie oben unter § 1 II. dargestellt, regeln die §§ 611 bis 630 mit Ausnahme der §§ 621 und 627 auch den Arbeitsvertrag. Da er ein privatrechtlicher Vertrag ist, finden auf ihn auch die Bestimmungen des Allgemeinen Teils des BGB über Rechtsgeschäfte, insbesondere die §§ 104 bis 218, und des Allgemeinen Schuldrechts des BGB über Schuldverhältnisse, §§ 241 ff. BGB, Anwendung, soweit sie den besonderen Bedürfnissen des Arbeitsrechts gerecht werden. 2. Darüber hinaus hat der Bundesgesetzgeber im Laufe der Zeit eine Vielzahl von besonderen AN-Schutzgesetzen geschaffen, die den AN vor sozial unverträglichen Arbeitsbedingungen schützen sollen (vgl. z.B. die Textsammlung „Arbeitsgesetze“, Beck-Texte im dtv). In vielen Fällen beruhen diese Gesetze auf europarechtlichen Vorgaben in Gestalt von Richtlinien der Europäischen Union (nachstehend unter IV.). II. Die Entstehung und Geltungskraft des Richterrechts Richterrecht entsteht zum einen dadurch, dass es der Gesetzgeber selbst ist, der durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln den Richter dazu auffordert, einen Rechtssatz durch konkretisierendes Ausfüllen dieser Aussagen auf den Einzelfall anwendbar zu machen. Geläufige Beispiele im Bereich des Arbeitsrechts sind § 106 Satz 1 GewO sowie § 315 BGB („nach billigem Ermessen“), § 1 I KSchG („sozial ungerechtfertigt“), § 626 BGB („aus wichtigem Grund“), § 138 BGB („gute Sitten“) und § 242 BGB („Treu und Glauben“). In all diesen Fällen bildet die Rechtsprechung eine ständig wachsende Menge von richtungweisenden Grundsätzen für die künftige Rechtsanwendung. Abgesehen von diesem allgemeinen Vorgang der Bildung von Richterrecht durch die Auslegung von Rechtsvorschriften, kommt dem Richterrecht gerade im Arbeitsrecht die Aufgabe zu, Defizite der Gesetzgebung auszugleichen. Da weite Bereiche des Arbeitsrechts gesetzlich überhaupt nicht oder nur punktuell durch zu unterschiedlichen Zeiten aus begrenzten Anlässen erlassene und unzureichend auf einan- © Professor Dr. Hunscha 19 Dezember 2015 der abgestimmte Einzelgesetze geregelt sind, ist die Rechtssprechung gemäß dem aus dem Rechtsstaatsprinzips des Art. 28 I GG sowie der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG folgenden Anspruch der Parteien eines vor dem Gereicht geführten Rechtsstreits auf effektiven Rechtsschutz zu ergänzender Rechtsfindung unter besonderer Beachtung der Grundrechtspositionen des ArbG und des AN (nachfolgend unter III. 2.) verpflichtet. Auf diese Weise wird die Rechtsprechung zu einer Art von Ersatzgesetzgeber und schafft (ähnlich dem anglo-amerikanischen „caselaw“) ein „gesetzesvertretendes Richterrecht“. Der Richter wird damit zum „eigentlichen Herrn des Arbeitsrechts“ (Franz Gamillscheg). Eine ständige Rechtsprechung, die dazu geführt hat, dass eine allgemeine Überzeugung von der Richtigkeit eines richterrechtlichen Rechtssatzes besteht, wird zu Gewohnheitsrecht und nimmt dann als Rechtsquelle den Rang eines Gesetzes ein; z.B. der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz als gewohnheitsrechtliche Umsetzung des Art. 3 I GG (siehe unten III. 3.). Ob die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtssätze z.B. zum faktischen Arbeitsverhältnis (unten § 11 IV.), zur betrieblichen Übung (unten § 4 II.), zur Arbeitnehmerhaftung (unten § 27) und zum Arbeitskampfrecht (unten § 5 III. sowie § 20) bereits zu Gewohnheitsrecht geworden sind, ist allerdings umstritten. Wenn nicht, dann hat das Richterrecht jedenfalls der obersten Instanz, nämlich des BAG, nach noch immer herrschender Meinung zwar nicht den Rang eines Gesetzes, äußert aber eine gesetzesähnliche faktische Bindungswirkung, weil die Untergerichte (ArbG, LAG) der Rechtsprechung des BAG Folge leisten, und dies nicht aus blindem Gehorsam, sondern unterstützt von gerichtsverfahrensrechtlichen Vorschriften zur Wahrung einer möglichst einheitlichen und widerspruchsfreien Rechtsanwendung. Auf diese Weise werden weite Teile des Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung so gestaltet, als wäre der Gesetzgeber tätig geworden. Zur Normenqualität des Richterrechts siehe vor allem Rüthers/Fischer a.a.O. Rn. 235 ff. III. Die Bedeutung des Grundgesetzes für das Arbeitsrecht Zu den auf das Arbeitsrecht einwirkenden gesetzliche Vorschriften zählen in besonderem Maße die im Rang über den einfachen Bundesgesetzen und Rechtsverordnungen stehenden Vorschriften des Grundgesetzes (GG). 1. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit durch Art. 9 III GG Zu den verfassungsgesetzlichen Vorschriften, die das Arbeitsrecht maßgeblich gestalten, gehören die Bestimmungen des Art. 9 III GG. Sie enthalten eine umfassende Gewährleistung der Koalitionsfreiheit als Kollektiv- und Individualgrundrecht, auf dessen Grundlage der AN, der als Einzelner dem ArbG regelmäßig machtlos gegenübersteht, von Rechts wegen die Möglichkeit erhält, gemeinsam mit anderen AN als Gewerkschaft dem einzelnen ArbG bzw. dem jeweils zuständigen ArbG-Verband zum Aushandeln von Tarifverträgen eine machtvolle Interessenvertretung entgegenzustellen. a) Als Kollektivgrundrecht garantiert Art. 9 III 1 GG die freie Bildung und Betätigung von Koalitionen (= sowohl ArbG- als auch AN-Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen), jeweils frei von staatlicher Einflussnahme. Auf dieser Grundlage ruht die Tarifautonomie in Gestalt © Professor Dr. Hunscha 20 Dezember 2015 der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien sowie deren Arbeitskampffreiheit zur Verwirklichung ihrer tariflich regelbaren Zielvorstellungen mittels gewerkschaftlich geführten Streiks und ggf. von der Arbeitgeberseite als Gegenmaßnahme herbeigeführter Aussperrung. b) Als Individualgrundrecht garantiert Art. 9 III 1 GG dem Einzelnen, einerlei ob ArbG oder AN, nicht nur positiv, eine Koalition zu gründen, einer Koalition beizutreten, sich in ihr zu betätigen und in ihr verbleiben zu können, solange nicht grobes Fehlverhalten einen Ausschlussgrund bietet (positive Koalitionsfreiheit), sondern auch negativ, einer Koalition fernzubleiben oder sie zu verlassen, ohne deswegen Nachteile erleiden zu müssen (negative Koalitionsfreiheit). Zum Schutz dieser Freiheiten enthält Art. 9 III 2 GG eine „unmittelbare Drittwirkung“, insoweit er Privatrechtssubjekten, wie einerseits dem ArbG und ArbGVerbänden und andererseits den Gewerkschaften, verbietet, die positive wie negative Koalitionsfreiheit des Art. 9 III 1 GG durch Absprachen und Maßnahmen einzuschränken oder zu behindern. Art. 9 III Satz 2 GG ist darum zugleich als ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB zu qualifizieren. So verwehrt die positive Koalitionsfreiheit dem ArbG das Recht, einem AN die Einstellung zu verweigern oder das Arbeitsverhältnis zu kündigen, weil er einer Gewerkschaft angehört und sie nicht verlassen will. Als ihre notwendige Kehrseite gibt die negative Koalitionsfreiheit dem AN das Recht, einer Gewerkschaft fernzubleiben, ohne dass er deswegen Gefahr laufen darf, bei einem tarifgebundenen ArbG keine Anstellung zu finden; denn Tarifvertragsklauseln, die einen ArbG dahingehend binden, dass er nur Gewerkschaftsmitglieder soll beschäftigen dürfen („closed shop“), sind hiernach verboten. Ebenso ist z.B. eine tarifvertragliche Differenzierungsklausel, die dem ArbG verbietet, nichtorganisierten AN freiwillig eine durch Tarifvertrag festgelegte Vergünstigung zu gewähren, nichtig. Ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit liegt auch darin, dass die Satzung der jeweiligen Koalition für den Austritt eines AN aus einer Gewerkschaft oder eines ArbG aus dem ArbG-Verband eine Kündigungsfrist von mehr als 6 Monaten und/oder andere Erschwernisse vorsieht. Kein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit liegt allerdings vor, wenn ein tarifgebundener ArbG den ANn, die nicht der Gewerkschaft angehören, den Tariflohn vorenthält. Er wird dies zwar aus guten Gründen nicht tun (unten § 5 II. 2.), doch wäre ein solches Verhalten nach § 4 I TVG berechtigt, weil es an einer beiderseitigen Tarifbindung fehlt und der Gleichheitssatz die Ungleichbehandlung von Ungleichem zulässt (nachfolgend unter 3.). 2. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte Zu den verfassungsgesetzlichen Vorschriften, die auf das Arbeitsrecht einwirken, zählen neben dem die Koalitionsfreiheit unmittelbar gewährleistenden Art. 9 III GG (vorstehend unter 1.) die Grundrechte der Art. 1 bis 6, 12 und 14 GG. Hinzu kommt das in den Art. 20 I und 28 I 1 GG niedergelegte Sozialstaatsprinzip, das den Staat mit einem weiten Spielraum verpflichtet, eine hinlänglich gerechte Sozialordnung herzustellen und damit auch und gerade dem sozial Schwächeren das gebotene Maß an Schutz zuteilwerden zu lassen. Diese Artikel entfalten eine unmittelbare Wirkung nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat (= im Bereich des Öffentlichen Rechts), und nicht im Verhältnis der Bürger untereinander (= im Bereich des Privatrechts), und damit auch nicht zwischen ArbG und AN: Als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat sollen sie dem Einzelnen einen Freiraum gewährleisten, den die Staatsgewalt achten und schützen muss. © Professor Dr. Hunscha 21 Dezember 2015 Im Bereich des Privatrechts kommt ihnen aber auch eine „mittelbare Drittwirkung“ auf die Rechtsverhältnisse der Bürger im Verhältnis zu einander zu, und dies vor allem im Arbeitsrecht. Da die Rechtsprechung (neben der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt in Gestalt der Behörden) als Teil der Staatsgewalt nach Art. 1 III GG an die Grundrechte gebunden ist, muss sie dem objektiven Wertgehalt der Grundrechte in allen Bereichen des Rechts Geltung verschaffen. Hierzu ist sie schon bei der Auslegung von Rechtsvorschriften, erst recht aber in den Fällen aufgefordert, in denen ihr die Aufgabe ergänzender Rechtsfindung zufällt (Jarass/Pieroth a.a.O. Vorb. vor Art. 1 GG, Rn. 58 f.). Bestehen wegen der Unbestimmtheit oder Unvollkommenheit der gesetzlichen Vorgaben Unklarheiten über ihren Regelungsgehalt, sind bei der Rechtsfindung die grundrechtlichen Wertentscheidungen als Auslegungsmaßstab heranzuziehen und ist derjenigen Deutung der Vorzug zu geben, die mit der Verfassung am besten übereinstimmt; denn es ist davon auszugehen, dass auch der Gesetzgeber eine solche Regelung gewollt hat. Fehlt es gar an gesetzlichen Vorgaben, muss der Richter eine Lösung finden, die die Interessen des ArbG und des AN so zum Ausgleich bringen, dass die geschützten Grundrechtspositionen jeder Seite unter besonderer Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips möglichst weitgehend wirksam werden. Die Grundrechte gelten zwar für AN und ArbG gleichermaßen, doch besteht angesichts der für das Arbeitsverhältnis typischen strukturellen Unterlegenheit des AN gegenüber dem ArbG (oben § 1 III.) ein ungleich größeres Bedürfnis danach, grundgesetzliche Wertungen gerade zum Schutz des AN heranzuziehen. Dabei sind die geschützten Grundrechtspositionen beider Seiten im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen. Man spricht davon, zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen von ArbG und AN eine praktische Konkordanz herzustellen. Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung vor allem den nachfolgend aufgeführten Grundrechten wichtige Wertungen für die Entscheidung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten entnommen. (1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf der Grundlage von Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG Hierauf gestützt gewährt die Rechtsprechung z.B. dem AN über den Wortlaut des § 611 BGB hinaus das Recht, vom ArbG zu verlangen, ihn nicht nur zu entlohnen, sondern auch tatsächlich mit vertraggemäßen Aufgaben zu beschäftigen (Beschäftigungsanspruch), damit er seine beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sich erhalten und weiterentwickeln kann. Aus den gleichen Erwägungen hat die Rechtsprechung einen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des AN während der Dauer des Rechtsstreits über die wirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch arbeitgeberseitige Kündigung oder durch Fristablauf entwickelt (vgl. BAG v.27.2.1985 – GS 1/84 – in NZA 1985, 702 ff.; unten § 38 III.). Hierauf gestützt hat die Rechtsprechung z.B. das Interesse des ArbG an Informationen über den Stellenbewerber mit dem Interesse des Bewerbers am Schutz seiner Privatsphäre dergestalt in Einklang gebracht, dass sie das Fragerecht des ArbG sachlich begrenzt (unten § 10 IV.). Aus dem gleichen Grunde ist der ArbG nur höchst ausnahmsweise berechtigt, privates Verhalten des AN zum Anlass einer Kündigung zu nehmen. Da das dem AN nach § 83 I/II BetrVG zustehende Recht auf Einsicht in seine Personalakte und auf Hereinnahme einer Gegendarstellung ihn nicht umfassend genug vor einer Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls und seines beruflichen Fortkommens durch die Aufbewahrung unzutreffender oder wegen Zeitablaufs unerheb- © Professor Dr. Hunscha 22 Dezember 2015 lich gewordener Beanstandungen und Abmahnungen in seiner Personalakte schützt, gewährt ihm die Rechtsprechung, gestützt auf Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG darüber hinaus in entsprechenden Anwendung des § 1004 BGB einen Anspruch auf die Entfernung solcher Bekundungen aus der Personalakte (BAG v.27.11.1985 – 5 AZR 101/84 – in NZA 1986, 227 ff). (2) Auf der Grundlage der Gleichheitssätze des Art. 3 GG, deren Aussagen sich in der Folgezeit zunehmend mit primärem (vor allem Art. 20 bis 26 EUGRCharta) und sekundärem Europarecht überschnitten haben, sind zahlreiche einfachgesetzliche Rechtssätze in Gestalt von Gleichbehandlungsgeboten und Diskriminierungsverboten entstanden. So hat die deutsche Arbeitsrechtsprechung aus Art. 3 I GG den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz als einfachgesetzlichen Gleichheitssatz entwickelt (Jarass/Pieroth a.a.O. Art. 3 GG, Rn. 63) und sind die Wertentscheidungen des Art. 3 GG in eine Reihe von einfachgesetzliche Vorschriften eingeflossen, die zum Teil in Umsetzung von EU-Richtlinien ergangen sind. (nachfolgend unter 3). (3) Die Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 I GG Hierauf gestützt liegt die arbeitgeberseitige Weisung an eine Verkäuferin, bei der Arbeit kein islamisches Kopftuch zu tragen, unter Abwägung einerseits des Grundrechts des ArbG auf Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG und andererseits des Grundrechts der AN auf Glaubensfreiheit und ungestörte Religionsausübung aus Art. 4 I und II GG, jedenfalls dann nicht mehr im Rahmen des „billigen Ermessens“ des § 315 BGB (siehe auch § 106 S. 1 GewO) und ist die wegen Nichtbefolgung dieser Weisung ausgesprochene Kündigung unzulässig, wenn diese Art der Kleidung in Wahrheit weder den Betriebsfrieden nachhaltig stört, noch den Umsatz fühlbar beeinträchtigt. Bloße Vermutungen und Befürchtungen des ArbG sind unerheblich (BAG v.10.10.2002 – 2 AZR 472/01 – in NZA 2003, 483 ff.). Würden der Betriebsfrieden und/oder der Umsatz hierunter hingegen erkennbar leiden, würde eine praktische Konkordanz der jeweils betroffenen Grundrechtspositionen verlangen, dass der ArbG erst dann eine personenbedingte Kündigung aussprechen darf, wenn es für die AN in seinem Betrieb wirklich keinen anderen vertragsgerechten Arbeitsplatz gibt. Demgegenüber ist ein ArbG mit Rücksicht auf seine grundgesetzlich gewährleisteten Schutzrechte aus Art. 2 I, 12 I und 14 I GG nicht verpflichtet, durch Art. 4 I und II GG geschützte Gebetspausen muslimischer AN während der Arbeitszeit hinzunehmen, wenn hierdurch eine Störung der Betriebsabläufe eintritt (LAG Hamm v.18.1.2002 – 5 Sa 1782/01 – in NZA 2002, 675 ff.). Hierauf gestützt, gewährt die Rechtsprechung dem AN das Recht, sich gegenüber der Zuweisung von Arbeiten, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, auf das Leistungsverweigerungsrecht des § 275 III BGB zu berufen. Demzufolge ist eine vom ArbG wegen Arbeitsverweigerung ausgesprochene verhaltensbedingte Kündigung unzulässig. So z.B. im Fall eines als Leiter der Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens beschäftigten Mediziners, der sich weigerte, den bei seiner Einstellung nicht vorhersehbaren Einsatz zur Entwicklung einer militärisch nutzbaren Substanz zu befolgen (BAG v.24.5.1989 – 2 AZR 285/88 – in NZA 1990, 144 ff.). Der ArbG ist vielmehr verpflichtet, dem AN eine andere im Rahmen seines Arbeitsvertrags liegende Tätigkeit zuzuweisen. Unterlässt er dies, behält der AN nach § 615 S. 1 BGB seinen Lohnanspruch (unten § 19). Besteht für den AN jedoch keine andere Beschäftigungsmöglichkeit, gerät der ArbG nicht in Annahmeverzug; denn der AN ist nun allein auf Grund seiner Gewissensentscheidung außerstande, die vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen (§ 297 BGB), deren Ernsthaftigkeit gerade darin zum Ausdruck kommt, dass der AN bereit ist, um ihretwillen finanzielle Nachteile in Kauf zu nehmen. Keinesfalls ist der ArbG in solchen Fällen mit der Gegenleistungsgefahr (Lohn ohne Arbeit) belastet. In dieser Situation kann der ArbG personenbedingt kündigen, da es ihm nicht zumutbar ist, ein mangels Leistungsverpflichtung des AN inhaltsleeres Arbeitsverhältnis dauerhaft weiterzuführen. Im Übrigen wird in einer solchen Situation meist schon der AN von sich aus gekündigt haben. (4) Meinungsfreiheit nach Art. 5 I GG Hierauf gestützt ist der ArbG nicht berechtigt, auf politische Meinungsäußerungen im Betrieb (anders in einem Tendenzbetrieb; unten § 6 V. 3./4.) oder auf Kritik an innerbetrieblichen Umständen © Professor Dr. Hunscha 23 Dezember 2015 mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu reagieren, sofern sie nicht ernstlich den Betriebsfrieden stören oder das Erscheinungsbild des Betriebes in der Öffentlichkeit beschädigen. (5) Der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG Hierauf gestützt sind u.a. sog. Zölibatsklauseln, nach denen der Arbeitsvertrag durch Eheschließung des AN auflösend bedingt oder arbeitgeberseitig kündbar ist, unwirksam. Derlei war in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in Arbeitsverträgen z.B. von Stewardessen im Flugverkehr anzutreffen. (6) Die Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG Art. 12 I GG schützt die Berufsfreiheit aller natürlichen und juristischen Personen (über seinen Wortlaut hinaus auch nichtdeutscher Rechtssubjekte), also sowohl des AN wie des ArbG. Art. 12 I GG schützt einerseits die Freiheit des Unternehmers, die grundlegenden Entscheidungen über die Unternehmensführung eigenverantwortlich zu treffen, wie z.B. über die Gründung oder Schließung, Erweiterung oder Verkleinerung des Unternehmens, seine innere Organisation sowie Fragen der Produktion und der Anzahl und Auswahl seiner Mitarbeiter. Andererseits schützt Art. 12 I GG die Freiheit des AN, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem von ihm gewählten Beruf aufzunehmen, ein bestehendes Arbeitsverhältnis beizubehalten oder aufzugeben (vgl. BVerfG v.27.1.1998 – BvL 15/87 – in E 97, 169, 175 f.). So ist z.B. die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 1 II KSchG („sozial ungerechtfertigt“, „durch dringende betriebliche Erfordernisse … bedingt“) durch die Rechtsprechung von dem Bestreben gekennzeichnet, die unternehmerische Freiheit des ArbG in dem Maße zu begrenzen, wie dies erforderlich ist, um gleichzeitig dem Interesse des AN an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes angemessen Rechnung zu tragen. Ebenso sind Kündigungen außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG (siehe §§ 1 I, 23 I 2, 3 KSchG) nach Maßgabe der §§ 138, 242 BGB im Lichte des Art. 12 I GG i.V.m. dem SozialstaatsPrinzip des Art. 20 I GG zu überprüfen und dürfen die Belange besonders schutzwürdiger AN, wie z.B. allein erziehender oder älterer AN, nicht völlig außer Acht lassen. Andererseits darf das KSchG nicht in der Weise interpretiert werden, dass es dem ArbG verwehrt ist, Betriebseinschränkungen und Betriebsstilllegungen durchzuführen. Art. 12 I GG schützt aber auch das Mobilitätsinteresse des AN, indem er übermäßige Bindungen des AN an den Arbeitsplatz verhindert. So begrenzt er über § 242 BGB z.B. arbeitsvertragliche Regelungen, die den AN zur Rückzahlung von Aus- oder Fortbildungskosten verpflichten, wenn er sein Arbeitsverhältnis vor Ablauf der vereinbarten Verweildauer kündigt (BAG v.11.4.2006 – 9 AZR 610/05 – in NZA 2006, 1042 ff.). Ebenso dürfen Wettbewerbsverbote für die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses sowie Nebentätigkeitsverbote während der Dauer des Arbeitsverhältnisses die Berufsfreiheit des AN nicht übermäßig einschränken. (7) Der Schutz des Eigentums nach Art. 14 I GG Im Arbeitsrecht spielt der Eigentumsschutz nach Art. 14 GG im Vergleich zur Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG eine nur untergeordnete Rolle. Der Schutz des Eigentums des ArbG ist im Arbeitskampfrecht von Bedeutung, insoweit Betriebsbesetzungen und Betriebsblockaden im Lichte des Art. 14 I GG nach § 823 I BGB als Eingriffe in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb Schadensersatzansprüche des ArbG gegen streikende AN und/oder die streikführende Gewerkschaft begründen können. Ebenso können Anwartschaften des AN z.B. auf betriebliche Altersversorgung Eigentumsschutz genießen, so dass die Absenkung von Versorgungsleistungen nur unter strikter Beachtung des Vertrauensschutzes und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig ist. © Professor Dr. Hunscha 24 Dezember 2015 3. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz Den Gleichheitssätzen des Art. 3 GG kommt im Arbeitsrecht eine besondere Bedeutung zu. Im Unterschied zu den im Vorangehenden aufgeführten Grundrechten haben sie im Arbeitsrecht häufig eine konkrete Ausprägung in Gestalt von speziellen Bestimmungen im Range einfacher Bundesgesetze gefunden, so dass es grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist, auf das Grundgesetz zurückzugreifen (BAG v.23.8.1995 – 5 AZR 942/93 – in NZA 1996, 579 f.). In der Gestalt von Diskriminierungsverboten enthält das AGG besonders normierte Gleichbehandlungsgebote zum Schutz von Stellenbewerbern und Beschäftigten vor Benachteiligungen wegen eines der in § 1 AGG genannten Gründe (unten § 9). Ebenso verbietet § 4 TzBfG eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten (unten § 12 II.) sowie von befristet gegenüber unbefristet Beschäftigten (unten § 13 I. 1.). Ferner werden durch § 75 I BetrVG die grundrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 3 GG für die Behandlung der Betriebsangehörigen verbindlich gemacht. Im Arbeitsrecht hat sich der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz entwickelt, der als gewohnheitsrechtliche Umsetzung des Art. 3 I GG den Rang einer eigenständigen zwingenden einfachgesetzlichen Vorschrift besitzt. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz erfasst die Fälle, in denen der ArbG die Belegschaft aufgrund einer selbst geschaffenen Regel kollektiv „behandelt“, insbesondere durch die Gewährung einer freiwilligen Leistung in Gestalt etwa einer Lohnerhöhung, einer Zulage, einer Gratifikation oder Versorgungszusage. Man spricht von einer „verteilenden Entscheidung des ArbG“ (BAG v.3. 12. 2008 – 5 AZR 74/08 – in NZA 2009, 367 ff. Rn. 16), meistens in Gestalt einer zusätzlichen arbeitsvertraglichen Einheitsregelung, auf der Grundlage einer Gesamtzusage oder des eine Betriebliche Übung begründenden Verhaltens des ArbG (unten § 4 II./III.). In diesen Fällen darf der ArbG einzelne AN oder Teilgruppen von AN nicht ohne sachlichen Grund von der Begünstigung ausnehmen oder schlechter stellen. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet die sachfremde Ungleichbehandlung einzelner AN im Verhältnis zu anderen AN in vergleichbarer Lage ebenso wie die sachfremde Unterscheidung zwischen Gruppen von AN (BAG a.a.O.). Entsprechendes gilt, wenn der ArbG eine belastende Regel aufstellt, wie etwa die Anordnung von Kurzarbeit, eine Kürzung des Weihnachtsgeldes oder die Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf die übertarifliche Vergütung, und von ihrer Anwendung einzelne AN oder Teilgruppen von AN ausnimmt. Das Problem liegt in der Feststellung der Vergleichbarkeit. Nur im Wesentlichen Gleiches muss gleich behandelt werden, Ungleiches hingegen darf ungleich behandelt werden. Als gedankliches Hilfsmittel für die Feststellung der Vergleichbarkeit der begünstigten mit den benachteiligten AN dient die Frage, ob die benachteiligten AN für die Besserstellung dieselben Gründe in Anspruch nehmen können, wie die begünstigten AN. Beispiele: Viele Fälle ranken sich um das Weihnachtsgeld. So ist es z.B. zulässig, bei der Höhe des Weihnachtsgeldes nach der Länge der Betriebszugehörigkeit oder der Menge der jährlichen Fehlzeiten (unter Beachtung von § 4a EFZG) zu differenzieren. Gewährt der ArbG seinen kaufmännischen Angestellten ein 13. Monatsgehalt, seinen gewerblichen AN hingegen (abhängig von der Betriebszugehörigkeit) nur 20 bis 50 % eines Monatsgehalts, so ist eine solche Differenzierung nur dann zulässig, wenn der ArbG dadurch eine besonders qualifizierte Mitarbeitergruppe stärker an sein © Professor Dr. Hunscha 25 Dezember 2015 Unternehmen binden will: Hier die auf seine Kosten über 2 Jahre hinweg im Wege einer internen Ausbildung speziell geschulten kaufmännischen Angestellten im Gegensatz zu den gewerblichen AN, die Tätigkeiten verrichten, die sie ohne besondere Vorkenntnisse in wenigen Tagen angelernt ausüben können (BAG v.19.3.2003 – 10 AZR 2003/215 – in NZA 2003, 724). Erhalten die 70 Innendienstmitarbeiter eines Zeitungsverlages zu Weihnachten ein 13. Monatsgehalt, die meist teilzeitbeschäftigten Zusteller jedoch nicht, weil sie von den Abonnenten auf der Grundlage der vom Verlag gestellten Glückwunschkarten ein reichliches Trinkgeld bekommen, wird eine Ungleichbehandlung verneint werden können. Sollte der ArbG im Streitfall seine Differenzierungsgründe erst vor dem Arbeitsgericht offenbaren, geht der Anschein, eine zunächst willkürliche Differenzierung im Nachhinein zu rechtfertigen zu versuchen, im Zweifel zu seinen Lasten (BAG a.a.O.). Nichtorganisierte AN können nicht unter Berufung auf Art. 9 III GG vom ArbG tarifliche Leistungen verlangen, weil die Tarifbindung nach §§ 3 I, 4 I TVG einen sachlichen Grund für die unterschiedliche Behandlung bildet. Wenn der ArbG aber wie im Regelfall den Nichtorganisierten freiwillig tarifliche Leistungen gewährt, darf er unter ihnen nicht sachfremd differenzieren. Verstößt der ArbG gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, ist im Regelfall nicht die ganze Vergünstigungsregelung unwirksam, sondern der von der Vergünstigung bisher ausgeschlossene AN den Begünstigten für die Vergangenheit gleichzustellen. Wenn die Gruppe der Ausgeschlossenen groß ist, kann das allerdings zu einer erheblichen finanziellen Belastung des ArbG führen, so dass es geboten erscheint, derlei auf für den ArbG ohne weiteres erkennbare Gleichheitsverstöße zu beschränken (Brox/Rüthers/Henssler Rn. 328; a.A. HWK/Thüsing § 611 Rn. 211). Eine Anpassung nach oben soll in den Fällen unterbleiben dürfen, in denen die Anzahl der Begünstigten im Verhältnis zur Gesamtzahl der betroffenen AN sehr gering ist (BAG v. 13.2.2002 – 5 AZR 713/00 – in NZA 2003, 215, 221 ff.: unter 5 % der Belegschaft). Hatte der ArbG die beanstandete Regelung noch nicht angewendet, darf er die Ungleichbehandlung durch eine gleichbehandelnde Neuverteilung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel ersetzen. Im Übrigen ist für die Zukunft davon auszugehen, dass der ArbG eine entsprechende Neuordnung vornehmen kann (Krause § 4 Rn. 17). Dem ArbG ist es jedoch nicht verwehrt, mit einzelnen AN als individuelle Maßnahme eine Begünstigung oder Schlechterstellung arbeitsvertraglich zu vereinbaren, z.B. ein höheres Entgelt trotz gleicher Tätigkeit, aber selbst ein niedrigeres Entgelt, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen (§ 105 GewO). Insoweit herrscht Vertragsfreiheit. Der ArbG darf hierbei nur nicht gegen ein besonderes Gleichbehandlungsgebot verstoßen, weil er generell und damit planmäßig etwa nach Geschlecht, Alter oder Teilzeit differenziert. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gilt nur für eine kollektive Maßnahme des ArbG (vgl. unten § 16 I. 1.). . IV. Supranationales EU-Recht Zu den auf das Arbeitsrecht einwirkenden gesetzlichen Vorschriften zählt ferner das supranationale EU-Recht, das dem nationalen Arbeitsrecht vorgeht, es sei denn, dass sich eine Kollision durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der nationalen Rechtsvorschrift vermeiden lässt. © Professor Dr. Hunscha 26 Dezember 2015 Das primäre Unionsrecht in Gestalt des Vertrags über die Europäische Union (EUV), des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die Charta des Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) bilden die Grundlage für das sekundäre Unionsrecht, das die Organe der EU unter Beachtung des in Art. 5 I 1 EUV niedergelegten Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung sowie des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des Art. 5 I 2, III, IV EUV erlassen: Der Rat (Art. 16 EUV) regelmäßig auf Vorschlag der Kommission (Art. 17 EUV) gemeinsam mit dem Europäischen Parlament (Art. 14 EUV), wobei sie von dem Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 13 IV EUV) beratend unterstützt werden. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist in Art. 294 AEUV geregelt. Arbeitsrechtlich bedeutsame Normen des primären Unionsrechts sind die Art. 157, 45, 49 und 56 AEUV (ursprünglich Art. 141, 39, 43, 49 EGV) über die Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben, die Freizügigkeit der AN, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit sowie der Kompetenzkatalog des Art. 153 AEUV (ursprünglich Art. 137 EGV). Das sekundäre Unionsrecht besteht vor allem aus Verordnungen und Richtlinien der EU (Art. 288 AEUV). Die Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar und zwingend. Auf dem Gebiet des Arbeitsrechts sind sie allerdings selten. Von gewisser Bedeutung sind die VO 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft und die VO 1408/71 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeiter in der Gemeinschaft. Das europäische Arbeitsrecht beruht im Wesentlichen auf Richtlinien der EU (künftig: RL). Die RL sind im Grundsatz kein unmittelbar geltendes Recht, sondern geben den Mitgliedstaaten der EU verbindliche Regelungsziele vor, die von ihnen durch nationale Gesetzgebung in unmittelbar geltendes Recht umzusetzen sind. So beruht z.B. das TzBfG im Wesentlichen auf der RL 1997/81/EG zu der von UNICE, CEEP und EGB [Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände, Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft und Europäischer Gewerkschaftsbund] geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge und der RL 1999/70/EG zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. § 613a BGB beruht im Wesentlichen auf der sog. Betriebsübergangs-RL 77/187 EWG und deren Neufassung durch die RL 2001/23/EG. Das AGG beruht im Wesentlichen auf sechs RL, die unter Berücksichtigung der ihnen nachfolgenden Rechtsprechung des EuGH in der RL 2006/54/EG zusammengeführt worden sind. Die Texte dieser RL und anderer europarechtlicher Bestimmungen zum Arbeitsrecht enthält die Textsammlung „EU-Arbeitsrecht“, Beck-Texte im dtv). Zur Sicherstellung einer gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsanwendung in allen Mitgliedstaaten der EU sind nach Art. 267 AEUV (ursprünglich Art. 234 EGV) nationale Gerichte berechtigt und in letzter Instanz verpflichtet, Fragen der Auslegung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts zwecks „Vorabentscheidung“ dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorzulegen. Der Vorabentscheidung kommt besondere Bedeutung in Ansehung von nationalen Gesetzen zu, die aus der Umsetzung einer Richtlinie der EU entstanden sind. Wird erkennbar, dass der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung des in Gestalt einer Richtlinie erlassenen sekundären Gemeinschaftsrechts in nationales Recht die Zielvorstellungen des supranationalen Richtliniengebers nicht erfüllt hat und scheitert © Professor Dr. Hunscha 27 Dezember 2015 eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Rechtsvorschrift an rechtsmethodischen Schranken, droht dem Mitgliedstaat eine Haftung gegenüber den durch die Richtlinie Begünstigten auf Schadensersatz (Herdegen, Europarecht § 8 Rn. 43, § 10 Rn. 10). Zur Abwendung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach § 258 AEUV ist der betreffende Mitgliedstatt gehalten, die misslungene Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht nachzubessern. Neben dem EuGH entwickelt sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu einem Gestaltungsfaktor der Arbeitsrechtsprechung. So etwa bezüglich der Kündigung kirchlicher Mitarbeiter (unten § 6 V 4.) und der Erweiterung der Zulässigkeitsgrenzen des Whistleblowing (unten § 33 III. 2. b). © Professor Dr. Hunscha 28 Dezember 2015 § 4 Auf der Ebene des Arbeitsvertrags stehende Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses im Einzelnen I. Der Arbeitsvertrag als privatautonomer Gestaltungsakt Durch den Abschluss eines Vertrags besitzen die Vertragsparteien die Möglichkeit zur privatautonomen (= selbstbestimmten) Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse. Im Wege der Einigung können sie im Verhältnis zueinander Rechte und Pflichten begründen, die von der Rechtsordnung als verbindlich anerkannt werden und in Ansehung ihrer Durchsetzung gerichtlichen Schutz genießen. Im Arbeitsrecht kommt es jedoch eigentlich nie dazu, dass die Vertragschließenden die Arbeitsbedingungen im Einzelnen aushandeln. Es ist vielmehr die Regel, dass der ArbG dem Stellenbewerber einen bereits vorgefertigten Arbeitsvertrag zur Unterschrift vorlegt, auf dessen Inhalt dieser keinen Einfluss mehr nehmen kann. Die Privatautonomie wird nur vom ArbG in Anspruch genommen. Der Grund hierfür liegt in dem Interesse des ArbG an betriebseinheitlichen Arbeitsbedingungen. Eine solche Regelung ist zwar vernünftig und kann auch nur vom ArbG getroffen werden, gibt ihm aber zugleich die Möglichkeit zu eigennütziger Inhaltsgestaltung zum Nachteil der wohlverstandenen Interessen des AN. Dem Arbeitssuchenden bleibt regelmäßig nichts weiter übrig, als den Arbeitsvertrag so hinzunehmen, wie ihn der ArbG formuliert hat. 1. Grenzen der privatautonomen Gestaltungsfreiheit durch zwingendes Recht Wegen der im Regelfall strukturellen Unterlegenheit des AN und seiner daraus folgenden sozialen Schutzbedürftigkeit (oben § 1) ist die Möglichkeit des ArbG, den Arbeitsvertrag nach eigenem Ermessen inhaltlich zu gestalten, in vielen Bereichen durch zwingende gesetzliche Vorschriften und ähnlich stark bindendes Richterrecht eingeschränkt, die unabdingbar festlegen, welche Rechte dem AN mindestens zustehen sollen und welche Pflichten ihn höchstens treffen dürfen (oben § 3). Darüber hinaus sind die zwingenden Vorgaben eines Tarifvertrags und einer Betriebsvereinbarung zu beachten (unten § 5 und § 6); und das alles mit dem Ziel, sozialverträgliche Mindestarbeitsbedingungen zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang ist schon jetzt darauf hinzuweisen, dass es gesetzliche Vorschriften gibt, die, obwohl im Grundsatz zwingend, es ausnahmsweise zulassen, dass in einem Tarifvertrag (oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebsvereinbarung) Abweichungen auch und gerade zu Ungunsten des AN vereinbart werden können. Man spricht in diesen Fällen von „tarifdispositivem Gesetzesrecht“. So z.B. die Regelungen in § 7 und § 12 ArbZG, § 13 I 1 und 2 BUrlG, § 4 IV EFZG, § 622 IV BGB, § 12 III und § 14 II 3 TzBfG (unten § 7 I. 2.). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, das eigentlich nur die Begründung des Arbeitsverhältnisses und die Beschreibung der vom AN fachlich geschuldeten Tätigkeit, der freien Vereinbarung unterliegen (Brox/Rüthers/Henssler Rn.119). Der Abschluss des Arbeitsvertrags ist ein Akt der Selbstgestaltung des Rechtsverhältnisses daher im Grunde genommen lediglich insoweit, als sich die Vertragschließenden durch ihn dem geltenden Arbeitnehmerschutzrecht unterwerfen. Sofern sie allerdings arbeitsvertragliche Regelungen treffen, die den AN besser stellen, als er nach Maßgabe der zu seinem Schutz bestehenden Vorschriften mindestens gestellt sein muss, gibt es keine rechtlichen Schranken. Es gilt das Günstigkeitsprinzip (siehe dazu unten § 7 I.). © Professor Dr. Hunscha 29 Dezember 2015 2. Die richterliche Inhaltskontrolle des Arbeitsvertrags nach Maßgabe des AGB-Rechts a) Die Ausgangssituation Abgesehen von den nach dem vorerwähnten Günstigkeitsprinzip möglichen Abweichungen von einseitig zwingenden Normen zu Gunsten des AN, bestünde ein privatautonomer Gestaltungsspielraum allerdings immer noch zum einen im Bereich des nachgiebigen (= dispositiven) Gesetzesrechts. Das sind diejenigen gesetzlichen Vorschriften, die abweichende vertragliche Bestimmungen zulassen. Sie sind zwar in den besonderen AN-Schutzgesetzen kaum vertreten, wohl aber in dem vom Grundsatz der Vertragsfreiheit beherrschten Schuldrecht des BGB, auch soweit es auf das Arbeitsverhältnis angewendet werden kann. Sehr viel mehr Gelegenheit zu privatautonomer Gestaltung gäben allerdings die infolge des Fehlens einer Gesamtkodifikation vorzufindenden Bereiche, in denen keine oder nur lückenhafte gesetzliche Regelungen bestehen. Der den Parteien des Arbeitsvertrages in den vorerwähnten Bereichen zur Verfügung stehende Regelungsspielraum wird aber angesichts der vorstehend aufgezeigten Sachlage auch wieder nur vom ArbG dafür in Anspruch genommen, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Gerade in diesen Bereichen sind es darum die Vorschriften der §§ 305 ff. BGB über die richterliche Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, die dem AN einen zusätzlichen Schutz vor unangemessenen Vertragsbedingungen geben. Betriebseinheitlich vorformulierte Arbeitsbedingungen, die der ArbG den Stellenbewerbern bei Abschluss des Arbeitsvertrags als unverhandelbar zur Unterschrift stellt oder während des Laufs des Arbeitsverhältnisses in Gestalt von „Zusätzen zum Arbeitsvertrag“ ins Spiel bringt, sind als „Vertragliche Einheitsregelungen“ Allgemeine Geschäftsbedingungen i.S.d. § 305 I BGB (AGB). Im Arbeitsrecht werden sie oft als Allgemeine Arbeitsbedingungen bezeichnet. Da die Vermutung naheliegt, dass sie die Interessen des AN nicht angemessen berücksichtigen, führt ihre Verwendung zur Anwendung der Vorschriften der §§ 307 bis 309 BGB, die im Fall eines Rechtsstreits über die Wirksamkeit der einen oder anderen Vertragsklausel zum Schutze des AN eine besondere richterliche Inhaltskontrolle dieser Klauseln auf Angemessenheit und Transparenz ermöglichen. Auf diese Weise wird die Freiheit der inhaltlichen Gestaltung des Arbeitsvertrages über die schon bestehenden Beschränkungen durch zwingende Normen (vorstehend unter 1.) hinaus noch ein weiteres Mal eingeengt. Diese Vorschriften haben in weiten Teilen die Rolle übernommen, die vor deren Geltungserstreckung auf das Arbeitsrecht den aus den §§ 138, 242 BGB hergeleiteten Klauselverboten zukam. Da das AGB-Recht erst seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts am 1.1.2002 auf das Arbeitsrecht anwendbar ist, das seinerseits aber schon lange vorher ein spezifisches AN-Schutzrecht entwickelt hatte, bestimmt § 310 IV 2 BGB zum einen, dass die Anwendung des AGB-Rechts auf Arbeitsverträge unter angemessener Berücksichtigung der im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten stattfindet. Damit soll insbesondere mit Blick auf die in § 309 BGB enthaltenen „Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit“ einer den Zwecken des Arbeitsrechts angepassten Anwendung der jeweiligen Klauselverbote der Weg geebnet werden, wie z.B. betreffend das Verbot der Vereinbarung einer Vertragsstrafe nach § 309 Nr. 6 BGB (unten § 25 IV. 1.). Zum anderen finden die Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 II und III BGB keine Anwendung, da insoweit bereits das NachwG den notwendigen Schutz des AN gewährleistet. © Professor Dr. Hunscha 30 Dezember 2015 Da AN natürliche Personen sind, die den Arbeitsvertrag zu einem Zweck abschließen, „der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“, sind die als Verbraucher i.S.d. § 13 BGB anzusehen (BAG v. 25.5.2005 – 9 AZR 203/10 – in NZA 2005, 1111; BVerfG v. 23.11.2006 – 1 BvR 1909/06 – in NZA 2007, 85 ff.). Aus diesem Grunde finden nach § 310 III Nr. 2 BGB die §§ 305c II, 306 bis 309 BGB sowie Art 46b EGBGB „auf vorformulierte Vertragsbedingungen auch dann Anwendung, wenn diese nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind und soweit der Verbraucher auf Grund der Vorformulierung auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte“. b) Allgemeine Regeln (1) Bevor es zur Inhaltskontrolle der „Allgemeinen Arbeitsbedingungen“ nach Maßgabe der §§ 307 bis 309 BGB kommt, ist die Vorschrift des § 305b BGB zu beachten, wonach individuelle Vertragsabreden den Vorrang vor AGB haben. Das heißt: Werden zwischen ArbG und AN ausnahmsweise in freier Vereinbarung mündlich – auch konkludent (= durch schlüssiges Verhalten) – oder schriftlich Abreden getroffen, die den als AGB zu qualifizierenden Vertragsbedingungen widersprechen, gilt ausschließlich das frei Vereinbarte. Allerdings hat der AN, der sich gegenüber dem ArbG als dem Verwender der AGB auf eine von den AGB abweichende mündliche Vereinbarung beruft, ein Beweisproblem. In vielen Arbeitsverträgen findet sich die Vereinbarung einer doppelten Schriftformklausel. Sofern der ArbG damit den Zweck verfolgt, die Wirksamkeit mündlicher Nebenabreden mit einem AN auszuschließen, steht dem § 305b BGB entgegen, sofern der AN die Tatsache der mündlichen Nebenabrede beweisen kann (unten § 11 III.). Das Entstehen einer Betrieblichen Übung hingegen kann durch eine doppelte Schriftformklausel verhindert werden, weil die Betriebliche Übung nicht auf einer Individualvereinbarung beruht (nachfolgend unter II. 4.). (2) Auch die Vorschrift des § 305c I BGB ist gegenüber der Inhaltskontrolle vorrangig. Nach ihr sollen überraschende AGB-Bestimmungen erst gar nicht Vertragsbestandteil werden. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie „nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders der AGB mit ihnen nicht zu rechnen braucht“. Es handelt sich dabei vor allem um Klauseln, denen ein „Überrumpelungseffekt“ innewohnt, weil sie z.B. unter einer nichtssagenden oder irreführenden Überschrift „versteckt“ sind und vom AN darum nicht ausreichend beachtet werden. So in Bezug auf eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist/Verfallfrist unten § 44 II. 1. (3) Von besonderer Bedeutung ist die Unklarheitenregel des § 305c II BGB, wonach bei mehrdeutigen Klauseln Zweifel bei der Auslegung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu Lasten des Verwenders der AGB gehen. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass „derjenige, der die Vorteile der Vertragsgestaltungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt, auch deren Nachteile tragen“ muss (Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10 Aufl. 2006, 305c BGB Rn. 75). Der Verwender soll dadurch zu einer klaren, unmissverständlichen Ausdrucksweise veranlasst werden. Die Unklarheitenregel kann darum als ein besonderer Anwendungsfall des Transparenzgebots des § 307 I 2 BGB (nachfolgend unter c) (3). verstanden werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 305c II BGB ist, dass bei objektiver, „am Wortlaut der vorformulierten Vertragsteile und seinem Verständnis aus der Sicht der typischerweise beteiligten Verkehrskreise“ (Ulmer a.a.O. Rn. 73) orientierter Auslegung der AGB-Klausel mindestens zwei Ergebnisse als vertretbar erscheinen, von denen keinem der Vorzug gegeben werden kann, so dass © Professor Dr. Hunscha 31 Dezember 2015 ein nicht behebbarer Zweifel darüber verbleibt, was wirklich gelten soll. In diesem Fall ist zunächst die arbeitnehmerfeindlichste Auslegungsvariante zu wählen und zu prüfen, ob sie gegen ein Klauselverbot der §§ 307 bis 309 BGB verstößt. Ist die Frage zu bejahen, bleibt es trotz Mehrdeutigkeit bei der Unwirksamkeit der Klausel. Erst wenn diese Frage zu verneinen ist, ist nach § 305c II BGB die kundenfreundlichste Auslegungsvariante maßgebend. c) Die Inhaltskontrolle auf Angemessenheit und Transparenz (1) Gegenstand der richterlichen Inhaltskontrolle ist in erster Linie die Vereinbarkeit der vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen mit den ausdrücklichen Klauselverboten zunächst des § 309 BGB (= Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit) und sodann des § 308 BGB (= Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit wegen der Verwendung ausfüllungsbedürftiger unbestimmter Rechtsbegriffe, wie z.B. „un/angemessen“ oder „zumutbar“). Die Beachtung der Klauselverbote der §§ 309, 308 BGB führt zu einer auf bestimmte typische Tatbestände beschränkten und deswegen besonderen Angemessenheitskontrolle. (2) Sofern weder § 309 noch § 308 BGB greift, kommt als Auffangtatbestand eine allgemeine Angemessenheitskontrolle auf der Grundlage der Generalklausel des § 307 I 1 BGB wegen unangemessener Benachteiligung „entgegen den Geboten von Treu und Glauben“ in Betracht. Hierzu enthält § 307 II BGB gesetzliche Regelbeispiele, die das Fehlen eines angemessenen Interessenausgleichs vermuten lassen („im Zweifel“). So wird in Nr. 1 als Maßstab auf die Leitbildfunktion des dispositiven Gesetzesrechts (= wesentliche Grundgedanken der gesetzlichen Regelung) und in Nr. 2 auf die Bedeutung der Kardinalpflichten (= wesentliche Vertragspflichten) abgestellt. (3) Zu einer unangemessenen Benachteiligung kann es auch wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB kommen. Das ist der Fall, wenn die strittige Vertragsklausel so unklar abgefasst oder so unübersichtlich aufgebaut ist, dass für den durchschnittlichen AN die Gefahr besteht, ihre Tragweite nicht zu erkennen mit der Folge, dass er davon abgehalten wird, seine vertraglichen Rechte geltend zu machen. d) Schranken der Inhaltskontrolle Bei der Anwendung des AGB-Rechts muss bedacht werden, dass nach § 307 III 1 BGB Gegenstand der richterlichen Inhaltskontrolle im Grundsatz nur solche Vertragsbestimmungen sind, „durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen“ herbeigeführt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rechtsvorschriften in diesem Sinne auch „die dem Gerechtigkeitsgebot entsprechenden allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze, d.h. auch alle ungeschriebenen Rechtsgrundsätze, die Regeln des Richterrechts oder die auf Grund ergänzender Auslegung nach den §§ 157, 242 BGB [= gemäß Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte] und aus der Natur des jeweiligen Schuldverhältnisses zu entnehmenden Rechte und Pflichten“ (BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06 – in NZA 2007, 853 R. 16; BAG v. 18.1.2012 – 10 AZR 612/10 – in NZA 2012, 561 Rn.20). Auf diese Weise unterliegen vorformulierte Arbeitsbedingungen auch und gerade in Bereichen, in denen keine oder nur lückenhafte gesetzliche Regelungen bestehen, einer Angemessenheitskontrolle © Professor Dr. Hunscha 32 Dezember 2015 (nachfolgend unter (3). Im Übrigen gilt für sie (wie auch für leistungsbeschreibende Klauseln, nachfolgend unter (2)) in jedem Fall das Transparenzgebot (nachfolgend unter (3). Arbeitsrechtliche Kollektivverträge (Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen) sind nach § 310 IV 1 BGB von einer Anwendung der 305 ff. BGB ausgenommen, weil durch eine die Autonomie vor allem der Tarifvertragsparteien (= Grundsatz der Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme) in Frage gestellt werden würde. Außerdem ist davon auszugehen, dass Regelungen in einem Tarifvertrag und einer Betriebsvereinbarung die Interessen der AN angemessen berücksichtigen. (1) AGB, die die jeweils einschlägige gesetzliche oder tarifvertragliche Regelung lediglich korrekt wiederholen, wortwörtlich oder sinngemäß (= deklaratorische Klauseln), sind kontrollfrei. (2) Sofern AGB die gegenseitigen Hauptleistungen festlegen, hier also einerseits die vom AN geschuldete Tätigkeit und die vom ArbG dafür gewährte Vergütung (= leistungsbeschreibende Klauseln), weichen sie allerdings nicht von Rechtsvorschriften ab, doch unterliegen sie (= andere Bestimmungen i.S.v. § 307 III 2 BGB) auf jeden Fall der Transparenzkontrolle nach § 307 I 2 BGB. (3) AGB, die in einem Bereich ergehen, in dem es keine gesetzlichen Vorgaben gibt, können aber von – den Rechtsvorschriften gleichstehenden – allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen abweichen und darum der Angemessenheitskontrolle nach §§ 307 I 1, 308 und 309 BGB unterliegen. Im Übrigen unterliegen sie (= andere Bestimmungen i.S.v. § 307 III 2 BGB) der Transparenzkontrolle nach § 307 I 2 BGB. e) Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die §§ 309, 308, 307 BGB Benachteiligt die strittige AGB-Klausel den AN hiernach unangemessen, ist sie unwirksam. Nach § 306 I BGB bleibt der Arbeitsvertrag im Übrigen jedoch bestehen, anderenfalls die Inhaltskontrolle ihn rechtlos stellen würde. An die Stelle der unwirksamen AGB-Klausel tritt nach § 306 II BGB das insoweit unveränderte dispositive Gesetzesrecht. Fehlt es an gesetzlichen Vorgaben, fällt die unwirksame AGB-Klausel einfach ersatzlos weg. In den Fällen, in denen die hierdurch entstehende Lücke zu einem vor allem für den ArbG unzumutbaren Ergebnis führen würde, kann sie im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nach § 157 BGB ausgefüllt werden. Siehe dazu das Rechtsprechungsbeispiel unten § 15 IV. (Bandbreitenregelung). Eine gerichtliche Korrektur der unwirksamen AGB-Klausel durch Rückführung auf den gerade noch zulässigen Inhalt – eine sog. geltungserhaltende Reduktion – wird zu Recht abgelehnt, weil der ArbG sonst keinen Anreiz hätte, sich von vornherein um angemessene Vertragsbedingungen zu bemühen. Ist die AGB-Klausel allerdings sinnvoll teilbar, kann der für sich unbedenkliche Teil wirksam bleiben (Krause a.a.O. § 7 Rn.11). f) Seit das AGB-Recht auch im Arbeitsrecht gilt, hat die Rechtsprechung in zunehmendem Maße von ihrer Befugnis zur Inhaltskontrolle der vom ArbG vorformulierten Arbeitsbedingungen Gebrauch gemacht. In der nachfolgenden Darstellung des Arbeitsrechts wird dies immer wieder deutlich werden. Dabei geht es © Professor Dr. Hunscha 33 Dezember 2015 vor allem um die Ausübung der allgemeinen Angemessenheitskontrolle auf der Grundlage der Generalklausel des § 307 I 1 BGB sowie um die Durchführung der Transparenzkontrolle nach Maßgabe des § 307 I 2 BGB. Folgende Kontrollgegenstände sind hervorzuheben: (1) Der Freiwilligkeitsvorbehalt, den der ArbG verwendet, um das Entstehen einer Betrieblichen Übung (dazu unter § 4. II. 1.) zu verhindern ► § 4 II. 3. (2) Der Freiwilligkeitsvorbehalt, den der ArbG verwendet, um sich die Möglichkeit zu eröffnen, die Zahlung von Zusatzentgelten die er seinen AN vertraglich zugesagt hat (dazu unter § 16 II. 3. bis 3. b)), ggf. einstellen zu können ► § 16 II. 2. a). (3) Der Widerrufsvorbehalt, den der ArbG verwendet, um sich die Möglichkeit zu eröffnen, die Zahlung von Zusatzentgelten, die er seinen AN vertraglich zugesagt hat (dazu unter § 16 II. 3. bis 3. b)), ggf. einstellen zu können ► § 16 II. 2. b). (4) Die einfache und doppelte Schriftformklausel für Ergänzungen zum Arbeitsvertrag ► § 4 II. 4. sowie § 11 I. 3.). (5) Eine gegenläufige Betriebliche Übung durch eine dreijährige unwidersprochene Hinnahme eines dem Entstehen einer Betrieblichen Übung nachfolgenden Freiwilligkeitsvorbehalts? ► § 4 II. 5. (6) Die Versetzungsklauseln, die der ArbG verwendet, um sich die Möglichkeit zu verschaffen, eine Versetzung des AN durch Ausübung seines Weisungsrechts nach Maßgabe von § 106 GewO anzuordnen ► § 15 II. 2. b) (7) Die Bandbreitenregelung bei der Vereinbarung kapazitätsorientierter variabler Arbeitszeit (KAPOVAZ) ► § 15 IV. (8) Vertragsstrafeklauseln, die den AN verpflichten, bei Nichtantritt seiner Arbeitsstelle oder vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne hinreichenden Grund sowie in Fällen der Verletzung von Nebenpflichten eine Geldstrafe zu entrichten ► § 15 VI. (9) Die Stichtagsklausel, durch die der ArbG den Anspruch des AN auf eine Jahressonderzahlung davon abhängig macht, dass das Arbeitsverhältnis bis zum 31.12. des Bezugsjahres oder noch darüber hinaus besteht, ggf. in noch ungekündigtem Zustand ► § 16 II. 3. c). (10) Die Ausgleichsquittung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ► § 16 VI. 5. (11) Abdingbarkeit des § 615 BGB? ► § 19 IV. (12) Ausschluss- bzw. Verfallfristen von Ansprüchen des AN gegen den ArbG und umgekehrt, die an die Stelle der gesetzlichen Verjährungsfristen der §§ 195, 199 BGB in Arbeitsverträgen vereinbart werde. ► § 44 II. Die Betriebliche Übung als vertragsergänzender Gestaltungsfaktor 1. Der Gegenstand der Betrieblichen Übung a) Es kommt nicht selten vor, dass der ArbG seiner Belegschaft eine Leistung oder Vergünstigung regelmäßig zukommen lässt, ohne dazu verpflichtet zu sein: weder kraft Gesetzes, noch auf Grund eines Tarifvertrags, einer Betriebsvereinbarung, des Arbeitsvertrags oder einer Gesamtzusage. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob in dem Verhalten des ArbG die Rechtsgrundlage für eine auf Dauer eingegangene Verpflichtung liegen kann. Das Arbeitsrecht bejaht dies mit der Feststellung, dass die AN, denen die Zuwendung über einen längeren Zeitpunkt hinweg © Professor Dr. Hunscha 34 Dezember 2015 vorbehaltlos zuteil geworden ist, von Rechts wegen annehmen dürfen, vom ArbG auf Dauer bedacht zu werden. Es wird darauf abgestellt, dass der ArbG durch sein Verhalten eine vertragliche Bindung in Gestalt einer „Betrieblichen Übung“ eingegangen ist, als deren Rechtsfolge die AN einen Anspruch auf die fortgesetzte Gewährung der üblich gewordenen Zuwendung erworben haben. Merke: Möglich wird das Entstehen einer den Arbeitsvertrag ergänzenden Verpflichtung des ArbG im Wege der Betrieblichen Übung vor allem durch den Umstand, dass der Arbeitsvertrag, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu seiner Gültigkeit nicht der Schriftform bedarf (unten § 11 I. 1.). Deshalb ist es nur folgerichtig, dass eine arbeitsvertraglich vereinbarte (doppelte) Schriftformklausel das Entstehen einer Betrieblichen Übung verhindern kann (nachfolgend unter 4.). Beachte: Im Regelfall erbringt der ArbG zusätzliche Leistungen allerdings nicht auf die soeben beschriebene Weise. Vielfach sind sie in einem Tarifvertrag oder einer nach § 88 BetrVG freiwilligen Betriebsvereinbarung festgelegt. Häufiger noch werden sie vom ArbG auf arbeitsvertraglicher Grundlage zugesagt. Letzterenfalls kommt es in Ansehung von Änderungsvorbehalten des ArbG zu vergleichbaren Rechtsfragen (unten § 16 II. 3. und III.). Verhaltensweisen des ArbG, die die Gestaltung und Leitung des Betriebes, seine innere Ordnung und sein Funktionieren betreffen, können sich nicht zu einer den ArbG bindenden Betrieblichen Übung verfestigen. Das verbietet schon die nach Art. 12 I GG grundgesetzlich garantierte Freiheit des Unternehmers zu einer eigenverantwortlichen Unternehmensführung (oben § 3 III. 2 (6). Darum kann auch die Ausübung des Weisungsrechts des ArbG nicht durch eine Betriebliche Übung eingeschränkt werden. Der für das Handeln einer Behörde maßgebende Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung lässt das Entstehen einer Betrieblichen Übung nicht zu. Leistungen oder Vergünstigungen eines staatlichen Arbeitgebers an seine Angestellten bedürfen stets einer Rechtsgrundlage. Eine infolge fehlerhafter Rechtsanwendung erfolgte Zuwendung muss eingestellt werden. b) Die Betriebliche Übung ist gesetzlich nicht geregelt. Sie ist vielmehr ein Produkt von Rechtslehre und Rechtsprechung, die dieses Rechtsinstitut zum Schutz des Vertrauens der AN in die Beständigkeit eines im Betrieb eingespielten Gewährungsverhaltens des ArbG entwickelt haben. Da sich die daraus folgende Bindungswirkung nur auf solche Verhaltensweisen des ArbG bezieht, die einen Erfüllungsanspruch des AN begründen (Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 BGB Rn.468), wird eine dem AN nachteilige Betriebliche Übung nicht entstehen können. Wie schon die Bezeichnung als „betriebliche“ Übung deutlich macht, enthält das Rechtsinstitut ein kollektives Element: Es bezieht sich stets auf eine Vielzahlt von AN, mindestens aber auf eine abgrenzbare Gruppe von ihnen (BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 500/05 – in NZA 2006, 1089 Rn.15 ff.: BAG v. 21.4.2010 – 10 AZR 163/09 – in NZA 2010, 808 Rn.11). Will der ArbG die Gewährung auf eine bestimmte Gruppe von AN beschränken, bedarf er allerdings eines sachlichen Grundes, andernfalls in der Abgrenzung ein Verstoß gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz liegt (oben § 3 III. 3.). © Professor Dr. Hunscha 35 Dezember 2015 c) Die Betriebliche Übung kann jede Leistung oder Vergünstigung des ArbG erfassen, die auch arbeitsvertraglich geregelt werden könnte. Es geht im Wesentlichen um Geldzahlungen oder sonstige geldwerte Zuwendungen. Das Vertrauen der AN in den Fortbestand der Gewährung ist umso schutzwürdiger, je größer das finanzielle Gewicht der Zuwendung für sie ist. Bloße Annehmlichkeiten, wie etwa die bezahlte Arbeitsbefreiung zu einem besonderen Sportereignis, dürften auch bei mehrfacher Wiederholung kaum eine Betriebliche Übung begründen. Häufig handelt es sich um jährliche Sondervergütungen in Gestalt etwa eines Urlaubs- oder Weihnachtsgeldes sowie von Prämien oder Boni, aber auch um Zuschläge zum Monatslohn, wie etwa die Gewährung einer Leistungs- oder Erschwerniszulage. Gegenstand einer Betrieblichen Übung kann ferner die Anwendung des auf den Betrieb anwendbaren Tarifvertrages auf Außenseiter sowie die Nichtanrechnung von Tariflohnerhöhungen auf den übertariflichen Lohn sein. Weitere typische Beispiele sind die Leistung einer Trennungsentschädigung, eines Essenszuschusses, von Fahrkostenzuschüssen, die Erstattung von Fortbildungskosten, die Bereitstellung eines kostenlosen Werksverkehrs, die Übernahme der Reinigung von Dienstkleidung, die Gewährung von Personalrabatten sowie die Vergütung von Betriebspausen als Arbeitszeit. Es kann auch um Versorgungsleistungen gehen, wie etwa ein 13. Ruhegehalt. Über welchen Zeitraum hinweg die Zuwendung wiederholt bzw. getätigt worden sein muss, um für den ArbG eine Verpflichtung auf Dauer entstehen zu lassen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Art der Zuwendung und ihrer Häufigkeit. In Ansehung jährlich zahlbarer Sonderzuwendungen, wie z.B. eines Urlaubs- oder Weihnachtsgeldes, entsteht nach herrschender Meinung eine Bindung des ArbG für die Zukunft, wenn er seinen AN die gleiche Zahlung in drei aufeinander folgenden Jahren geleistet hat. d) Dass der ArbG seinen AN Leistungen oder Vergünstigungen einfach ohne eine ihn dazu verpflichtende Rechtsgrundlage zukommen lässt, kann bedeuten, dass er angesichts der Freiwilligkeit seines Tuns jede Art von Festlegung vor allem in Bezug auf die zeitliche Dauer der Gewährung vermeiden will, um sich die Dispositionsfreiheit über die Zuwendung zu erhalten. Ob diese Vermutung wirklich zutrifft, würde allerdings erst dann deutlich werden, wenn er die über einige Zeit hinweg regelmäßig erbrachte Zuwendung plötzlich einstellt oder kürzt. Dann aber könnte bereits eine Betriebliche Übung entstanden sein, die ihm einen einseitigen Abbau der Gewährung verbietet. So z.B., wenn der ArbG, der erstmals im Oktober 2011 ein zusätzliches Monatsgehalt als Weihnachtsgeld ohne nähere Erläuterung zahlt, auch in den Jahren 2012 und 2013 so verfährt, eine entsprechende Zahlung in 2014 aber nicht mehr leistet. Ein solcher Fall ist heutzutage allerdings in hohem Maße unrealistisch, weil kaum eine Rechtsprechungsregel des Arbeitsrechts im Arbeitsleben eine solche Bekanntheit erlangt hat, wie die Begründung eines Anspruchs auf Gratifikation durch eine dreimalige vorbehaltlose Zahlung (BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07 – in NZA 2008, 1173 Rn.28). Der ArbG ist dem Entstehen einer Betrieblichen Übung keineswegs hilflos ausgeliefert. Wenn er sich schon ohne eine bestehende Verpflichtung dazu entschließt, seinen AN regelmäßig wiederholt eine zusätzliche Leistung oder Vergünstigung zukommen zu lassen, muss er im Grundsatz auch die Möglichkeit haben, sich die Dispositionsbefugnis über seine Zuwendung erhalten zu können. Das Arbeitsrecht stellt ihm hierzu den Freiwilligkeitsvorbehalt zur Verfügung, der bei einer mit dem AGB-Recht vereinbaren Verwendung das Entstehen einer Betrieblichen Übung verhindert. Näheres dazu nachfolgend unter 3. © Professor Dr. Hunscha 36 Dezember 2015 Beachte: Auf andere Weise als der Freiwilligkeitsvorbehalt führt die zwischen dem ArbG und seinen AN zusammen mit der Zuwendung getroffene Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie ist allerdings nicht geeignet, das Entstehen einer Betrieblichen Übung zu verhindern, sondern setzt im Gegenteil das Bestehen einer Leistungsverpflichtung des ArbG gerade voraus, sonst gäbe es ja nichts zu widerrufen. Sie gibt dem ArbG jedoch die Befugnis, diese Bindung unter bestimmten Voraussetzungen zu beenden. Näheres dazu unten § 16 III. Merke: Der ArbG hat also zwei Möglichkeiten, sich in Ansehung einer freiwilligen Leistung seine Dispositionsbefugnis zu erhalten. Will er das Entstehen einer Verpflichtung auf Grund Betrieblicher Übung verhindern, muss er seine Leistung von Anfang an unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt stellen. Stattdessen kann er sich seinen AN gegenüber von Anfang an zu einer Leistung verpflichten, die er aber von vorn herein mit einem Widerrufsvorbehalt verbindet. Eine Betriebliche Übung kommt dann nicht in Betracht, weil die Leistungsverpflichtung des ArbG schon besteht. Er kann seine Verpflichtung zur Leistung aber unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen. 2. Zur rechtsdogmatischen Begründung der Betrieblichen Übung a) In dem Bestreben, das Entstehen einer Betrieblichen Übung rechtsgeschäftlich zu erklären, liegt nach ständiger Rechtsprechung in dem regelmäßig und gleichförmig wiederholten Gewährungsverhalten des ArbG nach Ablauf einer vertrauensbildenden Zeitspanne das (durch schlüssiges Verhalten manifestierte =) konkludente Angebot auf Abschluss einer Vereinbarung über eine auf Dauer gerichtete Zuwendung. Diese Annahme beruht auf der von der „vorherrschenden Rechtsgeschäftslehre“ (ErfK/Preis § 611 BGB Rn.220a) entwickelten Erkenntnis, dass in einem Verhalten eine Willenserklärung liegen kann, wenn derjenige, dem das Verhalten gilt, es bei objektiver Betrachtung unter Berücksichtigung aller Begleitumstände nach „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ (§ 242 BGB) als eine bestimmte Willenserklärung verstehen darf und der Handelnde dies hätte erkennen und vermeiden können. Sollte dem ArbG trotz der Bekanntheit des Rechtsinstituts der Betrieblichen Übung das Bewusstsein, eine Erklärung dieses Inhalts abgegeben zu haben, aktuell gefehlt haben, muss er sich jedoch ein „potentielles“ Erklärungsbewusstsein als Folge seiner „Erklärungsfahrlässigkeit“ zurechnen lassen. Dennoch verbietet sich eine Anfechtung wegen eines Inhaltsirrtums nach § 119 I BGB angesichts der Besonderheit des Rechtsinstituts der Betrieblichen Übung und wird auch von der Rechtsprechung folgerichtig ignoriert; vergleiche die Rechtslage beim Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben. Das bedeutet für die AN: Aus rechtlicher Sicht enthält das regelmäßige Gewährungsverhalten für die AN nach Treu und Glauben irgendwann den Erklärungswert, dass der ArbG sie auf Dauer berechtigen will. Damit kommt dem Vertrauensschutz eine entscheidende Bedeutung für das Entstehen einer vertraglichen Bindung zu. Das über eine bestimmte Zeitspanne hinweg praktizierte Gewährungsverhalten des ArbG wird zu dem konkludenten Angebot auf Abschluss einer Vereinbarung über eine dauerhafte Leistung. Dadurch dass die AN dieses Angebot des ArbG durch die regelmäßige Entgegennahme seiner Zuwendung ebenso konkludent annehmen ─ der Zugang der Annahmeerklärung ist nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ─ ist eine © Professor Dr. Hunscha 37 Dezember 2015 Betriebliche Übung entstanden und damit der Anspruch der AN auf die Fortsetzung der Gewährung begründet. Ob man die Bindungswirkung der Betrieblichen Übung rechtsdogmatisch mehr aus dem Vertragsrecht (Vertragstheorie) oder mehr aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes (Vertrauenstheorie) herleitet, ist eine eher akademische Frage und spielt im Ergebnis keine Rolle. Rechtsdogmatisch werden Elemente aus beiden Bereichen beansprucht. Die Betriebliche Übung ist eben ein „eigenständiges Institut des Arbeitsrechts“ (Krause a.a.O. § 8 Rn.5). b) Die Bindungswirkung ergreift auch in den Betrieb neu eintretende AN, und zwar auf der Grundlage des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (oben § 3 III 3.); bei jährlichen Sonderleistungen, wie z.B. Gratifikationen, anteilig nach den Monaten der Betriebszugehörigkeit im laufenden Jahr. Kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz soll allerdings dann vorliegen, wenn alle Neulinge nach ihren Arbeitsverträgen von bestimmten eingespielten Sonderleistungen ausgenommen werden. Eine damit etwa verbundene Veränderung des betrieblichen Vergütungssystems kann allerdings zur Anwendung des § 87 I Nr. 10 BetrVG führen (unten § 16 I. 4. sowie BAG. v. 28.2.2006 – 1 ABR 4/05 – in NZA 2006, 1426). c) Keine Bindungswirkung für die Zukunft entsteht, wenn der ArbG erkennbar jeweils nur eine Einzelfallentscheidung treffen wollte. Beispiele: Trotz mehrjähriger freiwilliger Anpassung der Löhne an den jeweils neuen Tarifvertrag durch den mangels Mitgliedschaft im ArbG-Verband nicht tarifgebundenen ArbG besteht kein Anspruch der AN auf Anpassung auch an künftige Tariflohnerhöhungen, die der ArbG nicht mehr hinnehmen kann oder will. Vielmehr besteht ein Anspruch nur auf Fortzahlung der letzten freiwilligen Erhöhung, denn ein nicht tarifgebundener ArbG hat sich seine Entscheidungsfreiheit über die Lohnentwicklung gerade erkennbar vorbehalten. ─ Keine Bindungswirkung bei mehrjähriger freiwilliger Sonderzahlung nach Gutdünken des ArbG in jeweils unterschiedlicher Höhe. ─ Ein mehrjähriger Verzicht des ArbG darauf, eine ausdrücklich vorbehaltene Anrechnung von Tariflohnerhöhungen vorzunehmen, nimmt ihm nicht die Befugnis dazu. Also keine Betriebliche Übung durch ein die AN begünstigendes Unterlassen des ArbG, von einer ihm vertraglich eingeräumten Anrechnungsbefugnis Gebrauch zu machen. 3. Der Freiwilligkeitsvorbehalt des Arbeitgebers a) Für den Fall, dass der ArbG eine Betriebliche Übung nicht entstehen lassen will, kann er versuchen, die Zuwendung unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt stellen. Seit er als eine vom ArbG einseitig gestellte Vertragsbedingung der Geltung des AGB-Rechts unterliegt (vorstehend unter I. 2. a) am Ende), ist zu beobachten, dass seine Verwendung in der neueren Rechtsprechung des BAG zunehmend kritisch gesehen wird und mehr denn je Gefahr läuft, als unangemessen i.S.d. § 307 I 1 BGB wegen Verstoßes gegen die Gebote von Treu und Glauben oder als unangemessen i.S.d. des § 307 I 2 BGB wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot angesehen zu werden. b) Der Freiwilligkeitsvorbehalt ist eine auf die Zuwendung bezogene einseitige Erklärung, durch die der ArbG verhindert, dass sich eine Betriebliche Übung bildet. Das hindert zwar nicht die Rechtswirksamkeit des jeweils vollzogenen Gewährungsakts, schließt jedoch das Entstehen einer in die Zukunft gerichteten Bindung des ArbG von Anbeginn aus, weil er klarstellt, dass ihm dazu der Verpflichtungswille fehlt. Der ArbG behält daher die Freiheit, sich immer wieder neu für die Gewährung zu entscheiden, sie also auch unterbrechen, einschränken © Professor Dr. Hunscha 38 Dezember 2015 oder aufgeben zu können. Voraussetzung ist nur, dass er den Freiwilligkeitsvorbehalt unmissverständlich formuliert kundtut. Folgende Wendung hat sich durchgesetzt: „Diese Leistung erfolgt freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Ein Anspruch für die Zukunft wird hierdurch nicht begründet.“ Der bloße Hinweis des ArbG darauf, dass seine Leistung freiwillig erfolgt, ist kein wirksamer Vorbehalt, weil er auch so zu verstehen ist, dass er sich zur Erbringung einer Leistung verpflichtet, die er nicht schon aus anderen Gründen schuldet. Ebenso ist die Wendung „freiwillig und unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs“ nach § 307 I 2 i.V.m. § 305c BGB unwirksam, weil sie zwei nach ihrer Rechtsfolge unterschiedliche Vorbehalte mit einander verbindet und jeder der Vorbehalte noch dazu unzureichend formuliert ist. Ein schon im Arbeitsvertrag vorsorglich enthaltener allgemeiner pauschaler Freiwilligkeitsvorbehalt bezüglich „aller in diesem Vertrag nicht vereinbarten Leistungen des ArbG an den AN“ stößt auf Bedenken. Auch die Rechtsprechung steht dieser Möglichkeit neuerdings zweifelnd gegenüber (BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – in NZA 2012, 81 Rn.29 ff, 36 bis 41; BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12 – in NZA 2014, 368 Rn.39). Da diese Vertragsklausel, vom ArbG vorformuliert, den Charakter Allgemeiner Geschäftsbedingungen trägt, kann sie daran scheitern, dass sie wegen eines infolge ihrer Anwendungsbreite unzulässig miterfassten Falles, der z.B. laufendes Arbeitsentgelt (siehe nachfolgend unter c)) oder eine nach § 305b BGB vorrangige Individualvereinbarung betrifft, gegen die Vorschrift des § 307 I 1 BGB verstößt. Problematisch ist ferner, dass der Pauschalvorbehalt auch Gesamtzusagen (nachfolgend unter III.) erfasst. Ein mit vielen Anwendungsausnahmen gespickter Pauschalvorbehalt könnte demgegenüber an den Transparenzanforderungen des § 307 I 2 BGB scheitern. Auch ein nur das Entstehen Betrieblicher Übungen vorsorglich ausschließender Freiwilligkeitsvorbehalt im Arbeitsvertrag begegnet Zweifeln. Auf jeden Fall müsste er den Fall laufenden Arbeitsentgelts ausdrücklich ausnehmen (siehe nachfolgend unter c)). Darüber hinaus aber erhebt sich die Frage, ob allein ein solcher einmaliger Vorbehalt ausreicht, den Erklärungswert einer über einen längeren Zeitraum hinweg ohne wiederholte Hinweise auf diese Regelung erbrachten Leistung so zu erschüttern, dass der AN das Gewährungsverhalten des ArbG nicht als Angebot zu einer dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann (BAG v. 13.11.2013 a.a.O. Rn.31). Es ist daher geboten, den Freiwilligkeitsvorbehalt von Anfang an stets mit der konkreten Zuwendung zu verbinden. So ist z.B. der am „Schwarzen Brett“ bzw. im Intranet des Betriebes oder auf dem Gehaltsnachweis des AN befindliche Hinweis des ArbG auf die für ein bestimmtes Jahr gezahlte Sondervergütung stets mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt zu versehen. Auf diese Weise ist sie als eine „Einmalzahlung mit Freiwilligkeitshinweis“ wahrzunehmen (Preis/Sagan in NZA 2012, 697 ff. unter II. m.w.N.). In Ansehung von Zuwendungen oder Vergünstigungen, die der ArbG seinen AN das ganze Jahr über ohne eine ihn dazu verpflichtende Rechtsgrundlage regelmäßig zukommen lässt, bietet es sich an, zu Beginn der Leistung und sicherheitshalber jährlich wiederholt auf dem betriebsüblichen Kommunikationsweg darauf hinzuweisen, dass sie freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erbracht und hierdurch ein Anspruch für die Zukunft nicht begründet wird. © Professor Dr. Hunscha 39 Dezember 2015 c) Wird eine als laufendes Arbeitsentgelt einzustufende Zuwendung, wie z.B. eine monatliche Leistungszulage, unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt, ist dieser allerdings wegen Verstoßes gegen § 307 I 1 i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB unwirksam. Das hierzu ergangene Urteil des BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06 – in NZA 2007, 853 ff. bezieht sich zwar auf den Fall einer im Arbeitsvertrag unter Freiwilligkeitsvorbehalt ausdrücklich zugesagten monatliche Leistungszulage (unten § 16 III.). Doch ist die dort vertretene Rechtsauffassung auch für das hier in Rede stehende Gewährungsverhalten des Arbeitgebers maßgebend (so auch Krause a.a.O. § 8 Rn.8). Entscheidend für die Gleichbehandlung beider Fälle ist der gleichartige Charakter der Zulage als eine unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit. In beiden Fällen widerspricht der Vorbehalt darum dem Grundgedanken des Arbeitsvertrags als eines gegenseitigen Vertrags; denn er erlaubt dem Arbeitgeber, über den monatlichen Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers zu disponieren, obwohl der Arbeitnehmer stets die vollständige Erbringung seiner Arbeitsleistung schuldet. In dem entschiedenen Fall handelte es sich um Zulagen von insgesamt 400 Euro bei einem Grundgehalt von 1050 Euro! Aber selbst eine geringere monatliche Leistungszulage ist eine unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit, auf deren Bezug sich der Arbeitnehmer einrichtet. Schließlich muss er „auf die Beständigkeit der monatlich(en)…Zahlung einer Vergütung, die nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft ist, vertrauen“ (BAG a.a.O. Rn.17) dürfen, einerlei, ob sie auf Grund einer im Arbeitsvertrag abgegebenen Zusage oder auf einer regelmäßig wiederholten tatsächlichen Gewährung beruht. „Behält sich der Arbeitgeber vor, monatlich neu über die Vergütung zu entscheiden, weicht dies von dem in § 611 BGB gekennzeichneten Wesen eines Arbeitsvertrags ab. Dies gilt nicht nur für die Grundvergütung, sondern auch für zusätzliche regelmäßige Zahlungen, die von den Parteien als Teil der Arbeitsvergütung und damit als unmittelbare Gegenleistung für die vom Arbeitnehmer zu erbringende Arbeitsleistung vereinbart“ sind (BAG a.a.O. unter Rn.17) oder ─ wie hier ─ bei verständiger Würdigung als eine unmittelbare Gegenleistung zu begreifen sind. d) Wenn die Zuwendung des ArbG nicht als unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit, sondern als zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbrachte Leistung oder Vergünstigung gilt, hält der Freiwilligkeitsvorbehalt einer Angemessenheitskontrolle nach § 307 BGB stand. Die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen ist nicht leicht zu treffen, weil alles, was der AN vom ArbG erhält, Entgeltcharakter trägt. Entscheidend ist jedoch, dass der eigentliche Vertragszweck als der Kern des Arbeitsvertrags in der Verknüpfung der täglichen Arbeitsleistung mit der Zahlung des Monatslohns liegt. Beide Leistungen sind die den Arbeitsvertrag typisierenden, in einem Austauschverhältnis stehenden gegenseitigen Hauptleistungspflichten. Hiernach sind alle anderen Leistungen „Nebenleistungen“, auch wenn sie noch so werthaltig sind. Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 BGB Rn.860 sprechen von „Gegenleistungen aus dem Arbeitsverhältnis“, die „zur Arbeitsleistung nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen“. Werden sie unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt, verletzt dies nicht den „wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung“ des Arbeitsvertrags als eines gegenseitigen Vertrags (§ 307 II Nr. 1 BGB). Hierzu gehören z.B. alle Zuwendungen des ArbG an seine AN, die im Wesentlichen auf den Ersatz von Aufwendungen gerichtet sind, die der AN im Allgemeinen selbst tragen muss (BAG v.12.1.2005 – 5 AZR 364/04 – in NZA 2005, 465 ff. unter I. 4. D), wie z.B. die Leistung von Fahrkostenzuschüssen, von Essenszuschüssen, einer Trennungsentschädigung, der Bereitstellung eines kostenlosen Werksverkehrs, der Erstattung von Fortbildungskosten, der Übernahme der Reinigung von Dienstkleidung sowie die Bereitstellung eines kostenlosen Parkplatzes. © Professor Dr. Hunscha 40 Dezember 2015 Zu den einem Freiwilligkeitsvorbehalt zugänglichen „Nebenleistungen“ zählen auch die jährlichen Sondervergütungen, die der ArbG seinen AN ohne besondere leistungsbezogene Absprache zukommen lässt. Das folgt u.a. aus § 4a EFZG, der diese Zuwendungen ausdrücklich als Leistungen bezeichnet, „die der Arbeitgeber zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt“ und darum eine Vereinbarung über ihre Kürzung für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des AN infolge Krankheit in Grenzen für zulässig erklärt. In Bezug auf eine Weihnachtsgratifikation hat das BAG v. 20.2.2013 – 10 AZR 177/12 – in NJW 2013, 2844 angenommen, dass ein an die im Arbeitsvertrag enthaltene verbindliche Zusage einer Sondervergütung anschließender Satz über einen Freiwilligkeitsvorbehalt regelmäßig gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB verstößt, da diese Kombination dem AN zu Zweifeln darüber Anlass gibt, was nun wirklich gilt: Hat er einen dauerhaften Anspruch auf die jährliche Zahlung einer Weihnachtsgratifikation erworben oder nur eine vom freien Willen des ArbG abhängige Chance? Diese Zweifel gehen nach § 305c II BGB zu Lasten des ArbG. Derlei kann jedoch nicht geschehen, wenn der ArbG nichts verspricht, sondern ─ wie hier ─ eine Weihnachtsgratifikation zum Jahresende ohne eine ihn dazu verpflichtende Rechtsgrundlage einfach zahlt und diese Zahlung mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt verbindet, um im Wiederholungsfall das Entstehen einer Betrieblichen Übung zu verhindern (Kock in NJW 2013, 2846 in einer Anmerkung zu dem vorbezeichneten Urteil des BAG; Preis/Sagan in NZA 2012 unter II. 1. am Ende unter Bezugnahme auf BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – in NZA 2012, 81 Rn.41). Näheres dazu unten § 16 III. 2 a) (2). Ob die nach § 3 i.V.m. § 2 Nr.6 NachwG geltende Pflicht des ArbG, eine Änderung der wesentlichen Vertragsbedingungen den AN binnen Monatsfrist schriftlich mitzuteilen, auch seine ohne Rechtgrundlage freiwillig gewährten Zuwendungen und den damit verbundenen Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst, kann fraglich sein, solange eine den ArbG für die Zukunft bindende vertragliche Leistungsverpflichtung nicht entstanden ist. Auf jeden Fall aber erfüllt es den Informationszweck des Nachweisgesetzes, wenn sich der ArbG der für die Anzeige freiwilliger Zuwendungen betriebsüblicher Kommunikationsmittel, wie der Kundgabe am „Schwarzen Brett“, im Intranet des Betriebs oder auf dem Gehaltszettel bedient. 4. Keine Betriebliche Übung bei doppelter Schriftformklausel Die im Arbeitsvertrag häufig anzutreffende einfache Schriftformklausel, nach der Änderungen und Ergänzungen zu ihrer Wirksamkeit (also konstitutiv) der Schriftform bedürfen, kann die Entstehung einer Betrieblichen Übung nicht ausschließen, da die Vertragsparteien das für die Vertragsänderung vereinbarte Schriftformerfordernis jederzeit formlos aufheben können, auch stillschweigend durch schlüssiges Handeln, wie z.B. durch tatsächliche Leistungsgewährung, die regelmäßig gleichförmig wiederholt eine Betriebliche Übung begründet. Der Formzwang i.S.d. §§ 126 II, 125 S. 2 BGB, dem sie sich in freier Entscheidung der im Gesetz nicht vorgesehenen Schriftform unterworfen haben, besteht also nur so lange und soweit, wie sie die Schriftformklausel nicht ebenso frei und einverständlich wieder außer Kraft setzen (BGH v. 2.6.1976 – VIII ZR 97/74 – in NJW 1976, 1395 unter 1.; BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02 – in NZA 2003, 1145 unter II. 2. c) bb) (3)); BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 819/06 – in NJW 2007, 3739 unter Rn.25; BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07 – in NZA 2008, 1233 Rn.17; anderer Ansicht MüKoBGB/Einsele § 125 Rn.70). Diese Möglichkeit entfällt jedoch im Fall einer doppelten Schriftformklausel, die bestimmt, dass auch die Aufhebung der Schriftformklausel zu ihrer Wirksamkeit (also konstitutiv) der Schriftform bedarf: Sie kann nicht formlos abbedungen wer- © Professor Dr. Hunscha 41 Dezember 2015 den, also auch nicht durch schlüssiges Handeln (BGH v. 2.6.1976 a.a.O. unter 2.; BAG v. 24.6.2003 a.a.O.; BAG v. 20.5.2008 a.a.O. Rn.18). Diese Rechtsauffassung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Vertragschließenden durch die Verwendung der doppelten Schriftformklausel ihrer Wirksamkeit eine besondere Bedeutung beimessen. Ein Verstoß hiergegen führt nach § 125 S. 2 BGB zur Nichtigkeit des auf Änderung oder Ergänzung des Arbeitsvertrages gerichteten formlosen Rechtsgeschäfts (BAG v. 20.5.2008 a.a.O.). Damit ist die doppelte Schriftformklausel ein geeignetes Mittel, das Entstehen einer Betrieblichen Übung zu verhindern (BAG v.24.6.2003 a.a.O.). Da der Arbeitsvertrag und damit auch die Schriftformklausel aber regelmäßig den Charakter Allgemeiner Geschäftsbedingungen tragen (oben § 4 I.), könnte allerdings § 305b BGB entgegenstehen, wonach „individuelle Vertragsabreden“ den Vorrang vor AGB haben. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Entstehen einer Betriebliche Übung gerade nicht der Fall einer Individualvereinbarung zwischen ArbG und AN ist, sondern auf wiederholten gleichförmigen kollektiven Akten des ArbG gegenüber der Belegschaft beruht (BAG v. 24.6.2003 a.a.O. unter II. 2. c) cc)); BAG v. 20.5.2008 a.a.O. Rn.30). Damit die doppelte Schriftformklausel nun aber nicht an § 307 I BGB scheitert, weil sie den unzutreffenden Eindruck erweckt, auch eine wirkliche (mündliche) Individualabrede solle entgegen § 305b BGB unwirksam sein (so BAG v. 20.5.2008 a.a.O. Rn.31 ff.), ist es geboten, die Geltung der Schriftformklausel einzugrenzen, etwa mit dem Zusatz: „Hiervon unberührt bleibt der Vorrang individueller Vereinbarungen i.S.v. § 305b BGB (Karlsfeld in ArbRB 2008, 222 f.; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rn.232a; Krause § 8 Rn.8). Als einziges Bedenken verbleibt das Risiko, dass die Rechtsprechung, wie schon vorstehend unter 3. b) bezüglich eines das Entstehen einer Betrieblichen Übung vorsorglich ausschließenden Freiwilligkeitsvorbehalts im Arbeitsvertrag angesprochen, die Auffassung vertreten könnte, dass eine im Arbeitsvertrag enthaltene doppelte Schriftformklausel nicht ausreicht, den Erklärungswert einer über einen längeren Zeitraum hinweg erbrachten Leistung so zu erschüttern, dass der AN das Gewährungsverhalten des ArbG nicht als Angebot zu einer dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann (BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – in NZA 2012, 81 Rn.31). Der ArbG sollte darum auf die Klausel über die doppelte Schriftform jährlich wiederholt auf einem der betriebsüblichen Kommunikationswege hinweisen. 5. Keine gegenläufige Betriebliche Übung Die Entstehung einer Betriebliche Übung zu Ungunsten des AN ist ausgeschlossen (vorstehend unter 1.b). Die Rechtsprechung kannte jedoch den Sonderfall einer gegenläufigen Betrieblichen Übung. Sie sollte dadurch entstehen können, dass der ArbG ein bislang vorbehaltlos gewährtes Weihnachtsgeld, das zur Betrieblichen Übung geworden ist, künftig nur noch unter einem Freiwilligkeitsvorbehalt leistet, den die AN drei Jahre lang widerspruchslos hinnehmen, weil sie in diesem Zeitraum noch die gewohnte Sonderzahlung erhalten (BAG v. 26.3.1997 – 10 AZR 612/96 – in NZA 1997, 1007; BAG v. 4.5.1999 10 – AZR 290/98 – in NZA 1999, 1162). © Professor Dr. Hunscha 42 Dezember 2015 Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Aufhebung einer Betrieblichen Übung eine Änderung des Arbeitsvertrags erfordert, hätte das Schweigen der AN auf das im Freiwilligkeitsvorbehalt des ArbG liegende Angebot auf Vertragsänderung als Zustimmung gewertet werden müssen. Seit die AGB-Bestimmungen des BGB auch im Arbeitsrecht anwendbar sind, verstößt jedoch ein vom ArbG als AGBVerwender dem AN im Zusammenhang mit einer Betrieblichen Übung einseitig gestelltes Änderungsangebot, dessen Annahme ihm aufgrund seines Schweigens unterstellt werden soll, gegen das Verbot des § 308 Nr. 5 BGB von AGB-Klauseln mit Erklärungsfiktionen zu Lasten des Verwendungsgegners (BAG v. 25. 11. 2009 – 10 AZR 779/08 – in NZA 2010, 283). 6. Die Beseitigung einer mangels Vorbehalt entstandenen Betrieblichen Übung Die Beseitigung einer Betrieblichen Übung, die durch vorbehaltlose Gewährung entstanden ist, kann nur durch eine mit dem AN vereinbarte Änderung des Arbeitsvertrages, einseitig hingegen nur im Wege einer Änderungskündigung durch den ArbG (unten § 35) herbeigeführt werden. Ohne Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip, wonach sich die niederrangige Norm gegenüber der höherrangigen durchsetzt, kann eine Betriebliche Übung durch eine (höherrangige) Betriebsvereinbarung abgelöst werden, wenn dadurch die bisherige Vergünstigung nicht abgeschafft oder wesentlich eingeschränkt, sondern lediglich umstrukturiert wird, so dass die neue Regelung bei kollektiver Betrachtung nicht ungünstiger ist als die bisherige, weil der ArbG insgesamt nicht weniger Geld aufwenden muss als vorher und die Neuverteilung der Mittel niemanden unverhältnismäßig benachteiligt (sog. kollektiver Günstigkeitsvergleich). So z.B. wenn vorher die 10 Innendienstmitarbeiter eine Weihnachtsgratifikation in Höhe eines vollen Monatsgehalts von 4.000 Euro brutto (= 4.000 Euro) und die 40 Außendienstmitarbeiter eine Weihnachtsgratifikation in Höhe der Hälfte ihres Monatsgehalts von 2.000 Euro brutto (= 1.000 Euro) erhielten, nunmehr aber alle Mitarbeiter drei Viertel ihres Monatsgehalts als Weihnachtsgratifikation erhalten. III. Die Gesamtzusage als vertragsergänzender Gestaltungsfaktor 1. Der Arbeitsvertrag erfährt eine inhaltliche Ergänzung durch eine sog. Gesamtzusage des ArbG. Eine Gesamtzusage liegt vor, wenn der ArbG der Belegschaft gegenüber in einem kollektiven Akt die ausdrückliche Erklärung abgibt, ihr eine bestimmte zusätzliche Leistung oder Vergünstigung erbringen zu wollen: mündlich auf einer Betriebsversammlung, durch schriftliche Kundgabe am „Schwarzen Brett“ bzw. im Intranet des Betriebs. Sie ist als ein Angebot des ArbG an jeden seiner AN zu verstehen, die es nach § 151 Satz 1 BGB durch schlüssiges Verhalten (= konkludent) annehmen. Anders als bei der Betrieblichen Übung entsteht sofort eine vertragliche Verpflichtung des ArbG im Umfang des Zugesagten: als einmalige Leistung, als befristete Leistung oder als auf unbestimmte Zeit zugesagte Leistung, in diesem Fall ggf. versehen mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt oder mit einem Widerrufsvorbehalt. Nach § 151 BGB ist nur die Annahmeerklärung des einzelnen AN nicht empfangsbedürftig, wohl aber das Angebot des ArbG. Für sein Wirksamwerden reicht es jedoch aus, dass die Verlautbarung des ArbG gegenüber der Belegschaft den einzelnen AN typischerweise in die Lage versetzt, von dem Angebot Kenntnis zu nehmen (BAG v.15.2.2005 – 9 AZR 116/04 – in NZA 2005, 1117, 1122 unter B.III.2.). Das gilt auch für nachträglich in den Betrieb eintretende AN. Dem AN, der von der © Professor Dr. Hunscha 43 Dezember 2015 Gesamtzusage wirklich nichts wissen sollte, würde aufgrund des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes anspruchsberechtigt werden (Junker a.a.O. Rn.78). Gegenstand der Gesamtzusage können alle denkbaren Sozial- oder Geldleistungen sein, die auch auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages zugesagt werden können (vorstehend unter II. 1. b)). Will der ArbG die zusätzliche Leistung nur einer bestimmten Gruppe von AN gewähren, bedarf es eines sachlichen Grundes; sonst liegt ein Verstoß gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vor (oben § 3 III. 3.). Nach § 3 i.V.m. § 2 Nr. 6 NachwG muss der ArbG die Zusage einer nicht nur einmaligen Leistung an seine AN in geeigneter Weise dokumentieren. 2. Da die Gesamtzusage für den ArbG zu der gleichen Verbindlichkeit führt wie ein von ihm im Arbeitsvertrag oder einer späteren Ergänzung zum Arbeitsvertrag abgegebenes Leistungsversprechen, gehört die Frage nach möglichen Änderungsvorbehalten des ArbG in den unten § 16 III. 2. behandelten Sachzusammenhang. Vorbehaltlos zugesagte Zuwendungen können nur durch eine mit den AN vereinbarte Änderung des Arbeitsvertrags oder im Wege der Änderungskündigung durch den ArbG (unten § 35) beseitigt werden. IV. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers Als vertraglicher Gestaltungsfaktor ist vor allem das Weisungsrecht des ArbG (Direktionsrecht) von Bedeutung. Es berechtigt den Arbeitgeber, die Arbeitspflichten in den Grenzen des Arbeitsvertrags, einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder gesetzlicher Vorschriften nach billigem Ermessen (§ 106 GewO; vgl. ferner § 315 BGB) zu konkretisieren, sowie die arbeitsrechtliche Ordnung im Betrieb festzulegen. Zu Umfang und Grenzen des Weisungsrechts siehe unten § 15 II. Beachte: Gerade der Umstand, dass der AN einer Weisung des ArbG nicht Folge leistet, begründet häufig den Tatbestand einer Pflichtverletzung, die zu einer Abmahnung des AN und im Wiederholungsfall zu einer verhaltensbedingten Kündigung führen kann. © Professor Dr. Hunscha 44 Dezember 2015 § 5 Der Tarifvertrag als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses und staatliche Ersatzhandlungen I. Der Tarifvertrag als Mittel koalitionsgemäßer Betätigung 1. Nach dem gemäß Art. 9 III GG verfassungsrechtlich verbürgten System der Tarifautonomie gehört die Kompetenz zur Regelung der Arbeitsbedingungen im Grundsatz weder in die Hand staatlicher Stellen noch in die Hände der Parteien des Arbeitsvertrages, sondern in die Hände der durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gebildeten Sozialpartner. Es ist ihre Aufgabe, durch den Abschluss von Tarifverträgen die Arbeitsbedingungen auszuhandeln, zu denen die im ArbGVerband organisierten oder selbständig als Tarifvertragspartei auftretenden ArbG (siehe nachfolgend unter 4.) ihre gewerkschaftlich organisierten AN kraft Tarifgebundenheit nach §§ 3, 4 TVG zu beschäftigen haben. Dieses Verfahren sichert dem AN eine angemessene Beteiligung an dem unter Einsatz von Kapital und Arbeit erwirtschafteten Gewinn eines Unternehmens und steht darum im Mittelpunkt koalitionsgemäßer Betätigung (Gamillscheg a.a.O. Bd. I, S. 284). Für die Arbeitgeberseite bewirkt der Tarifvertrag für die im gleichen Arbeitgeberverband organisierten ArbG untereinander eine einheitliche Belastung durch die mit dem Faktor Arbeit verbundenen Kosten. Dem Tarifvertrag kommt insoweit eine Kartellwirkung zu, die den Wettbewerb der einzelnen ArbG neutralisiert (Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 34 II. 2. b). Zur Allgemeinverbindlichlicherklärung eines Tarifvertrags zum Schutz einerseits der AN vor unangemessenen Arbeitsbedingungen und andererseits der organisierten ArbG vor der Konkurrenz durch ArbG mit niedrigeren Arbeitskosten siehe nachfolgend unter IV. 2. Wirtschaftlich schwache Unternehmen können dadurch allerdings vom Markt verdrängt werden. Und der AN verliert die Möglichkeit, sich einen Arbeitsplatz durch Lohnverzicht zu erkaufen. Die tarifvertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen werden als Mindestarbeitsbedingungen bezeichnet, weil sie nach § 4 I TVG nicht unterschritten werden dürfen. Das heißt aber nicht, dass sie den AN nur ein Minimum an Lebensqualität verschaffen. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Hochlohnland ist, beruht im Wesentlichen auf dem tarifvertraglichen Lohnniveau. Der Tariflohn liegt fast immer ganz deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn nach dem MiLoG. Hinzu kommt, dass die ArbG in vielen Fällen auch noch übertarifliche Zusatzleistungen erbringen (unten § 16). Sollte ein Tariflohn ausnahmsweise den nach § 1 I, II MiLoG ab dem 1.1.2015 geltenden gesetzlichen Mindestlohn von zurzeit brutto 8,50 € je Zeitstunde unterschreiten, ist die tarifliche Vergütungsvereinbarung nach § 3 S. 1 MiLoG unwirksam. An ihre Stelle tritt die Vergütungsregelung des § 612 II BGB. Sollte auch die hiernach maßgebende ortsübliche Vergütung den Mindestlohn unterschreiten, gilt dieser (nachfolgend unter VI.). Für das AEntG und das AÜG gilt die Übergangsregelung des § 24 I MiLoG. 2. Sofern infolge Mitgliederschwundes bei den Gewerkschaften, aber auch bei den Arbeitgeberverbänden, die Handlungsfähigkeit der Sozialpartner abnimmt und damit die Tarifbindung nachlässt, die Branchentarifbindung von Beschäftigten ist in den Jahren 2000 bis 2012 in der alten Bundesrepublik von 63 auf 53 % und im Beitrittsgebiet von 47 auf 36 % gesunken; Firmentarifverträge gelten im Jahr 2012 für 7 % der AN im Westen und rd. 12 % der AN im Osten (IAB-Betriebspanel v. 3.6.2013) kann es zu unangemessenen Arbeitsbedingungen mit Billiglöhnen kommen. © Professor Dr. Hunscha 45 Dezember 2015 a) Eine mit dem System der Tarifautonomie vereinbare Gegenmaßnahme bildet die Einführung von tarifgestützten Mindestarbeitsbedingungen im Wege der Geltungserstreckung tarifvertraglicher Regelungen durch Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf Antrag der Tarifvertragsparteien. Hierbei geht es zum einen um den Fall der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach § 5 TVG (nachfolgend unter IV.). Auch § 3 AEntG ermöglicht die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG eines Tarifvertrags, der die Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG erfüllt. Als Alternative kann es auf gemeinsamen Antrag der Parteien eines Tarifvertrags i.S.v. §§ 4 bis 6 AEntG zu branchenbezogenen Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung des BMAS nach § 7 oder § 7a AEntG kommen (nachfolgend unter V.). Abweichend von den Verfahrenswegen des § 3 AEntG kann nach § 3a AÜG das BMAS auf Vorschlag von Tarifvertragsparteien, die auch in der AN-Überlassung aktiv sind, die Übernahme tariflicher Mindeststundenentgelte für alle in Deutschland beschäftigten Leih-AN durch Rechtsverordnung bestimmen (unten § 43 II. 2. a)). b) Außerhalb des Systems der Tarifautonomie steht als Gegenmaßnahme der staatlich festgesetzte Mindestlohn nach Maßgabe des MiLoG. Nach § 1 MiLoG hat jeder AN kraft Gesetzes Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns, der nach § 1 II MiLoG ab dem 1.1.2015 brutto 8,50 € je Zeitstunde beträgt. Auf Vorschlag der Mindestlohnkommission, die aus je drei Mitgliedern aus den Kreisen der Vereinigungen der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN sowie einem von der Bundesregierung auf Vorschlag der Spitzenorganisationen berufenen Vorsitzenden besteht, kann die Bundesregierung durch Rechtsverordnung die Höhe des Mindestlohnes alle zwei Jahre anpassen (nachfolgend unter VI.). 3. Die Gewerkschaft ist ein auf Dauer angelegter freiwilliger Zusammenschluss privaten Rechts in Gestalt eines rechtsfähigen oder – aus historischen Gründen – eines nichtrechtsfähigen Vereins (der entgegen § 54 BGB heutzutage im Wesentlichen wie der rechtsfähige Verein behandelt wird) von AN zur Wahrung und Förderung ihrer Arbeitsbedingungen. Sie besitzt eine vom Mitgliederwechsel unabhängige körperschaftliche Organisation mit demokratischer Willensbildung, die gegnerfrei und gegnerunabhängig (von der Arbeitgeberseite) in personeller, finanzieller und organisatorischer Hinsicht sein muss. Darüber hinaus sollte sie überbetrieblich aufgestellt sein. Die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderliche soziale Durchsetzungsfähigkeit muss sie sich erarbeiten. Die räumliche (Tarifgebiet), betrieblich-fachliche (Wirtschaftszweig) und fachlich-persönliche (Art der Tätigkeit) Tarifzuständigkeit der einzelnen im Deutschen Gewerkschaftsbund, dem DGB als ihre Spitzenorganisation, zusammengefassten Gewerkschaften richtet sich nach dem in ihrer Satzung unter Abstimmung mit den anderen DGB-Gewerkschaften festgelegten Geschäftsbereich. Da sie überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind, erfassen sie alle AN eines Wirtschaftszweiges, einerlei, welche Art der Tätigkeit sie in ihrem Betrieb verrichten. Für einen Betrieb der Metallindustrie ist z.B. regelmäßig nur die IG Metall zuständig. Der von ihr ausgehandelte Tarifvertrag gilt für alle organisierten Beschäftigten des Betriebes, natürlich differenziert nach Fachgruppen und Entgeltstufen. (Ein Betrieb eine Gewerkschaft ein Tarifvertrag“). „Die IG Metall ist die Gewerkschaft für den Metallbetrieb, nicht der Metallarbeiter“ (Gamillscheg a.a.O. Bd. I, S. 213). Das Berufsverbandsprinzip hingegen ist durch den Zusammenschluss von AN einer bestimmten Berufsgruppe unabhängig von der Branchenzugehörigkeit gekennzeichnet. Diese Gewerkschaften entwickeln zunehmend eigene tarifpolitische Aktivitäten, ohne sich mit den DGB-Gewerkschaften © Professor Dr. Hunscha 46 Dezember 2015 abzustimmen. Ihre Mitglieder machen zwar oft nur einen geringen Teil der Belegschaft eines Betriebes aus, haben aufgrund ihrer Funktion meist aber ein besonderes Gewicht, so dass sie gegenüber der Arbeitgeberseite bei Tarifauseinandersetzungen ein hohes Druckpotential aufbauen können, um Arbeitsbedingungen durchzusetzen, die die großen Industriegewerkschaften nicht erreichen. Das gilt z.B. für den Marburger Bund (MB) als die Gewerkschaft der angestellten Ärzte, die Vereinigung Cockpit (VC) für Kapitäne, Flugoffiziere und -ingenieure, die „Unabhängige Flugbegleiter Organisation“ (UFO) für das Kabinenpersonal, die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) für Fluglotsen, Vorfeldlotsen u.ä. Personal sowie die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL). Sind AN eines Betriebes teils industrieverbandsmäßig, teils berufsverbandsmäßig organisiert, so dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse innerhalb desselben Betriebes verschiedene Tarifverträge gelten, kommt es zu einer Tarifpluralität, die das BAG bisher nach dem Grundsatz der Tarifeinheit behandelt hat. Danach gilt im Betrieb nur der Tarifvertrag einheitlich, der dem Betrieb räumlich, betrieblich-fachlich und fachlich-persönlich am sachnächsten steht. Das war regelmäßig der Industrieverbands-Tarifvertrag. Weil hierdurch aber die Tarifautonomie der konkurrierenden Gewerkschaft(en) verletzt wird, hat das BAG diese Rechtsprechung aufgegeben (BAG v.23.6.2010 – 10 AS 2/10 – in NZA 2010, 778; BAG v.7.7.2010 – 4 AZR 549/08 – in NZA 2010, 1068 ff.). Der hierdurch ermöglichte Koalitionspluralismus birgt allerdings die Gefahr vermehrter Arbeitskämpfe. Der aus dem Koalitionspluralismus folgende Tarifpluralismus kann wegen unterschiedlich Tarifabschlüsse für unterschiedlich organisierte AN-Gruppen zu innerbetrieblichen Spannungen führen. Das Entstehen vieler kleiner, von Partikularinteressen beherrschter AN-Organisationen könnte das Gewerkschaftswesen zersplittern und schwächen, das Gleichgewicht der Arbeitskampfgegner zu Lasten der bestreikten Unternehmen stören und bei Arbeitskämpfen in den Bereichen der Daseinsvorsorge (z.B Luftfahrt, Bahn, Krankenhäuser) die Allgemeinheit unverhältnismäßig belasten (vgl. NZA, Beilage 3/2010). Der BDA und der DGB haben einen gemeinsamen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit vorgelegt (abgedruckt bei Papier/Krönke in ZfA 2011, S. 814). Das am 22.5.2015 vom Bundestag verabschiedete Tarifeinheitsgesetz ist am 10.7.2015 in Kraft getreten. Durch den in das TVG eingefügten § 4a sollen künftig Tarifkollisionen vermieden werden. Mehrere Spartengewerkschaften haben gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde erhoben. Sind hingegen für ein und dasselbe Arbeitsverhältnis mehrere Tarifverträge einschlägig, weil beide Arbeitsvertragsparteien zugleich an mehrere Tarifverträge normativ (nicht etwa nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel) gebunden sind, liegt ein Fall der Tarifkonkurrenz vor, für den nach der Rechtsprechung des BAG der Grundsatz der Spezialität gilt (nicht etwa das Günstigkeitsprinzip, weil es sich hier um ranggleiche Normen handelt), wonach der dem Betrieb räumlich, betrieblich-fachlich und fachlich-persönlich nähere Tarifvertrag dem sachferneren vorgeht: Der Firmentarifvertrag dem Verbandstarifvertrag, der regionale Tarifvertrag dem bundesweit gültigen Tarifvertrag, der fachspezifische dem fachübergreifenden Tarifvertrag, der kraft Tarifgebundenheit geltende Tarifvertrag gegenüber dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. Lässt sich eine Spezialität nicht feststellen, gilt der Tarifvertrag, der die meisten Arbeitsverhältnisse im Betrieb erfasst. Eine besondere Regelung enthält § 8 II AEntG (nachfolgend unter V 2. c), wonach ein Tarifvertrag nach den §§ 4 bis 6 AEntG, der durch Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder durch Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG auf nicht an ihn gebundene ArbG und AN erstreckt wird, vom ArbG auch dann einzuhalten ist, wenn er nach § 3 TVG oder kraft Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG (nachfolgend unter IV.) an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. 4. Die Arbeitgeberverbände sind regelmäßig rechtsfähige Vereine und nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert. 5. Tarifvertragsparteien (= Koalitionen) sind nach § 2 I TVG auf der einen Seite die jeweils tarifzuständige Gewerkschaft und auf der anderen Seite der jeweils tarifzuständige ArbG-Verband (Verbandstarifvertrag) oder der einzelner ArbG (Firmentarifvertrag, Haustarifvertrag). Der einzelne ArbG ist schon deswegen tariffähig und tarifzuständig, damit er sich nicht durch Verzicht auf eine Mitgliedschaft im ArbG-Verband dem Tarifvertragssystem entziehen kann. Wenn er nach seiner Beschäftigtenzahl arbeitsmarktpolitische Bedeutung besitzt und ein nicht unbedeutender Teil seiner Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist, wird ihn die Ge- © Professor Dr. Hunscha 47 Dezember 2015 werkschaft an den Verhandlungstisch zwingen können, äußerstenfalls durch einen Streik. Manche ArbG schließen trotz ihrer Mitgliedschaft im ArbG-Verband einen Firmentarifvertrag ab, damit ihren spezifischen Belangen besser Rechnung getragen werden kann. Besteht neben dem Firmentarifvertrag ein Verbandstarifvertrag über denselben Regelungsgegenstand, geht ersterer vor. Manche ArbG-Verbände lassen auch solche ArbG Mitglieder werden, die durch die vom Verband abgeschlossenen Tarifverträge nicht gebunden sind, sog. OT-Mitglieder (= Mitglieder ohne Tarifbindung). Nach § 2 II TVG können Zusammenschlüsse von Gewerkschaften (Deutscher Gewerkschaftsbund DGB) und ArbG-Verbänden (Bundesverband Deutscher Arbeitgeberverbände Spitzenorganisationen im Namen der ihnen angeschlossenen Verbände Tarifverträge abschließen, wenn sie hierzu bevollmächtigt sind, werden ihrerseits aber nicht Tarifvertragspartei. 6. Die Regelung der Arbeitsverhältnisse erfolgt meist nicht in einem einzigen „Einheitstarifvertrag“, sondern durch mehrere, verschiedenen Gegenständen gewidmete Tarifverträge mit ein und derselben Gewerkschaft. Geläufig ist die Unterscheidung zwischen einerseits Mantel- oder Rahmentarifverträgen, die regelmäßig für einen längeren Zeitraum die allgemeinen Arbeitsbedingungen festlegen, wie z.B. Kündigungsfristen in den Fällen des § 622 IV BGB, Ausschluss- bzw. Verfallfristen für die Geltendmachung tariflicher Ansprüche, die Einstufung der AN in Entgeltgruppen, die Wochenarbeitszeit, Urlaubsregelungen, Voraussetzungen für die Anordnung von Überarbeit und Kurzarbeit etc. und andererseits Einzeltarifverträge, insbesondere Entgelttarifverträge, die regelmäßig eine kürzere Laufzeit aufweisen. 7. Nach § 1 II TVG bedarf der Tarifvertrag der Schriftform (§§ 126, 125 BGB). Keine Wirksamkeitserfordernisse sind hingegen seine Eintragung in das Tarifregister § 6 TVG) und seine Bekanntmachung in den Betrieben, für die er gilt (§ 8 TVG). Nach § 2 I Nr. 10 NachwG ist ein in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag in die Niederschrift der Vertragsbedingungen aufzunehmen. Der Tarifvertrag wird für einen bestimmten Zeitraum befristet abgeschlossen, wenn er nicht zuvor von einer der Vertragsparteien wirksam gekündigt oder von beiden Vertragsparteien einvernehmlich aufgehoben worden sein sollte. Um Regelungslücken zu verhindern, gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrages (normativer Teil des Tarifvertrags; siehe nachfolgend II. 1.) gemäß § 4 V TVG weiter, „bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden“ (Nachwirkung). Den nachwirkenden Rechtsnormen kommt jedoch keine zwingende Wirkung mehr zu. Sie können in der Zwischenzeit durch abweichende Abmachungen in Gestalt einer Betriebsvereinbarung (in den Grenzen des § 77 III BetrVG) oder einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung, die der ArbG auch im Wege der Änderungskündigung erreichen kann, ersetzt werden. II. Inhalt und Wirkungen des Tarifvertrages 1. Der Tarifvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag eigener Art, dessen Besonderheit vor allem darin liegt, nach § 1 I TVG nicht nur einen schuldrechtlichen, son- © Professor Dr. Hunscha 48 Dezember 2015 dern auch einen normativen Teil aufzuweisen. Er wird darum auch – genauso wie die Betriebsvereinbarung (unten § 6) – als „Normenvertrag“ bezeichnet. ► Im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages sind die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Arbeitgeberverband und Gewerkschaft oder ArbG und Gewerkschaft) geregelt. Jedem Tarifvertrag wesenseigen ist die Friedenspflicht, die es den Tarifvertragsparteien verbietet, während der Laufzeit des Tarifvertrages Kampfmaßnahmen gegen seinen Bestand durchzuführen oder zuzulassen. Sie ist ihrer Natur nach relativ, da sie sich nur auf solche Gegenstände bezieht, die durch den Tarifvertrag ausdrücklich oder sinngemäß geregelt sind. Eine während der Laufzeit des Tarifvertrages geltende absolute Friedenspflicht müsste im Tarifvertrag ausdrücklich vereinbart werden, wird in Deutschland aber nicht praktiziert. Jedem Tarifvertrag wesenseigen ist ferner die Durchführungspflicht, die es den Tarifvertragsparteien aufgibt, die tarifvertraglichen Absprachen zu erfüllen. Ist arbeitgeberseitig ein ArbG-Verband Tarifvertragspartei, trifft ihn die Verpflichtung, auf seine Mitglieder, nämlich die bei ihm organisierten ArbG, entsprechend einzuwirken. Die Tarifvertragsparteien können zusätzliche Vereinbarungen treffen, z.B. über ein Schlichtungsverfahren, ggf. verbunden mit einem bis zum Scheitern der Schlichtung befristeten Arbeitskampfverbot. Besondere Bedeutung kommt Vereinbarungen über Notdienst- und Erhaltungsarbeiten im Arbeitskampf zu. Jede Tarifvertragspartei kann die andere wegen einer Pflichtverletzung auf Erfüllung (Unterlassung des vertragswidrigen Verhaltens, Vornahme der vertraglich geschuldeten Handlung oder Einwirkung auf ihre Mitglieder, den Tarifvertrag zu beachten) in Anspruch nehmen. Bei verschuldeter Pflichtverletzung (für eigenes Verschulden der Tarifvertragspartei durch Handeln ihrer Organe und satzungsmäßigen Vertreter gemäß §§ 31, 276 BGB, für fremdes Verschulden durch Handeln ihrer Funktionäre gemäß § 278 BGB) kommt ein Anspruch der geschädigten Partei auf Schadensersatz nach § 280 I BGB in Betracht, ggf. eine fristlose Kündigung des Tarifvertrages aus wichtigem Grund (§ 314 BGB). Vgl. auch unten § 20 II. 2. ► Der normative Teil des Tarifvertrages enthält bestimmte Rechtsnormen, die wie ein Gesetz unmittelbar gelten, so dass die darin enthaltenen Regelungen auf das Arbeitsverhältnis ohne weiteres einwirken. Die tarifvertraglichen Rechtsnormen gelten darüber hinaus zwingend mit der Maßgabe, dass § 4 Abs. III TVG Abweichungen nur gestattet, wenn die Tarifvertragsparteien sie durch sog. Öffnungsklauseln ausdrücklich zulassen oder die Abweichung den AN günstiger stellt (unten § 7 II.). Individualnormen: Sie regeln die individuellen Arbeitsbedingungen betreffend „den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen“, vor allem Fragen der Arbeitszeit und des Arbeitsentgelts, und gelten darum nach § 4 I TVG „zwischen den beiderseits Tarifgebundenen“. Das sind nach § 3 I TVG auf der einen Seite die AN, die der vertragsschließenden Gewerkschaft angehören, und auf der anderen Seite die dem vertragsschließenden ArbG-Verband angehörenden ArbG oder der ArbG, der selbst Tarifvertragspartei ist. Kollektivnormen: Sie regeln „betriebliche Fragen“, die den Betrieb als ganzes betreffen, wie etwa die Einrichtung von Waschräumen und einer Betriebskantine, ferner seine innere Ordnung in Gestalt von Torkontrollen, technischen Überwachungseinrichtungen, Kleiderordnungen u.ä., sowie „betriebsverfassungsrechtliche Fragen“, z.B. auf der Grundlage der §§ 3, 38 I 5, 47 IV, 55 IV BetrVG oder in Gestalt der Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates. Sie gelten nach § 3 II TVG für all diejenigen Betriebe, bei © Professor Dr. Hunscha 49 Dezember 2015 denen wenigstens der ArbG tarifgebunden ist, weil sie zwangsläufig die ganze Belegschaft betreffen. 2. Der tarifgebundene ArbG ist seinen nicht tarifgebundenen AN gegenüber weder nach Tarifvertragsrecht noch auf Grund des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes zur Gewährung tarifvertraglicher Leistungen verpflichtet. Für das erste fehlt es an der notwendigen Beiderseitigkeit der Tarifbindung, im zweiten besteht für die Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund (oben § 3 III. 3.). In der Praxis stellt er jedoch regelmäßig alle seine AN freiwillig gleich, schon um die nicht Tarifgebundenen nicht in die Gewerkschaft zu treiben, vor allem aber aus organisatorischen Gründen, zumal ihm die Gewerkschaftszugehörigkeit seiner AN oft nicht bekannt ist und er durch Ungleichbehandlung seiner AN in der Belegschaft nicht Unfrieden stiften will. Hiergegen auf Veranlassung der Gewerkschaft gerichtete tarifvertragliche Differenzierungsklauseln gegen die als „Trittbrettfahrer“ missliebigen Außenseiter („Tarifliche Leistungen nur für organisierte AN“) scheitern regelmäßig an Art. 9 III 2 GG („negative Koalitionsfreiheit“) und überschreiten darüber hinaus die Grenzen der Tarifmacht der Tarifvertragsparteien. Aus der vom ArbG freiwillig herbeigeführten Erstreckung des für seinen Betrieb geltenden Tarifvertrages auf seine nicht tarifgebundenen AN kann für diese eine Betriebliche Übung entstehen. Normalerweise jedoch nimmt der tarifgebundene ArbG auf den im Betrieb für die beiderseits Tarifgebundenen bereits normativ geltenden Tarifvertrag schon in den Arbeitsverträgen seiner AN ausdrücklich Bezug, regelmäßig im Wege der dynamischen Verweisung auf den Tarifvertrag in seiner jeweils geltenden Fassung (sog. kleine dynamische Verweisung). In beiden Fällen wird der Regelungsgehalt des Tarifvertrages für die nicht tarifgebundenen AN allerdings nicht kraft §§ 3, 4 TVG, sondern nur durch arbeitsvertragliche (= schuldrechtliche) Vereinbarung Inhalt des Arbeitsvertrags. Seine Geltung kann deshalb durch eine (einverständliche) Änderung des Arbeitsvertrags oder im Wege der Änderungskündigung aufgehoben und durch eine andere Regelung ersetzt werden. 3. Ist der ArbG nicht tarifgebunden, weil er weder dem zuständigen ArbGVerband angehört, noch von der Gewerkschaft zum Abschluss eines Haustarifvertrag gezwungen wird, unterliegt er ferner nicht einem nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag (nachfolgend unter IV.), darüber hinaus im Bereich des AEntG auch nicht der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages, der nach § 3 AEntG die Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG erfüllt, oder einer Erstreckungsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG (nachfolgend unter V.) oder als Leih-ArbG der Verpflichtung, die Lohnuntergrenze des§ 3a AÜG einzuhalten (unten § 43 II. 2. a), ist er keinem seiner AN zur Gewährung tariflicher Leistungen verpflichtet. In diesem Fall schuldet er seinen AN aber auf jeden Fall die Zahlung des Mindestlohns nach dem MiLoG (nachfolgend unter VI.). Wendet der nicht tarifgebundene ArbG den Tarifvertrag, der für ihn gelten würde, wenn er tarifgebunden wäre, freiwillig gegenüber seinen AN an oder geht er noch darüber hinaus, dann zumeist aus Gründen des Wettbewerbs um qualifizierte Kräfte. Verwendet der ArbG dabei nicht eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf den Tarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung, sondern passt er die Löhne in jeweils freier Entscheidung an den jeweils neuen, für ihn mangels Tarifgebundenheit nicht verbindlichen Tarifvertrag an, entsteht keine Betriebliche Übung auf Übernahme des jeweils neuen Tarifvertrages; denn durch sein Fernbleiben vom ArbG-Verband hat der ArbG sich seine Entscheidungsfreiheit über die künftige Lohnentwicklung gerade erkennbar vorbehalten. Ist der neue Tarifvertrag für ihn zu teuer, darf er seine Übernahme unterlassen. © Professor Dr. Hunscha 50 Dezember 2015 III. Der Arbeitskampf als Instrument der Tarifautonomie 1. Die Kampfsituation Im Regelfall gelingt es den Sozialpartnern, sich im Verhandlungswege über den Inhalt eines Tarifvertrages zu einigen. Kommt eine Einigung nicht zustande, kann die Tarifautonomie nur noch auf die Weise verwirklicht werden, dass den Verhandelnden zum Zweck der Selbsthilfe das Recht auf Kampfmaßnahmen gewährt wird (Gamillscheg a.a.O. Bd. 1, S. 910 f.). Auf Seiten der Gewerkschaft handelt es sich um die Verweigerung der Arbeit im Wege des Streiks. Das kaum praktizierte Gegenstück auf der Arbeitgeberseite besteht in der Vorenthaltung von Beschäftigung und Lohn im Wege der Aussperrung. Unter der Voraussetzung eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses zwischen den kämpfenden Parteien (Kampfparität; dazu Näheres unten § 20), erzeugen die im Arbeitskampf der jeweils anderen Seite zugefügten Nachteile jenes Maß an wirtschaftlichem und sozialem Druck, der die Streitenden alsbald zu einem Kompromiss zwingt. Der Nachteil, den der bestreikte ArbG erleidet, besteht in der Hauptsache im Produktionsausfall und der damit verbundenen Gefahr, Marktanteile zu verlieren. Er muss den streikenden AN zwar keinen Lohn zahlen und ist auch von der Entlohnung der arbeitswilligen AN befreit, wenn deren Beschäftigung wegen des Streiks betrieblich-technisch nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist oder wenn der ArbG den Betrieb wegen des Streiks stillgelegt hat. Seine anderen fixen Kosten laufen indessen weiter. Der Nachteil, den die Gewerkschaft durch die Führung eines Streiks erleidet, besteht in ihrer finanziellen Belastung durch die Zahlung von Streikgeld an ihre streikenden Mitglieder. Nicht zu unterschätzen ist weiterhin der politische und soziale Druck, der ihr aus der Tatsache erwächst, dass sie den Arbeitskampf eröffnet hat. Sie wird deswegen vor allem von den nicht gewerkschaftlich organisierten AN, die durch den Streik beschäftigungslos geworden sind und nach § 160 III 1 Nr. 1 SGB III in dieser Situation auch nicht Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, als für ihre Einkommensverluste zumindest mitverantwortlich angesehen. Und auch die Gewerkschaftsmitglieder sind finanziell belastet, weil das Streikgeld, das sie erhalten, nur einen Teil des Arbeitslohnes beträgt.. Es ist eigentlich die Aufgabe des Gesetzgebers, die für den Arbeitskampf erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die rechtspolitische Brisanz dieses Bereichs hat ihn allerdings bisher davon abgehalten, tätig zu werden. Aus Art. 9 III GG folgt lediglich, dass der Arbeitskampf ein legitimes Mittel koalitionsgemäßer Betätigung ist. Einzelne Rechtsregeln sind ausschließlich im Rahmen gelegentlich durchgeführter Gerichtsverfahren als gesetzesvertretendes Richterrecht entstanden. Hier ein Überblick über einige wesentliche Erkenntnisse. Zu den Rechtsfolgen eines Streiks im Einzelnen siehe unten § 20. 2. Die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines Streiks Aus dem Zweck des Streiks, den Abschluss eines Tarifvertrages zu erzwingen, folgen die Voraussetzungen für die Zulässigkeit seines Einsatzes als ein Mittel des Arbeitskampfes auf Seiten der AN. ► Gewerkschaftliche Führung: Ein Streik ist nur dann rechtmäßig, wenn er von einer Gewerkschaft geführt wird; denn nur sie besitzt die zum Abschluss eines Tarifvertrages erforderliche Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit. Eine von AN ohne © Professor Dr. Hunscha 51 Dezember 2015 gewerkschaftliche Führung organisierte Arbeitsniederlegung ist als sog. wilder Streik rechtswidrig. Die Gewerkschaft kann den wilden Streik jedoch übernehmen. Dadurch wird er rückwirkend zu einem rechtmäßigen Streik, sofern er die weiteren Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllt. An dem Streik dürfen nicht nur die Mitglieder der Gewerkschaft, die zu dem Streik aufgerufen hat, teilnehmen, sondern auch Nichtmitglieder. ► Tariflich regelbares Ziel: Das Ziel des Streiks muss der Abschluss eines Tarifvertrags sein. Das setzt zugleich voraus, dass die von der Gewerkschaft erhobene Forderung in einem Tarifvertrag zulässigerweise geregelt werden kann. So darf die Forderung z.B. weder gegen das TVG noch gegen sonst zwingendes Recht verstoßen, etwa gegen das Günstigkeitsprinzip oder die Koalitionsfreiheit. Rechtswidrig ist ein politischer Streik, mit dem z.B. Forderungen an das Parlament, die Regierung oder ein Gericht erhoben werden. Richtigerweise muss auch ein Sympathiestreik rechtswidrig sein, weil mit ihm kein eigener Tarifvertrag erkämpft wird (a.A. neuerdings BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06 – in NZA 2007, 1055 ff.). Nach dem Urteil des LAG Hessen v. 9.9.2015 in ArbRAktuell 2015, 512 kann die Verhinderung des Eurowings-Konzepts der Lufthansa nicht Gegenstand eines Arbeitskampfes sein. Die Entscheidung, einen neuen Standort aufzubauen und dort Personal zu anderen Bedingungen zu beschäftigen, gehört zu dem nach Art. 12 I GG grundgesetzlich geschützten Kernbereich der unternehmerischen Freiheit. ► Ablauf der Friedenspflicht: Die tarifvertragliche Friedenspflicht (im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages; vorstehend unter II. 1.) verbietet während der Laufzeit eines Tarifvertrages einen Arbeitskampf über die durch den Tarifvertrag geregelten Angelegenheiten. Durch besondere tarifvertragliche Absprache (im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages) kann die Friedenspflicht bis zum Scheitern darin vorgesehener Schlichtungsverhandlungen verlängert werden (befristetes Kampfverbot). ► Verhältnismäßigkeit: Das zum Zweck des Abschlusses eines Tarifvertrages eingesetzte Mittel des Streiks ist hiernach ein geeignetes Instrument koalitionsgemäßer Betätigung, wenn es als letztes Mittel erforderlich geworden ist und von ihm in angemessener Weise Gebrauch gemacht wird. Die Erforderlichkeit ist Ausdruck des Ultima-ratio-Prinzips. Danach darf erst nach Ausschöpfung aller Verhandlungsmöglichkeiten zum Streik übergegangen werden. Nach der neueren Rechtsprechung soll dafür aber ausreichend sein, dass die Gewerkschaft nachweist, eine tarifvertraglich regelbare Forderung erhoben zu haben, über die bisher ergebnislos verhandelt worden ist. Ein Scheitern der Verhandlungen braucht nicht mehr ausdrücklich erklärt zu werden. Laufende Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite kann die Gewerkschaft nach ihrer freien Einschätzung durch einen Streik unterbrechen. Das gilt auch für einen kurzfristigen Warnstreik, mit dem der Arbeitgeberseite die Entschlossenheit der Gewerkschaft demonstriert werden soll, notfalls einen unbefristeten Arbeitskampf zu führen. Das satzungswidrige Unterlassen einer Urabstimmung vor Streikbeginn soll nach h.M. die Rechtswidrigkeit eines Streiks nicht begründen können, weil es sich dabei um eine interne Verbandsangelegenheit ohne Außenwirkung handelt. Es ist aber zu bedenken, dass die Urabstimmung als demokratischer Akt der verbandsinternen Willensbildung für die Legitimation gewerkschaftlicher Aktivität von entscheidender Bedeutung ist. Die Angemessenheit betrifft die Art und Weise der Kampfführung. Dem hieraus folgenden Gebot fairer Kampfführung widerspricht zum einen die verdeckte Leistungsbeschränkung in Gestalt des Bummelstreiks, weil der ArbG darauf nicht adäquat reagieren kann. Außerdem besteht für eine Maßnahme dieser Art angesichts des Arbeitkampfmittels der offenen Arbeitsnie- © Professor Dr. Hunscha 52 Dezember 2015 derlegung auch keine Notwendigkeit. Entgegen dem Urteil des BAG v. 22.9.2009 – 1 AZR 972/08 – in NZA 2009, 1347 muss das gleiche für Flashmob-Aktionen (= „BlitzpöbelAktionen“) gelten, bei denen gewerkschaftlich aufgerufene Teilnehmer z.B. ihre Einkaufswagen mit geringwertigen Waren befüllen und dann im Verkaufsraum stehen lassen, um den Betriebsablauf im Einzelhandel stören. Betriebsbesetzungen sind ein rechtswidriger Eingriff in Besitz- uns Eigentumsrechte des ArbG, ferner Betriebsblockaden, durch die der Zugang zum Betrieb nicht nur von Streikposten kontrolliert, sondern gesperrt wird. Ebenso sind Boykottaufrufe an Kunden des ArbG, dessen Leistungen nicht abzunehmen, unangemessen. Die Gewerkschaft hat dafür Sorge zu tragen, dass derlei unterbleibt und die Streikenden keine strafbaren Handlungen begehen. Exzesse Einzelner machen aber nicht den Arbeitskampf insgesamt rechtswidrig, sondern führen nur zu einer Schadensersatzpflicht des Täters, aber auch der streikführenden Gewerkschaft, wenn sie ihre Überwachungspflichten verletzt hat. Außerdem muss sie die erforderlichen Notdienst- und Erhaltungsarbeiten ermöglichen. Rechtmäßig sind nicht nur Flächenstreiks, die alle AN eines Tarifgebiets erfassen, sondern auch Schwerpunkt- oder Teilstreiks gegen ausgewählte Unternehmen, Betriebe oder Betriebsabteilungen; dies auch in Gestalt der sog. Wechselstreiks, bei denen die Gewerkschaft die betroffenen Unternehmen laufend austauscht, oder von kurzfristigen Wellenstreiks innerhalb eines Unternehmens. Zu den Rechtsfolgen eines rechtmäßigen und eines unrechtmäßigen Streiks siehe unten § 20. 3. Die Aussperrung der AN durch die Arbeitgeberseite Die Eröffnung des Arbeitskampfes durch die Arbeitgeberseite mittels einer Angriffsaussperrung der AN, um von der Gewerkschaft die Zustimmung zum Abbau tariflicher Leistungen zu erzwingen, kann zwar im Einzelfall zulässig sein, hat bisher jedoch in der Praxis keine Rolle gespielt. Der Arbeitskampf wird im Regelfall von der Arbeitnehmerseite eröffnet. Dann aber muss es dem ArbG möglich sein, hierauf ggf. mit einer Abwehraussperrung zu antworten, etwa um ein durch besondere Streiktaktiken, wie z.B. Teil- oder Schwerpunktstreiks gegen ausgewählte ArbG, herbeigeführtes Verhandlungsübergewicht der Gewerkschaft zum Zweck der Wiederherstellung der Kampfparität auszugleichen. IV. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages gemäß § 5 TVG 1. Mit Hilfe der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG wird ein von den Tarifvertragsparteien für einen bestimmten Zeitraum ausgehandelter Tarifvertrag auf ihr Betreiben im Einvernehmen mit einem von den Spitzenorganisationen der Sozialpartner paritätisch besetzten Tarifausschuss durch ministeriellen Erlass auf die im Geltungsbereich dieses Tarifvertrags befindlichen Außenseiter erstreckt, also auf die bisher nicht tarifgebundenen ArbG und AN (§ 5 IV TVG). Da der Vollzug der beantragten Allgemeinverbindlicherklärung der Stimmenmehrheit im Tarifausschuss bedarf, liegt das Schwergewicht der Entscheidung hier anders als bei der Geltungserstreckung tarifvertraglicher Normen durch Rechtsverordnung nach Maßgabe der §§ 7, 7a AEntG (nachfolgend V. 2.) bei den Sozialpartnern und nicht bei einer staatlichen Stelle (vgl. vorstehend unter I. 1.). 2. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung ist der Schutz des AN vor unangemessenen Arbeitsbedingungen in Kleinbetrieben, z.B. des Einzelhandels, des Handwerks und des Baugewerbes, deren Inhaber ebenso wie ihre AN im Regelfall keiner Koalition angehören und wegen ihrer geringen wirtschaftlichen Größe für © Professor Dr. Hunscha 53 Dezember 2015 eine Gewerkschaft auch nicht erreichbar sind. Mit der Allgemeinverbindlicherklärung werden zugleich die organisierten ArbG davor geschützt, dass nicht organisierte ArbG wegen niedrigerer Arbeitskosten ihre Leistungen am Markt preisgünstiger anbieten können. Sofern für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertragsnormen auf Arbeitsverhältnisse stoßen, die bereits einem kraft Tarifgebundenheit geltenden Tarifvertrag unterliegen (Tarifkonkurrenz), geht letzterer jenen vor (Grundsatz der Spezialität; siehe vorstehend unter I. 2. am Ende). In den Fällen der §§ 3 ff. AEntG ist jedoch § 8 AEntG zu beachten. 3. Nach § 5 I 1 TVG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN bestehenden Tarifausschuss (der sich also mit einer Mehrheit von mindestens vier Stimmen für die Allgemeinverbindlicherklärung ausgesprochen hat), auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären. Dazu muss der Sache nach feststehen, dass die Allgemeinverbindlichkeit im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Das ist regelmäßig der Fall, „wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt“. Nach § 5 II TVG ist „vor der Entscheidung über den Antrag Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von der Allgemeinverbindlichkeit betroffen werden würden, den am Ausgang des Verfahrens interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber sowie den obersten Arbeitsbehörden der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben.“ Statistisches: Von den rd. 70.000 gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind am 1. 4. 2015 502 allgemeinverbindlich (BMAS unter www.bmas.bund.de/Arbeitsrecht). Unter den Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG gilt gemäß § 3 AEntG die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG auch gegenüber einem ArbG mit Sitz im Ausland (nachfolgend unter V. 2.). Nach § 5 V 3 TVG endet die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages mit dessen Ablauf, doch gilt auch hier seine Nachwirkung. Für die beiderseits Tarifgebundenen beendet der Folgetarifvertrag die Nachwirkung (§ 4 V TVG). Für die Außenseiter bleibt es bei der Nachwirkung. V. Die Geltungserstreckung tarifvertraglicher Normen nach Maßgabe des AEntG 1. Zweck des AEntG von 1996 war es, zu verhindern, dass AN zu den am Auslandssitz ihres ArbG herrschenden und im Vergleich zu den deutschen Verhältnissen wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen in Deutschland eingesetzt werden und dadurch die Beschäftigungsmöglichkeiten inländischer Anbieter verschlechtern © Professor Dr. Hunscha 54 Dezember 2015 („Sozialdumping“). Darum sollten auch für ArbG mit Sitz im Ausland und ihre in Deutschland beschäftigte AN sowie die von ausländischen ArbG in Deutschland eingesetzten Leih-AN den deutschen Verhältnissen entsprechende Mindestarbeitsbedingungen gelten. Um dem Vorwurf zu begegnen, dass dieses Gesetz wegen Diskriminierung europäischer ArbG gegen die europarechtliche Dienstleistungsfreiheit der Art. 49 ff. EGV verstößt, wurde es im Nachhinein (1998) ausdrücklich auch auf ArbG mit Sitz im Inland (Deutschland) erstreckt. Diese Erweiterung trug zugleich der Tatsache Rechnung, dass in zunehmendem Maße nicht mehr nur die Entsendung von AN aus dem Ausland deutsche ArbG unter Wettbewerbsdruck und deutsche AN unter Lohndruck setzten, sondern auch die in Deutschland nachlassende Tarifbindung mit zunehmend untertariflichen Arbeitsbedingungen. Darum war es geboten, auch zugunsten inländischer AN die Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen unter staatlicher Mitwirkung zu erreichen (ErfK/Schlachter § 1 AEntG Rn. 1). Im Jahre 2009 trat eine (schwer verständliche) Neufassung des AEntG in Kraft, das jetzt „Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen“ heißt, aber immer noch Arbeitnehmer-Entsendegesetz genannt wird. 2. Nach § 3 AEntG finden die Rechtsnormen eines bundesweiten Tarifvertrages, der die Voraussetzungen der §§ 4 bis 6 AEntG erfüllt, sowohl auf Arbeitsverhältnisse zwischen inländischen Vertragsparteien, als auch auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem ArbG mit Sitz im Ausland (EU, aber auch Drittstaat) und seinen im Inland beschäftigten AN zwingend Anwendung, wenn dieser Tarifvertrag entweder nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt ist (vorstehend unter IV.) oder seine Rechtsnormen kraft Erstreckungsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG Anwendung finden Damit ist auf die eine oder die andere Weise die Möglichkeit geschaffen, für alle im Inland beschäftigten AN – einerlei, ob ihr ArbG im Ausland oder im Inland sitzt – branchenbezogen einen tarifvertraglichen Mindestlohn einzuführen. Nach § 8 AEntG sind die von dieser Regelung betroffenen ArbG verpflichtet, ihren AN „mindestens die in dem Tarifvertrag für den Beschäftigungsort vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen [§ 5 Nr. 1 und 2] zu gewähren sowie einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien die ihr nach § 5 Nr. 3 zustehenden Beiträge zu leisten.“ Für den Bereich der AN-Überlassung (Leiharbeit/Zeitarbeit) sieht § 3a AÜG in einem den Vorschriften des § 7 AEntG entsprechenden Verfahren die Bildung einer einheitlichen „Lohnuntergrenze“ für Verleihzeiten und verleihfreie Zeiten vor, wobei die Mindeststundenentgelte nach dem jeweiligen Beschäftigungsort „differenzieren“ können (unten § 41 II. 2.). Sind in der betreffenden Branche mehrere Tarifverträge zumindest teilweise betrieblich/fachlich anwendbar, kann der in § 1 AEntG beschriebene Gesetzeszweck nur erreicht werden, wenn ein Tarifvertrag nach den §§ 4 bis 6 AEntG, der durch Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder durch Erstreckungsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG auf nicht an ihn gebundene ArbG und AN erstreckt wird, die konkurrierenden Tarifverträge im Sinne des § 8 II AEntG überlagert. Um dadurch nicht die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie der anderen Sozialpartner zu verletzen, bestimmen die §§ 7 II, 7a II AEntG, dass „der Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung…im Rahmen einer Gesamtabwägung ergänzend zu © Professor Dr. Hunscha 55 Dezember 2015 den in § 1 genannten Gesetzeszielen die Repräsentativität der jeweiligen Tarifverträge zu berücksichtigen“ hat. Außerdem können andere Tarifverträge im nicht von § 5 Nr. 1 bis 3 AEntG erfassten Bereich zwingende Normen und im Bereich von § 5 Nr. 1 bis 3 AEntG günstigere Normen schaffen (ErfK/Schlachter § 7 AEntG Rn. 3). Im Gegensatz zur Regelung des § 5 V 3 TVG tritt die Rechtsverordnung nicht mit dem Ablauf des ihr zugrunde liegenden Tarifvertrags außer Kraft. Sie ist jedoch durch das BMAS aufzuheben, sobald der Tarifvertrag abgelaufen ist. 3. Zu beachten ist die Kettenhaftung beim Einsatz von Subunternehmern nach § 14 AEntG. Danach haftet ein Unternehmer (Generalunternehmer, vor allem im Bereich der Baubranche), der einen anderen Unternehmer (als Subunternehmer) mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, die eigentlich ihm obliegen, für die Verpflichtungen dieses Unternehmers, eines Nachunternehmers oder eines von dem Unternehmer oder einem Nachunternehmer beauftragten ANVerleihers zur Zahlung des Netto-Mindestentgelts an AN oder von Beiträgen an eine gemeinnützige Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 8 AEntG verschuldensunabhängig wie ein selbstschuldnerischer Bürge. Gegen dieses Risiko wird der Generalunternehmer sich durch die Vereinbarung von Informations-, Kontrollund Kündigungsrechten sowie Freistellungsregeln zu schützen versuchen, äußerstenfalls durch den Einbehalt von Entgeltbestandteilen oder durch eine Bankbürgschaft der Sub- oder Nachunternehmer (ErfK/Schlachter § 14 AEntG Rn.1). Kraft dieser Regelung trägt der Generalunternehmer auch das Insolvenzrisiko des von ihm beauftragten Subunternehmers und eventueller weiterer Unternehmer in der Auftragskette. Mehrere Auftraggeber haften dabei nach §§ 771, 426 BGB als Gesamtschuldner zu grundsätzlich gleichen Teilen. Der AN hat die Wahl, welchen Unternehmer er in Anspruch nimmt. 4. Nach § 23 Nr. 1 AEntG handelt der ArbG bußgeldbewehrt ordnungswidrig, wenn er eine der nach § 5 TVG oder im Wege der nach § 7 I oder § 7a I AEntG geltungserstreckten Arbeitsbedingungen nicht gewährt oder sonstige Verpflichtungen aus § 8 I 1 AEntG nicht einhält. 5. Zum Verhältnis des AEntG zum MiLoG siehe §§ 1 III, 24 I MiLoG (nachfolgend unter VI.). VI. Mindestlohn durch Rechtsverordnung nach dem MindestlohnG (MiLoG) 1. Nach §§ 1 I, II 1 MiLoG hat jeder AN gegen seinen ArbG ab dem 1.1.2015 Anspruch auf Zahlung einer Arbeitsvergütung in Höhe von mindestens brutto 8,50 € je Arbeitszeitstunde. Zur Vermeidung von Umgehungsmöglichkeiten schafft das MiLoG neue Regeln nicht nur für diejenigen AN, die lediglich den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Es wird nämlich überwiegend davon ausgegangen, dass der Anspruch auf den Mindestlohn eine untere Teilmenge eines jeden Vergütungsanspruchs bis zur Einkommensschwelle von 2.958 € brutto ist. Um den Bürokratieaufwand zu begrenzen, wird durch die ab dem 1.8.2015 geltende MindestdokumentationspflichtenVO diese Einkommensschwelle dahingehend ergänzt, dass die den ArbG belastende Aufzeichnungspflicht bereits dann entfällt, wenn das verstetigte regelmäßige Monatsentgelt mehr als 2.000 € brutto beträgt und jeweils für die letzten tatsächlich abgerechneten 12 Monate nachweislich gezahlt wurde. © Professor Dr. Hunscha 56 Dezember 2015 Weiterhin soll der Mindestlohn im Transitverkehr durch Deutschland, dessen Zahlung seit Februar 2015 ausgesetzt ist, zusammen mit der EU-Kommission geklärt werden. Da der Mindestlohn die Vergütung der vom AN monatlich zu erbringenden „Normalleistung“ betrifft, dürften Zahlungen, die nicht in diesem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, auf den Mindestlohn nicht anrechenbar sein. Dazu gehören vom ArbG zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt geleistete Sonderzahlungen, wie z.B. das Weihnachts- und Urlaubsgeld (vgl. oben § 4 II. 3. d)). In der Praxis finden sich allerdings zunehmend arbeitsvertragliche Bestimmungen, nach denen diese Vergütungen zusammen mit einem „Grundgehalt“ in monatlichen Beträgen als zusätzliches Entgelt für geleistete Dienste unter Anrechnung auf den Mindestlohn ausgezahlt werden. Eine höchstrichterliche Klärung steht noch aus. 2. Wie im Fall des § 23 Nr. 1 AEntG, ist die Nichtzahlung des Mindestlohns nach §§ 20, 21 I MiLoG eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit. ArbG, die ihren AN vor Inkrafttreten des MiLoG weniger als den Mindestlohn gezahlt haben, müssen zum 1.1.2015 eine Angleichung der Arbeitsverträge vornehmen. 3. Von der Geltung des MiLoG ausgenommen sind nach § 22 I 2 MiLoG bestimmte Praktika, nach § 22 II MiLoG Personen unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung, nach § 22 III MiLoG Auszubildende und ehrenamtlich Tätige und nach § 22 IV MiLoG Langzeitarbeitslose i.S.d. § 18 I SGB III in den ersten 6 Monaten ihrer Beschäftigung Nach § 24 I MiLoG bleiben tarifgestützte Mindestarbeitsentgelte nach dem AEntG (vorstehend unter V.) oder nach dem AÜG (unten § 43…), die den Mindestlohn nach dem MiLoG unterschreiten, für eine Übergangszeit bis zum 31.12.2016 bestehen. Übergangszeiten für Zeitungszusteller enthält § 24 II MiLoG. 4. Mit Wirkung vom 1.1.2015 sind nach § 3 S. 1 MiLoG „Vereinbarungen, die (den) Anspruch auf den Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen,…insoweit unwirksam.“ Das gilt nicht nur für arbeitsvertragliche Vereinbarungen, sondern auch für mindestlohnwidrige Tarifabreden. An die Stelle einer hiernach unwirksamen Vergütungsvereinbarung tritt nun aber nicht der Mindestlohn, sondern die Vergütungsregelung des § 612 II BGB, die den AN u.U. besserstellt. Nach ihr ist nämlich „die (orts)übliche Vergütung als vereinbart anzusehen“, wenn „die Höhe der Vergütung nicht bestimmt“ ist. Üblich ist eine Vergütung, die in dem betreffenden Wirtschaftsgebiet für eine vergleichbare Tätigkeit in dem betreffenden Wirtschaftszweig überwiegend gezahlt wird, häufig auf der Grundlage eines räumlich und fachlich einschlägigen Tarifvertrags. Nur wenn das ortsübliche Entgelt den Mindestlohn unterschreiten sollte, ist der Mindestlohn des MiLoG maßgebend. Die Anwendung des § 138 BGB zur Feststellung der Nichtigkeit einer Vergütungsabrede, die einen mehr als 1/3 unter dem ortsüblichen Lohnniveau des betreffenden Wirtschaftszweiges liegenden Arbeitslohn enthält, wird durch § 3 MiLoG weitgehend verdrängt. Anwendbar ist § 138 BGB noch in den Fällen, in denen z.B. der vom ArbG gezahlte Lohn von 9 € die Grenze zur Sittenwidrigkeit unterschreitet, weil der in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlte Lohn bei 14 € liegt. Dann verstößt der ArbG zwar nicht gegen § 3 MiLoG, doch sind Arbeitslöhne, die unter 9,33 € liegen, sittenwidrig und entsprechende Abreden nach § 138 BGB nichtig. Der AN kann darum nach § 612 II BGB die ortsübliche Vergütung von 14 € verlangen (Bayreuther in NZA 2014, 865 ff. unter III. 2.). 5. Für die nach § 8 I Nr. 1 SGB IV geringfügig Beschäftigten liegt der zulässige Entgelthöchstsatz bei monatlich 450 €. Wird er als Festbetrag gezahlt, ohne dass © Professor Dr. Hunscha 57 Dezember 2015 ein Stundensatz oder eine konkrete Arbeitszeit vereinbart worden ist, sind vom AN unter Beachtung des Mindeststundenlohnes von 8,50 € monatlich höchstens 52,9 Arbeitsstunden geschuldet, also 52 Stunden und 54 Minuten. Der ArbG ist dann nach § 17 I MiLoG verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen und die Dokumentation für eine mögliche Kontrolle innerhalb der nächsten zwei Jahre aufzubewahren. 6. Von besonderer Bedeutung ist § 13 MiLoG, wonach § 14 AEntG (vorstehend V. 3) entsprechende Anwendung findet. Danach haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit eigentlich ihm obliegenden Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, für die Verpflichtung dieses Unternehmers, eines beauftragten Nachunternehmers oder beauftragten AN-Verleihers verschuldensunabhängig wie ein selbstschuldnerischer Bürge zur Zahlung des Netto-Mindestlohns oder der Differenz dazu an die AN. Er soll sich eben seinen eigenen Verpflichtungen aus dem MiLoG nicht dadurch entziehen können, dass er eine Werk- oder Dienstleistung nicht selbst erbringt, sondern durch andere Unternehmer, die er nicht weiter kontrolliert (ErfK/Franzen § 13 MiLoG Rn.2). 7. Über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns befindet die Mindestlohnkommission nach §§ 4 ff. MiLoG. Sie wird alle fünf Jahre neu berufen. Sie besteht aus einem Vorsitzenden und je drei Mitgliedern, die auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN aus Kreisen der Vereinigungen von ArbG und Gewerkschaften von der Bundesregierung berufen werden. Der Vorsitzende wird auf gemeinsamen Vorschlag der Spitzenorganisationen der ArbG und der AN berufen. Auf deren Vorschlag beruft die Bundesregierung ferner je ein beratendes Mitglied aus Kreisen der Wissenschaft. Die Bundesregierung kann die von der Mindestlohnkommission vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung ohne Mitwirkung des Bundesrate für alle ArbG und AN verbindlich machen. Eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns ist nach § 9 I MiLoG erstmals zum 1.1.2017 möglich und danach alle zwei Jahre. Nach § 23 MiLoG ist das Mindestlohngesetz im Jahre 2020 zu evaluieren. Für die Kontrolle und Durchsetzung des Mindestlohns sind die Behörden der Zollverwaltung zuständig. © Professor Dr. Hunscha 58 Dezember 2015 § 6 Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates und die Betriebsvereinbarung als kollektivvertraglicher Gestaltungsfaktor des Arbeitsverhältnisses I. Die Wahl des Betriebsrates In einem Betrieb kann ein Betriebsrat gewählt werden, wenn die Belegschaft es für geboten hält, ein Gremium zu schaffen, dessen Aufgabe es ist, ihren spezifischen Interessen gegenüber dem ArbG im Wege betrieblicher „Mitwirkung und Mitbestimmung“ (Zwischenüberschrift vor § 74 BetrVG) nach Maßgabe des BetrVG Geltung zu verschaffen. Die Befugnis des ArbG, die betrieblichen Verhältnisse nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und durch Ausübung seines Weisungsrechts die Arbeitsbedingungen näher zu bestimmen, wird dadurch in nicht unerheblichem Umfang eingeschränkt. Bei allen Entscheidungen, die der ArbG nach Individualarbeitsrecht in zulässiger Weise treffen darf, ist im Fall eines mitbestimmten Betriebes daher stets zu prüfen, ob und auf welche Weise der Betriebsrat daran beteiligt werden muss und welche Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung der Regeln des Betriebsverfassungsrechts drohen. Für die betriebliche Praxis von besonderem Gewicht sind die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in den sozialen Angelegenheiten des § 87 BetrVG, in den personellen Einzelmaßnahmen der §§ 99 und 102 BetrVG sowie bei Betriebsänderungen nach §§ 111 ff. BetrVG. Es ist davon auszugehen, dass etwa 10 % aller betriebsratsfähigen Betriebe einen Betriebsrat haben. Je größer der Betrieb ist, umso eher verfügt er über einen Betriebsrat. Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten sind zu etwa 86 % mitbestimmt (vgl. v. Hoyningen-Huene a.a.O. § 6 Rn. 2). Der Begriff des Betriebs ist im BetrVG nicht definiert. So wie im Fall des § 23 KSchG (dazu unten § 30 I.) ist es auch hier geboten, auf die Funktion abzustellen, die dem Betrieb an dieser Stelle zukommt. Hiernach ist Betrieb im Sinne des BetrVG eine Organisationseinheit, die über einen Leitungsapparat verfügt, der die mitbestimmungsrelevanten Entscheidungen vor allem in personellen und sozialen Angelegenheiten trifft; denn das ist der Ort, an dem Mitbestimmung ausgeübt werden soll (Junker a.a.O. Rn. 657). Unter den Voraussetzungen des § 4 BetrVG können auch Betriebsteile einen selbständigen Betrieb bilden. Ein Unternehmen besteht mindestens aus einem, ggf. aus mehreren Betrieben im Sinne des BetrVG. Bestehen in einem Unternehmen mehrere Betriebsräte, so ist nach § 47 BetrVG ein Gesamtbetriebsrat zu errichten. Für einen Konzern nach § 18 I AktG kann gemäß § 54 BetrVG ein Konzernbetriebsrat errichtet werden. Gemäß § 1 I BetrVG wird in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen und nach § 7 BetrVG wahlberechtigten AN, von denen drei nach § 8 BetrVG wählbar sein müssen, nach § 17 II, III BetrVG in einer Betriebsversammlung von der Mehrheit der anwesenden AN ein Wahlvorstand gewählt, der nach § 18 BetrVG die Wahl eines Betriebsrates vorbereitet und durchführt. Kommt keine Betriebsversammlung zustande oder wählt die Betriebsversammlung keinen Wahlvorstand, so bestellt ihn nach § 17 IV BetrVG das Arbeitsgericht auf Antrag von mindestens 3 wählbaren AN oder einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft. Geht die Belegschaft jedoch nicht zur Wahlurne, kommt es nicht zur Bildung eines Betriebsrats. Andererseits hat der ArbG aber auch keine Handhabe, die Wahl eines Betriebsrats zu verhindern. Nach § 20 I BetrVG darf niemand die Wahl eines Betriebsrats behindern. Außerdem genießen die Mitglieder des Wahlvorstands vom Zeitpunkt ihrer Bestellung an und die Wahlbewerber vom Zeitpunkt der Aufstellung des Wahlvorschlags an nach § 15 III KSchG Kündigungsschutz. Das gleiche gilt nach § 15 IIIa KSchG für AN, die zu einer Betriebsoder Wahlversammlung einladen oder die Bestellung eines Wahlvorstandes beantragen. Nach § 20 I BetrVG kann auch der AN, der im Vorfeld für ein bestimmtes Wahlprogramm wirbt, deswegen nicht gekündigt werden. © Professor Dr. Hunscha 59 Dezember 2015 Die Kosten der Wahl trägt nach § 20 III BetrVG der ArbG ebenso, wie er nach § 40 BetrVG die durch die Tätigkeit des Betriebsrates entstehenden Kosten zu tragen hat, soweit sie im Zeitpunkt ihrer Verursachung für erforderlich gehalten werden durften. Eine Beteiligung der AN an diesen Kosten ist nach § 41 BetrVG unzulässig. Erhebungen für das Jahr 2004 lassen erkennen, dass sich die durchschnittlichen Gesamtkosten, die dem ArbG aus der Einrichtung eines Betriebsrats erwachsen, einschließlich der Entgeltfortzahlung für von ihrer Arbeitsverpflichtung freigestellte Mitglieder des Betriebsrates und für die AN, die zur Betriebsversammlung gehen oder die Sprechstunde des Betriebsrates besuchen (§§ 37 ff., 44 BetrVG), einschließlich ferner der Kosten der Einigungsstelle (§ 76a BetrVG) und des Aufwandes von ArbG und Management, auf rund 650 Euro pro Jahr und AN belaufen (Hoyningen-Huene a.a.O. § 9 Rn. 32). Sie dürften jetzt deutlich darüber hinausgehen. Ein Verstoß gegen das Verbot der Wahlbehinderung oder Wahlbeeinflussung kann zur Wahlanfechtung nach § 19 BetrVG, zu einer Bestrafung nach § 119 BetrVG, zur Nichtigkeit diesbezüglicher rechtsgeschäftlicher Maßnahmen nach § 134 BGB und zu Schadensersatzansprüchen des Benachteiligten nach § 823 II BGB i.V.m. § 20 BetrVG führen. II. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats 1. Das Verhältnis der Betriebsrats zum Arbeitgeber Der Betriebsrat ist keine Einrichtung der Gewerkschaft, sondern ein von den AN des Betriebs aus ihrer Mitte gewähltes Vertretungsorgan zur Wahrnehmung der ihnen vom BetrVG eingeräumten Rechte, sich an den betrieblichen Entscheidungen des ArbG zu beteiligen. Der Betriebsrat ist auch nicht der soziale Gegenspieler des ArbG. Vielmehr sollen ArbG und Betriebsrat nach § 2 I BetrVG „unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammenarbeiten.“ Diese Aussage findet ergänzende Bestätigung in § 74 BetrVG, wonach ArbG und Betriebsrat verpflichtet sind, „über strittige Fragen mit dem ersten Willen zur Einigung zu verhandeln und Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu machen“, wonach Arbeitskämpfe zwischen ihnen unzulässig sind und sie „jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen“ haben. ArbG und Betriebsrat werden darum gemeinhin als „Betriebsparteien“ oder „Betriebspartner“ bezeichnet. 2. Bereiche und Mittel der Beteiligung des Betriebsrats im Überblick Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats erstrecken sich schwerpunktmäßig auf die im Vierten Teil des BetrVG (§§ 74 bis 113) behandelten Bereiche. Nach einer Beschreibung der allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates in § 80 BetrVG und seiner Befugnisse im Rahmen des Mitwirkungs- und Beschwerderechts der AN nach Maßgabe der §§ 81 bis 86a BetrVG, geht es über die Beteiligung des Betriebsrates an sozialen Angelegenheiten nach §§ 87 ff. BetrVG, an der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung nach §§ 90, 91 BetrVG sowie an personellen Angelegenheiten nach § 92 ff., 96 ff. und 99 ff. BetrVG bis zu seiner Beteiligung an wirtschaftlichen Angelegenheiten nach §§ 106 ff. BetrVG. In diesen Bereichen sind Beteiligungsrechte des Betriebsrates von unterschiedlicher Stärke angesiedelt. Grundlegend für ihre Ausübung ist das Informationsrecht des Betriebsrats, vom ArbG über das Betriebsgeschehen rechtzeitig und um- © Professor Dr. Hunscha 60 Dezember 2015 fassend unterrichtet zu werden. Beispielhaft ist auf § 80 II BetrVG hinzuweisen. Auch an vielen anderen Stellen des BetrVG werden die „Unterrichtungsrechte“ des Betriebsrats bzw. die „Unterrichtungspflichten“ des ArbG hervorgehoben. Wo dies nicht ausdrücklich geschehen ist, folgt das Informationsrecht des Betriebsrats aus der Natur der Sache. Eine Vielzahl der Informationsrechte des Betriebsrats lässt die Entscheidungskompetenz des ArbG unberührt. Häufig sind sie jedoch zugleich mit mehr oder weniger starken Möglichkeiten der Einflussnahme auf die betrieblichen Entscheidungen des ArbG verbunden. Nach dem Sprachgebrauch des BetrVG geht es dabei um die Mitwirkungsrechte des Betriebsrats (nachfolgend unter 3.) bis hin zu den Fällen der echten, eigentlichen Mitbestimmung, bei denen der Betriebsrat beim Ausbleiben einer Einigung mit dem ArbG die Möglichkeit besitzt, seinen Regelungsvorschlag auch gegen den Willen des ArbG über eine Entscheidung der Einigungsstelle durchzusetzen (nachfolgend unter 4.). In einigen Fällen hängen die Beteiligungsrechte des Betriebsrats von der Größe der Belegschaft ab. Die Anwendung der §§ 99 und 111 BetrVG erfordert mehr als 20 „wahlberechtigte“ AN, die Anwendung des § 106 I BetrVG mehr als 100 „ständig beschäftigte“ AN und die Anwendung des § 95 II BetrVG einfach mehr als 500 AN. 3. Beteiligung des Betriebsrats durch Mitwirkungsrechte Hierher gehören zunächst einmal die Fälle der Vorschlags- und Beratungsrechte des Betriebsrats vor allem des § 90 BetrVG (Planung von Bauten, technischen Anlagen, Arbeitsverfahren u. -abläufen sowie Arbeitsplätzen), des § 92 BetrVG (Personalplanung) des § 92a BetrVG (Beschäftigungssicherung), des § 96 BetrVG (Förderung der Berufsbildung) und § 97 I BetrVG (Einrichtungen der Berufsbildung). Von besonderer Bedeutung ist das Beratungsrecht des Betriebsrats bei geplanten Betriebsänderungen nach § 111 BetrVG, das sich mit dem Konsultationsverfahren des § 17 II KSchG berührt (unten § 36 II.) sowie das Beratungsrecht des Wirtschaftsausschusses in wirtschaftlichen Angelegenheiten nach § 106 I 2 BetrVG. Zu den starken Mitwirkungsrechten zählt das Recht des Betriebsrats auf Anhörung über die vom ArbG beabsichtigte Kündigung eines AN. Unterlässt der ArbG die nach § 102 I BetrVG vor jeder Kündigung erforderliche Anhörung des Betriebsrates, ist die Kündigung ohne weiteres unwirksam (unten § 28 IV. 3.). Von großer Bedeutung ist das Widerspruchsrecht des Betriebsrates gegen die ordentliche Kündigung des AN nach § 102 III BetrVG. Wenn der ArbG den Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung angehört hatte, verhindert hierbei ein gegen die Kündigung gerichteter Widerspruch des Betriebsrats zwar nicht die Kündigung, doch kann er unter den Voraussetzungen des § 102 V BetrVG die Weiterbeschäftigung des AN über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bewirken (unten § 38 II.). Noch stärker ist das Mitwirkungsrecht des Betriebsrates, (1) in den Fällen des § 99 II BetrVG, die Zustimmung zu personellen Einzelmaßnahmen des ArbG (Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung eines AN) aus bestimmten Gründen verweigern zu können, (2) im Fall des § 103 BetrVG die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eines Mitglieds des Betriebsrates zu © Professor Dr. Hunscha 61 Dezember 2015 verweigern sowie (3) im Fall des § 104 BetrVG, wonach der Betriebsrat ggf. durch arbeitsgerichtliche Einscheidung vom ArbG die Entfernung betriebsstörender AN verlangen kann. In diesen Fällen hat auf Antrag des ArbG das Arbeitsgericht das letzte Wort. 4. Beteiligung des Betriebsrats durch erzwingbare Mitbestimmung a) Der Begriff der erzwingbaren Mitbestimmung Eine echte, erzwingbare Mitbestimmung des Betriebsrats besteht in den Fällen, in denen die Regelung einer betriebliche Angelegenheit eine Einigung zwischen ArbG und Betriebsrat erfordert, bei deren Ausbleiben jede Seite die nach § 76 BetrVG gebildete Einigungsstelle anrufen kann. Ihr Spruch ersetzt die Einigung zwischen ArbG und Betriebsrat und kann zu einer Regelung gegen den Willen des ArbG, aber auch gegen den Willen des Betriebsrats führen. Die vor der Einigungsstelle geführte Auseinandersetzung zwischen dem ArbG und dem Betriebsrat über die inhaltliche Ausgestaltung einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit wird als Regelungsstreit bezeichnet. Der Spruch der Einigungsstelle ergeht „unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebes und der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen“ (§ 76 V 3 BetrVG). Er unterliegt nur insoweit der Nachprüfung durch das Arbeitsgericht, als die Einigungsstelle die Grenzen ihres Ermessens überschritten hat (§ 76 V 4 BetrVG). Ist zwischen den Betriebsparteien hingegen strittig, ob und in welchem Umfang dem Betriebsrat ein Beteiligungsrecht nach dem BetrVG überhaupt zusteht, handelt es sich nicht um einen Regelungsstreit, sondern um einen um einen Rechtsstreit, der von vornherein vor dem Arbeitsgericht im Beschlussverfahren zu entscheiden ist (unten § 8 II.1.). b) Die wichtigsten Fälle im Überblick Die wichtigsten Fälle der erzwingbaren Mitbestimmung sind die im Katalog des § 87 I BetrVG aufgeführten 13 Bereiche sozialer Angelegenheiten, ferner das Regelungsgebiet des § 94 BetrVG betreffend Personalfragebögen und Beurteilungsgrundsätze, § 95 BetrVG betreffend Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen sowie § 112 BetrVG betreffend den Sozialplan. Es geht dabei um die allgemeine Regelung kollektiver Tatbestände. Gelegentlich kann es aber auch zur Regelung eines Einzelfalls kommen, wie etwa in § 87 I Nr. 5 bezüglich der „Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer“ und Nr. 9 BetrVG bezüglich der Zuweisung und Kündigung einer Werkswohnung. Alle Fälle der erzwingbaren Mitbestimmung sind daran zu erkennen, dass sie bezüglich der Entscheidung der Einigungsstelle stets die gleiche Formulierung enthalten: „Kommt eine Einigung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.“ Siehe die entsprechenden Passagen der vorstehend benannten §§ 87 II, 94 I 2/3, 95 I 2/3, 95 II 2/3 und 112 IV BetrVG. c) Das Initiativrecht des Betriebsrats Die erzwingbare Mitbestimmung erfasst betriebliche Entscheidungen, die auf einer Initiative des ArbG beruhen. Damit der ArbG dem Betriebsrat die Mitbestim- © Professor Dr. Hunscha 62 Dezember 2015 mungsmöglichkeit nun aber nicht dadurch nehmen kann, dass er keinen Regelungsvorschlag macht, sehen einige Vorschriften ausdrücklich auch ein Initiativrecht des Betriebsrats vor; so z.B. § 95 II 1 BetrVG. Darüber hinaus kann das Initiativrecht des Betriebsrats sich auch aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung ergeben, wie dies für eine Reihe von Mitbestimmungstatbeständen in sozialen Angelegenheiten des § 87 I BetrVG angenommen wird. Im Übrigen dürfte ein umfassendes Initiativrecht des Betriebsrats im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung aus § 76 V 1 BetrVG folgen. d) Die Betriebsvereinbarung als Mittel der erzwingbaren Mitbestimmung In den Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung kommt es wegen des Bedürfnisses nach einer dauerhaften und im Betrieb normativ geltenden Regelung üblicherweise zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung. Sie beruht entweder auf einer Vereinbarung der Betriebspartner oder auf einem Spruch der Einigungsstelle. Die Betriebsvereinbarung ist das zum Tarifvertrag parallele Instrument auf der Ebene des Betriebes. Zum einen begründet sie Rechte und Pflichten im Verhältnis der Betriebspartner zueinander, wobei es nach § 77 I BetrVG grundsätzlich Aufgabe des ArbG ist, die Betriebsvereinbarung durchzuführen. Zum anderen kommt der Betriebsvereinbarung nach § 77 IV BetrVG ähnlich dem Tarifvertrag normative Wirkung zu, insoweit ihre Regelungen im Betrieb „unmittelbar und zwingend“ gelten, so dass der ArbG sie nicht erst mit arbeitsvertraglichen Mitteln in die einzelnen Arbeitsverhältnisse umsetzen muss. Man bezeichnet die Betriebsvereinbarung dar „Normenvertrag“ und ihre Regelungen als Individualnormen oder Kollektivnormen. Die Betriebsvereinbarung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform des § 126 BGB. Die Verpflichtung des ArbG, sie an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung. Nach § 2 I Nr. 10 NachwG ist ein in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf die auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Betriebsvereinbarungen in die Niederschrift der Vertragsbedingungen aufzunehmen. Neben der stets formbedürftigen Betriebsvereinbarung kennt die Praxis auch die formlose und damit schon mündlich gültige Einigung über zumeist einmalige Vorgänge, wie etwa die Verlegung der Arbeitszeit wegen eines Fußballspiels. Man spricht gemeinhin von einer Regelungsabrede. Sie besitzt keine normative Wirkung, sondern begründet ausschließlich schuldrechtliche Ansprüche zwischen ArbG und Betriebsrat auf Einhaltung der getroffenen Vereinbarung. e) Die Regelungssperre des Einleitungssatzes des § 87 I BetrVG Für den Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung ist die Regelungssperre durch den im Einleitungssatz des § 87 I BetrVG ausgesprochenen Gesetzes- und Tarifvorrang zu beachten. Danach hat der Betriebsrat (in sozialen Angelegenheiten, ebenso aber auch in den anderen Bereichen der erzwingbaren Mitbestimmung!) nur insoweit mitzubestimmen, wie „eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht“. Eine tarifliche Regelung steht dem Mitbestimmungsrecht dann entgegen, wenn sie für den Betrieb infolge Tarifgebundenheit des ArbG gilt (unten § 7 II. 1. a). In diesem Fall ist dann aber auch eine freiwillige Betriebsvereinbarung über eine an sich mitbestimmungspflichtige Angelegenheit unwirksam. © Professor Dr. Hunscha 63 Dezember 2015 Enthält der Tarifvertrag allerdings eine Öffnungsklausel für „ergänzende“ Betriebsvereinbarungen, ist der Tarifvorrang insoweit entfallen. Das sagt zwar der Einleitungssatz des § 87 I BetrVG nicht so ausdrücklich wie § 77 III 2 BetrVG (nachfolgend unter IV.), ist aber folgerichtig und kann auch aus § 4 III TVG hergeleitet werden. Die Regelungssperre des § 77 III 1 BetrVG gilt nicht für den Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung (unten § 7 II. 1. a). III. Einzelheiten zur Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten nach § 87 I BetrVG Die erzwingbare Mitbestimmung im Bereich der sozialen Angelegenheiten betrifft nach § 87 I BetrVG im Wesentlichen kollektive Tatbestände durch allgemeine Regelungen. Es kann zwischen den aufgeführten Bereichen zu Überschneidungen kommen. Die Aufzählung ist abschließend. Nr. 1: Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der AN im Betrieb. Das Mitbestimmungsrecht erfasst die Gestaltung des Zusammenlebens der AN im Betrieb. Es geht z.B. um die Regelung von Alkohol- und Rauchverboten im Betrieb, des Gebrauchs von Stechuhren und biometrischen Zugangskontrollen, von Anwesenheitskontrollen, von Tor- und Taschenkontrollen, der Belegung von Parkplätzen, von Fragen der Arbeitskleidung, des Tragen von Namensschildern, ferner um die Einführung von Ethik-Richtlinien (unten § 9 II. 2. b) und die Schaffung einer Betriebsbußenordnung. Nr. 2: Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage, Pausen. Es geht nicht um die Arbeitszeit als Maßstab für die geschuldete Arbeitsleistung, sondern um die Lage der täglichen Arbeitszeit und die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage, ferner um die Aufstellung von Dienstplänen, die Einrichtung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst (unten § 15 I 3. b), die Regelung von Schichtarbeit, Gleitzeit und variabler Arbeitszeit (unten § 12 III. und § 15 IV.) sowie die Regelung von Arbeitszeitkonten. Nr. 3: Vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit. Hierher gehört vor allem die Einführung von Kurzarbeit oder Überstunden (unten § 15 III.) Nr. 4: Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Arbeitsentgelte. Nr. 5: Ausstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans sowie die Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne AN, wenn zwischen dem ArbG und den beteiligten AN kein Einverständnis erzielt wird. © Professor Dr. Hunscha 64 Dezember 2015 Diese Vorschrift erfasst jede Form des Urlaubs, auch den Bildungs- und Sonderurlaub sowie jede bezahlte oder unbezahlte Freistellung von der Arbeit. Die allgemeinen Urlaubsgrundsätze betreffen auch die Einführung von Betriebsferien. Nr. 6: Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der AN zu überwachen. Die erzwingbare Mitbestimmung auf diesem Gebiet soll den AN davor schützen, durch den Einsatz anonymer Kontrolleinrichtungen in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt zu werden. Aus diesem Grund wird diese Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus auch auf technische Einrichtungen erstreckt, die zur Überwachung objektiv und unmittelbar nur geeignet sind. Es geht z.B. um Videoanlagen, Fernsehmonitore, elektronische Zeiterfassungsgeräte, Produktographen zur Messung der Produktivität am Arbeitsplatz, gesetzlich nicht vorgeschriebene Fahrtenschreiber, Telefonanlagen sowie Datenverarbeitungsanlagen einschließlich Bildschirmgeräten mit Überwachungsmöglichkeit, biometrische Zugangskontrollen, Fotokopiergeräte mit persönlicher Code-Nummer des Benutzers, Personalinformationssysteme zur Erarbeitung AN-bezogener Aussagen. Nr. 7: Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften. Das Mitbestimmungsrecht betrifft die Maßnahmen des ArbG zur Konkretisierung einer Rahmenvorschrift zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Gesundheitsschäden. Nr. 8: Form, Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen, deren Wirkungsbereich auf den Betrieb, das Unternehmen oder den Konzern beschränkt ist. Zu diesen Einrichtungen zählen z.B. Werkskantinen, Erholungseinrichtungen, Sportanlagen, Werksbüchereien, Kindergärten, Ferienheime und Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung wie Pensions- und Unterstützungskassen sowie Pensionsfonds. Die Schaffung dieser Einrichtungen kann durch den Betriebsrat nicht erzwungen werden. Dies ist allein Sache des ArbG. Nr. 9: Zuweisung und Kündigung von Wohnräumen, die den AN mit Rücksicht auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses vermietet werden, sowie die allgemeine Festlegung der Nutzungsbedingungen. Nr. 10: Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere der Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung. (1) Es geht hierbei nicht unmittelbar um die Lohnhöhe, mittelbar im Ergebnis jedoch schon. (2) Die Mitbestimmung bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung ist der Oberbegriff. Sie bezieht sich auf die für den Betrieb allgemein festgelegten Vergü- © Professor Dr. Hunscha 65 Dezember 2015 tungsregelungen = abstrakt-generelle Grundsätze der Lohnfindung. Entlohnungsgrundsätze und Entlohnungsmethoden sind beispielhaft aufgeführte Unterfälle der betrieblichen Lohngestaltung. Das Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung bzw. Einführung, Anwendung und Änderung dieser Grundsätze und Methoden soll eine durch Angemessenheit und Durchsichtigkeit des Lohngefüges gekennzeichnete innerbetriebliche Lohngerechtigkeit gewährleisten. (a) Die Entlohnungsgrundsätzen betreffen das System, nach dem das Entgelt bemessen wird, z.B. als Zeit- Akkord- oder Prämienlohn und die Bildung von Entgeltgruppen nach Art der Ausbildung und der Tätigkeit des AN (Gamillscheg Bd. II S. 936). (b) Die Entlohnungsmethode bezeichnet die Art der Bewertung der Arbeitsleistung, etwa nach einem Punktesystem, einem Leistungsgruppensystem oder einem REFA-System (v. Hoyningen-Huene § 12 Rn.78). (3) Im Laufe der Rechtsprechung ist dieser Anwendungsbereich der Mitbestimmung immer mehr verfeinert und ausgeweitet worden. Gamillscheg (Bd. II S. 938) stellt dazu fest, dass „die Rechtsprechung aus dem Begriff der Lohngestaltung eine Generalklausel gemacht (hat), aus der eine ‚umfassende Mitbestimmung‘ in Lohnfragen“ überall dort abgeleitet wird, wo „Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräume“ bestehen. (4) In vielen Fällen enthalten Tarifverträge ins Einzelne gehende, abschließende Vergütungsregelungen, die wegen der Regelungssperre des Einleitungssatzes des § 87 I BetrVG abweichenden oder ergänzenden Betriebsvereinbarungen keinen Raum bieten. Nur eine tarifvertragliche Öffnungsklausel könnte dies ermöglichen (vorstehend unter II. 4. e). (5) Einen großen Anwendungsbereich der Mitbestimmung nach Nr. 10 bilden die freiwilligen Leistungen des ArbG, wie z.B. Zulagen, Gratifikationen, Treueprämien und Weihnachtsgeld (unten § 16 II. 3.), zu deren Gewährung er nicht schon durch Gesetz, Tarifvertrag oder auf arbeitsvertraglicher Grundlage verpflichtet ist. Mitbestimmungsfrei ist allerdings die Frage, ob der ArbG überhaupt eine freiwillige Leistung gewährt und die Höhe der von ihm dafür zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel. Auch die Beendigung der Leistung, etwa gestützt auf einen Freiwilligkeitsvorbehalt oder durch Ausübung eines Widerrufsrechts, oder die Bestimmung ihrer Anrechenbarkeit auf den Tariflohn ist allein seine Sache. Die erzwingbare Mitbestimmung des Betriebsrats setzt erst dort ein, wo die damit verbundene Aufstellung von Verteilungsgrundsätzen einen Regelungsspielraum eröffnet (Gamillscheg Bd. II S. 933; nachfolgend unter IV.). Nr. 11: Festsetzung der Akkord- und Prämiensätze und vergleichbarer leistungsbezogener Entgelte, einschließlich der Geldfaktoren. Nr. 12: Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen. Es geht um Verbesserungsvorschläge des AN auf technischem, kaufmännischem oder organisatorischem Gebiet. Für patent- oder gebrauchsmusterfähige Erfindungen des AN gilt hingegen ausschließlich das ArbNErfG. Qualifizierte technische © Professor Dr. Hunscha 66 Dezember 2015 Verbesserungsvorschläge i.S.d. § 3 ArbNErfG werden durch das ArbNErfG z.T abschließend geregelt und unterliegen dann nicht der Mitbestimmung mit Ausnahme rein organisatorischer Fragen. Bei den in § 87 I Nr.12 BetrVG genannten „Grundsätzen“ handelt es sich insbesondere um Fragen der Organisation und des durchzuführenden Verfahrens: Wie ist der Verbesserungsvorschlag einzureichen, wie zu prüfen, welche Bewertungsmethoden sind dabei anzuwenden und wie ist bei Streitigkeiten zu verfahren? Die Behandlung des Verbesserungsvorschlags soll für die AN durchschaubar sein. Die Entscheidung über die Annahme oder Nichtannahme eines Verbesserungsvorschlags und dessen Bewertung im Einzelfall sowie die Frage, ob und in welcher Höhe ein vom ArbG nicht verwerteter Verbesserungsvorschlag vergütet werden soll, obliegt allein dem ArbG; ebenso die Festlegung der Umfang der finanziellen Mittel, die der ArbG für die Entlohnung zur Verfügung stellt. Nr. 13: Grundsätze über die Durchführung von Gruppenarbeit; Gruppenarbeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn im Rahmen des betrieblichen Arbeitsablaufs eine Gruppe von AN eine ihr übertragene Gesamtaufgabe im Wesentlichen eigenverantwortlich erledigt. IV. Die freiwillige Betriebsvereinbarung Außerhalb der Tatbestände der erzwingbaren Mitbestimmung können sich die Betriebspartner nach § 88 BetrVG freiwillig des Mittels der Betriebsvereinbarung zur Gestaltung sozialer Angelegenheit bedienen. Ein Streit über die inhaltliche Ausgestaltung der freiwilligen Betriebsvereinbarung kann allerdings nur einvernehmlich vor die Einigungsstelle gebracht werden. Auch hierbei ist eine Regelungssperre zu beachten. Diesmal in Gestalt des Tarifvorbehalts des § 77 III 1 BetrVG. Hiernach können „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden,…nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein“. Nach § 77 III 2 BetrVG gilt dies jedoch nicht im Fall einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel, „wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt“. „Durch Tarifvertrag geregelt“ sind Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen schon dann, wenn ihre Regelung in einem Tarifvertrag enthalten ist, in dessen räumlichen, betrieblich-fachlichen und fachlich-persönlichen Geltungsbereich der Betrieb fällt. Auf die Tarifgebundenheit des ArbG kommt es nicht an. Auch die Tarifüblichkeit kann eine Sperrwirkung entfalten, etwa wenn nach Ablauf eines solchen Tarifvertrags ein tarifloser Zustand besteht; ferner in den Fällen, in denen es sich um Arbeitsbedingungen handelt, die in für den räumlichen, betrieblichfachlichen und fachlich-persönlichen Bereich des Betriebs repräsentativen Tarifverträgen typischerweise geregelt zu werden pflegen (D/K/K/Berg § 77 BetrVG Rn.71), m.a.W. sich „eingebürgert“ haben (Gamillscheg Bd. II S. 782). Enthält der Tarifvertrag keine Öffnungsklausel, verbleibt für eine mitbestimmungsfreie Betriebsvereinbarung also nur ein kleiner Regelungsbereich. In der Praxis wird die © Professor Dr. Hunscha 67 Dezember 2015 Regelungssperre des § 77 III 1 BetrVG allerdings oft nicht beachtet, ohne dass die Gewerkschaft die Missachtung beanstandet (unten § 7 II. 1. b). § 88 BetrVG führt unter den Nrn. 1 bis 4 ausdrücklich eine Reihe von Angelegenheiten auf, die durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung geregelt werden können. Die Aufzählung ist jedoch nicht abschließend, so dass alle möglichen nicht schon von § 87 I BetrVG erfassten sozialen Angelegenheiten zum Gegenstand einer freiwilligen Betriebsvereinbarung gemacht werden können. Auch § 102 VI BetrVG enthält einen derartigen Regelungsgegenstand. In der Praxis geht es oft um freiwillige Leistungen des ArbG (siehe vorstehend III. unter Nr.10 sowie unten § 16 II. 3.). V. Einschränkungen des Geltungsbereichs der Betriebsverfassung 1. Nach § 130 BetrVG findet das BetrVG keine Anwendung im Bereich des öffentlichen Dienstes. An seiner Stelle gilt dort das Personalvertretungsgesetz (PersVG). 2. Nach § 118 II BetrVG findet das BetrVG keine Anwendung auf Tendenzbetriebe in Gestalt von Religionsgemeinschaften und ihre privatrechtlich (z.B. als Verein, Stiftung oder GmbH) organisierten karitativen (z.B. konfessionelles Krankenhaus) und erzieherischen (z.B. Konfessionsschule) Einrichtungen (andere Einrichtungen nicht! Diese können aber unter § 118 I BetrVG fallen). Karitative und erzieherische Einrichtungen sind dann Einrichtungen z.B. der Kirche, wenn zwischen der Einrichtung und der Kirche eine institutionelle Verbindung besteht, die der Kirche das Maß an Einfluss verschafft, dessen sie bedarf, um auf Dauer eine Übereinstimmung der Tätigkeit der Einrichtung mit ihren religiösen Vorstellungen sicherstellen zu können. Ist das nicht der Fall, kommt § 118 I BetrVG zur Anwendung. Die Nichtgeltung des BetrVG folgt aus Art. 140 GG, 137 III WRV (Weimarer Reichsverfassung). Die beiden großen christlichen Kirchen haben auf freiwilliger Grundlage dem BetrVG ähnliche Regelungen getroffen (z.B. das Mitarbeitervertretungsgesetz EKD 1992 i.d.F. vom 1.1.2004). 3. Nach § 118 I BetrVG findet das BetrVG mit Einschränkungen Anwendung auf Tendenzbetriebe ohne religionsgemeinschaftliche Trägerschaft. Der Grund für diese Restriktion liegt darin, den ArbG, der mit seinem Unternehmen eine bestimmte geistig-ideelle Zielsetzung („Tendenz“) verfolgt, davor zu schützen, durch andersdenkende oder fachfremde AN-Vertreter im Betriebsrat seines Unternehmens in der freien Entfaltung seiner Vorstellungen und Absichten behindert zu werden. So sind es vor allem Presse und Verlage, die vor einer Beeinträchtigung der freien Meinungsäußerung, sowie politische Parteien, Gewerkschaften und ArbG-Verbände, die vor einer unmittelbaren Einflussnahme durch politische Gegner bewahrt werden sollen. Im Übrigen soll die Entscheidung über die wissenschaftliche oder künstlerische Befähigung eines AN allein dem ArbG überlassen bleiben. (Gamillscheg a.a.O. Bd. II, § 53 S 1159). © Professor Dr. Hunscha 68 Dezember 2015 Der Katalog der geschützten Ziele wird als abschließend begriffen, so dass z.B. ein Sportverband als ArbG von ihm nicht erfasst ist. Im Übrigen sind Einschätzungsprobleme nicht zu vermeiden. § 118 I BetrVG nennt als Zielsetzungen: politische: z.B. bei einer politischen Partei, einem Vertriebenenverband, einer Menschenrechtsorganisation oder politischen Stiftung als ArbG; koalitionspolitische: z.B. bei einer Gewerkschaft, einem Arbeitgeberverband, ferner bei deren Schulungsheimen als ArbG; konfessionelle: z.B. bei einem nicht in kirchlicher Trägerschaft stehenden Missionsverein oder einem konfessionellen Jugendverband als ArbG; andernfalls § 118 II BetrVG gilt; karitative: z.B. beim Deutschen Roten Kreuz, bei der Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, der Bergwacht, dem Müttergenesungswerk, der Arbeiterwohlfahrt, dem Reichsbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, einem privaten Krankenhaus oder Altersheim ohne Gewinnerzielungsabsicht als ArbG; erzieherische: z.B. bei einer Privatschule, einem Internat, einem Fernlehrinstitut oder dem Berufsbildungswerk als ArbG; wissenschaftliche: z.B. bei einem wissenschaftlichen Institut, einer wissenschaftlichen Bibliothek, einem wissenschaftlichen Verlag, einem Versuchsgut, einem Museum als ArbG; künstlerische: z.B. bei einem Theater, Orchester, Opernhaus, Filmstudio, Buchverlag oder einer Kunstausstellung als ArbG; Berichterstattung und Meinungsäußerung: z.B. bei einem Buch-, Zeitschriften- oder Zeitungsverlag, einem privaten Rundfunk- oder Fernsehsender, bei einer Nachrichtenagentur als ArbG. Aus der Einschränkung in § 118 I 1 Hs. 2 BetrVG („soweit“) folgt u.a., dass der Betriebsrat z.B. in den Fällen der §§ 99, 102 und 103 BetrVG vom ArbG über die beabsichtigte personelle Maßnahme zwar ordnungsgemäß zu unterrichten ist, er sie aber nicht nach § 99 II oder § 103 BetrVG durch Zustimmungsverweigerung blockieren darf und nicht der ordentlichen Kündigung nach § 102 III BetrVG widersprechen und damit die Rechtfolgen des § 102 V BetrVG auslösen kann, sofern die personelle Maßnahme einen als Tendenzträger beschäftigten AN betrifft, also z.B. den Zeitungsredakteur, Gewerkschaftssekretär, Lehrer z.B. in einer konfessionellen Bildungsanstalt, Bühnenangehörigen oder Musiker, nicht aber den Pförtner oder Buchhalter einer Tendenzeinrichtung. 4. Hinweis: In den von § 118 I und II BetrVG erfassten Tendenzbetrieben gelten auch für die Einstellung und Entlassung von tendenztragenden AN Besonderheiten. So ist die Identifikation des als Tendenzträger einzustellenden Bewerbers mit der Tendenz seines künftigen ArbG eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne von § 8 I AGG. Und eine nicht ausreichende oder gar fehlende Identifikation des als Tendenzträger beschäftigten AN mit der Tendenz seines ArbG kann seine personenbedingte Kündigung im Sinne von § 1 I KSchG rechtfertigen. Allerdings korrigierte der EGMR in seinem Urteil vom 29. 3. 2010 – 1620/03 – in NZA 2011, 279 die deutsche Rechtsprechung, die die Kündigung eines bei der katholischen Kirche seit 19 Jahren angestellten Organisten und Chorleiters, der sich vor Jahren von seiner Ehefrau getrennt hatte und eine außereheliche Beziehung eingegangen war, bejaht hatte. © Professor Dr. Hunscha 69 Dezember 2015 VI. Der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten Die gesetzliche Interessenvertretung der leitenden Angestellten auf betrieblicher Ebene ist der Sprecherausschuss nach Maßgabe des Sprecherausschussgesetzes (SprAuG). Nach § 1 I SprAuG werden in Betrieben mit in der Regel zehn leitenden Angestellten (Definition in § 5 III BetrVG) Sprecherausschüsse gewählt. Im Unterschied zum Betriebsrat hat er keine echten, erzwingbaren Mitbestimmungsrechte. Das SprAuG kennt nur Unterrichtungs- und Beratungsrechte bei Änderungen der Gehaltsgestaltung und sonstiger allgemeiner Arbeitsbedingungen sowie bei Einführung oder Änderung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze und der beabsichtigten Einstellung oder personellen Veränderung eines leitenden Angestellten (§§ 30, 31 I SprAuG). In Ansehung von Kündigungen bestimmt § 31 II SprAuG ähnlich § 102 I BetrVG, dass der Sprecherausschuss vor jeder Kündigung eines leitenden Angestellten zu hören ist, wobei der ArbG ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen hat. „Eine ohne Anhörung des Sprecherausschusses ausgesprochene Kündigung ist unwirksam“. Entgegen § 102 V BetrVG können die gegen eine ordentliche Kündigung gerichteten „Bedenken“ des Sprecherausschuss jedoch nicht zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Gekündigten führen. Anstelle von Betriebsvereinbarungen kann nach § 28 SprAuG der ArbG mit dem Sprecherausschuss Richtlinien über den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit leitenden Angestellten vereinbaren, die aber nur dann unmittelbar und zwingend gelten, soweit dies vereinbart worden ist. Dann sind abweichende Vereinbarungen über denselben Regelungsgegenstandausgeschlossen, nach § 28 II 2 SprAuG zugunsten leitender Angestellten aber ausdrücklich zulässig. © Professor Dr. Hunscha 70 Dezember 2015 § 7 Die Rangfolge der arbeitsrechtlichen Gestaltungsfaktoren I. Das Verhältnis des einfachen Gesetzesrechts zu nachrangigen Regelungen 1. Wie schon oben unter § 2 II. hervorgehoben, besteht zwischen den auf das Arbeitsverhältnis einwirkenden Gestaltungsfaktoren ein Rangverhältnis, aufsteigend von den auf der Ebene des Arbeitsvertrages angesiedelten Regelungsinstrumenten, über die Betriebsvereinbarung und den Tarifvertrag bis hin zum Gesetzesrecht. In solchen Fällen gilt gemeinhin das Rangprinzip, wonach die höherrangige Regelung der niederrangigen vorgeht. Da die im Rang unter dem primären Unionsrecht und dem deutschen Verfassungsrecht stehenden einfachgesetzlichen Vorschriften aber fast durchgängig nur Mindestarbeitsbedingungen gewährleisten sollen, die nicht zum Nachteil des AN unterschritten werden dürfen, ist offenkundig, dass ihr Schutzzweck nicht durch eine nachrangige Regelung verletzt werden kann, die den AN günstiger stellt. Sie sind darum nicht nach jeder Seite hin unnachgiebig, sondern nur einseitig zwingend in dem Sinne, dass von ihnen nur nicht „nach unten“, nämlich zu Ungunsten des AN, wohl aber „nach oben“, d.h. zu Gunsten des AN abgewichen werden kann. Die Vorschriften der §§ 12 EFZG und 13 I 3 BUrlG tun dies ausdrücklich kund, doch gilt auch ohne solche „Unterschreitungsverbote“ für die meisten einfachgesetzlichen Vorschriften des Arbeitsrechts das Günstigkeitsprinzip. Es können also die Normen eines Tarifvertrages, einer Betriebsvereinbarung oder Regelungen auf der Ebene des Arbeitsvertrages von zwingenden arbeitsgesetzlichen Normen abweichen, wenn sie den AN günstiger stellen. Nur wenige arbeitsrechtliche Vorschriften sind beidseitig zwingend, wie dies z.B. bei Formvorschriften der Fall ist, etwa dem § 623 BGB, bei denen sich die Frage nach der Günstigkeit gar nicht stellen kann; oder in den Fällen, in denen ein allgemeines Interesse an der strikten Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen besteht, wie etwa beim Beschäftigungsverbot des § 6 I MuSchG, das nicht nur die Schwangere vor sich selbst, sondern auch das werdende Kind, die Familie und das Interesse der Allgemeinheit an gesundem Nachwuchs schützt. Beidseitig zwingend ist auch § 626 BGB. 2. Nachgiebiges (= dispositives) Gesetzesrecht unterliegt nicht dem Günstigkeitsprinzip. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin, Abweichungen von den gesetzlichen Normen auch und gerade zu Ungunsten des AN zu ermöglichen. Darum ist es im Arbeitsrecht selten. Zwei Erscheinungsformen kommen in Betracht: Zum einen das tarifdispositive Gesetzesrecht, das es nur den Parteien des Tarifvertrages gestattet, von einer gesetzlichen Vorschrift auch zu Ungunsten des AN abzuweichen, wie etwa in den Fällen von § 7 und § 12 ArbZG, § 13 I 1 und 2 BUrlG, § 4 IV EFZG, § 622 IV BGB, § 12 III TzBfG, § 14 II 3 TzBfG. Hintergrund für diese Regelung ist die Absicht, den Tarifvertragsparteien für ihre Verhandlungen ein größeres Maß an Beweglichkeit zu geben verbunden mit der Überzeugung, dass die Gewerkschaften auch ohne gesetzliche Hilfestellung in der Lage sind, die wohlverstandenen Interessen der AN im Ergebnis angemessen zu vertreten. Zum anderen das uneingeschränkt dispositive Gesetzesrecht, das der Veränderung durch Normen eines Tarifvertrags, einer Betriebsvereinbarung und Bestimmungen auf der Ebene des Arbeitsvertrags ohne weiteres zugänglich ist. Es ist im Arbeitsrecht die große Ausnahme, so etwa in den Fällen der §§ 613, 614, 616 BGB. © Professor Dr. Hunscha 71 Dezember 2015 3. Welche Geltungskraft einer gesetzlichen Vorschrift (einschließlich des ergänzenden Richterrechts) zukommt, ergibt sich entweder aus ihrem Wortlaut oder ist ihr im Wege der Auslegung zu entnehmen. II. Das Verhältnis der Normen eines Tarifvertrages zu nachrangigen Regelungen 1. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG Die im Rang unter dem (einfachen) Gesetzesrecht stehenden Normen eines Tarifvertrags sind nach § 4 I TVG zwingendes Recht. Da der Tarifvertrag aber ebenso wie die meisten Arbeitsgesetze zum Schutz des AN vor Übervorteilung nur Mindestarbeitsbedingungen sicherstellen soll, sind auch seine Normen lediglich einseitig zwingend, so dass auch für ihn das Günstigkeitsprinzip gilt. Diese Erkenntnis hat in der Vorschrift des § 4 III Altn. 2 TVG ihren gesetzlichen Ausdruck gefunden, wonach „abweichende Abmachungen…zulässig (sind), soweit sie eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.“ Dabei geht es zum größten Teil um gegenüber dem Tarifvertrag günstigere Regelungen auf der Ebene des Arbeitsvertrages, etwa durch die Gewährung höherer Löhne und von mehr Urlaub sowie die Vereinbarung längerer Kündigungsfristen und den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen. Im Verhältnis der Normen eines Tarifvertrags zu denen einer Betriebsvereinbarung hingegen kommt das Günstigkeitsprinzip aufgrund der Regelungssperren des § 87 I Einleitungssatz BetrVG (nachfolgend unter a) und des § 77 III BetrVG (nachfolgend unter b) im Grundsatz nicht zum Zug. a) Der Gesetzes- und Tarifvorrang des § 87 I Einleitungssatz BetrVG als Regelungssperre für erzwingbare Betriebsvereinbarungen (siehe auch oben § 6 II. 4. e) Für einen Gegenstand der erzwingbaren Mitbestimmung steht § 87 I BetrVG Einleitungssatz (als eine dem Tarifvorbehalt des § 77 III BetrVG vorgehende Spezialvorschrift) auf dem Standpunkt, dass die Betriebspartner über ihn nur dann verhandeln und streiten können, „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht.“ Das heißt: Sofern das Gesetz (einschließlich des gesetzesvertretenden Richterrechts; HWK/Clemenz § 87 BetrVG Rn.8) oder ein für den Betrieb infolge Tarifgebundenheit des ArbG geltender Tarifvertrag eine Angelegenheit der erzwingbaren Mitbestimmung abschließend regelt, ohne dem ArbG noch die Möglichkeit einer einseitigen Entscheidung zu lassen, bei der der Betriebsrat dann mitzubestimmen hätte (BAG v.18.4.1989 – 1 ABR 100/87 – in BAGE 61, 296, 304), besteht für eine Betriebsvereinbarung kein Raum. Die Sperre des § 87 I Einleitungssatz will einfach vermeiden, „dass über betriebliche Dinge gestritten wird, über die es nichts zu streiten gibt.“ (Gamillscheg a.a.O. Bd. II S. 870). Die Interessen der AN sind durch die tarifvertragliche Regelung ausreichend gewahrt. In diesem Fall ist auch eine „freiwillige“ Betriebsvereinbarung über eine an sich mitbestimmungspflichtige Angelegenheit unwirksam. Enthält der Tarifvertrag allerdings eine Öffnungsklausel für „ergänzende“ Betriebsvereinbarungen, ist der Tarifvorrang insoweit entfallen. © Professor Dr. Hunscha 72 Dezember 2015 b) Der Tarifvorbehalt des § 77 III BetrVG als Regelungssperre für nach § 88 BetrVG freiwillige Betriebsvereinbarungen (siehe auch oben § 6 IV.) Im Verhältnis der Normen eines Tarifvertrags zu denen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung besteht zur Sicherung der Tarifautonomie und zum Schutz der Gewerkschaften vor einer Konkurrenz der Betriebsräte als „beitragsfreie Ersatzgewerkschaften“ (Peter Hanau) eine Sperre durch den Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG. Danach können „Arbeitsentgelte und sonstige [individuelle] Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden,…nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.“ Während gegenüber einem Tarifvertrag ungünstigere Betriebsvereinbarungen am Vorrang eines (für den Betrieb infolge Tarifgebundenheit des ArbG geltenden!) Tarifvertrags scheitern, verhindert der Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG die Korrektur eines Tarifvertrages durch eine für den AN günstigere Betriebsvereinbarung. „Durch Tarifvertrag geregelt“ sind Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen schon dann, wenn der Betrieb in den räumlichen, betrieblich fachlichen und fachlich-persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrages fällt. Anders als beim vorstehend unter a) behandelten Tarifvorrang des § 87 BetrVG ist dazu eine Tarifgebundenheit des ArbG nicht erforderlich. Zur Tarifüblichkeit siehe schon oben § 6 IV. Entgegen § 77 III 1 BetrVG dennoch abgeschlossene Betriebsvereinbarungen sind unwirksam, doch gibt es in der Praxis unzählige Verstöße, die nicht gerügt werden. Die Gewerkschaft wagt es oft nicht, gegen eine günstigere Betriebsvereinbarung vorzugehen, weil sie den Unmut ihrer in diesem Betrieb beschäftigten Mitglieder fürchtet. Selbst gegen eine wegen unzulässigen Gesamtvergleichs (nachstehend unter IV.) ungünstige Betriebsvereinbarung, die schon gegen das Rangprinzip verstößt, wird sie sich deswegen häufig nicht wehren. Vollends verwirren muss die Erkenntnis, dass der ArbG z.B. eine freiwillige Leistung in Gestalt einer zusätzlichen Vergütung auf der Grundlage einer freiwilligen Betriebsvereinbarung nur soll gewähren dürfen, wenn der konkurrierende Tarifvertrag eine entsprechende Öffnungsklausel aufweist (§ 77 III 2 BetrVG), dies jedoch ohne weiteres im Wege einer Gesamtzusage oder einer arbeitsvertraglichen Einheitsregelung verwirklichen darf.(Zur Kritik an §§ 77 III BetrVG siehe vor allem Gamillscheg a.a.O. Bd. II, S. 784 ff. unter d). Nach § 77 III 2 BetrVG gilt der Tarifvorbehalt des Satzes 1 „nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.“ Eine solche Öffnungsklausel kann Abweichungen von den Normen eines Tarifvertrages durch Normen einer Betriebsvereinbarung zu Gunsten, aber auch zu Ungunsten des AN gestatten (nachfolgend unter 2.). Obwohl § 77 III 2 BetrVG von einer Öffnung des Tarifvertrages für „ergänzende“ Betriebsvereinbarungen spricht, geht die h.M. von einer uneingeschränkten Regelungsbefugnis der Betriebsparteien aus (nachstehend unter 2.). Eine Ausnahme vom Tarifvorbehalt besteht auch für den in seiner Wirkung einer Betriebsvereinbarung gleichkommenden Sozialplan, auf den nach § 112 I 4 BetrVG die Vorschrift des § 77 III BetrVG keine Anwendung findet. Für ihn gilt uneingeschränkt das Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG; im Übrigen auch § 4 III Altn. 1 TVG, so dass im Falle der Tariföffnung für einen Sozialplan dessen Bestimmungen von Normen eines Tarifvertrages nicht nur zu Gunsten, sondern auch zu Ungunsten des AN abweichen dürfen. © Professor Dr. Hunscha 73 Dezember 2015 2. Tarifvertragliche Öffnungsklauseln nach § 4 III Altn. 1 TVG und § 77 III 2 BetrVG Abweichungen von den nach § 4 I TVG zwingenden Normen des Tarifvertrages durch Regelungen auf niederrangiger Ebene sind nicht nur nach § 4 III Altn. 2 TVG aufgrund des Günstigkeitsprinzips möglich (vorstehend unter 1.). Nach § 4 III Altn. 1 TVG sind „abweichende Abmachungen“ vielmehr auch dann „zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind.“ Da dem AN günstige Abweichungen vom Tarifvertrag auf der Ebene des Arbeitsvertrages schon nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG zulässig sind, geht es bei der Öffnung des Tarifvertrages für arbeitsvertragliche Regelungen vorwiegend darum, für den AN ungünstige Abweichungen vom Tarifvertrag zu ermöglichen. In Ansehung von Normen einer Betriebsvereinbarung hingegen sind wegen des Tarifvorbehalts des § 77 III 1 BetrVG Öffnungsklauseln nicht nur für ungünstige, sondern auch für günstige Abweichungen vom Tarifvertrag erforderlich. Das könnte schon aus § 4 III Altn. 1 TVG folgen, doch ist für die Zulässigkeit von Abweichungen durch eine Betriebsvereinbarung auf die speziellere Vorschrift des § 77 III 2 BetrVG abzustellen, die die Regelungssperren sowohl des § 77 III 1 BetrVG als auch des § 87 I Einleitungssatz BetrVG beseitigt. Es ist Sache der Tarifvertragsparteien, zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Tarifvertrag öffnen. So können sie die Öffnung auf arbeitsvertragliche Regelungen beschränken oder nur für Normen einer Betriebsvereinbarung, nicht aber des Arbeitsvertrags gestatten. Sie können die Öffnung auf bestimmte Tarifnormen beschränken, von bestimmten sachlichen Voraussetzungen abhängig machen und die Abweichungen inhaltlich begrenzen. Ungünstige Abweichungen von einem Tarifvertrag dienen vor allem der Absenkung des Tarifstandards in wirtschaftlichen Notlagen durch Arbeitszeitverlängerung und/oder untertarifliche Entlohnung mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Darum werden sie häufig mit einem längerfristigen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen verbunden. In diesen Fällen tritt das bei der Anwendung des Günstigkeitsprinzips auftretende Problem des „Gesamtvergleichs“ (nachfolgend unter IV.) nicht auf. Weitere Beispiele ungünstiger Abmachungen sind z.B. besondere Einstellungstarife für Langzeitarbeitslose oder Berufsanfänger, um in wirtschaftlich schwachen Gebieten eine Zunahme der Beschäftigung zu erreichen; ferner die Schaffung erhöhter Flexibilität in Bezug auf Sonderzuwendungen u.Ä. III. Das Verhältnis der Normen einer Betriebsvereinbarung zu nachrangigen Regelungen Für das Verhältnis von Normen einer Betriebsvereinbarung zu den im Rang darunter liegenden arbeitsvertragliche Regelungen gilt das Günstigkeitsprinzip. Zum sog. kollektiven Günstigkeitsvergleich siehe oben § 4 II. 6. © Professor Dr. Hunscha 74 Dezember 2015 IV. Der Günstigkeitsvergleich bereitet in Ansehung des Vergleichsgegenstandes und -maßstabs Schwierigkeiten. Sofern die arbeitsvertragliche Regelung von dem Tarifvertrag nur in einem Punkt abweicht, wie etwa bei Gewährung eines den Tariflohn übersteigenden Entgelts, gibt es keine Probleme. Wenn die arbeitsvertragliche Regelung aber teils günstigere und teils ungünstigere Arbeitsbedingungen als der Tarifvertrag aufweist, lässt sich die Frage, was für den AN wirklich günstiger ist, nicht so ohne weiteres beantworten. Das BAG v. 20.4.1999 in NZA 1999, 887, 892 f. steht auf dem Standpunkt, dass jedenfalls ein Gesamtvergleich zwischen Arbeitsvertrag und Tarifvertrag mit dem Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG nicht vereinbar ist. Damit sind als „Bündnisse für Arbeit“ im Einvernehmen von ArbG, AN und Betriebsrat auf der Ebene des Arbeitsvertrages oder ─ soweit nach § 77 III 2 BetrVG zulässig ─ durch Betriebsvereinbarung zur Bewältigung einer wirtschaftlichen Krise geschlossene Beschäftigungspakte mit der Abrede, entgegen dem geltenden Tarifvertrag die tarifliche Vergütung abzusenken und/oder die Arbeitszeit anzuheben, wenn gleichzeitig betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen werden, nicht zulässig. Die h.M. lässt nur einen „Sachgruppenvergleich“ zu, wonach sachlich zusammengehörige Regelungen der einen wie der anderen Seite miteinander bei objektiver Betrachtung aus der Sicht eines vernünftigen AN zu vergleichen sind. Danach ist z.B. die arbeitsvertragliche Urlaubsregelung über 30 Urlaubstage und 300 € Urlaubsgeld für den AN günstiger als die des Tarifvertrags über 25 Urlaubstage und 325 € Urlaubsgeld (Brox/Rüthers/Henssler Rn.686). Ebenso ist z.B. die gesetzliche Kündigungsfrist von 7 Monaten zum Ende eines Kalendermonats nach § 622 Nr. 7 BGB günstiger als eine arbeitsvertraglich vereinbarte Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Quartalsende (BAG v. 4.7.2001 – 2 AZR 469/00 – in NZA 2002, 380). Im Einzelnen ist vieles strittig. Die Frage, ob hierunter die Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit bei Gewährung eines entsprechenden Mehrverdienstes gehört, wird nicht einheitlich beantwortet. Keinesfalls jedoch kann untertariflicher Lohn durch übertariflichen Urlaub ausgeglichen werden, wohl aber ggf. eine Gesamtvergütung durch eine Grundvergütung mit Leistungszulagen. Bündnisse für Arbeit können hiernach wirksam nur durch Tarifvertrag geregelt werden, durch Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung jedenfalls nicht in Übereinstimmung mit dem vorherrschenden Verständnis vom Günstigkeitsprinzip, wohl aber bei einer entsprechenden Öffnungsklausel im Tarifvertrag, und zwar in Bezug auf eine Betriebsvereinbarung gemäß § 77 III 2 BetrVG, in Bezug auf einen Arbeitsvertrag gemäß § 4 III Altn. 1 TVG (nachfolgend unter 2.). V. Fazit 1. Vor dem Hintergrund der vorstehend unter I. bis IV. enthaltenen Ausführungen ist folgende Rangordnung aufzustellen. (1) Unmittelbar geltendes EU-Recht in Gestalt vor allem des primären Gemeinschaftsrechts sowie der Rechtsverordnungen des sekundären Gemeinschaftsrechts; Die Richtlinien der EU sind im Grundsatz kein unmittelbar geltendes Recht, sondern geben den Mitgliedstaaten der EU verbindliche Regelungsziele vor, die erst von ihnen durch nationale Gesetzgebung in unmittelbar geltendes Recht umzusetzen sind. Sie bilden also die europarechtliche Grundlage für (einfaches) nationales Gesetzesrecht. (2) Das Grundgesetz im Hinblick auf die durch Art. 9 III GG garantierte Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit sowie wegen der für die Rechtsprechung wichtigen mittelbaren Drittwirkung seiner Art. 1 bis 6, 12 und 14 GG; © Professor Dr. Hunscha 75 Dezember 2015 (3) Zwingendes Gesetzesrecht des BGB und arbeitsrechtlicher Einzelgesetze einschließlich des gewohnheitsrechtlich geltenden allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungssatzes sowie ergänzendes Richterrecht; Im Bereich des zwingenden Gesetzesrechts des BGB sind von zunehmender Bedeutung die Vorschriften der §§ 305 bis 310 BGB über die gerichtliche Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Einheitsregelungen. Bestimmungen eines Tarifvertrages und einer Betriebsvereinbarung unterliegen allerdings nicht der AGB-Kontrolle; (4) Zwingende Tarifvertragsnormen; (5) Tarifdispositives Gesetzesrecht; siehe vorstehend unter I. 2. (6) Zwingende Normen einer Betriebsvereinbarung; (7) Arbeitsvertrag und ergänzende Regelwerke, die fast nie als Individualvereinbarungen abgeschlossen, sondern vom ArbG in Gestalt arbeitsvertraglicher Einheitsregelungen vorgegeben werden, einschließlich der aufgrund tatsächlicher Gewährung durch den ArbG entstandenen Betrieblichen Übung und seiner Gesamtzusagen; (8) Abdingbares Gesetzesrecht sowie abdingbare Tarifvertragsnormen und abdingbare Normen einer Betriebsvereinbarung; (9) Weisungen des ArbG. Die Weisung gehört zwar zu den vertraglichen Gestaltungsfaktoren des Arbeitsrechts, weil sie Inhalt, Ort und Zeit der vom AN geschuldeten Arbeitsleistung näher bestimmt. Im Rangverhältnis steht sie jedoch genau genommen unter dem Arbeitsvertrag, denn sie kann Rechtswirkungen nur entfalten, soweit die Arbeitsbedingungen nicht schon durch den Arbeitsvertrag oder Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder durch gesetzliche Bestimmungen festgelegt sind (§ 106 GewO). 2. Für die Konkurrenz der auf den verschiedenen Rangstufen stehenden Rechtsnormen ist festzuhalten, dass im Grundsatz die rangniedere der ranghöheren weichen muss (Rangprinzip), z.B. 3. vor 4. vor 6. vor 7. In dem Ausnahmefall tarifdispositiven Gesetzesrechts können Tarifvertragsnormen dem Gesetz allerdings vorgehen (4. vor 5.). Ebenso können in dem Ausnahmefall abdingbaren Gesetzesrechts arbeitsvertragliche Bestimmungen dem Gesetz vorgehen (7. vor 8.). Im Verhältnis des Tarifvertrages zur Betriebsvereinbarung gilt nach dem Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG im Grundsatz das strenge Rangprinzip mit Ausnahme des Falles des § 77 III 2 BetrVG (tarifliche Öffnungsklausel). In den sozialen Angelegenheiten lässt der Tarifvorrang des § 87 BetrVG in vom Tarifvertrag nicht geregelten Bereichen Betriebsvereinbarungen zu. Im Verhältnis des Gesetzesrechts zum Arbeitsvertrag, des Tarifvertrags zum Arbeitsvertrag sowie der Betriebsvereinbarung zum Arbeitsvertrag wird das © Professor Dr. Hunscha 76 Dezember 2015 Rangprinzip durch das Günstigkeitsprinzip verdrängt, wonach die rangniedere Norm der ranghöheren vorgeht, wenn sie den AN günstiger stellt. Eine tarifvertragliche Öffnungsklausel nach § 4 III Altn. 1 TVG kann im Verhältnis des Tarifvertrags zum Arbeitsvertrag ungünstige und nach § 77 III 2 BetrVG im Verhältnis des Tarifvertrags zur Betriebsvereinbarung neben günstigen auch ungünstige Abweichungen ermöglichen. Für Konkurrenzen auf der gleichen Rangstufe gilt, dass die speziellere Regelung der allgemeinen und die neuere Regelung der älteren vorgeht. © Professor Dr. Hunscha 77 Dezember 2015 § 8 Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten I. Die Arbeitsgerichtsbarkeit Nach § 1 ArbGG wird die Gerichtsbarkeit in Arbeitssachen in der 1. Instanz durch die Arbeitsgerichte, in der 2. Instanz durch die Landesarbeitsgerichte (LAG) und in der 3. Instanz durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) ausgeübt. Die Spruchkammern der Arbeitsgerichte und der Landesarbeitsgerichte sind mit einem Berufsrichter als Vorsitzendem und je einem ehrenamtlichen Richter aus dem Kreis der AN und der ArbG besetzt. Die Senate des BAG bestehen aus einem Berufsrichter als Vorsitzendem, 2 Berufsrichtern als Beisitzenden und gleichfalls je einem ehrenamtlichen Beisitzer. Die ehrenamtlichen Richter bei den Arbeitsgerichten und den Landesarbeitsgerichten werden von den jeweiligen Landesarbeitsbehörden, die ehrenamtlichen Richter beim BAG vom Bundesminister für Arbeit und Soziales aus den Vorschlagslisten einerseits von AN-Vereinigungen und andererseits von ArbG-Vereinigungen berufen. Berufsrichter und ehrenamtliche Richter haben bei der Abstimmung gleiches Gewicht. Es gilt das Mehrheitsprinzip. Nach § 11 I ArbGG können die Parteien den Rechtsstreit 1. Instanz selbst führen, was ihnen jedoch nicht anzuraten ist. Sie können sich aber auch unter Beachtung von § 79 ZPO durch Privatpersonen, Rechtsvertreter einer Gewerkschaft bzw. eines ArbG-Verbandes oder durch Rechtsanwälte vertreten lassen. Nach § 11 II ArbGG müssen sich die Parteien in der 2. Instanz vor dem Landesarbeitsgericht entweder durch den Rechtsvertreter einer Gewerkschaft bzw. eines ArbG-Verbandes oder durch Rechtsanwälte vertreten lassen; in der 3. Instanz vor dem BAG herrscht Anwaltszwang. II. Zwei Verfahrensarten Das ArbGG kennt zwei Verfahrensarten: Das herkömmliche Urteilsverfahren nach Maßgabe der §§ 46 bis 79 ArbGG für alle in § 2 ArbGG aufgeführten „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ zwischen AN und ArbG sowie zwischen Tarifvertragsparteien bzw. tariffähigen Parteien oder diesen und Dritten und das Beschlussverfahren nach Maßgabe der §§ 80 bis 98 ArbGG für alle in § 2a ArbGG aufgeführten Angelegenheiten der Betriebsverfassung, der Mitbestimmung, der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung von ArbG oder AN sowie der Entscheidung über die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, einer Rechtsverordnung nach § 7 oder 7a des AEntG oder einer Rechtsverordnung nach § 3a AÜG. 1. Das Beschlussverfahren In der Praxis findet das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren hauptsächlich zur Entscheidung von betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten darüber Anwendung, ob und in welchem Umfang dem Betriebsrat nach dem BetrVG das Recht zusteht, am betrieblichen Geschehen beteiligt zu werden. Im Gegensatz zu einem solchen Rechtsstreit steht der sog. Regelungsstreit darüber, wie eine Einigung zwischen dem ArbG und dem Betriebsrat in den Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung (siehe oben § 6 II.) zweckmäßigerweise aussehen soll. Die Entscheidung hierüber trifft die betriebliche Einigungsstelle, deren Entscheidung vom Ar- © Professor Dr. Hunscha 78 Dezember 2015 beitsgericht nur darauf überprüft werden kann, ob sie ihr Ermessen überschritten hat. Anders als im Urteilsverfahren gilt im Beschlussverfahren der sog. Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht nicht an den Vortrag der Parteien gebunden ist, sondern von Amts wegen alle geeigneten Maßnahmen ergreifen kann, um die dem Rechtsstreit zugrunde liegende wahre Sachlage zu erforschen; denn es geht nicht um die Interessen einzelner natürlicher und juristischer Personen im Verhältnis zueinander, sondern um die Ordnung des gesamten Betriebes bzw. Unternehmens. Im Beschlussverfahren werden keine Gerichtskosten erhoben. Es ergeht auch keine Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten aus der Inanspruchnahme eines Prozessbevollmächtigen; denn ohne Rücksicht auf den Ausgang des Rechtsstreits trägt der ArbG nicht nur seine Kosten, sondern nach § 40 I BetrVG im Regelfall auch die Kosten, die dem Betriebsrat entstanden sind (oben § 6 I.). 2. Das Urteilsverfahren a) Die arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten im Urteilsverfahren entstammen größtenteils dem Bereich des Individualarbeitsrechts in Gestalt „bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern“ auf den Gebieten, die § 2 I Nr. 3 ArbGG aufzählt, nämlich aus dem Arbeitsverhältnis; über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses; aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und dessen Nachwirkungen; aus unerlaubten Handlungen, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen; über Arbeitspapiere. In der Mehrzahl der Fälle geht es um ► die Geltendmachung von Rechten/Ansprüchen des AN gegen den ArbG, vor allem (1) nach Kündigung durch den ArbG auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus aus § 611 BGB i.V.m. mit dem Arbeitsvertrag unter Berücksichtigung vor allem von gesetzlichen Bestimmungen über den Kündigungsschutz, sowie ggf. auf Weiterbeschäftigung nach § 102 V BetrVG (oder Beschäftigung aus §§ 611, 242 BGB in Gestalt des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs) während des Rechtsstreits bis zu dessen rechtskräftiger Beendigung; (2) auf Zahlung des Lohnes für geleistete Arbeit aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag; (3) auf Zahlung von Lohn ohne geleistete Arbeit aus § 611 BGB nach Maßgabe z.B. von § 3 EFZG (Krankheit), § 616 BGB (Verhinderung aus persönlichen Gründen) oder § 615 BGB (Annahmeverzug des ArbG einschließlich Arbeitsausfalls aus Gründen des „Betriebsrisikos“), § 11 BUrlG i.V.m. dem Arbeitsvertrag; © Professor Dr. Hunscha 79 Dezember 2015 (4) auf Schadensersatz neben der Leistung z.B. wegen Schlechtleistung durch Nebenpflichtverletzung aus §§ 241 II, 280 I BGB und/oder § 823 I/II BGB sowie wegen Verzuges aus §§ 280 I, II, 286, 288 I, IV BGB (5) auf Schadensersatz bei außerordentlicher Kündigung durch den AN wegen vertragswidrigen Verhaltens des ArbG aus § 628 II BGB; (6) auf Aufwendungsersatz wegen freiwilliger Vermögensopfer des AN zu Gunsten des ArbG oder wegen betrieblich veranlasster Eigenschäden des AN aus § 670 BGB; (7) auf Freistellung von Schadensersatzansprüchen Dritter gegen den AN analog § 670 BGB; (8) auf Urlaub aus §§ 611 BGB, § 1 BUrlG; (9) auf Herausgabe der Arbeitspapiere als Nebenpflicht aus § 611 BGB; (10) auf Zeugniserteilung aus § 630 BGB. Weniger häufig geht es um ► die Geltendmachung von Ansprüchen des ArbG gegen den AN vor allem (1) auf Schadensersatz neben der Leistung wegen Schlechtleistung durch Hauptpflichtverletzung oder Nebenpflichtverletzung aus, 241 I oder II, 280 I BGB und/oder § 823 I/II BGB, ggf. §§ 60, 61 HGB; (2) auf Schadensersatz statt der Leistung wegen Nichtleistung durch endgültiges Ausbleiben der Leistung aus §§ 241 I, 280 I und III, 283 BGB; (3) auf Schadensersatz bei außerordentlicher Kündigung durch den ArbG wegen vertragswidrigen Verhaltens des AN aus § 628 II BGB; (4) auf Rückzahlung z.B. von irrtümlich gezahltem Lohn aus § 812 I 1 BGB; b) Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten im Urteilsverfahren auf Gebiet des Individualarbeitsrechts sind ferner die unter § 2 I Nr. 9 ArbGG aufgeführten bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten über ► die Geltendmachung von Ansprüchen zwischen AN, vor allem aus unerlaubter Handlung, die mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang steht, nämlich von Ansprüchen der AN gegeneinander auf Schadensersatz aus § 823 I BGB wegen Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen unter Arbeitskollegen auf dem Weg zur und von der Arbeit sowie bei Betriebsfeiern und -ausflügen; ferner wegen Sachbeschädigung unter Arbeitskollegen während der Arbeit, wohingegen im Fall von Körperverletzungen bei der Verrichtung der Arbeit die Haftung der AN untereinander dadurch abgelöst wird, dass nach § 105 I SGB VII bei solchen „Arbeitsunfällen“ der Unfallversicherer für die Ausgleichung des Unfallschadens eintritt. c) Das Urteilsverfahren ist im Wesentlichen nach den Vorschriften der ZPO geregelt. Der Sachverhalt wird nicht von Amts wegen ermittelt, sondern von den Parteien durch die Klageschrift, die Klageerwiderung und ggf. weiteren schriftlichen Entgegnungen des Klägers und des Beklagten sowie durch die in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Tatsachen beigebracht. Es gilt also der Beibringungs- © Professor Dr. Hunscha 80 Dezember 2015 grundsatz im Gegensatz zu dem das Beschlussverfahren beherrschenden Untersuchungsgrundsatz (siehe oben 1.): Die Parteien liefern den Sachverhalt und das Gericht spricht darüber Recht. Als eine Besonderheit des arbeitsgerichtlichen Verfahrens beginnt die mündliche Verhandlung nach § 54 ArbGG mit einer Güteverhandlung nur vor dem Vorsitzenden der Spruchkammer des Arbeitsgerichts, der darauf hinwirken soll, dass sich die Parteien vergleichen. Gelingt dies nicht, kommt es in einem neuen Termin zur streitigen Verhandlung vor dem dann auch mit den ehrenamtlichen Beisitzern besetzten Gericht. Ist eine entscheidungserhebliche Tatsache unter den Parteien strittig, muss das Gericht zum Zwecke der Sachaufklärung eine Beweisaufnahme durchführen. Als Beweismittel dienen in der Reihenfolge ihrer Beweisstärke der Beweis durch Urkunden, richterlichen Augenschein, Sachverständigengutachten, Zeugenaussage und die Parteivernehmung. Kann die Tatsache nicht bewiesen werden, gilt sie als nicht existent. Das wirkt sich dann zum Nachteil der Partei aus, die diesbezüglich die Beweislast trägt. Das ist diejenige Partei, der diese Tatsache günstig ist. Wird die Tatsache hingegen bewiesen, ist der Beweispflichtige im Vorteil. Die Partei, die im Verfahren unterliegt, kann unter den Voraussetzungen des § 64 ArbGG gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berufung an das LAG einlegen. Gegen das Urteil des LAG findet unter den Voraussetzungen des § 72 ArbGG die Revision an das BAG statt. Die Gerichtskosten der Arbeitsgerichtsbarkeit sind in allen Instanzen geringer als die Gerichtskosten der Zivilgerichtsbarkeit. Außerdem werden von der Gerichtskasse keine Kostenvorschüsse erhoben. Die sog. außergerichtlichen Kosten, die einer Partei durch die Beauftragung eines Dritten entstehen, insbesondere die Vergütung eines mit der Prozessvertretung beauftragten Rechtsanwalts, muss sie nach § 12a I ArbGG in der 1. Instanz abweichend von § 91 ZPO auch dann selbst tragen, wenn sie den Rechtsstreit gewinnt. Dafür entfällt dann aber auch das gerade den AN von einer Prozessführung sonst abschreckende Risiko, bei etwaigem Unterliegen neben den eigenen Anwaltskosten auch noch die Kosten des gegnerischen Anwalts tragen zu müssen. Da allerdings schon die eigenen Anwaltskosten fühlbar belasten können, ist vor allem dem AN der Abschluss einer Versicherung für den Arbeitsrechtsschutz nachdrücklich zu empfehlen. Dies auch deswegen, weil im Fall der Weiterführung des Rechtsstreits durch Einlegung der Berufung oder evtl. der Revision die in der letzten Instanz unterliegende Partei nach § 91 ZPO die außergerichtlichen Kosten 2. und ggf. 3. Instanz auch des Gegners sowie alle Gerichtskosten tragen muss. Nach § 11a III ArbGG erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der §§ 114 ff. ZPO. Im Übrigen kann nach § 11a I ArbGG einer bedürftigen Partei auf Antrag ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn die Gegenpartei durch einen Rechtsanwalt vertreten ist. d) Arbeitsgerichtliche Streitigkeiten im Urteilsverfahren können auch dem Bereich des kollektiven Arbeitsrechts entstammen, nämlich in Gestalt bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien bzw. tariffähigen Parteien so- © Professor Dr. Hunscha 81 Dezember 2015 wie zwischen diesen und Dritten, wie z.B. Mitgliedern einer Gewerkschaft oder eines Arbeitgeberverbandes, ggf. auch Außenseitern nach § 2 I Nr. 1 ArbGG vor allem aus dem schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrages, insbesondere auf Erfüllung der Durchführungs- und Friedenspflicht und auf Schadensersatz wegen Pflichtverletzung, nach § 2 I Nr. 2 ArbGG vor allem aus unerlaubten Handlungen im Zusammenhang mit einem Arbeitskampf, insbesondere auf Ersatz des Schadens des ArbG bei rechtswidrigem Streik, wegen Verweigerung von Notdienstarbeiten, wegen Werkbesetzungen oder der Behinderung Arbeitswilliger. © Professor Dr. Hunscha 82 Dezember 2015 § 9 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) I. Die Geltung des AGG im Arbeitsrecht 1. Das Ziel des AGG Nach § 1 AGG ist es das Ziel des Gesetzes, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ Andere Merkmale sind für die Anwendung des AGG nicht relevant! Die sexuelle Belästigung i.S.v. § 3 IV AGG bezieht sich auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung und somit stets auf ein durch § 1 AGG geschütztes Merkmal. Durch den Bezug auf § 2 I Nr. 1 bis 4 AGG gilt diese Vorschrift nur im Bereich des Arbeitsrechts. Unter Beachtung der allgemeinen Bestimmungen des § 2 AGG, insbesondere seiner Nr. 1. (Einstellungs- und Aufstiegsbedingungen) und seiner Nr. 2 (Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen) sowie der §§ 3 bis 5 AGG enthalten die §§ 6 bis 18 AGG die für den Bereich des Arbeitsrechts einschlägigen Vorschriften. Sie erfassen alle Bereiche des Arbeitsverhältnisses: Seine Anbahnung und Begründung sowie seine Durchführung und Beendigung unter Einbeziehung der dabei individual- und kollektivrechtlich getroffenen Vereinbarungen und Maßnahmen. Sie sind aus der Umsetzung mehrerer EG-Richtlinien in innerstaatliches Recht entstanden und gehen über diese teilweise sogar hinaus. Die Vorschrift des § 2 IV AGG allerdings hätte wegen Unterschreitung des Richtlinienstandards europarechtswidrig sein können, wenn sie nicht durch richtlinienkonforme Anwendung zu korrigieren gewesen wäre (unten § 29 IV.). ─ Das in Ansehung von Vermögensschäden (= materieller Schaden im Gegensatz zum immateriellen Schaden nach § 15 II AGG) geltende Verschuldenserfordernis des § 15 I 2 AGG könnte europarechtswidrig sein (strittig). Die Vorschrift wäre dann jedoch nicht unwirksam. Der deutsche Gesetzgeber wäre vielmehr zur Aufhebung des Verschuldenserfordernisses verpflichtet (vgl. oben § 3 IV.). 2. Das Benachteiligungsverbot des § 7 AGG Die für das Arbeitsrecht zentrale Vorschrift ist das Benachteiligungsverbot des § 7 AGG. Sie verlangt, dass Beschäftigte i.S.d. § 6 I AGG (= auch Bewerber/innen sowie Personen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist) wegen eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale, auch wenn ihr Vorliegen vom Benachteiligenden nur angenommen wird, im Berufs- und Arbeitsleben nach Maßgabe vor allem der Nrn. 1 und 2 des § 2 I AGG nicht i.S.d. § 3 AGG benachteiligt werden dürfen. Das Verbot mittelbarer Benachteiligung soll die Möglichkeit unterbinden, das Verbot der unmittelbaren Benachteiligung nach § 3 I AGG zu umgehen. Eine mittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 II AGG liegt vor, wenn auf ein scheinbar neutrales Kriterium abgestellt wird, dessen Anwendung aber z.B. gerade Frauen überproportional benachteiligt, wie etwa die Zusage einer Geld- © Professor Dr. Hunscha 83 Dezember 2015 prämie nach Ablauf einer bestimmten ununterbrochenen „Beschäftigungszeit“; denn diese berücksichtigt nicht Elternzeiten, die ganz überwiegend von Frauen beansprucht werden. Diskriminierungsfrei wäre die Anknüpfung an die ununterbrochene „Betriebszugehörigkeit“. Auf gleicher Ebene liegt die Nichtberücksichtigung von Elternzeit bei der Ermittlung der Berufsjahre; andererseits kann eine Weihnachtsgratifikation auch wegen Fehlzeiten einer Mutter infolge Elternzeit gekürzt werden, nicht aber wegen Fehlzeiten nach §§ 3 und 6 MuSchG (unten § 16 II. 3. c) (1)). § 5 AGG will sagen, dass nachteilsausgleichende Maßnahmen eines ArbG, die zu einer unterschiedlichen Behandlung von Beschäftigten führen, nicht gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 AGG verstoßen; z.B. wenn der ArbG weibliche AN bei gleicher Qualifikation bevorzugt einstellt oder befördert, solange Frauen in seinem Betrieb unterrepräsentiert sind. Allerdings sind starre Quoten und absolute Vorrangregelungen unzulässig. Wohlbegründete Ausnahmen müssen gestattet sein. Zu beachten ist, dass die §§ 8 bis 10 AGG Ausnahmeregelungen enthalten, die unter bestimmten Voraussetzungen eine unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen (§ 8 AGG), wegen der Religion oder der Weltanschauung (§ 9 AGG) und wegen des Alters (§ 10 AGG) zulassen. Hierher gehört auch § 3 II Satzteil 2 AGG, wonach die fraglichen Kriterien dann keine mittelbare Benachteiligung darstellen, wenn sie „durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angemessen und erforderlich“ sind. Andere Benachteiligungsverbote, z.B. nach § 4 TzBfG, bleiben nach § 2 III AGG daneben anwendbar. II. Rechtsfolgen des Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot 1. Die Unwirksamkeit benachteiligender Maßnahmen Aus § 7 I AGG folgt, dass benachteiligende Maßnahmen unwirksam sind. Dazu zählen einseitige Handlungen des ArbG, wie z.B. Fragen bei der Einstellung und Weisungen etwa in Gestalt der Anordnung einer Versetzung. Nach § 7 II AGG sind ferner unwirksam „Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 verstoßen.“ Dieses Verbot erfasst nicht nur arbeitsvertragliche Klauseln, sondern auch Bestimmungen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Sofern der ArbG aus der Anwendung Letzterer einen Beschäftigten benachteiligt, soll er nach § 15 III AGG aber nur dann zu einer Entschädigung (nicht zum Schadensersatz?) verpflichtet sein, wenn er weiß oder grob fahrlässig nicht weiß, dass die Anwendung der Norm zu einer Benachteiligung i.S.d. § 7 I AGG führt. 2. Organisationspflichten des ArbG a) Nach § 11 AGG darf der ArbG schon bei der Ausschreibung des Arbeitsplatzes nicht gegen § 7 I AGG verstoßen. Einzelheiten dazu unten § 10 III. b) Nach § 12 II AGG trifft den ArbG die Pflicht zum vorbeugenden Schutz vor Benachteiligungen, indem er seine Belegschaft in geeigneter Weise schult. Verstoßen seine Beschäftigten gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG, kann eine Haftung des ArbG aus § 15 AGG (nachfolgend unter 3.) in Betracht kommen, wenn er die Schulung unterlassen hat. Hat der ArbG seine Beschäftigten ausreichend geschult, wird er zumindest für den Erstverstoß eines Beschäftigten gegen © Professor Dr. Hunscha 84 Dezember 2015 das Benachteiligungsverbot nicht in Anspruch genommen werden können. Zusätzlich zu den Schulungen kann die Schaffung von „Ethik-Richtlinien“, beim Vorhandensein eines Betriebsrates in Gestalt einer Betriebsvereinbarung nach § 87 Nr. 1 BetrVG, in Betracht kommen. c) Nach § 12 III AGG hat der ArbG beim Verstoß eines Beschäftigen gegen das Benachteiligungsverbot „die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung, wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen.“ Diese Reaktion des ArbG wird durch die in § 7 III AGG getroffene Feststellung erleichtert, dass eine Benachteiligung durch Beschäftigte eine Verletzung ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten ist. Unterlässt der ArbG ein wirksames Eingreifen, kann er dem Benachteiligten nach § 15 AGG haften (nachfolgend unter 3.); ein wirksames Eingreifen hingegen wird ihn auch gegenüber dem Zweitverstoß eines Beschäftigten entlasten. d) Werden Beschäftigte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit durch Dritte nach § 7 I AGG benachteiligt, hat der ArbG nach § 12 IV AGG „die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessen Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten zu ergreifen“, um einer Haftung aus § 15 AGG (nachfolgend unter 3.) zu entgehen. Ein wirksames Eingreifen wird ihn auch gegenüber einem Zweitverstoß des Dritten entlasten. e) Nach § 12 V AGG treffen den ArbG verschiedenartige Informationspflichten. So muss er den Text des AGG und des § 61b ArbGG über die Klage auf Entschädigung nach § 15 II AGG im Betrieb bekanntmachen und die nach § 13 I AGG einzurichtende Beschwerdestelle benennen. Nach dieser Vorschrift haben die Beschäftigten nämlich das Recht, sich bei „den zuständigen Stellen des Betriebes…zu beschweren, wenn sie sich im Zusammenhang mit ihrem Beschäftigungsverhältnis vom Arbeitgeber, von Vorgesetzen, anderen Beschäftigten oder Dritten wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt fühlen.“ Die Beschwerde ist zu prüfen und das Ergebnis dem Beschwerdeführer mitzuteilen. Als geeignete Anlaufstelle für Beschwerden könnte die Personalstelle bestimmt werden. Soweit der ArbG mit seinem Betriebsrat wirklich vertrauensvoll zusammenarbeitet (vgl. §§ 2, 74 BetrVG), sollten der Betriebsrat oder einzelne Betriebsratsmitglieder Beschwerdestelle sein. f) Nach § 14 AGG steht dem Beschäftigten in Fällen „der Belästigung oder sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz“ ein Leistungsverweigerungsrecht (ohne Verlust des Arbeitsentgelts) zu, wenn der ArbG keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen zur Unterbindung der Belästigung ergreift und die Leistungsverweigerung zum Schutz des Beschäftigten erforderlich ist. 3. Die Haftung des ArbG auf Schadensersatz nach § 15 I AGG Wer durch eine vom AGG verbotene Benachteiligung einen Vermögensschaden erleidet, kann unter den Voraussetzungen des § 15 I AGG diesen Schaden vom ArbG ersetzt verlangen. Als Hauptanwendungsfall kommt die Ablehnung eines Stellenbewerbers in Betracht. Wer nach einer verweigerten Beförderung im Unternehmen verbleibt, wird den ArbG im Regelfall nicht auf Schadensersatz verklagen, sondern die nächste Gelegenheit einer Beförderung abwarten. Eine Konkurrentenklage kann lediglich die Besetzung der Stelle mit einem anderen Bewerber ver- © Professor Dr. Hunscha 85 Dezember 2015 hindern. Möglich ist aber, dass der Beschäftigte wegen der verweigerten Beförderung zur Eigenkündigung greift und von seinem ehemaligen ArbG nun Ersatz seines Vermögensschadens verlangt. Fälle einer Schadensersatzklage nach Eigenkündigung kommen auch in Betracht, wenn der ArbG den Beschäftigten nicht oder unzureichend vor Belästigungen durch andere Beschäftigte oder durch Dritte, auch in Gestalt des Mobbings (aus Gründen des § 1 AGG; ansonsten siehe unten § 16 VI. 3.), geschützt hat. Da eine Wiedergutmachung in natura (Naturalrestitution) im Wege zwangsweiser Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses mit dem abgelehnten Bewerber oder zwangsweiser Herbeiführung des beruflichen Aufstiegs bei verweigerter Beförderung nach § 15 VI AGG mit Recht ausgeschlossen ist und im Fall der Eigenkündigung des Belästigten sich eine Rückkehr in den Betrieb ohnehin verbietet, kommt in diesen Fällen als Schadensersatz nur eine Geldzahlung in Höhe des Verdienstausfalls als entgangener Gewinn i.S.d. § 252 BGB in Betracht Dabei wird die tatsächliche Vermögenslage des Geschädigten mit derjenigen verglichen, die (hypothetisch) ohne die Benachteiligung bestehen würde. Ist der Beschäftigte z.B. durch eine Abmahnung, Umsetzung, Kündigung, unrichtige Tatsachenbehauptung oder die Vorenthaltung von Lohn i.S.d. § 7 I AGG benachteiligt worden, kann der materielle Schaden allerdings zumeist im Wege der Naturalrestitution ersetzt werden; nämlich durch Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte, durch Rückgängigmachung der Umsetzung, durch Wiedereinstellung des Gekündigten, durch den Widerruf der unrichtigen Tatsachenbehauptung oder durch die Zahlung der ausstehenden Vergütung Erfüllt der Anspruchsteller die Voraussetzungen des § 15 I AGG nicht, hat er immer noch die Möglichkeit, wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, vom ArbG nach § 15 II AGG eine angemessene Entschädigung in Geld zu verlangen (nachfolgend unter 4.). a) Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 15 I AGG Der dürftige Wortlaut des § 15 I AGG nötigt dazu, seine anspruchsbegründenden Voraussetzungen aufzuarbeiten. Der „Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot“ enthält zwei Aspekte. Er erfasst zum einen die Tatsache, dass der Beschäftigte (i.S.d. § 6 I AGG) eine Benachteiligung i.S.d. § 3 AGG erlitten hat (nachfolgend unter (1)). Ist das der Fall, kommt es zum anderen dazu, festzustellen, ob hierin eine Missachtung nach § 1 AGG geschützter Merkmale liegt (nachfolgend unter (2)). Sodann gilt es festzustellen, ob dem Beschäftigten daraus ein Vermögensschaden erwachsen ist (nachfolgend unter 3)). Während der Beschäftigte als Kläger diese anspruchsbegründenden Tatsachen darzulegen und, falls der ArbG sie bestreitet, auch zu beweisen hat, ordnet hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Verantwortlichkeit des ArbG (= seines Vertretenmüssens) § 15 I 2 AGG eine Beweislastumkehr zu Lasten des ArbG an (nachfolgend unter (4)). (1) Die Benachteiligung i.S.d. § 3 AGG Nach § 3 I oder II AGG muss der Beschäftigte die Tatsache der ungünstigen Behandlung nachweisen. In Absatzes 1 geht es darum, dass der Beschäftigte „eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“ (= unmittelbare Benachteiligung); nach Absatz 2 muss der Beschäftigte durch scheinbar neutrale Kriterien gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligt werden können (= mittelbare Benachteiligung). Nach § 3 III © Professor Dr. Hunscha 86 Dezember 2015 und IV AGG muss der Beschäftigte die Tatsache der dort beschrieben Belästigung nachweisen. Ist der Bewerber um die zu besetzende Stelle wegen des Missverhältnisses zwischen deren Anforderungsprofil und seiner Qualifikation schon objektiv nicht geeignet, erfüllt seine Ablehnung erst gar nicht den Tatbestand einer Benachteiligung (BAG v.19.8.2010 – 8 AZR 466/09 – in NZA 2011, 203 ff.; BAG v.14.11.2013 – 8 AZR 997/12 – in NZA 2014 489 ff.). Eine Benachteiligung i.S.d. § 3 I 1 AGG setzt nämlich voraus, dass der Bewerber „eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“. Vergleichbar ist die Auswahlsituation aber nur für solche Bewerber, die für die zu besetzende Stelle als gleichermaßen geeignet in Betracht kommen. Nur dann kann die „weniger günstige Behandlung“ (= die Ablehnung) der Prüfung unterzogen werden, ob sie „wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes“ (z.B.wegen des Alters oder der ethnischen Herkunft) erfolgte. Wer schon objektiv nicht geeignet ist, kann nicht wegen eines nach § 1 AGG geschützten Merkmals benachteiligt worden sein. Scheidet eine konkrete Betroffenheit wegen objektiver Nichteignung aus, scheitert auch ein Anspruch wegen einer möglicherweise vorliegenden mittelbaren Diskriminierung (BAG v.14.11.2013 a.a.O. Rn.37). Maßgebend für die objektive Eignung sind die Anforderungen, die der ArbG unter Berücksichtigung der für die jeweilige Tätigkeit im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsanschauung redlicher Weise stellen durfte (BAG v.19.8.2010 a.a.O. Rn.36/37; BAG v.14.11.2013 a.a.O. Rn.30 ff.). Der ArbG sollte die Kriterien seiner Einstellungsentscheidung auf jeden Fall schriftlich dokumentieren, um für einen Rechtsstreit gerüstet zu sein. (2) Die Missachtung eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale In Ansehung der nach § 3 I, II und III AGG jeweils geforderten Tatsache, die Benachteiligung wegen eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale erlitten zu haben, enthält § 22 AGG für den Anspruchsteller insoweit eine Beweiserleichterung, als er nur Indizien dafür zu darzulegen und zu beweisen hat, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen, dass die Benachteiligung wegen eines geschützten Merkmals erfolgte. Da sich die sexuelle Belästigung nach § 3 IV AGG auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung bezieht, trifft sie stets ein durch § 1 AGG geschütztes Merkmal. (3) Der aus der Benachteiligung folgende Vermögensschaden In den Fällen, in denen ein Beschäftigter nicht eingestellt oder befördert worden ist, muss der Beschäftigte den Beweis dafür erbringen, dass er die Stelle bei diskriminierungsfreier Auswahl erhalten hätte, weil er der am besten geeignete Anwärter ist. Denn wer behauptet, infolge der Benachteiligung einen Vermögensschaden in Gestalt des Verdienstausfalls erlitten zu haben, muss auch beweisen können, dass dieser Schaden bei ihm kausal zu der Benachteiligung eingetreten ist (BAG v.19.8.2010 – 8 AZR – 530/09 in NZA 2010, 1412 unter Rn.76 f.; ErfK/Schlachter § 15 AGG, Rn.3; Erman/D.W.Belling, § 15 AGG Rn.5/6: MüKoBGB/Thüsing, § 15 AGG Rn.28). Dazu müsste er allerdings wissen, wer ihm mit welcher Begründung vorgezogen wurde. Im Falle verweigerter Beförderung kann er oft vieles von alleine in Erfahrung bringen. Als externer Stellenbewerber hingegen ist er auf Mutmaßungen angewiesen. Ein Anspruch gegen den ArbG auf Auskunft über den eingestellten Bewerber oder beförderten Kollegen und die Gründe über die getroffene Personalauswahl wird dem Beschäftigten von der Rechtsprechung mangels Anspruchsgrundlage im Grundsatz nicht zuerkannt. Datenschutzrechtlichen Bedenken könnte jeden- © Professor Dr. Hunscha 87 Dezember 2015 falls dadurch begegnet werden, dass die erforderlichen Unterlagen dem Gericht in anonymisierter Form zugänglich gemacht werden. Weigert sich der beklagte ArbG trotzdem, freiwillig die erbetene Einsicht zu gewähren, kann dies im Grundsatz allerdings nicht als Indiz für das Vorliegen einer Benachteiligung gewertet werden (BAG v.25.4.2013 – 8 AZR 287/08 – in NZA 2014, 224 unter Bezugnahme auf das im Wege der Vorabentscheidung ergangene Urteil des EuGH v.19.4.2012 - C 415/10 - ; eng begrenzte Ausnahmemöglichkeiten werden angedeutet). (4) Das Vertretenmüssen des ArbG Wie die Vorschrift des § 280 I 2 BGB zu Ungunsten des Schuldners, so enthält § 15 I 2 AGG in Ansehung des Vertretenmüssens eine Beweislastumkehr, hier zu Ungunsten des auf Schadensersatz in Anspruch genommenen ArbG. Wider ihn wird kraft Gesetzes vermutet, dass er die in der Benachteiligung liegende Pflichtverletzung zu vertreten hat. Will er diese Vermutung entkräften, muss er darlegen und ggf. beweisen, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Ohne eine Beweislastumkehr wäre der Beschäftigte genötigt, Tatsache darlegen und beweisen zu müssen, die er normalerweise nicht gut genug kennen kann, weil sie in der Sphäre des ArbG liegen. Die Benachteiligung kann vom ArbG, seinen Beschäftigten oder Dritten ausgehen. Zu vertreten hat der ArbG die eigene Pflichtverletzung nach § 276 BGB, wenn er selbst vorsätzlich oder fahrlässig gegen § 7 AGG verstoßen oder seine Organisationspflichten aus § 12 II bis IV AGG nicht erfüllt hat. Er haftet ferner nach § 31 BGB bei schuldhaftem Verhalten seiner Organmitglieder und nach § 278 BGB bei schuldhaftem Verhalten seiner Mitarbeiter in Vorgesetztenfunktion oder beauftragten Dritten, wie etwa einem zur Personalsuche eingeschalteten Unternehmensberater und auch der Bundesagentur für Arbeit, etwa weil sie unter Verstoß gegen § 11 AGG ausgeschrieben haben. b) Schadensersatz in Höhe des Verdienstausfalls des Benachteiligten In den Fällen, in denen ein Beschäftigter nicht eingestellt, obwohl er der Bestqualifizierte war, oder nicht befördert worden ist und deswegen oder um Belästigungen zu entgehen, zur Eigenkündigung gegriffen hat, hat er Anspruch auf Ersatz des dadurch entstandenen Verdienstausfalls. Der Zeitraum, für den der Verdienstausfall geltend gemacht werden kann, ist jedoch nicht einfach zu bestimmen. § 15 I AGG legt weder eine Unter- noch eine Obergrenze fest. Auf jeden Fall ist § 254 BGB zu beachten: Der Kläger darf sich auf seiner Rechtsposition nicht ausruhen, sondern muss er sich unverzüglich und ernsthaft neu bewerben. Vielfach wird angenommen, dass ein entgegen § 7 AGG abgelehnter Bewerber Vergütung nur bis zum Ablauf der Frist nach der ersten durch den ArbG möglichen Kündigung verlangen kann. Nach anderer Ansicht sollen in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zur Schadensbemessung im Fall des § 628 II BGB die Abfindungsregeln des § 10 KSchG entsprechend herangezogen werden können. © Professor Dr. Hunscha 88 Dezember 2015 4. Die Haftung des ArbG auf Entschädigung nach § 15 II AGG Erfüllt der Beschäftigte die Voraussetzungen des Anspruchs aus § 15 I AGG, kann er vom ArbG nicht nur Ersatz seines materiellen Schadens verlangen, sondern zugleich Entschädigung nach § 15 II AGG. Ist dem Beschäftigten der Anspruch aus § 15 I AGG hingegen verwehrt, in den Fällen der Nichteinstellung oder der verweigerten Beförderung z.B. mangels Kausalität zwischen Benachteiligung und Vermögensschaden, weil er nicht nachweisen kann, der Bestqualifizierte zu sein, ansonsten weil der ArbG die Vermutung, den Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vertreten zu haben, entkräften kann, bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, eine Entschädigung zu beanspruchen. § 15 II AGG gewährt dem Beschäftigten einen vom Verschulden unabhängigen Anspruch auf Entschädigung „wegen eines „Schadens, der nicht Vermögensschaden ist“ (vgl. § 253 BGB: immaterieller Schaden). Er kann nicht in Geld gemessen werden, weil er ein Schaden ist, „der nicht ärmer macht, (aber) dennoch eine Beeinträchtigung“ darstellt (MüKoBGB/Thüsing § 15 Rn.9). Es geht um einen Ausgleich für die Verletzung der Persönlichkeit des Beschäftigten in Gestalt seines Selbstwertgefühls durch eine Art „Schmerzensgeld“. Als anspruchsbegründende Tatsachen fordert § 15 II AGG lediglich eine Benachteiligung i.S.d. § 3 AGG (siehe vorstehend unter 3. a) (1)) wegen eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale durch den ArbG selbst oder ein ihm zurechenbares Verhalten eines Mitarbeiters oder Dritten (Erman/D.W.Belling, § 15 AGG Rn.8). Für die Geltendmachung des Anspruchs auf Entschädigung aus § 15 II AGG muss der Beschäftigte also nur die Tatsache einer erlittenen Benachteiligung i.S.v. § 3 I, II, III oder IV AGG (wie vorstehend unter 3. a) (1), objektive Eignung vorausgesetzt) und diese auf Grund der Missachtung eines der nach § 1 AGG geschützten Merkmale (wie vorstehend unter 3. a) (2)) als ein dem ArbG nicht notwendig schuldhaft zuzurechnenden Verstoß darlegen und beweisen, Den schwer zu führenden Beweis eines Vermögensschadens (wie vorstehend unter 3. a) (3)) muss der Beschäftigte in diesem Fall nicht erbringen, weil es nicht hier nicht um einen Anspruch auf Schadensersatz, sondern um einen Anspruch auf Entschädigung wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, handelt. Die Beantwortung der Frage, ob er bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre, hat nach § 15 II 2 AGG jedoch Einfluss auf die Höhe der Entschädigung. Die Höhe der Entschädigung ist an Gesichtspunkten wie z.B. Art und Schwere der Benachteiligung, die wirtschaftliche Situation des Betroffenen, Grad der Verantwortlichkeit des ArbG, die Notwendigkeit einer abschreckende Wirkung gegenüber dem ArbG zu orientieren. Der Anspruch ist der Höhe nach nicht begrenzt, doch bewegen sich die Entschädigungssummen im Bereich von 0,5 bis 9,5 Monatsgehältern. Nach § 15 II 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Für diese Tatsache ist der ArbG beweispflichtig, wenn der AN demgegenüber behauptet, dass er bei benachteiligungs- © Professor Dr. Hunscha 89 Dezember 2015 freier Auswahl den Arbeitsplatz erhalten hätte (BAG v.19.8.2010 – 8 AZR 530/09 – in NZA 2010, 1412 ff. Rn.78). 5. Missbrauchsfälle Nicht selten sind ArbG Klagen ausgesetzt, bei denen es den Anspruchstellern nicht um den Erwerb der ausgeschriebenen Stelle geht, sondern darum, vom ArbG mindestens die Zahlung einer Entschädigung zu erlangen. Es liegt dann subjektiv keine ernsthafte Bewerbung vor. Ein Indiz hierfür können Form und Inhalt des Bewerbungsschreibens, das Auftreten des Stellenbewerbers im Vorstellungsgespräch, die Geltendmachung einer deutlich überhöhten Entschädigungszahlung mittels formularmäßigen Schriftsatzes oder serienmäßige Bewerbungen vorwiegend auf Stellen sein, die unter Verstoß gegen § 11 AGG ausgeschrieben wurden. Wird die Anspruchsstellung als rechtsmissbräuchlich erkannt, ist die Klage abzuweisen. Hierher können auch die Fälle gehören, in denen der Bewerber für die zu besetzende Stelle wegen des Missverhältnisses zwischen deren Anforderungsprofil und seiner Qualifikation schon objektiv nicht in Betracht kommt (vorstehend unter 3. a (1). 6. Fristen § 15 IV AGG bestimmt, dass Ansprüche aus § 15 I und II AGG innerhalb einer Frist von zwei Monaten dem ArbG gegenüber schriftlich geltend gemacht werden müssen, es sei denn, im anwendbaren Tarifvertrag sei etwas anderes vereinbart. Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs mit dem Zugang der Ablehnung; in den sonstigen Fällen einer Benachteiligung mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschäftigte von der Benachteiligung Kenntnis erlangt. Die Frist des § 15 IV AGG ist auch dann gewahrt, wenn die Ansprüche aus § 15 I und II AGG innerhalb von zwei Monaten gleich beim Arbeitsgericht anhängig gemacht werden (BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 662/13 – in ArbRB 2014, 293). Nach § 61b ArbGG muss der Beschäftigte innerhalb von drei Monaten Klage auf „Entschädigung“ erheben, nachdem der Anspruch beim ArbG schriftlich geltend gemacht worden ist. Über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus gilt das auch für die Erhebung der Klage auf Schadensersatz. Zu beachten ist, dass sich beide Fristen nicht addieren. Bei einer schriftlichen Geltendmachung noch am Tage der Benachteiligung, bleibt dem Beschäftigten eine Klagefrist von nur drei Monaten. 7. Das Maßregelungsverbot Nach § 16 AGG trifft den ArbG ein Maßregelungsverbot gegenüber Beschäftigten, die ihre Rechte nach dem AGG rechtmäßig wahrnehmen. Im Übrigen kann der ArbG nach § 17 II AGG bei einem groben Rechtsverstoß nach Maßgabe des § 23 III BetrVG zur Rechenschaft gezogen werden. § 7 III AGG stellt fest, dass eine Benachteiligung durch den ArbG eine Verletzung seiner vertraglichen Pflichten (Pflichtverletzung) darstellt. © Professor Dr. Hunscha 90 Dezember 2015 § 10 Die Einstellung von Arbeitnehmern I. Die Abschlussfreiheit des Arbeitgebers 1. Anders als bei der inhaltlichen Gestaltung des Arbeitsvertrages (oben § 4) gilt in Ansehung der Frage, Wer mit Wem einen Arbeitsvertrag abschließt, der Grundsatz, dass ArbG wie AN darin frei sind, sich einen Arbeitsvertragspartner nach ihrem Geschmack auszuwählen. Diese Selbstverständlichkeit hat in § 105 GewO ihren einfachgesetzlichen Ausdruck gefunden und gründet sich verfassungsrechtlich auf Art. 2 I, 12 I GG. 2. Für den ArbG findet sich eine Einschränkung seiner Abschlussfreiheit in § 78a BetrVG für Auszubildende, die Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung oder des Betriebsrats sind. Da das Ausbildungsverhältnis befristet ist und nach § 21 BBiG mit dem Ablauf der Ausbildungszeit ohne weiteres endet, soll der Auszubildende davor geschützt werden, wegen seines betriebsverfassungsrechtlichen Engagements nicht in ein Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. Um ihm eine vom Wohlwollen des ArbG unabhängige Amtführung zu ermöglichen, begründet das Verlangen des Auszubildenden auf Weiterbeschäftigung im Anschluss an das Ausbildungsverhältnis ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit. Der ArbG kann sich von der Weiterbeschäftigungspflicht durch das Arbeitsgericht befreien lassen, wenn die Weiterbeschäftigung für ihn unzumutbar ist. So bei Beendigung des Ausbildungsverhältnisses wegen endgültigen Nichtbestehens der Abschlussprüfung nach Maßgabe des § 21 III BBiG oder wenn Gründe vorliegen, die den ArbG nach § 626 BGB zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigen würden, ferner bei Fehlen eines geeigneten freien Arbeitsplatzes unter der Voraussetzung, dass dem ArbG die Schaffung eines neuen Arbeitsplatzes vernünftigerweise nicht angesonnen werden kann. Unabhängig von § 78a BetrVG kann eine Weiterbeschäftigungspflicht des ArbG in einem den ArbG bindenden Tarifvertrag festgelegt werden. 3. Verspielt hat der ArbG seine Abschlussfreiheit allerdings, wenn er sich die Blöße geben sollte, einen Bewerber (erkennbar) unter Verstoß gegen Art. 9 III GG wegen seiner Gewerkschaftszugehörigkeit oder (erkennbar) unter Verstoß gegen § 78 S. 2 BetrVG wegen einer früheren Betriebsratstätigkeit abzulehnen; denn dadurch verletzt der ArbG schuldhaft Schutzgesetze im Sinne des § 823 II BGB mit der Folge, dass der hiernach geschuldete Schadensersatz im Wege der Naturalrestitution (§ 249 S. 1 BGB) zu einem Einstellungsanspruch des abgelehnten Bewerbers führt. 4. Ansonsten können Fehler des ArbG bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes ihn insoweit belasten, als er Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen abgelehnter Bewerber z.B. wegen Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG (oben § 9 sowie nachfolgend unter III.) ausgesetzt ist und in mitbestimmten Betrieben seine Auswahlentscheidung vom Betriebsrat nach Maßgabe des § 99 II BetrVG angegriffen wird (unten § 11 III.). 5. Nach § 71 I 1 SGB IX sind ArbG, die im Jahresdurchschnitt monatlich mindestens 20 Arbeitsplätze haben, verpflichtet, auf mindestens 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Dem schwerbehinderten Bewerber erwächst daraus aber kein Einstellungsanspruch. Die Verpflichtung des ArbG besteht lediglich gegenüber dem Staat, an den er bei Nichterfüllung nach § 77 SGB IX eine Ausgleichsabgabe zu leisten hat, bei schuldhafter Nichtbeachtung nach § 156 I Nr. 1, II SGB IX eine Geldbuße. II. Vorbereitende Maßnahmen Die betriebliche Personalplanung dient der vorausschauenden Ermittlung des den künftigen Arbeitsanforderungen in qualitativer wie quantitativer Hinsicht entspre- © Professor Dr. Hunscha 91 Dezember 2015 chenden Personalbedarfs und der Sicherstellung einer entsprechenden Personaldeckung. Besteht ein Betriebsrat, kommt in Ansehung der Begründung von Arbeitsverhältnissen den §§ 93 bis 95 BetrVG besondere Bedeutung zu. ► Ausschreibung von Arbeitsplätzen: In der Privatwirtschaft ist es dem ArbG freigestellt, ob er einen Arbeitsplatz ausschreibt oder nicht. Auch der Betriebsrat kann eine außerbetriebliche Stellenausschreibung nicht verlangen, wohl aber nach § 93 BetrVG eine innerbetriebliche. Missachtet der ArbG dieses Begehr, kann der Betriebsrat nach § 99 II Nr. 5 BetrVG seine Zustimmung zur Einstellung des von außen angeworbenen AN verweigern. Die Durchführung der innerbetrieblichen Ausschreibung begründet keine entsprechende Besetzungspflicht. Der ArbG kann neben der innerbetrieblichen Ausschreibung auch außerbetriebliche Bewerbungen einholen, dies dann aber nur zu genau denselben Kriterien, die die innerbetriebliche Ausschreibung enthält. ► Personalfragebögen und Beurteilungsgrundsätze: Nach § 94 I BetrVG bedürfen Personalfragebögen, die der ArbG im Einstellungsverfahren verwenden will, der Zustimmung des Betriebsrats. Darüber kommt es regelmäßig zu einer Betriebsvereinbarung. Nach § 94 II BetrVG gilt Entsprechendes für „persönliche Angaben in allgemein verwendeten schriftlichen Arbeitsverträgen, die allgemein für den Betrieb verwendet werden sollen“ sowie für die Aufstellung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze. Verletzt der ArbG die ihm nach § 77 I BetrVG obliegende Pflicht zur Durchführung der Betriebsvereinbarung, kann der ArbG vom Betriebsrat nach § 23 III BetrVG in Anspruch genommen werden. ► Auswahlrichtlinien: Stellt der ArbG im Rahmen seiner Personalplanung Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen auf, so bedürfen sie nach § 95 I 1 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrats. Im Regelfall kommt es hierüber zu einer Betriebsvereinbarung. Beschäftigt der Betrieb mehr als 500 AN, kann der Betriebsrat nach § 95 II 1 BetrVG sogar initiativ werden und von sich aus vom ArbG die Aufstellung von Richtlinien „über die bei Maßnahmen des Absatzes 1 Satz 1 zu beachtenden fachlichen und persönlichen Voraussetzungen und sozialen Gesichtspunkten verlangen.“ Mit dem Betriebsrat nach § 95 BetrVG vereinbarte Auswahlrichtlinien z.B. für die Einstellung von AN begründen keine Verpflichtung des ArbG gegenüber den Bewerbern. Eine Einstellungsentscheidung unter Missachtung der Auswahlrichtlinien berechtigt jedoch den Betriebsrat, nach § 99 II Nr. 2 BetrVG der beabsichtigten Einstellung zu widersprechen. Im Übrigen kann der ArbG vom Betriebsrat nach § 23 III BetrVG in Anspruch genommen werden, wenn er die ihm nach § 77 I BetrVG obliegende Pflicht zur Durchführung der Betriebsvereinbarung verletzt. III. Das Erfordernis diskriminierungsfreier Ausschreibung 1. Nach § 11 AGG darf die Ausschreibung eines Arbeitsplatzes, einerlei, ob sie innerbetrieblich oder außerbetrieblich erfolgt, nicht gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG verstoßen. Gegen dieses Verbot verstößt der ArbG auch dann, wenn ein von ihm beauftragter Dritter den Arbeitsplatz unter Verletzung von § 7 I AGG ausgeschrieben hat, z.B. ein Unternehmensberater oder die Bundesagentur für Arbeit. § 11 AGG gilt nur nicht bei Mitteilungen an einzelne Personen. Die §§ 8 bis 10 AGG enthalten sachlich begründete Ausnahmen vom Verbot der unterschiedlichen Behandlung. Ein Lichtbild sollte nicht ausdrücklich verlangt werden, wird von den Bewerbern/der Bewerberin aber regelmäßig freiwillig zur Verfügung gestellt. Es wird neuerdings erwogen, die schriftliche Bewerbung so anonymisiert anzufordern, dass dem ArbG bei der Vorauswahl weder das Geschlecht noch das Al- © Professor Dr. Hunscha 92 Dezember 2015 ter und die Herkunft des Bewerbers/der Bewerberin erkennbar sind. In diesem Fall müssen dann auch bestimmte Angaben auf den der Bewerbung beigefügten Kopien von Unterlagen zunächst einmal geschwärzt sein. Nach § 22 AGG ist ein Verstoß des ArbG gegen § 11 AGG ein Indiz, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lässt (Beweislastumkehr). Das kann zu Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche eines abgewiesenen Bewerbers nach Maßgabe des § 15 AGG führen (oben § 9 II. 3./4.). Darüber hinaus kann der Betriebsrat der Einstellung des AN nach § 99 II Nr. 1 BetrVG widersprechen. In der Praxis klagen nicht berücksichtigte Bewerber hauptsächlich mit der Behauptung, sie seien wegen ihres Geschlechts oder wegen ihres Alters benachteiligt worden. 2. Die der Ausschreibung und Bewerbung nachfolgenden Auswahlvorgänge sollte der ArbG sorgfältig dokumentieren und mindestens während der Frist des § 15 IV AGG zwei Monate ab Zugang der Absage aufbewahren, um für den Fall, dass ein nicht berücksichtigter Bewerber Klage erhebt, mit möglicherweise entlastendem Material ausgerüstet zu sein. Ein abgelehnter Stellenbewerber hat gegen den ArbG keinen Anspruch auf Auskunft, ob er einen anderen Bewerber eingestellt hat und auf Grund welcher Kriterien (BAG v. 25.4.2013 – 8 AZR 287/08 – in NZA 2013 VI). IV. Informationsrechte des Arbeitgebers und seine Befugnis zur Anfechtung des Arbeitsvertrages bei Informationsdefiziten 1. Zur Bewerberauswahl geeignete Erkenntnismittel sind neben dem Bewerbungsgespräch z.B. der Personalfragebogen, Assessment-Center und Auswahlseminare, in den Grenzen des Fragerechts des beworbenen ArbG auch Auskünfte des bisherigen ArbG. Die Durchführung von Einstellungstests, graphologischen Gutachten und ärztlichen Einstellungsuntersuchungen erfordern eine entsprechende Einwilligung des Bewerbers, deren Verweigerung der Einstellung allerdings nicht förderlich sein wird. Nach § 19 des Gesetzes über genetische Untersuchungen (GenDG vom 1. 2. 2010) ist die Genomanalyse verboten. 2. Im Rahmen des Einstellungsverfahrens hat der ArbG das Recht, vom Bewerber alles zu erfragen oder auf sonst wie zulässige Weise (siehe vorstehend 1.) zu ermitteln, was für das Arbeitsverhältnis nach Recht und Billigkeit von Bedeutung ist und nicht das Persönlichkeitsrecht des Bewerbers verletzt oder gesetzlichen Wertungen (AGG) widerspricht. Dabei geht es (nach MüArbR/Buchner § 30 Rn. 262/308) im Wesentlichen um die Feststellung der erforderlichen fachlichen Qualifikation, der erforderlichen körperlichen und gesundheitlichen Verfassung sowie der persönlichen Eigenschaften des Bewerbers dafür, dass er seine „Arbeitsleistung im Sinne der unternehmerischen Zielsetzung des Arbeitgebers“ erbringen kann, wie z.B. seine Aufgeschlossenheit, Einsatzbereitschaft, Teamfähigkeit, Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit. © Professor Dr. Hunscha 93 Dezember 2015 Hiernach zulässige Fragen kann der Bewerber zwar ablehnen zu beantworten, doch muss er die Wahrheit sagen, wenn er sie beantwortet. Unwahre Antworten auf zulässige Fragen sind rechtswidrig (widerrechtlich) und die darin liegende Täuschung des Fragestellers darum arglistig (§ 123 I BGB; nachfolgend unter 4.). Auf unzulässige Fragen hingegen darf der Bewerber die Unwahrheit sagen, um nicht durch sein Schweigen den Verdacht zu erregen, dass er etwas zu verbergen hätte. Sein Verhalten ist in diesem Fall nicht rechtswidrig (widerrechtlich) und damit die darin liegende Täuschung nicht arglistig. Wenn der ArbG sich allerdings nicht darauf beschränkt, Fragen zu stellen, sondern den Bewerber um seine Zustimmung zu weitergehenden Untersuchungen, Teilnahme an investigativen Veranstaltungen und um Zurverfügungstellung weiterer Erkenntnismittel bittet, wird der Bewerber sich nicht ohne Risiko verweigern können. Zulässig sind z.B. Fragen • • • nach der Ausbildung und den Ergebnissen einschlägiger Prüfungen sowie nach dem beruflichen Werdegang einschließlich Anzahl und Dauer der bisherigen Arbeitsverhältnisse. Die Frage nach der bisherigen Vergütung ist zulässig, wenn sie für die begehrte Stelle aussagekräftig ist oder der Bewerber sie als Mindestvergütung fordert (Küttner/Kreitner, Personalbuch 77 Rn.26); nach den Vermögensverhältnissen nur bei Bewerbern für bestimmte Vertrauenspositionen, insbesondere als leitende Angestellte (vgl. § 14 KSchG). Darüber, ob die Frage nach Lohnpfändungen oder -abtretungen (wegen des für den ArbG damit verbundenen zusätzlichen Arbeitsaufwandes) zulässig ist, besteht Uneinigkeit. Das allgemeine Verlangen des ArbG nach Vorlage einer aktuellen Schufa-Auskunft ist unzulässig. Es muss jedoch erkannt werden, dass der Bewerber, der die Vorlage verweigert, seine Einstellung gefährdet; nach Vorstrafen, die für die in Aussicht genommene Tätigkeit einschlägig sind, unter der Voraussetzung, dass sie in das polizeiliche Führungszeugnis aufzunehmen sind und nicht der beschränkten Auskunft oder bereits der Tilgung unterliegen. Die Beschränkung auf die Einschlägigkeit der Vorstrafe ist allerdings dann nicht gewährleistet, wenn der Bewerber aufgefordert wird, ein aktuelles polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen. Verweigert er deswegen die Vorlage, gefährdet er aber seine Einstellung. Bei einer Bewerbung für den öffentlichen Dienst ist die Vorlage unverzichtbar. Ein um die Mitteilung von Verurteilungen über die in § 30 V BZRG aufgeführten Straftaten erweitertes polizeiliches Führungszeugnis kann seit dem 1. 5. 2010 für die Beschäftigung mit der Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung oder Ausbildung von Kindern und Jugendlichen sowie Tätigkeiten mit vergleichbaren Kontaktmöglichkeiten gefordert werden. • nach Krankheiten und Behinderungen, soweit sie sich auf die Durchführung des Arbeitsverhältnisses auswirken können. Dabei geht es hauptsächlich um die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Bewerbers, aber auch darum, die Gefährdung von Arbeitskollegen und Dritten zu vermeiden. Nach einer HIV-Infektion darf nur in den Fällen gefragt werden, in denen der Bewerber z.B. wegen seines Einsatzes im Gesundheitswesen oder bei der Herstellung von Nahrungsmitteln für Dritte eine besondere Gefahr bildet. Hingegen besteht in Ansehung einer HIV-Erkrankung nicht nur ein Fragerecht des ArbG, sondern auch eine Offenbarungspflicht des Bewerbers (nachfolgend unter 3.). Eine ärztliche Einstellungsuntersuchung darf nur so weit gehen, wie das berechtigte Informationsinteresse des ArbG reicht und ist nur mit Zustimmung des Bewerbers zulässig. In seiner Einwilligung liegt zugleich die auf das berechtigte Informationsinteresse des ArbG begrenzte Entbindung des Arztes von seiner Schweigepflicht. Verweigert der Bewerber sie ausdrücklich, gefährdet er allerdings seine Einstellung. © Professor Dr. Hunscha 94 Dezember 2015 Die allgemeine Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne von § 2 II SGB IX dürfte mit Rücksicht auf § 7 I AGG nicht mehr zulässig sein. Um den ArbG, der einen Schwerbehinderten eingestellt hat, von einer ansonsten nach § 77 SGB IX fälligen Ausgleichsabgabe zu bewahren, ist dann aber eine entsprechende Offenbarung des eingestellten Schwerbehinderten erforderlich; ohne Offenbarung genießt der Schwerbehinderte auch keinen Sonderkündigungsschutzes nach §§ 85 ff. SGB IX (unten § 29 II. 4.). Nicht zulässig sind z.B. Fragen nach der Gewerkschafts-, Partei- oder Religionszugehörigkeit, es sei denn, es geht um eine Bewerbung gerade bei einer dieser Institutionen (Tendenzbetrieb; oben § 6 V. 4.). Im laufenden Arbeitsverhältnis ist die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit mit Rücksicht auf §§ 3 I, 4 I TVG zulässig, wenn der ArbG ausnahmsweise hiernach differenzierten sollte (oben § 5 II. 2.). • nach beabsichtigter Eheschließung oder Familienplanung und ähnlichen Umschreibungen des arbeitgeberseitigen Interesses an der Einschätzung des Schwangerschaftsrisikos einer Bewerberin; erst recht nicht die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft; und das auch nicht mehr in dem Fall, dass der ArbG die Bewerberin für nur wenige Monate befristet beschäftigen will, etwa als Schwangerschaftsvertretung, und sie diese Tätigkeit infolge der ihr schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages bekannten Schwangerschaft während eines wesentlichen Teils der Vertragszeit nicht ausüben kann. Auch in dieser Situation verstößt die Frage gegen § 7 I AGG, und dies selbst dann, wenn auf Grund der Art der Tätigkeit schon von Anfang an ein Beschäftigungsverbot nach dem MuSchG besteht. ArbG erwehren sich der Überraschung, eine bereits Schwangere eingestellt zu haben, häufig dadurch, dass sie Probearbeitsverhältnisse generell, zur Vermeidung eines Diskriminierungsvorwurfs also auch für männliche Arbeitskräfte, nur noch als befristete Arbeitsverhältnisse vereinbaren (siehe unten § 12). Wird jedoch erkennbar, dass die Nichtübernahme der Frau nach Ablauf der befristeten Probezeit in ein anschließendes (befristetes oder unbefristetes) Arbeitsverhältnis ihren Grund in der Schwangerschaft oder. nunmehrigen Mutterschaft der AN hat, handelt es sich um eine vom ArbG zu vertretende diskriminierende Einstellungsverweigerung wegen des Geschlechts, die ihn nach § 15 AGG schadensersatzpflichtig werden lässt (EuGH v. 4.10.2001 – C 438/99 – in NZA 2001, 1243). Beachte: Wenn eine Bewerberin ihre Schwangerschaft freiwillig offenbart oder sie nicht verbergen kann, hat der ArbG immer noch das Recht, sie nicht einzustellen, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt, wie etwa nicht ausreichende Qualifikation der Bewerberin oder besser qualifizierte Mitbewerber. Keinesfalls aber dürfte erkennbar werden, dass der ArbG die Einstellung der Schwangeren wegen künftig möglicher Fehlzeiten infolge Krankheit des Kindes ablehnt, weil darin ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der §§ 7, 1 AGG mit der Konsequenz des § 15 AGG liegt (oben § 9). Was der ArbG nicht erfragen darf, das darf er auch nicht auf andere Weise ermitteln. Dieses Verbot ist jedoch in vielen Fällen ein stumpfes Schwert; denn der AN, der z.B. die vom ArbG geforderte Einstellungsuntersuchung verweigert oder seine Schufa-Auskunft nicht beibringt oder ein polizeiliches Führungszeugnis nicht vorlegt, läuft Gefahr, im Bewerbungsverfahren chancenlos zu bleiben. Hatte sich der dann doch nicht eingestellte Bewerber dieser Forderung des ArbG allerdings gezwungenermaßen gebeugt, könnte er den ArbG u.U. wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts aus § 823 I BGB („sonstiges Recht“) auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch nehmen. Hat der ArbG rechtswidrig erlangte Informationen über den AN zu dessen Nachteil verwendet, kann er dem Bewerber gegenüber aus Verschulden bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen nach §§ 311 II Nr.1, 241 II, 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden. © Professor Dr. Hunscha 95 Dezember 2015 3. In Ansehung solcher Umstände, die für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses von erkennbar ausschlaggebender Bedeutung sind, trifft den Bewerber ungefragt eine Offenbarungspflicht. Beispiele: Umstände, die der Verfügbarkeit des Bewerbers bei Arbeitsbeginn oder in absehbarer Zeit danach entgegenstehen, wie z.B. eine bevorstehende Operation oder ein bevorstehender Haftantritt; Umstände, aufgrund derer der Bewerber die angebotene Tätigkeit nicht oder nur eingeschränkt ausüben kann; Alkoholabhängigkeit bei der Bewerbung als Kraftfahrer; das Bestehen einer HIVErkrankung; einschlägige Wettbewerbsverbote aus einem früheren Arbeitsverhältnis. 4. Erfährt der ArbG nach Abschluss des Arbeitsvertrages, dass ihn der Bewerber durch (1) widerrechtliche Falschauskunft oder (2) widerrechtlich unterlassener Offenbarung wesentlicher Tatsachen getäuscht hat, ist er innerhalb der Frist des § 124 I BGB nach § 123 I BGB berechtigt, seine Willenserklärung (die im Zusammenwirken mit der korrespondierenden Willenserklärung des ausgewählten Bewerbers zum Abschluss des Arbeitsvertrages geführt hat) wegen arglistiger Täuschung anzufechten mit der Rechtsfolge, dass der Arbeitsvertrag (entgegen § 142 I BGB allerdings nur) für die Zukunft (siehe unten § 11 IV. am Ende) aufgelöst ist. Da es sich bei der Anfechtung nicht um eine Kündigung handelt, gelten weder Kündigungsverbote und Kündigungsschutz, noch Kündigungsfristen. 5. Hat der Bewerber den ArbG nicht arglistig getäuscht, sondern ist der ArbG infolge bloßen Irrtums zu einer Fehlvorstellung über entscheidungserhebliche Eigenschaften, wie etwa die berufliche Eignung oder den Gesundheitszustand des Bewerbers gekommen, kann er seine für den Vertragsschluss notwendige Willenserklärung nach Entdeckung des Irrtums innerhalb der Frist des § 121 BGB (analog § 626 II BGB höchstens 2 Wochen nach Kenntnis) nach § 119 II BGB anfechten mit der Rechtsfolge, dass der Arbeitsvertrag (entgegen § 142 I BGB; dazu unten § 11 IV. am Ende) für die Zukunft aufgelöst ist. Der Irrtum des ArbG kann darauf beruhen, dass der Bewerber Umstände, nach denen der ArbG fragen darf oder die der Bewerber von sich aus offenbaren müsste, nicht zutreffend beantworten oder offenbaren kann, weil er sie selbst (noch) nicht kennt. Denkbar ist auch, dass der ArbG einen Umstand, den der Bewerber nicht schon von sich aus offenbaren muss, zu erfragen versäumt hat. Beispiel: Die als Balletttänzerin eingestellte Bewerberin hat keine Kenntnis davon, dass sie an Epilepsie leidet. Dieses Leiden wird ihr erst nach Arbeitsbeginn bekannt, weil es erstmals zu einem Anfall kommt. Übrigens: Stellt sich derlei noch vor Ablauf des sechsten Beschäftigungsmonats heraus, würde sie nach § 90 I Nr. 1 SGB IX noch am letzten Tag dieser Frist gekündigt werden können, selbst wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt schon einen Antrag auf Feststellung der Behinderung gestellt haben sollte. V. Vorvertragliche Aufklärungs- und Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers Nicht nur der Bewerber, sondern auch der ArbG ist nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehalten, ungefragt auf Umstände hinzuweisen, die für den Bewerber entscheidungserheblich sind: Etwa auf besondere, dem Bewerber nicht erkennbare Anforderungen der Tätigkeit oder auf wirtschaftliche Schwierigkeiten des ArbG, die den Arbeitsplatz gefährden oder Stockungen bei der Lohnzahlung befürchten lassen. Kommt es zwar zum Abschluss des Arbeitsvertrages, endet das Arbeitsverhältnis aber innerhalb kurzer Zeit aus Gründen, die der ArbG dem AN vor Vertragsschluss unter Ver- © Professor Dr. Hunscha 96 Dezember 2015 letzung der Aufklärungspflicht verschwiegen hat, kann dem AN ein Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens aus dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss (culpa in contrahendo – c.i.c.) nach Maßgabe der §§ 311 II, 241 II, 280 I BGB zustehen. Er muss dann vom ArbG so gestellt werden, wie er gestanden hätte, wenn ihm die erforderliche Aufklärung zuteil geworden wäre. Hatte der Bewerber ein anderes Stellenangebot ausgeschlagen oder sein bisheriges Arbeitsverhältnis mit Blick auf die neue Stelle gekündigt, kann er den hierdurch entgangenen Verdienst in den Grenzen des § 254 I BGB unter der Voraussetzung ernsthafter und nachhaltiger Bemühungen um einen neuen adäquaten Arbeitsplatz geltend machen. Erweckt oder nährt der ArbG im Bewerber die unzutreffende Vorstellung, es werde in jedem Fall zu einer Einstellung kommen, so enttäuscht er in Anspruch genommenes Vertrauen, wenn er den Arbeitsvertrag doch nicht abschließt oder der Betriebsrat nach Abschluss des Arbeitsvertrages seine Zustimmung zur Einstellung nach § 99 II BetrVG zu Recht verweigert, und haftet er dem AN in gleicher Weise. VI. Der Anspruch des Stellenbewerbers auf Ersatz seiner Vorstellungskosten Der Anspruch auf Ersatz der Vorstellungskosten folgt aus § 670 BGB und setzt voraus, dass der Arbeitgeber den Bewerber zu dem Vorstellungsgespräch aufgefordert hat. Der Arbeitgeber kann diesen Anspruch jedoch dadurch ausschließen, dass er vor der Einladung eindeutig klarstellt, die Vorstellungskosten nicht übernehmen zu wollen. © Professor Dr. Hunscha 97 Dezember 2015 § 11 Das Zustandekommen des Arbeitsvertrags I. Der Vertragsschluss Der Arbeitsvertrag kommt nach §§ 145 ff. BGB durch Antrag und Annahme des Antrags zustande. Auch spätere Änderungen und Ergänzungen des Arbeitsvertrags sind nur dann wirksam, wenn sie auf übereinstimmenden Willenserklärungen beider Vertragsparteien beruhen. Zum Sonderfall der inhaltlichen Erweiterung des Arbeitsvertrags durch eine Betriebliche Übung siehe oben § 4 II. Hingegen führt das Weisungsrecht des ArbG nicht zu einer Änderung oder Ergänzung des Arbeitsvertrages, sondern bewegt sich in seinem Rahmen und füllt ihn aus (unten § 15 II.). Die Stellenausschreibung, das Bewerbungsschreiben und die Einladung zum Vorstellungsgespräch sind keine diesbezüglichen Willenserklärungen; auch nicht die Bekundung des Gesprächsführers, dass die Absicht besteht, den Bewerber einzustellen. Der durch diese Bemerkung beglückte Bewerber sollte keinesfalls jetzt schon ein etwa noch bestehendes anderes Arbeitsverhältnis kündigen. Der Antrag zum Abschluss des Arbeitsvertrages geht vom ArbG aus, und zwar im Regelfall in Gestalt zweier von ihm vorformulierter und oft auch schon unterschriebener Ausfertigungen des Arbeitsvertrags; eine für den ArbG und eine für den AN. Die Annahme erklärt dann der AN durch seine Unterschriftsleistung, so dass beide Vertragsurkunden die Unterschriften beider Seiten tragen. Es würde allerdings auch genügen, dass jede Partei im Besitz einer vom jeweils anderen unterschriebenen Vertragsurkunde ist. II. Formfreiheit und Formerfordernisse Während die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag nach § 623 BGB aus Gründen der Rechtssicherheit der Schriftform bedarf, ist der Abschluss des Arbeitsvertrages formfrei möglich, um sein Zustandekommen zu erleichtern. Soll er allerdings eine Befristung enthalten oder unter einer auflösenden Bedingung stehen, muss nach §§ 14 IV, 21 TzBfG wenigstens die Befristungs- oder Bedingungsabrede in der Schriftform des § 126 BGB vorliegen. Fehlt sie, gilt der Arbeitsvertrag nach §§ 16, 21 TzBfG als unbefristet oder als unbedingt abgeschlossen. Zum Zweck der Beweissicherung hat der AN nach Maßgabe des NachwG, ggf. nach § 11 BBiG oder unter Berücksichtigung von § 11 I AÜG, einen Anspruch auf eine ordentliche Vertragsniederschrift. Die elektronische Form ist ausdrücklich ausgeschlossen. Verletzt der ArbG seine Nachweispflicht, kann er nach § 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden, wenn der AN mangels Hinweises auf wesentliche Vertragsbedingungen einen Rechtsnachteil erleidet. Verlangt ein Tarifvertrag von den beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien die Schriftform des Arbeitsvertrages, wird es sich tarifrechtlich um eine sog. Inhaltsnorm handeln (dazu oben § 5 I. 5. normativer Teil des Tarifvertrages), die – wie die Anordnungen des NachwG – „im Zweifel“ nur Beweiszwecken dient, aber nicht eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Arbeitsvertrages ist. Diese Schriftform bestätigt nur, was auch ohne Schriftform schon gilt, hat also lediglich deklaratorische (= rechtsbekundende) Bedeutung. Nur in begründeten Ausnahmefällen wird tarifrechtlich eine Abschlussnorm (dazu oben § 5 II. 1. normativer Teil des Tarifvertrags) mit konstitutiver (= rechtsbegründender) Bedeutung vorliegen, bei deren Nichtbeachtung der Arbeitsvertrag nach § 125 S. 2 BGB nichtig ist (zum sog. faktischen Vertragsverhältnis siehe nachfolgend unter IV.). © Professor Dr. Hunscha 98 Dezember 2015 Weil der Arbeitsvertrag schon bei mündlichem Abschluss gültig ist, ist ein Vertragsschluss auch durch schlüssiges (= konkludentes) Verhalten möglich, und zwar nicht nur bei der erstmaligen Arbeitsaufnahme, sondern auch bei der Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses über den vereinbarten Beendigungszeitpunkt oder nach der Kündigung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus. Vgl. zum einen § 625 BGB, bzw. § 15 V TzBfG, dessen Hauptanwendungsfall die Weiterarbeit über das Ende des befristeten Probearbeitsverhältnisses hinaus ist; zum anderen die in § 24 BBiG geregelte Weiterarbeit über die Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses hinaus. III. Schriftformklauseln Ist in einem schriftlichen Arbeitsvertrag festgelegt, dass auch spätere Änderungen und Ergänzungen des Vertrages der Schriftform bedürfen, ist ein später nur mündlich vereinbarter Zusatz nach § 125 Satz 2 BGB „im Zweifel“ eigentlich nichtig. Allerdings kann eine mündliche Zusatzvereinbarung als eine stillschweigend gewollte Aufhebung des vereinbarten Formerfordernisses gedeutet werden. Erst die Verwendung einer sog. doppelten Schriftformklausel soll geeignet sein, diese Rechtsfolge zu vermeiden, so dass es bei einem als konstitutiv (= rechtsbegründend) gewollten Schriftformerfordernis nicht nur heißen darf: „Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform“ sondern zusätzlich: „Auch die Aufhebung der Schriftformabrede bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform“. Da aber der Arbeitsvertrag und damit auch die jeweilige Schriftformklausel im Arbeitsvertrag regelmäßig den Charakter von AGB tragen (oben § 4 I. 2.), gilt § 305b BGB, wonach individuelle Vertragsabreden, auch wenn sie nur mündlich getroffen worden sind, stets den Vorrang vor AGB haben. Damit scheitert die Möglichkeit, mit Hilfe einer Schriftformklausel mündliche Nebenabreden auszuschließen. Nur das Entstehen einer Betrieblichen Übung kann durch die doppelte Schriftformklausel verhindert werden, weil die zur Betrieblichen Übung führenden Gewährungsakte des ArbG nicht die Voraussetzungen einer Individualvereinbarung erfüllen (oben § 4 II. 4.). IV. Der übliche Vertragsinhalt 1. § 2 I 2 Nr. 1 bis 10 NachwG enthält eine Auflistung der Angaben, die in einen Arbeitsvertrag mindestens aufzunehmen sind. Zu Nr. 4 und 5 ist Folgendes zu ergänzen: Eine weite Umschreibung des Tätigkeitsfeldes des AN verbunden mit entsprechenden Umsetzungs- bzw. Versetzungsklauseln im Arbeitsvertrag gibt dem ArbG die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis im Wege der Ausübung seines Weisungsrechts an veränderte wirtschaftlich Bedingungen anzupassen. Zugleich stärkt es den Kündigungsschutz des AN gegenüber betriebsbedingten Kündigungen durch Erweiterung der Vergleichsgruppe für die nach § 1 III Satz 1 KSchG erforderliche Sozialauswahl und schafft für den kündigungsbedrohten AN vermehrte Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten (unten § 15 II. 3.). 2. Über die unter den Nrn. 1 bis 10 aufgelisteten Angaben hinaus enthält ein Arbeitsvertrag häufig eine Bestimmung, © Professor Dr. Hunscha 99 Dezember 2015 die den ArbG ermächtigt, Überstunden anzuordnen (unten § 15 III. 3.) und ihn verpflichtet, sie in bestimmter Weise zu vergüten. Eine Ermächtigung des ArbG, unter bestimmten Voraussetzungen Kurzarbeit anordnen zu können, kommt seltener vor: die den AN verpflichtet, eine geplante Nebentätigkeit anzuzeigen. Ihre Ausübung darf der ArbG nur dann untersagen, wenn sie seine berechtigten Belange verletzt, z.B. weil sie die Arbeitsleistung des AN erheblich beeinträchtigt oder die Wettbewerbsinteressen des ArbG verletzt. Die Verbote der §§ 2 I 1, 3 Arm darüber, dass die Entgeltansprüche des AN gegen den ArbG nur mit schriftlicher Zustimmung des ArbG abgetreten oder verpfändet werden können und der AN die dem ArbG daraus entstehenden Bearbeitungskosten zu tragen hat; darüber, dass Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden müssen (Ausschluss- bzw. Verfallfrist; unten § 44). Darüber hinaus ist ein Hinweis auf die Anzeige- und Hinweispflichten des AN bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch eine kurgefasste Wiedergabe des § 5 EFZG geboten. Im Übrigen ist festzustellen, dass Arbeitsverträge oft Arbeitsbedingungen enthalten, die gegen Arbeitsgesetze oder Vorschriften des AGB-Rechts verstoßen. Geschieht dies planmäßig, ist davon auszugehen, dass der ArbG darauf spekuliert, es würden sich zu seinem Vorteil nur wenige AN dagegen zur Wehr setzen. Um ihre Einstellung nicht zu gefährden, sollten ausgewählte Bewerber derlei allerdings nicht schon vor Vertragsschluss rügen. Durch die Unterschrift unter den Arbeitsvertrag wird Rechtswidriges nicht rechtswirksam! Unzulässige Arbeitsbedingungen sollten erst nach Rücksprache mit einem Rechtsberater angegriffen werden. Bleibt der ArbG unbeweglich, kann der in seinen Rechten verletzte AN gegen ihn gerichtlich vorgehen. Vor einer Maßregelung durch den ArbG ist der AN nach § 612a BGB geschützt. Kommt es wegen der vorstehend dargestellten Auseinandersetzung zu einer Eigenkündigung des AN aus wichtigem Grund nach § 626 BGB, ist der ArbG nach § 628 II BGB zum Ersatz des dem AN durch die Kündigung entstehenden Schadens verpflichtet, wenn die Kündigung durch vertragswidriges Verhalten des ArbG veranlasst wird (dazu unten § 41 I). V. Die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen des Arbeitsvertrags Es gelten die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen, die die §§ 104 bis 185 BGB für Rechtsgeschäfte aufstellen. ► Ist der ArbG eine natürliche Person, kann er den Arbeitsvertrag selbst unterzeichnen; ist er eine Personenhandelsgesellschaft (OHG oder KG) oder eine juristische Person (GmbH oder AG), muss ein gesetzlicher Vertreter für ihn handeln (§§ 125 I, 161 II, 170 HGB / § 35 GmbHG, § 78 AktG). Oft sind Einstellungsvorgänge (genauso wie Entlassungen) bestimmten Mitarbeitern, meist leitenden Angestell- © Professor Dr. Hunscha 100 Dezember 2015 ten (vgl. § 5 III 2 Nr. 1 BetrVG), übertragen, die nach § 164 BGB, § 49 HGB bevollmächtigt sind, den ArbG beim Abschluss des Arbeitsvertrages (rechtsgeschäftlich) zu vertreten. Dass der Arbeitsvertrag mangels Vertretungsmacht des Einstellenden unwirksam ist, dürfte kaum vorkommen. Fehlt es an seiner ausdrücklichen Bevollmächtigung, wird immer noch eine Duldungs- oder Anscheinsvollmacht vorliegen können. Bei unbeanstandeter Arbeitsaufnahme wird eine stillschweigende Genehmigung durch den ArbG angenommen werden können; ansonsten käme es zunächst einmal zu einem sog. faktischen Arbeitsverhältnis (nachfolgend unter IV.). ► Für den minderjährigen ArbG gilt § 112 BGB unter Beachtung der §§ 1643, 1821, 1822 BGB, für den minderjährigen AN § 113 BGB. § 113 BGB setzt voraus, dass „der gesetzliche Vertreter“ - das sind die Eltern gemeinsam (§§ 1626 ff. BGB) - zum Ausdruck bringt, „dem Minderjährigen den zur Teilnahme am Arbeitsleben nötigen rechtsgeschäftlichen Handlungsspielraum einräumen zu wollen“ (Bamberger/Roth/Wendtland § 113 Rn 3). Das resignierende Dulden einer unerwünschten Erwerbstätigkeit reicht hierfür nicht aus. Liegt mangels Einverständnisses der Eltern kein wirksamer Arbeitsvertrag vor, muss der ArbG trotzdem für die Zeit, in der der Minderjährige tatsächlich beim ihm beschäftigt war, den vereinbarten Lohn zahlen (dazu nachfolgend unter IV.). § 113 BGB gilt nicht für den Berufsausbildungsvertrag. Sein Abschluss und seine Kündigung bedürfen stets der ausdrücklichen Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. Beachte: § 113 BGB gibt dem minderjährigen AN grundsätzlich nicht die Befugnis, über den Arbeitslohn frei zu verfügen. Gedeckt sind nur Ausgaben, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen. ► Dass der ganze Arbeitsvertrag wegen Verstoßes gegen § 134 BGB oder § 138 BGB nichtig ist, kommt nur in Ausnahmefällen vor. Einem Abschlussverbot im Sinne des § 134 BGB unterliegt z.B. die Beschäftigung von Kindern oder Jugendlichen entgegen § 5 JArbSchG. Hierher gehören ferner die Fälle, in denen die Arbeit als solche gegen ein Strafgesetz verstößt, wie etwa bei der Tätigkeit als Drucker in einer Fälscherwerkstatt. Ein Arbeitsvertrag ist darüber hinaus nach § 138 BGB nichtig, wenn die Arbeit als solche gegen die guten Sitten verstößt, wie etwa die Vorführung des Geschlechtsverkehrs auf der Bühne. Zur Frage der Bezahlung tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung siehe nachfolgend unter IV. Demgegenüber führen die meisten Verbotsgesetze nur zu einem arbeitsrechtlichen Beschäftigungsverbot, das lediglich den tatsächlichen Einsatz des AN verhindern soll, auf die Wirksamkeit des Arbeitsvertrages aber keinen Einfluss hat. So im Fall des Fehlens der nach §§ 18, 39 AufenthaltsG oder nach § 284 SGB III erforderlichen Arbeitserlaubnis oder in Fällen der §§ 3, 4, 6, 8 MuSchG. ► Normalerweise verstoßen nur einzelne Arbeitsvertragsklauseln gegen zwingendes Arbeitsrecht, dessen Vorschriften zugleich Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB sind, oder gegen die guten Sitten im Sinne des § 138 BGB. Auch kann ein Verstoß gegen die Billigkeitsgrundsätze der §§ 242, 315 BGB zur Nichtigkeit der betreffenden Klausel führen, wenn er schwer wiegt. Da die kritischen Arbeitsvertragsklauseln meistens Bestandteil einer vertraglichen Einheitsregelung sind, können sie auch nach Maßgabe der Vorschriften über die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen gemäß §§ 307 bis 309 BGB unwirksam sein. © Professor Dr. Hunscha 101 Dezember 2015 Entgegen dem Auslegungsgrundsatz des § 139 BGB führt die Nichtigkeit einzelner Vertragsbestimmungen nicht zur Unwirksamkeit des ganzen Arbeitsvertrages, weil sich der mit der Verbotsvorschrift bezweckte Arbeitnehmerschutz sonst in sein Gegenteil verkehren würde. Es entfällt lediglich die nichtige Klausel. An ihre Stelle tritt, soweit vorhanden, die einschlägige gesetzliche oder auf der Rechtsprechung beruhende Regelung, vgl. § 306 BGB. Übliche Verstöße sind z.B. rechtswidrige Vereinbarungen über die Arbeitszeit sowie rechtswidrige Kündigungsabreden, Mankoabreden, Rückzahlungsvereinbarungen und Wettbewerbsabreden. Auch die Abrede, Schwarzarbeit zu leisten, führt nicht zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrages und damit nicht zum Verlust des Lohnanspruchs; nichtig ist in diesem Fall lediglich die Abrede, dass der ArbG keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abführen soll. Grobe Verstöße sind auch die Vereinbarung einer unentgeltlichen Probezeit, selbst wenn zugesagt ist, sie bei späterem Abschluss eines endgültigen Arbeitsvertrages noch zu vergüten; das unentgeltliche oder mit einem Taschengeld entlohnte „Praktikum“ eines fertig ausgebildeten Berufsanfängers, wenn in Wahrheit ausschließlich Arbeit geleistet werden soll; ein Entgelt nur durch Trinkgeld; eine Beteiligung des AN am Verlust des ArbG.. ► Die sittenwidrige Entgeltvereinbarung ist der häufigste Fall des § 138 BGB im Arbeitsrecht. Nach § 138 II BGB ist eine arbeitsvertragliche Entgeltvereinbarung wegen Wuchers (als Unterfall der Sittenwidrigkeit) nichtig, wenn (objektiv) ein „auffälliges Missverhältnis“ zwischen Leistung und Gegenleistung besteht und (subjektiv) die hierdurch begünstigte Partei die Vereinbarung vorsätzlich „unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche“ der anderen Partei zustande gebracht hat. Ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung liegt vor, wenn die Arbeitsvergütung mehr als 1/3 unter dem allgemeinen Lohnniveau des betreffenden Wirtschaftszweigs in dem betreffenden Wirtschaftsgebiet liegt. Dabei bildet im Zweifel ein dort üblicher, nämlich für mehr als 50 % der dortigen ArbG verbindlicher oder ein für mehr als 50 % der dortigen AN maßgebender Tariflohn den Vergleichsmaßstab (BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 436/08 – in NZA 2009, 837). In diesem Fall hat sich der Begünstigte auch wegen Lohnwuchers nach § 291 I 1 Nr. 3 StGB strafbar gemacht, so dass die Vergütungsabrede bereits nach § 134 BGB wegen Gesetzesverstoßes nichtig ist. Fehlt es an dem Merkmal der vorsätzlichen Ausbeutung, ist dem Begünstigten aber das Missverhältnis bewusst, spricht eine Vermutung dafür, dass er sich leichtfertig der Einsicht verschließt, der andere habe sich wegen seiner schwächeren Lage oder unter dem Zwang der Verhältnisse auf die ihm ungünstige Vereinbarung eingelassen. In diesem Fall verstößt die Vergütungsabrede als wucherähnliches Rechtsgeschäft gegen die guten Sitten und ist nach § 138 I BGB nichtig. An die Stelle der nach § 138 II oder I BGB nichtigen arbeitsvertraglichen Vergütungsvereinbarung tritt nach § 612 II BGB die ortsübliche Vergütung, die für eine vergleichbare Tätigkeit gezahlt wird, häufig auf der Grundlage eines räumlich und fachlich einschlägigen Tarifvertrages, der den Mindestlohn nach dem MiLoG von 8,50 € überschreitet. Der Mindestlohn ist maßgebend, wenn kein höheres Entgelt ortsüblich ist. Die Anwendung des § 138 BGB wird durch § 3 MiLoG, wonach Vereinbarungen, die den Mindestlohn von 8,50 € unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, insoweit unwirksam sind, weitgehend verdrängt (oben § 5 VI.). Der AN muss sich aber stets selbst helfen und den ihm von Rechts wegen zustehenden Lohn gegenüber dem ArbG notfalls einklagen. Eine ihm deswegen zu- © Professor Dr. Hunscha 102 Dezember 2015 teilwerdende Kündigung würde am Maßregelungsverbot des § 612a BGB scheitern. V. Die Zustimmung des Betriebsrates zum Abschluss eines Arbeitsvertrags In Unternehmen (Gesamtunternehmen unter Einbeziehung seiner Betriebe) mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten AN hat der ArbG gemäß § 99 I BetrVG vor jedem Abschluss eines Arbeitsvertrages die Zustimmung des Betriebsrates einzuholen. Beachte: Die nach § 102 BetrVG vor jeder arbeitgeberseitigen Kündigung erforderliche Anhörung des Betriebsrates setzt eine bestimmte Mindestanzahl von wahlberechtigten AN hingegen nicht voraus (unten § 28 IV. 3.). Wird die Einstellung eines leitenden Angestellten beabsichtigt, besteht für den ArbG nach § 31 I SprAuG lediglich die Pflicht, dies dem Sprecherausschuss rechtzeitig mitzuteilen. Mitbestimmungspflichtig ist nicht nur die erstmalige Einstellung, sondern z.B. auch die Wiedereinstellung, die Verlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses oder dessen Umwandlung in ein unbefristetes, auch im Fall des § 15 V TzBfG; ferner die Überleitung eines Ausbildungsverhältnisses in ein Arbeitsverhältnis, im Entleihbetrieb der Einsatz von Leih-AN (§ 14 III AÜG), nicht hingegen die Beschäftigung persönlich nicht abhängiger freier Mitarbeiter. Die Verweigerung der Zustimmung kann nur auf einen der in § 99 II BetrVG abschließend aufgeführten Gründe gestützt werden. Zum Verfahrensgang siehe im Einzelnen die sich weitgehend selbst erklärenden • § 99 III BetrVG: Erklärung der Zustimmungsverweigerung oder Zustimmungsfiktion; • § 99 IV BetrVG: arbeitsgerichtliche Zustimmungsersetzung; • § 100 BetrVG: Vorläufige Einstellung; • § 101 BetrVG: Arbeitsgerichtliches Zwangsgeld gegen den ArbG. Die fehlende Zustimmung des Betriebsrates berührt nicht die Wirksamkeit des dennoch abgeschlossenen Arbeitsvertrages. Dem ArbG ist nur die Beschäftigung des AN betriebsverfassungsrechtlich untersagt. Wird der AN wegen der fehlenden Zustimmung des Betriebsrates nicht beschäftigt, kann er nach § 615 S. 1 BGB vom ArbG trotzdem die Vergütung verlangen. Der ArbG kann sich von der Lohnzahlungspflicht aber durch Kündigung des Arbeitsvertrags ohne weiteres befreien; denn allgemeinen Kündigungsschutz genießt der AN erst nach einer mehr als 6-monatigen Beschäftigung. Unter Umständen kann dem gekündigten AN ein Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens zustehen (oben § 10 unter V.). VI. Das fehlerhafte Arbeitsverhältnis Von einem fehlerhaften Arbeitsverhältnis spricht man, wenn der ihm zugrunde liegende Arbeitsvertrag nicht oder nicht mehr rechtswirksam ist. Dazu kann es aus verschiedenen Gründen kommen, z B. bei fehlender Geschäftsfähigkeit des ArbG oder © Professor Dr. Hunscha 103 Dezember 2015 des AN (§ 105 I BGB), bei Formnichtigkeit eines formbedürftigen Arbeitsvertrages nach § 125 Satz 2 BGB, bei fehlender Vertretungsmacht des Einstellenden, im Fall des Verstoßes gegen ein Abschlussverbot im Sinne des § 134 BGB oder gegen die guten Sitten nach § 138 I oder II BGB sowie bei Anfechtung des Arbeitsvertrages (1) durch den vom AN im Rahmen der Bewerbung arglistig getäuschten ArbG nach § 123 BGB und (2) durch den ArbG nach § 119 II BGB wegen Irrtums über einstellungserhebliche Eigenschaften des Bewerbers; Fehlt es an einem wirksamen Arbeitsvertrag, bestehen keine gegenseitigen Erfüllungsansprüche. Das muss von den Beteiligten hingenommen werden, solange der unwirksame Vertrag nicht in Vollzug gesetzt wurde. Bei dieser Rechtslage würde der AN eigentlich auch dann keinen Anspruch auf Vergütung und die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen haben, wenn er tatsächlich Arbeit geleistet hat. Vielmehr würde ihm in diesem Fall gegen den ArbG nur ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung – einem kraft Gesetzes entstandenen Schuldverhältnis – nach Maßgabe der §§ 812 ff. BGB auf Herausgabe des Erlangten zustehen. Da der ArbG die ihm „ohne rechtlichen Grund“ (= ohne wirksame Vertragsgrundlage) erbrachte Arbeit aber nicht in natura zurückgewähren könnte, träte nach § 818 II BGB an ihre Stelle ein Anspruch des AN gegen den ArbG auf Ersatz des wirtschaftlichen Wertes der geleisteten Arbeit, der allerdings nur schwer zu bestimmen ist. Und was sollte in Ansehung der Vergütung gelten, die der AN bereits erhalten hat? Ist er um sie ungerechtfertigt bereichert? Könnte und müsste er sich gegenüber einem Herausgabeverlangen des ArbG auf einen Wegfall der Bereicherung nach § 818 III BGB berufen, weil er den Lohn ersatzlos verbraucht hat, ohne sonst laufende Aufwendungen erspart zu haben? Auch wenn all diese in Ansehung der gegenseitigen Hauptpflichten relevanten Schwierigkeiten durch eine problemkonforme Rechtsanwendung zu bewältigen wären, lassen sich jedenfalls die mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Nebenpflichten bereicherungsrechtlich nicht fassen. Um eine dem Schutzzweck des Arbeitsrechts angemessene Lösung dieser Probleme herbeizuführen, haben Rechtslehre und Rechtsprechung die Rechtsfigur des faktischen Arbeitverhältnisses entwickelt. Danach wird ein Arbeitsvertrag, der sich nach übereinstimmend gewollter Arbeitsaufnahme als nichtig oder anfechtbar erweist, bei überwiegender Schutzbedürftigkeit des AN bis zu dem Zeitpunkt als rechtswirksam behandelt wird, in dem sich einer der beiden Beteiligten auf die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags beruft oder der Anfechtungsberechtigte die Anfechtung erklärt. Daraus folgt, dass die Parteien des tatsächlich vollzogenen Arbeitsvertrag für die Vergangenheit in der Weise berechtigt und verpflichtet sind, als wäre der Vertrag wirksam und unanfechtbar zustande gekommen. Das bedeutet für den AN, dass er vom ArbG die vereinbarte Vergütung beanspruchen sowie Rechte nach dem EFZG und BUrlG geltend machen kann und auch sonst aller arbeitsrechtlichen Schutznormen teilhaftig ist. Im Fall der Anfechtbarkeit wird die Beschränkung der Nichtigkeitsfolge dadurch verwirklicht, dass der Anfechtungserklärung des ArbG nicht die in § 142 I BGB sonst vorgesehene Rückwirkung beigemessen wird, und dies nicht nur bei der Anfechtung wegen Irrtums, sondern regelmäßig auch bei arglistiger Täuschung. Sofern allerdings die Arbeitsleistung des AN z.B. wegen Erschleichens einer führenden Stellung für den ArbG ohne jedes Interesse ist, bleibt es bei der Abwicklung der Rechtsbeziehung nach den Vorschriften des Bereicherungsrechts, wobei dem AN § 817 S. 2 BGB entgegengehalten werden kann. Das gleiche gilt in den Fällen der Nichtigkeit des Arbeitsvertrages wegen besonders schwerer Gesetzesverstöße oder wegen krasser Sittenwidrigkeit, in denen das öffentliche Interesse an der Sauberkeit des Rechtsverkehrs die Belange des AN überwiegt. © Professor Dr. Hunscha 104 Dezember 2015 Im Falle der Minderjährigkeit des AN ist nach h.M. zwar kein faktisches Arbeitsverhältnis entstanden, weil der Minderjährige dadurch vertraglichen Verpflichtungen und damit auch Schadensersatzersatzansprüchen wegen Pflichtverletzung ausgesetzt wäre, die ihn nach dem Minderjährigenschutzrecht der §§ 107 ff. BGB nur mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters sollen treffen dürfen. Die dennoch unterstellte Verpflichtung des ArbG zur Bezahlung der vom Minderjährigen tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung soll auf dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB beruhen, wonach es dem ArbG als rechtsmissbräuchlich verwehrt ist, sich demjenigen gegenüber auf die Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags zu berufen, der mit seinem Einverständnis für ihn faktisch tätig war. © Professor Dr. Hunscha 105 Dezember 2015 § 12 Teilzeitarbeitsverhältnisse I. Der Begriff der Teilzeitarbeit Teilzeitarbeit bezeichnet eine Tätigkeit, die kürzer ist, als die eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigen AN desselben Betriebes. Sie hat ihre Regelung im TzBfG gefunden. Üblicherweise geht es dabei um die regelmäßige Teilzeitarbeit bei fester Vereinbarung über die Dauer und Lage der Arbeitszeit des Arbeitsplatzinhabers, der zumeist entweder jeden Tag verkürzt oder nur an bestimmten Tagen der Woche voll arbeitet (nachfolgend II.). Einen Sonderfall bildet die Arbeitsplatzteilung („job-sharing“) nach § 13 TzBfG. Die Altersteilzeitarbeit gehört nicht hierher. Demgegenüber handelt es sich bei der Arbeit auf Abruf in erster Linie um eine unregelmäßige Teilzeitarbeit nach Maßgabe des Arbeitsanfalls (nachfolgend III.). Zu den Besonderheiten der Elternzeit in Teilzeit siehe §§ 15 ff. BEEG. Zu den Besonderheiten der Pflegezeit siehe §§ 3 ff. PflegeZG. II. Die regelmäßige Teilzeitarbeit Um die Teilzeitarbeit zu fördern (§ 1 TzBfG), hat der ArbG nach § 7 I TzBfG einen Arbeitsplatz, den er öffentlich oder innerhalb des Betriebes ausschreibt, auch als Teilzeitarbeitsplatz auszuschreiben, wenn sich der Arbeitsplatz hierfür eignet. Auf diese Weise kann es in einem Betrieb von vornherein zu Teilzeitarbeitsplätzen kommen. Die Entscheidung, einen Arbeitsplatz als Teil- oder Vollzeitstelle auszuweisen, trifft der ArbG als Ausdruck seiner unternehmerischen Freiheit (siehe oben § 3 III.2. unter (6) zur mittelbaren Drittwirkung von Art. 12 I GG). Ist eine Vollzeitstelle aufgrund der von ihm definierten Anforderungen bei objektiver Betrachtung allerdings auch für Teilzeitarbeit geeignet, muss er sie dementsprechend ausschreiben. Da dem Betriebsrat nach § 80 I Nr. 2b BetrVG auch die allgemeine Aufgabe zufällt, „die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu fördern“, hat er über § 92 III BetrVG das Recht, dem ArbG vorzuschlagen, Teilzeitarbeitsplätze neu oder durch Umwandlung von Vollzeitstellen einzurichten. Der Förderung von Teilzeitarbeit dient auch das Vorschlagsrecht des Betriebsrates nach § 92a BetrVG. Vor diesem Hintergrund wird für den Fall, dass der Betriebsrat vom ArbG eine Ausschreibung unter Beachtung von § 7 I TzBfG sogar ausdrücklich verlangt, die allerdings umstrittene Auffassung vertreten, dass der Betriebsrat nach § 99 II Nr. 1 BetrVG seine Zustimmung zu der Einstellung eines Vollzeitbewerbers verweigern darf, wenn die Ausschreibung als Teilzeitarbeitsplatz unterblieben ist. Ein Teilzeitarbeitsplatz kann im Nachhinein dadurch entstehen, dass ein bisheriger Vollzeit-AN gemäß § 8 TzBfG eine Verringerung seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verlangt. Und selbst ein Teilzeit-AN kann gemäß § 8 eine weitere Verringerung seiner Arbeitszeit beanspruchen. Das Arbeitsverhältnis muss nur länger als sechs Monate (ununterbrochen) bestanden haben, und der ArbG muss, unabhängig von der Anzahl Auszubildender, i.d.R. mehr als 15 AN beschäftigen (§ 8 I, VII TzBfG), einerlei ob in Teilzeit oder in Vollzeit. Allerdings dürfen nach § 8 IV TzBfG betriebliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 9 TzBfG hat der ArbG einen teilzeitbeschäftigten AN, der ihm den Wunsch nach einer Verlängerung der Arbeitszeit anzeigt, bei der Besetzung eines entsprechenden © Professor Dr. Hunscha 106 Dezember 2015 freien Arbeitsplatzes unter bestimmten Voraussetzungen bevorzugt zu berücksichtigen. Das gilt auch für einen AN, der bereits als Teilzeitbeschäftigter eingestellt worden war. Ist der Teilzeitbeschäftigte der Meinung, dass sein Wunsch zu Unrecht abgelehnt worden ist, kann er die Besetzung der Stelle durch einstweilige Verfügung untersagen und die Auswahlentscheidung überprüfen lassen (Rolfs in Studienkomm. § 9 TzBfG Rn. 9). Ist der Arbeitsplatz schon besetzt, haftet der pflichtwidrig handelnde ArbG auf Schadensersatz nach §§ 280 I, III, 283 BGB. Eine Kündigung des Bevorzugten kann der Benachteiligte aber nicht verlangen. Allerdings hätte der Betriebsrat die Zustimmung zur Einstellung des Bevorzugten nach § 99 II Nr. 5 BetrVG verweigern können. Von besonderer Bedeutung ist das Diskriminierungsverbot des § 4 TzBfG, wonach ein teilzeitbeschäftigter AN wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden darf als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter AN, es sei denn, dass sachliche Gründe die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. So ist ihm z.B. das Arbeitsentgelt einschließlich aller teilbaren geldwerten Leistungen anteilig zu gewähren. Außerdem darf er nach § 5 TzBfG wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach dem TzBfG nicht benachteiligt, nach § 11 TzBfG insbesondere nicht gekündigt werden. Beides folgt allerdings schon aus § 612a BGB. Ist das KSchG anwendbar (dazu unten § 30 I.), fehlt es insoweit an einem nach § 1 KSchG legitimen Kündigungsgrund. Andererseits darf der ArbG die Zahlung eines Überstundenzuschlags davon abhängig machen, dass die tarifliche Regelarbeitszeit überschritten wird. Hierdurch werden zwar Teilzeitkräfte gegenüber Vollzeitkräften benachteiligt, weil sie bei Überschreitung ihrer individuellen Regelarbeitszeit diesen Bereich nie erreichen. Die Ungleichbehandlung ist aber sachlich gerechtfertigt, weil sonst im Wege einer kollektiven Regelung bereits innerhalb des Bereichs der tariflichen Regelarbeitszeit unterschiedlicher Lohn für die gleiche Arbeit gezahlt werden würde: Anders als Vollzeitbeschäftigte würden Teilzeitbeschäftigte den Zuschlag nämlich schon ab einem Zeitpunkt erhalten, zu dem AN noch nicht als mit Arbeit überbelastet gelten. III. Arbeit auf Abruf 1. Nach § 12 I 1 TzBfG kann Teilzeitarbeit so organisiert werden, „dass der AN seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf).“ Im Interesse des AN an einem kalkulierbaren Einkommen und einer planbaren Arbeitsbelastung muss dann nach § 12 I 2 TzBfG die Dauer der Arbeitszeit pro Woche und Tag festgelegt sein, wohingegen die jeweilige Lage der Arbeitszeit durch den ArbG im Wege des Abrufs der Arbeitsleistung bestimmt wird. Dabei ist zu beachten, dass nach § 12 II TzBfG der AN zur abgerufenen Arbeitsleistung nur verpflichtet ist, wenn der ArbG ihm deren zeitliche Lage mindestens vier Tage im Voraus mitteilt. Anwendungsbereiche dieser Art von Teilzeitarbeit sind vor allem das Gaststättengewerbe, das Catering und die Betreuung von Veranstaltungen. Dem unterschiedlichen Arbeitsanfall kann im Übrigen durch jeweils sachgrundbefristete Arbeitsverhältnisse nach Maßgabe z.B. des § 14 I Nr. 1 TzBfG („Aushilfsarbeitsverhältnis“) oder durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern (unten § 43) Rechnung getragen werden. Fehlt es an einer Vereinbarung über die Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit, bestimmt § 12 I 3, 4 TzBfG, dass eine wöchentliche Arbeitszeit von 10 Stunden als vereinbart gilt und der ArbG die Arbeitsleistung des AN jeweils für mindestens 3 aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen hat. Steht die Dauer Arbeitszeit einmal fest, sei es aufgrund einer Vereinbarung, sei es bei deren Fehlen kraft gesetzlicher Fiktion, kann eine Änderung nur mit Einverständnis des AN oder im Wege einer arbeitgeberseitigen Änderungskündigung herbeigeführt werden. Kann der ArbG den AN in © Professor Dr. Hunscha 107 Dezember 2015 der feststehenden Zeitdauer ganz oder teilweise nicht beschäftigen, muss er ihn nach § 615 BGB wegen Annahmeverzugs trotzdem bezahlen (unten § 19). Nach § 12 III TzBfG kann durch Tarifvertrag von den Vorschriften der §§ 12 I und II TzBfG auch zu Ungunsten der AN abgewichen werden, vorausgesetzt, er enthält überhaupt Regelungen über die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit sowie die Vorankündigungsfrist (tarifdispositives Gesetzesrecht). Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 I Nr. 2 BetrVG bezieht sich sowohl auf die Einführung und Abschaffung der Abrufarbeit, als auch auf ihre Ausgestaltung hinsichtlich Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht aber auf den einzelnen Abruf. 2. Die Arbeitszeit wird oft als Mindestarbeitszeit vereinbart und zugleich festgelegt, dass der AN darüber hinaus verpflichtet ist, auf Aufforderung des ArbG länger zu arbeiten. Mit einer solchen Vereinbarung verlagert der ArbG allerdings abweichend von § 615 BGB einen Teil seines Wirtschaftsrisikos (unten § 19 II. 2.) auf den AN. Hätte der ArbG im Arbeitsvertrag eine längere regelmäßige Arbeitszeit vereinbart, müsste er seine AN nach § 615 BGB auch dann bezahlen, wenn er sie wegen Auftragsmangels nicht beschäftigen kann. Vereinbart der ArbG aber eine kürzere regelmäßige Arbeitszeit als Mindestarbeitszeit mit der Maßgabe, dass er bei weitergehendem Arbeitsbedarf berechtigt ist, seine AN auf Abruf gegen Bezahlung einer Stundenvergütung wie in der Regelarbeitszeit länger zu beschäftigen, ohne dass sie ihrerseits einen Anspruch auf die längere Beschäftigung haben, hat der ArbG das Risiko eines weitergehenden Arbeitsbedarfs auf seine AN übergewälzt. Ist diese Vereinbarung – wie regelmäßig – formularmäßig getroffen worden, unterliegt sie der Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB. Gestützt auf § 307 I, II Nr. 1 BGB hat das BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04 – in NZA 2006, 423 entschieden, dass eine solche Absprache nur dann wirksam ist, wenn die vom ArbG über die vereinbarte Mindestarbeitszeit hinaus abrufbare Arbeitsleistung des AN nicht mehr als 25 % der vereinbarten Mindestarbeitszeit beträgt. Ist z.B. eine Mindestarbeitszeit von 15 Wochenstunden vereinbart, beträgt die zusätzlich abrufbare Arbeitsleistung dann 3,75 Stunden. 3. Soll die vereinbarte Arbeitszeit ausnahmsweise die Höchstarbeitszeit sein, kann unter Beachtung der vorerwähnten Einschränkung festgelegt werden, dass die Arbeitszeit auf Aufforderung des ArbG um bis zu 20 % verringert werden kann (BAG a.a.O. Abs. 44): Bei einer Höchstzeit von 15 Wochenstunden also 3 Stunden (denn 25 % von unten herauf gerechnet entspricht 20 % von oben herunter gerechnet). 4. Zur Abrufarbeit im Vollzeitarbeitsverhältnis siehe unten § 15. © Professor Dr. Hunscha 108 Dezember 2015 § 13 Das befristete Arbeitsverhältnis I. Überblick 1. Die Bedeutung der Befristung Die Befristung des Arbeitsvertrags bietet dem ArbG den Vorteil, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Ablauf des vereinbarten Endtermins beendet ist, ohne dass es einer Kündigung bedarf und Kündigungsschutz oder Kündigungsverbote beachtet werden müssen. Während der Abschluss des Arbeitsvertrags keine Schriftform erfordert (oben § 11 unter I. 2.), bedarf nach § 14 IV TzBfG im Interesse der Klarstellung, die den AN warnen soll und dem ArbG den Beweis erleichtert, wenigstens die Befristungsvereinbarung zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform des § 126 BGB. Nach § 126 III BGB kann die Schriftform durch die elektronischen Form des § 126a BGB ersetzt werden, weil dies – anders als in § 623 BGB – durch § 14 IV TzBfG nicht ausgeschlossen ist. Soll das Arbeitsverhältnis während des Laufs der Befristung auch noch ordentlich kündbar sein, muss dies nach § 15 III TzBfG arbeitsvertraglich oder in dem anwendbaren Tarifvertrag vereinbart worden sein; denn nach § 620 II BGB ist ein Arbeitsverhältnis nur dann ordentlich kündbar, wenn seine „Dauer…weder bestimmt noch aus der Beschaffenheit oder dem Zweck der Dienste zu entnehmen“ ist. Ist eine Kündigungsmöglichkeit vorgesehen, gilt innerhalb der Befristungszeit der jeweils in Betracht kommende Kündigungsschutz (unten § 29). Eine außerordentliche Kündigung nach Maßgabe des § 626 BGB ist ohne Kündigungsvorbehalt möglich. Ebenso wie ein teilzeitbeschäftigter AN wegen der Teilzeitarbeit darf nach § 4 II TzBfG auch ein befristet beschäftigter AN wegen der Befristung des Arbeitsvertrages nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer unbefristet beschäftigter AN. Von sachlich gebotenen Ausnahmen abgesehen soll dadurch die Gleichbehandlung befristet beschäftigter AN in Ansehung „aller Arbeitsbedingungen und bei allen Leistungen des ArbG“ (ErfK/Preis § 4 TzBfG Rn. 62) sichergestellt werden. 2. Die Art der Befristung und ihre Formulierung a) § 14 TzBfG unterscheidet zwei Befristungsmöglichkeiten. ► § 14 I TzBfG ermöglicht eine Sachgrundbefristung aus besonderen Anlässen. Sofern ein besonderer Sachgrund jeweils konkret nachgewiesen ist, kann ein AN wiederholt und auch aus wechselnden Sachgründen ohne Rücksicht auf etwaige Vorbeschäftigungen bei demselben ArbG für die Dauer des jeweiligen Sachgrundes befristet beschäftigt werden. Nach § 21 TzBfG ist die Vereinbarung einer den Arbeitsvertrag beendenden auflösenden Bedingung entsprechend § 14 I TzBfG mit einem den Bedingungseintritt kennzeichnenden Sachgrund zulässig. Die Vorschriften der §§ 4 II, 5, 15 II, III und V sowie die §§ 16 bis 20 TzBfG gelten entsprechend. § 14 II TzBfG ist nicht anwendbar. Im Unterschied zur sachgrundlosen Befristung geht es bei der Sachgrundbefristung überwiegend um Fälle, bei denen sich die Befristung aus den Umständen erklärt oder sonst wie einsichtig ist, ohne das Beschäftigungsinteresse des AN zu verletzen. Ist der Sachgrund allerdings nur vorgespiegelt und kann eine sachgrundlose Befristung nicht nachgeschoben werden (nachfolgend unter II. 2 c), ist die darauf gestützte Befristung unzulässig, so dass der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit © Professor Dr. Hunscha 109 Dezember 2015 geschlossen gilt, sofern der AN die Entfristung gerichtlich feststellen lässt (§§ 16, 17 TzBfG; dazu nachfolgend unter IV.). ► § 14 II TzBfG ermöglicht eine sachgrundlose Befristung, die im Fall der Ersteinstellung ohne Unterbrechung bis zur Dauer von zwei Jahren und jeweils nach Ablauf von drei Jahren erneut bei demselben ArbG ohne Unterbrechung bis zur Dauer wieder von zwei Jahren möglich ist. Die Möglichkeit, einen Arbeitsvertrag ohne besonderen Sachgrund zu befristen, widerspricht dem Prinzip des Kündigungsschutzes. Sie entlastet jedoch zunächst einmal den Arbeitsmarkt. Außerdem gibt sich der Gesetzgeber der Hoffnung hin, dass der dem ArbG mit der Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung des Arbeitsvertrags gebotene Anreiz, einen AN ohne Kündigungsprobleme im Regelfall bis zu zwei Jahren befristet einstellen zu können, dem AN die Chance eröffnet, dort anschließend unbefristet weiterbeschäftigt zu werden. Der Zeit sachgrundloser Befristung kommt dann praktisch der Charakter einer bis zu zwei Jahren ausgedehnten Probezeit zu. Einen Sonderfall sachgrundloser Befristung enthält zum einen § 14 IIa TzBfG, nämlich die Ersteinstellung ohne Unterbrechung bis zur Dauer von vier Jahren bei Gründung des Unternehmens (und jeweils nach Ablauf von drei Jahren erneut bei demselben ArbG ohne Unterbrechung bis zu dann nur noch zwei Jahren); zum anderen § 14 III TzBfG, wonach die Befristung des Arbeitsvertrags bis zur Dauer von fünf Jahren dann keines Sachgrundes bedarf, wenn der AN bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat und unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens vier Monate beschäftigungslos gewesen ist, Transferkurzarbeitergeld bezogen oder an einer öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahme teilgenommen hat. Hinweis: Im Wege der AN-Überlassung nach dem AÜG kann der Entleiher entliehene AN nach Maßgabe der mit dem Verleiher getroffenen Überlassungsvereinbarung ohne Sachgrund beliebig befristet beschäftigen, denn er ist nicht ihr Vertragsarbeitgeber (unten § 43). b) Die sachgrundlose Befristung kann nur kalendermäßig zum Ausdruck gebracht werden, etwa mit den Worten „für die Zeit vom….bis zum…. So spricht auch § 14 II 1 TzBfG ausdrücklich von der „kalendermäßige(n) Befristung eines Arbeitsvertrages [vgl. § 3 I 2 TzBfG] ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes.“ Diese Form der Befristung wird auch Zeitbefristung genannt. Sie führt dazu, dass der Arbeitsvertrag nach § 15 I TzBfG mit dem Zeitablauf ohne weiteres endet. c) Die Sachgrundbefristung ist durch den Zweck bestimmt, dem sie dient. So dient z.B. die sachgrundbefristete Einstellung nach § 14 I Nr. 1 TzBfG dem Zweck, einen vorübergehenden Mehrbedarf an Arbeitskraft abzudecken und die sachgrundbefristete Einstellung nach § 14 I Nr. 2 TzBfG dem Zweck, den durch einen verhinderten AN entstehenden Arbeitsausfall auszugleichen. Man spricht von einer Zweckbefristung (vgl. § 3 I 2 TzBfG). Der eine Sachgrundbefristung kennzeichnende Befristungszweck ist mit dem Eintritt eines bestimmten Ereignisses erreicht: in dem gewählten Beispiel mit dem Entfallen des Mehrbedarfs oder mit der Rückkehr des verhinderten AN. Demzufolge bestimmt § 15 II TzBfG, dass der zweckbefristete Arbeitsvertrag mit Zweckerreichung endet, zum Schutze des AN vor Überraschung jedoch frühestens zwei Wochen nach dem Zugang der schriftlichen Unterrichtung des AN durch den ArbG über den Zeitpunkt der Zweckerreichung, bei in Wahrheit späterer Zweckerreichung erst nach deren Eintritt. Da der Zeitpunkt der Zweckerreichung im Regelfall nicht im Voraus feststeht, muss die Befristungsvereinbarung den eine Sachgrundbefristung kennzeichnenden Befristungszweck durch eine möglichst genaue Bezeichnung des Ereignisses verdeutlichen, dessen © Professor Dr. Hunscha 110 Dezember 2015 Eintritt den sachlichen Grund für die Befristung entfallen lässt (siehe nachfolgend unter II. 2. b). Ist der Eintritt des Ereignisses, das den sachlichen Grund für die Befristung entfallen lässt, zeitlich bestimmbar, besteht auch bei einer Sachgrundbefristung die Möglichkeit, sie nur zeitbefristet zu formulieren. Die Benennung des dahinter stehenden Sachgrundes ist dann nicht erforderlich. Wichtig ist nur, dass er im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beweisbar vorgelegen hat. Andernfalls handelt es sich um eine sachgrundlose Befristung, die an der Überschreitung der Zeitgrenze des § 14 II 1 TzBfG oder am Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG scheitern könnte. Es kann allerdings sein, dass ein Tarifvertrag oder der Arbeitsvertrag die Angabe des Sachgrundes zwingend vorschreiben. II. Die Sachgrundbefristung nach § 14 I TzBfG 1. Die gesetzlichen Befristungsgründe Das Gesetz enthält keine Definition des sachlichen Grundes. Es konkretisiert diesen unbestimmten Rechtsbegriff dadurch, dass es acht Gründe nennt, die schon vor Inkrafttreten des TzBfG durch die Rechtsprechung als befristungsgeeignete Situationen anerkannt waren. Durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ eröffnet das Gesetz die Möglichkeit, darüber hinaus weitere gleichermaßen plausible Gründe anzuerkennen, wie z.B. die vorübergehende Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz, der ab einem bestimmten Termin einer anderen Person schon verbindlich zugesagt ist (BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08 – in NZA 2010, 495 ff.) oder die zeitlich begrenzte Beschäftigung zur Aus- und Weiterbildung in einem „Trainee-Programm“, dessen Zweck darin besteht, Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln, die durch die üblich Berufstätigkeit nicht erworben werden können (BAG v. 22.4.2009 – 7 AZR 96/08 – in NZA 2009, 1099 ff.). Zu Altersgrenzen siehe unten § 28 I. 5. ► Zu Nr. 1. (vorübergehender betrieblicher Bedarf an der Arbeitsleistung): Dieser sehr allgemein formulierte Befristungsgrund birgt die Gefahr, dass ein Sachgrund nur vorgespiegelt wird, weil eine sachgrundlose Befristung wegen des Vorbeschäftigungsverbots nach § 14 II 2 TzBfG nicht mehr zulässig ist und der AN darum unbefristet beschäftigt werden müsste. Deswegen muss der ArbG die den Sachgrund kennzeichnende Tatsache eines nur vorübergehenden Beschäftigungsbedarfs des AN im Arbeitsvertrag klar zum Ausdruck bringen. Es muss im Fall eines späteren Rechtsstreits über die Rechtswirksamkeit der Befristung nachvollziehbar deutlich werden, dass bei objektiver Betrachtung der Verhältnisse im Zeitpunkt der Befristungsabrede die Prognose gerechtfertigt war, es werde für die Beschäftigung des befristet eingestellten AN über das vorgesehene Vertragsende hinaus mit hinreichender Sicherheit kein Bedarf bestehen. Die bloße Unsicherheit über die weitere Entwicklung hingegen bildet keinen Sachgrund. Derlei gehört zum Wirtschafts- und Beschäftigungsrisiko des ArbG, das er nicht durch den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags auf den AN überwälzen darf (BAG v. 5.6.2002 – 7 AZR 241/01 – in NZA 2003, 150 unter I. 3. a). Die Prognose bei der befristeten Einstellung zur Abarbeitung z.B. von „Auftragsspitzen“ oder eines „Großauftrags“ muss durch konkrete Angaben darüber, dass weitere Auftragsspitzen oder Großaufträge in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sind, belegt werden können (BAG a.a.O.). Kann der ArbG im Rechtsstreit über die Rechtswirksamkeit der Befristung nicht darlegen und beweisen, dass eine solche Prognose aus damaliger Sicht begründet war, ist die Sachgrundbefristung nicht wirksam. Die bloße Möglichkeit, dass nach Vertragsende kein Beschäftigungsbedarf mehr besteht, rechtfertigt eine Befristung nicht. Ein sich kurzfristig anschließender Wiederholungsfall stellt die Richtigkeit der Prognose in Frage. © Professor Dr. Hunscha 111 Dezember 2015 Es ist nicht erforderlich, dass der befristet eingestellte AN gerade mit der Tätigkeit betraut wird, die den vorübergehenden Arbeitskräftemehrbedarf begründet. Der ArbG kann die Aufgabenverteilung aus diesem Anlass vielmehr neu organisieren (ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 23). Sollte sich eine im Zeitpunkt der Befristungsabrede zulässige Prognose durch die spätere Entwicklung nicht bestätigen, bleibt die Sachgrundbefristung wirksam. Der AN hat nach Ablauf der Befristung auch keinen Wiedereinstellungsanspruch. Vgl. die entsprechende Rechtslage im Kündigungsrecht (unten § 30 unter II. 4. c). Typische Beispiele für einen ohne weiteres nachvollziehbar vorübergehenden Bedarf sind die Saisonarbeit, das Messegeschäft, das Weihnachtsgeschäft, die Inventur sowie Abwicklungsarbeiten im Hinblick auf eine bevorstehende Stilllegung des Betriebs. Entfällt der Sachgrund während des Laufs des befristeten Arbeitsvertrages, bleibt die Befristung unverändert bestehen. Wurde die Befristungsdauer zu kurz bemessen, bleibt es dabei, wenn nur überhaupt der Befristungsgrund objektiv vorlag. ► Zu Nr. 2. (Beschäftigung im Anschluss an eine Ausbildung oder ein Studium, um den Übergang des AN in eine Anschlussbeschäftigung zu erleichtern): Die hierdurch vermittelte Berufserfahrung soll fertig Ausgebildete oder Studierte beim Zugang zum Arbeitsmarkt unterstützen. Der Begriff der Ausbildung umfasst die Berufsausbildung nach §§ 1 I, III, 10 ff. BBiG einschließlich der Anlernlinge, Volontäre und Praktikanten nach § 26 BBiG, aber auch die berufliche Fortbildung und berufliche Umschulung im Sinne von § 1 IV und V BBiG. Studium ist jede wissenschaftliche Ausbildung an einer Universität, Fachhochschule oder vergleichbaren Einrichtung; und dies auch dann, wenn ein Studienabschluss am Ende nicht erreicht wurde. Bis zum Beginn der befristeten Beschäftigung „im Anschluss an die Ausbildung oder das Studium“ sollte nicht mehr als ein Jahr vergangen sein. Die Befristungsdauer, für die das Gesetzt keine Höchstgrenze vorschreibt, geht im Regelfall über zwei Jahre nicht hinaus. Der Arbeitgeber kann der ehemalige Ausbilder oder ein Dritter sein. Wird der Ausgebildete unmittelbar im Anschluss an das Berufsausbildungsverhältnis bei dem Ausbilder weiterbeschäftigt, „ohne dass hierüber ausdrücklich etwas vereinbart worden ist“, gilt nach § 24 BBiG ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit als begründet. Im Unterschied zu der in vielen dieser Fälle ebenso möglichen sachgrundlosen Befristung für zwei Jahre nach § 14 II TzBfG ist die Sachgrundbefristung nach § 14 I Nr. 2 TzBfG gerade auch dann zulässig, wenn der AN bei dem ArbG vor dem Beginn seiner Ausbildung oder des Studiums oder während des Studiums in einem ordentlichen Arbeitsverhältnis, z.B. als Werkstudent (also nicht in einem Ausbildungsverhältnis (dazu nachfolgend III. 3.) bereits einmal beschäftigt war und seither noch nicht drei Jahre vergangen sind. ► Zu Nr. 3. (Beschäftigung zur Vertretung eines anderen AN): Anlass ist das Ausfallen eines anderen AN, z.B. durch Krankheit, Urlaub, Mutterschutz, Elternzeit oder Betriebsratstätigkeit. Der Vertreter muss allerdings nicht genau die Aufgaben übernehmen, die dem Vertretenen oblagen. Der ArbG kann vielmehr die Aufgaben aus Anlass der befristeten Einstellung umverteilen. Wie in den Fällen der Nr. 1. ist aber auch hier vom ArbG eine fundierte Prognose darüber zu fordern, dass der Vertre- © Professor Dr. Hunscha 112 Dezember 2015 tungsbedarf durch die zu erwartende Rückkehr des Vertretenen mit hinreichender Sicherheit dann auch wirklich wegfällt. Eine Vertretung ohne konkreten Anlass nur auf Vorrat und für alle Fälle ist daher kein wirksamer Befristungsgrund. Ausnahmsweise lässt die Rechtsprechung aber eine sog. Gesamtvertretung aufgrund des für ein Schuljahr nach Erfahrungswerten prognostizierten Vertretungsbedarfs an Lehrpersonal eines Schulzweigs zu. Kehrt der vertretene AN wider Erwarten nicht in den Betrieb zurück, ist davon auszugehen, dass der durch die Zweckbefristung zum Ausdruck gebrachte Bedarf an der Arbeitsleistung der Ersatzkraft durch das endgültige Ausscheiden des Vertretenen nicht entfällt. Daher könnte mit dem Vertreter nunmehr ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entstanden sein. Soll eine solche Entwicklung vermieden werden, empfiehlt sich eine Doppelbefristung durch die Verbindung der Zweckbefristung mit einer zeitlichen Höchstbefristung, z.B. „für die Dauer der Erkrankung des Arbeitnehmers X, längstens jedoch bis zum…“. Voraussetzung ist nur, dass für beide Befristungsabreden von Anfang an ein sachlicher Grund vorliegt (BAG v. 29.6.2011 - 7 AZR 6/10 – in NZA 2011, 1346 ff.). In diesem Fall kann der AN auch dann bis zum Datum der Höchstbefristung beschäftigt werden, wenn der Erkrankte früher in den Betrieb zurückkommt. ► Zu Nr. 4. (Eigenart der Arbeitsleistung): Beispielsweise die befristete Beschäftigung eines Berufssportlers, Trainers, Musikers, Schauspielers, Sängers, aber auch von Moderatoren, Kommentatoren, Regisseuren mit Rücksicht auf das Abwechslungsbedürfnisses des Publikums oder das Innovationsinteresses des ArbG. ► Zu Nr. 5. (Erprobung): Die praktische Bedeutung des Sachgrundes der Befristung dürfte gering sein. Sofern nicht das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG entgegensteht, wird der ArbG das neue Arbeitsverhältnis im Regelfall sachgrundlos befristet beginnen. Der den Sachgrund kennzeichnende Erprobungszweck rechtfertigt die Befristung nur für einen angemessenen Zeitraum. Normalerweise gilt eine Befristungsdauer von sechs Monaten. Bei der Ausübung künstlerischer oder wissenschaftlicher Tätigkeiten kann sie darüber hinausgehen, bei einem Lehrer etwa ein Schuljahr umfassen. Im Übrigen kann eine sachgrundbefristete Probezeit nur dort gerechtfertigt sein, wo der ArbG im Fall der Bewährung des AN ein auf Dauer gerichtetes und darum unbefristetes Beschäftigungsverhältnis anstrebt oder eine sachgrundbefristete Beschäftigung in einem langfristigen Projekts in Betracht kommt. Denn an ein sachgrundbefristetes Probearbeitsverhältnis kann sich wegen des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 II 2 TzBfG ein nach § 14 II 1 TzBfG sachgrundlos befristetes Arbeitsverhältnis nicht anschließen. Der ArbG, der den AN nach bestandener Probezeit sachgrundlos befristet weiterbeschäftigen will, muss darum schon die Probezeit als sachgrundlos befristetes Teilstück eines nach § 14 II 1 TzBfG auf maximal 2 Jahre verlängerbaren sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisses vereinbaren. ► Zu Nr. 6 (Gründe in der Person des AN): Z.B. die Beschäftigung zur Überbrückung bis zum Beginn des Studiums oder als Werkstudent während der vorlesungsfreien Zeit. ► Zu Nr. 7 (Vergütung aus Haushaltsmitteln): Es handelt sich um einen Sondertatbestand des öffentlichen Dienstes, der auf privatrechtlich organisierte ArbG keine Anwendung findet. ► Zu Nr. 8 (Gerichtlicher Vergleich): Demgegenüber sind außergerichtliche Vergleiche nicht schon als solche sachlich gerechtfertigt, sondern bedürfen eines außerhalb ihrer selbst liegenden Sachgrundes. © Professor Dr. Hunscha 113 Dezember 2015 2. Die Rechtsfolgen einer unwirksamen Sachgrundbefristung Die Sachgrundbefristung eines Arbeitsvertrags ist nur „zulässig“ und damit wirksam bei Vorliegen eines tragfähigen Sachgrundes nach Maßgabe des § 14 I TzBfG und bei Beachtung des Schriftformerfordernisses des § 14 IV TzBfG. a) Fehlt es an einem tragfähigen Sachgrund, ist die Befristung, einerlei, ob sie als Zweckbefristung oder als Zeitbefristung formuliert worden ist, nach § 14 I TzBfG nicht „zulässig“, sondern rechtsunwirksam mit der Folge, dass nach § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. In diesem Fall kann der Arbeitsvertrag vom ArbG nach § 16 S. 1 Halbs. 2 TzBfG frühestens zum (unwirksam) vereinbarten Ende ordentlich gekündigt werden, sofern nicht nach § 15 III TzBfG die ordentliche Kündigung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist. Allerdings besteht für den AN unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz. Zur Möglichkeit, eine unzulässige Sachgrundbefristung als sachgrundlose Befristung zu behandeln, siehe nachfolgend unter c). b) Das Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG ergreift nicht den ganzen Arbeitsvertrag. Ihm unterliegt nur die Befristungsvereinbarung. Erforderlich ist auf jeden Fall, dass der Befristungszweck durch die möglichst genaue Bezeichnung des Ereignisses, dessen Eintritt den sachlichen Grund für die Befristung entfallen lässt, konkretisiert wird (siehe vorstehend unter I. 2. c). Kann die Sachgrundbefristung kalendermäßig formuliert werden, reicht eine schriftliche Vereinbarung über den Endtermin. Tritt der AN seine Arbeit ohne schriftliche Befristungsabrede an, ist die Befristung nach § 14 IV TzBfG – ebenso wie beim Fehlen eines tragfähigen Sachgrundes – unwirksam mit der Folge, dass nach § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. Auch die an eine vorhergehende Sachgrundbefristung sich nahtlos anschließende weitere Sachgrundbefristung bedarf erneut der Schriftform! Haben die Vertragsparteien eine Befristung des Arbeitsvertrags vor Arbeitsantritt nur mündlich vereinbart und halten sie diese Befristungsabrede erst später schriftlich fest, bleibt sie unwirksam. Ist die Befristung nur wegen des Mangels der Schriftform unwirksam, kann der Arbeitsvertrag entgegen § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG von beiden Vertragsparteien nach § 16 Satz. 2 TzBfG bereits vor dem (unwirksam) vereinbarten Ende ordentlich gekündigt werden. Auch hier besteht für den AN unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz. c) Sofern der angegebene Sachgrund die Befristung nicht rechtfertigt, ist es im Grundsatz möglich, dass der ArbG einen anderen Sachgrund, der sich als tragfähig erweist, nachschiebt (HWK/Schmalenberg § 14 Rn. 140). Auch kann sich der ArbG stattdessen auf eine sachgrundlose Befristung nach § 14 II TzBfG berufen, wenn deren gesetzliche Voraussetzungen bei Vertragsschluss vorlagen. Das setzt aber mindestens voraus, dass dem vereinbarten Befristungsgrund zugleich ein kalendermäßig bestimmter Endtermin zu entnehmen ist; denn eine sachgrundlose Befristung kann nur kalendermäßig zum Ausdruck gebracht werden. Für beide Möglichkeiten ist jedoch dann kein Raum, wenn der Arbeitsvertrag erkennen lässt, dass für die Befristung ein © Professor Dr. Hunscha 114 Dezember 2015 ganz bestimmter Sachgrund ausschließlich maßgebend sein sollte. Dann nämlich gelten sämtliche Alternativen als abbedungen (vgl. BAG v. 5.6.2002 in NZA 2003, 149 ff.; BAG v. 4.12.2002 in NZA 2003, 916 ff.). Dem Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG kann auch dann genügt sein, wenn die Sachgrundbefristung in der Form der Zeitbefristung, also kalendermäßig, formuliert wurde (vorstehend I. 2. c). Dennoch bleibt das Vorliegen eines tragfähigen Sachgrundes materiell-rechtlich Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Befristung nach § 14 I TzBfG. Im Streitfall hat der ArbG daher zu beweisen, dass die Zeitbefristung durch einen sachlichen Grund nach Maßgabe des § 14 I TzBfG gerechtfertigt war. Sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für eine sachgrundlose Befristung nach § 14 II TzBfG bei Vertragsschluss vorlagen, kann die Befristung aber auch als eine sachgrundlose gerechtfertigt werden. III. Die sachgrundlose Befristung nach § 14 II TzBfG 1. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen im Überblick Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist im Fall des § 14 II TzBfG nur „zulässig“ und damit wirksam bei einer Befristung bis zur Höchstgrenze von 2 Jahren nach Maßgabe des § 14 II 1 TzBfG (nachfolgend unter a) unter Beachtung des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 II 2 TzBfG (nachfolgend unter b), sofern das Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG erfüllt ist (nachfolgend unter c) 2. Die Befristungshöchstdauer Die Befristungshöchstdauer von 2 Jahren kann nach § 14 II 1 Halbs. 2 TzBfG auch durch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kürzerfristigen Arbeitsvertrags ausgeschöpft werden, also durch insgesamt vier nahtlos aneinander gereihte = ununterbrochen auf einander folgende Verträge. Die jeweilige Verlängerung muss darum noch während der Laufzeit des Vertrags schriftlich vereinbart werden, andernfalls liegt ein Neuabschluss vor, der die Anwendung des Vorbeschäftigungsverbots des § 14 II 2 TzBfG auslöst (BAG v. 26.7.2000 – 7 AZR 51/99 – in NZA 2001, 546 ff.). Eine Verlängerung im Sinne des § 14 II 1 Halbs. 2 TzBfG ist auch dann zu verneinen, wenn die bisherigen Vertragsbedingungen aus Anlass der Verlängerung verändert werden. Es ist jedoch unschädlich, wenn die Veränderung während der Laufzeit eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrages mit deutlichem Abstand zum Verlängerungszeitpunkt erfolgt. Nach § 14 II 3 TzBfG kann durch Tarifvertrag die Anzahl der Verlängerungen sowie (nicht „oder“!) die Höchstdauer der Befristung abweichend von § 14 II 1 TzBfG festgelegt werden, auch zu Ungunsten des AN (tarifdispositives Gesetzesrecht). Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können nach § 14 II 4 TzBfG nicht tarifgebundene ArbG und AN die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren. Wird unter Verstoß gegen das Höchstbefristungsgebot eine den Zeitrahmen von 2 Jahren überschreitende sachgrundlose Befristung vereinbart, ist sie nach § 14 II 1 TzBfG nicht „zulässig“, sondern rechtsunwirksam mit der Folge, dass nach § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. In diesem Fall kann er vom ArbG nach § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG frühestens zum (unwirksam) vereinbarten Ende ordentlich gekündigt werden, sofern nicht nach § 15 III TzBfG die ordentliche Kün- © Professor Dr. Hunscha 115 Dezember 2015 digung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist. Allerdings kann unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz bestehen. 3. Das Vorbeschäftigungsverbot Für die Vereinbarung einer sachgrundlosen Befristung gilt ferner das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG, wonach eine sachgrundlose Befristung nicht zulässig ist, wenn mit demselben ArbG bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat, selbst wenn damals die Höchstzeit für eine sachgrundlose Befristung noch nicht ausgeschöpft war oder es sich um eine Sachgrundbefristung gehandelt hat. Es sollen dadurch Befristungsketten insbesondere durch einen Wechsel zwischen Befristung mit und ohne Sachgrund verhindert werden. Damit dieses Verbot aber nicht zu einem dauernden Einstellungshindernis wird, hat das BAG v. 7.4.2011 – 7 AZR 716/09 – in NZA 2011, 905 ff. entschieden, dass eine „Zuvor-Beschäftigung“ nicht mehr vorliegt, wenn das frühere Arbeitsverhältnis länger als 3 Jahre zurückliegt. In diesen Fällen besteht nach Auffassung des BAG regelmäßig nicht mehr die Gefahr missbräuchlicher Befristungsketten. An die sachgrundlose Befristung anschließende Sachgrundbefristungen sind hingegen stets zulässig. ArbG im Sinne des § 14 II 2 TzBfG ist der Vertragsarbeitgeber. Das ist diejenige natürliche oder juristische Person, die mit dem AN den Arbeitsvertrag geschlossen hat. Ein vorhergehendes Arbeitsverhältnis hat also nur dann mit demselben ArbG bestanden, wenn Vertragspartner des AN in beiden Fällen dieselbe natürliche oder juristische Person ist. Sind beide ArbG nicht personengleich, sondern z.B. lediglich als Tochtergesellschaften einer Konzernmutter miteinander verbunden, findet das Vorbeschäftigungsverbot keine Anwendung. § 14 II 2 TzBfG verbietet es darum nicht, im Anschluss an einen für die Dauer von zwei Jahren sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag mit der Konzerntochter A einen weiteren sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag mit der Konzerntochter B für 2 Jahre abzuschließen. Ist die B jedoch als Leih-ArbG tätig und verleiht sie den ehemaligen AN der A an die A, wo er seine Arbeit nun als Leih-AN der B fortsetzt, liegt in dem Wechsel des Arbeitsverhältnisses ein gegen § 242 BGB verstoßendes rechtsmissbräuchliches Ausnutzen gesetzlicher Gestaltungsformen, der das Vorbeschäftigungsverbot verletzt (KR-Lipke, § 14 TzBfG Rn. 428 ff. m.w.N.; anderer Ansicht noch das BAG in seinem Urteil vom 18.10.2006 - 7 AZR 145/06 - in NZA 2007, 443; einlenkend jetzt das Urteil des BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 657/09 – in NZA 2011, 1147 ff.). Ein früheres Ausbildungsverhältnis bei demselben ArbG steht einer sachgrundlosen Befristung allerdings nicht entgegen. Das gleiche gilt für berufsbezogene Praktika und für eine Beschäftigung im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres. Bei erlaubter ANÜberlassung besteht der Arbeitsvertrag zwischen dem AN und dem Verleiher, nicht zum Entleiher, weswegen keine Vorbeschäftigung bei letzterem vorliegt. Verstößt die Befristung gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG, ist sie nicht „zulässig“, sondern rechtsunwirksam mit der Folge, dass nach § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. In diesem Fall kann er vom ArbG nach § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG frühestens zum (unwirksam) vereinbarten Ende ordentlich gekündigt werden, sofern nicht nach § 15 III TzBfG die ordentliche Kündigung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist. Auch hier kann unter den Voraussetzungen der §§ 1 I, 23 I KSchG Kündigungsschutz bestehen. © Professor Dr. Hunscha 116 Dezember 2015 4. Das Schriftformerfordernis des § 14 IV TzBfG siehe schon oben II. 2. b). Beachte: Auch bei im Rahmen der Befristungshöchstdauer (nahtlos) aneinander gereihten kürzerfristigen Arbeitsverträgen bedarf jede der Befristungsabreden der vorherigen Schriftform! 5. Sollte die Zulässigkeit einer sachgrundlosen Befristung an einem Verstoß gegen das Höchstbefristungsgebot des § 14 II 1 TzBfG scheitern und/oder gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG verstoßen, bleibt dem ArbG im Grundsatz die Möglichkeit, sich auf eine Sachgrundbefristung zu berufen, sofern im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ein tragfähiger Sachgrund vorgelegen hat, der in den kalendermäßig benannten Zeitrahmen hineinpasst. IV. Die sachgrundlose Befristung nach § 14 IIa TzBfG Die Regelung des § 14 IIa TzBfG soll Existenzgründer privilegieren, nach Satz 2 dieses Absatzes aber nicht Neugründungen im Zusammenhang mit der rechtlichen Umstrukturierung von Unternehmen und Konzernen. Bis zu der Gesamtdauer von vier Jahren ist die mehrfache nahtlose Verlängerung ohne zahlenmäßige Begrenzung statthaft. Nach vier Jahren gilt auch hier das Anschlussverbot des § 14 II 2 TzBfG. V Die sachgrundlose Befristung nach § 14 III TzBfG Wegen der überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit älterer AN lässt § 14 III TzBfG die Befristung von Arbeitsverträgen mit AN, die das 52. Lebensjahr vollendet haben und unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens 4 Monate beschäftigungslos gewesen sind sowie Transferkurzarbeitergeld (§ 216 b SGB III) bezogen oder an einer öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahme teilgenommen haben, ohne sachlichen Grund bis zur Dauer von fünf Jahren zu. VI. Die Entfristungsklage 1. Ist die Befristung nach § 14 I TzBfG oder § 14 II TzBfG oder die auflösende Bedingung nach § 21 TzBfG unwirksam, fingiert § 16 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG das Bestehen eines auf unbestimmte Zeit geschlossenen Arbeitsvertrags, dessen Beendigung im Wege der ordentlichen Kündigung nach Maßgabe des § 16 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG, ggf. des § 16 Satz 2 TzBfG herbeigeführt werden kann. § 16 TzBfG erfasst alle Unwirksamkeitsgründe: das Fehlen eines tragfähigen Sachgrundes in den Fällen des § 14 I TzBfG, das Überschreiten der Befristungshöchstdauer des § 14 II 1 TzBfG und des § 14 IIa TzBfG, den Verstoß gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG, © Professor Dr. Hunscha 117 Dezember 2015 die Nichterfüllung der sachlichen Voraussetzungen der §§ 14 IIa 1 bis 3 und 14 III 1 TzBfG hat, sowie den Mangel der Schriftform des § 14 IV TzBfG. 2. Nach § 17 TzBfG muss der AN die Unwirksamkeit der Befristungsabrede innerhalb von 3 Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags gerichtlich geltend machen, wobei die §§ 5 bis 7 KSchG entsprechend gelten. Versäumt der AN die Klagefrist und wird die verspätete Klage nicht entsprechend § 5 KSchG zugelassen, gilt entsprechend § 7 KSchG jeder Unwirksamkeitsgrund als rückwirkend geheilt. Geht im Fall des § 15 II TzBfG die schriftliche Unterrichtung des AN durch den ArbG dem AN so spät zu, dass die Zwei-Wochen-Frist erst nach der Zweckerreichung (oder dem Eintritt der auflösenden Bedingung) endet, darf die Klagefrist aber erst am Tage nach dem Zugang der Mitteilung beginnen (HWK/Schmalenberg § 17 Rn. 5). V. Stillschweigende Verlängerung Wird das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Zeit, für die es eingegangen ist, oder nach Zweckerreichung mit Wissen des ArbG fortgesetzt, gilt es (ähnlich § 625 BGB) nach § 15 V TzBfG als auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn der ArbG nicht unverzüglich widerspricht oder die bislang ausgebliebene Mitteilung über die Zweckerreichung unverzüglich nachholt. War die Unterrichtung nach § 15 II TzBfG erfolgt, das Arbeitsverhältnis aber trotzdem über die in diesem Fall maßgebende Zwei-Wochen-Frist hinaus fortgesetzt worden, sollte der ArbG unverzüglich ein weiteres Mal die Zweckerreichung mitteilen. VI. Besondere Befristungsregelungen enthalten das Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit Ärzten in der Weiterbildung (ÄrzteBefrG) und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). © Professor Dr. Hunscha 118 Dezember 2015 § 14 Das Probearbeitsverhältnis I. Zweck und Dauer der Probezeit Das Arbeitsverhältnis beginnt im Regelfall mit einer Probezeit. Sie dient dem ArbG wie dem AN dazu, sich über die Arbeitsstelle und den Vertragspartner ein Bild machen und ggf. schnell wieder voneinander trennen zu können. Das Probearbeitsverhältnis steht dem normalen Arbeitsverhältnis im Grundsatz gleich, kann aber während der Probezeit ordentlich gekündigt werden, das unbefristete Probearbeitsverhältnis (nachfolgend unter II. 1.) kraft Gesetzes nach § 622 III BGB mit einer Frist von zwei Wochen; auf Grund einzelvertraglicher Vereinbarung nach § 622 V 3 BGB mit einer längeren Frist; durch Tarifvertrag nach § 622 IV BGB mit einer kürzeren oder längeren Frist (tarifdispositives Gesetzesrecht), das befristete Probearbeitsverhältnis (nachfolgend unter II. 2.) nach Maßgabe einer nach § 15 III TzBfG einzelvertraglich oder in einem anwendbaren Tarifvertrag getroffenen Vereinbarung. Die Probezeit kann aber auch als eine feste Mindestvertragsdauer vereinbart werden. Eine außerordentliche (fristlose) Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 626 BGB ist jederzeit möglich. Die Probezeit beträgt üblicherweise sechs Monate, was im Hinblick auf den nach §§ 1 I, 23 I KSchG danach einsetzenden Kündigungsschutz sinnvoll ist. Eine in begründeten Ausnahmefällen längere Probezeit, z.B. im Fall eines Orchestermusikers, muss darum als sachgrund- (oder sachgrundlos) befristetes Arbeitsverhältnis vereinbart werden. Eine kürzere Probezeit ist ohne weiteres möglich. § 20 BBiG sieht eine gesetzliche Probezeit von mindestens einem Monat und höchstens vier Monaten vor. II. Gestaltungsmöglichkeiten der Probezeit 1. Zum einen kann im Rahmen eines (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsverhältnisses vereinbart werden, dass dessen Anfangszeit eine Probezeit ist. Wird in dieser Zeit weder durch den ArbG noch durch den AN eine Kündigung ausgesprochen, setzt sich das Arbeitsverhältnis ohne weiteres (unbefristet oder befristet) fort. 2. Zum anderen kann dem (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsverhältnis ein sachgrundbefristetes Probearbeitsverhältnis gemäß § 14 I Nr. 5 TzBfG vorgeschaltet werden. Es endet ohne weiteres mit dem Ablauf der vereinbarten Frist, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Die Fortführung des Arbeitsverhältnisses über die sachgrundbefristete Probezeit hinaus bedarf des ausdrücklichen Abschlusses eines (unbefristeten oder befristeten) Arbeitsvertrags. Die stillschweigende Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nach § 625 BGB führt mangels Schriftform (§ 14 IV, 16 TzBfG) zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag. © Professor Dr. Hunscha 119 Dezember 2015 Beachte: Soll der nachgeschaltete Arbeitsvertrag nach § 14 II 1 TzBfG sachgrundlos befristet sein, muss die befristete Probezeit zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 II 2 TzBfG als der erste Teilabschnitt einer nach § 14 II 1 TzBfG bis zu zwei Jahren (nach § 14 IIa TzBfG bis zu vier Jahren, nach § 14 III TzBfG bis zu fünf Jahren) möglichen Zeit sachgrundloser Befristung behandelt werden. Bei nicht bestandener Probe wird der befristete Arbeitsvertrag einfach nicht verlängert. Bei bestandener Probe muss die sachgrundlos befristete Vertragsverlängerung schon kurz vor dem Auslaufen der Probezeit vereinbart werden, damit ein nahtloser Anschluss gewährleistet ist (oben § 13 II.). © Professor Dr. Hunscha 120 Dezember 2015 § 15 Die Pflichten des AN (Zu den Rechtsfolgen ihrer Nicht- oder Schlechterfüllung im Einzelnen siehe unten §§ 17 bis 27) Übersicht über die Gliederung dieses Abschnitts Unter I. 1. wird die Haupt(leistungs)pflicht des AN, nämlich die ihm arbeitsvertraglich obliegende Arbeitsleistung zu erbringen, behandelt. Dabei wird unter I. 2. darauf hingewiesen, dass der AN seine Arbeitspflicht nicht auf andere delegieren kann. Da die Arbeitszeit ein ganz wesentlicher Bestandteil der Arbeitspflicht ist, wird sie gleich nachfolgend unter I. 3. behandelt. Unter II. schließt sich als besonderes Schwergewicht der Arbeitspflicht des AN das Weisungsrecht des ArbG an. Nach grundsätzlichen Ausführungen über den Umfang und die Grenzen des Weisungsrechts unter besonderer Berücksichtigung des Rechts des ArbG, Versetzungen anzuordnen (unter II. 1. bis 5.), werden sodann – unter gelegentlichem Rückgriff auf die grundsätzlichen Ausführungen – die Teilbereiche des Weisungsrechts, nämlich Weisungen bezüglich Art und Inhalt der Arbeitsleitung (unter II. 6.), bezüglich des Ortes der Arbeitsleistung (unter II. 7.) und der Arbeitszeit (unter II. 8.) angesprochen sowie (unter II. 9.) arbeitgeberseitige Verhaltensvorschriften und Kontrollmaßnahmen behandelt. Die Ausführungen unter II. 10. sind der Behandlung unzweckmäßiger und rechtswidriger Weisungen gewidmet. Unter III. geht es um die Verlängerung oder Verkürzung der Pflicht des AN zur Arbeitsleistung durch die Anordnung von Überstunden oder von Kurzarbeit. Eine ähnliche Beschäftigungsmöglichkeit bietet die unter IV. behandelte Arbeit auf Abruf im Vollzeitarbeitsverhältnis. Unter V. 1. bis 3. werden die Nebenpflichten des AN behandelt: Der Schutz von Leben und Gesundheit des AN (unter V. 1.); der Schutz von Besitz und Eigentum des AN (unter V. 2.); der Persönlichkeitsschutz des AN (unter V. 3.); die Pflicht zur Zeugniserteilung (unter V. 4.). I. Die Arbeitspflicht 1. Rechtsquellen der Arbeitspflicht Die Arbeitspflicht ist die Hauptleistungspflicht des AN. Rechtsgrundlage ist der Arbeitsvertrag (Tätigkeitsbeschreibung) i.V.m. § 611 BGB, der für das Arbeitsrecht so zu verstehen ist, dass der AN sich zu Leistung unselbständiger Dienste verpflichtet hat (oben § 1 II.). Hieraus folgt die besondere Bedeutung des Weisungsrechts des ArbG als ein Instrument des ArbG zur situationsgerechten Konkretisierung der Arbeitspflicht (oben § 2 I. 2. und nachfolgend unter II.). Im Fall erlaubter AN-Überlassung ist die Arbeitspflicht des Leih-AN aufgespalten. Dem Verleiher gegenüber schuldet er als dessen AN die Leistung von Arbeit im Betrieb des Entleihers mit der Maßgabe, dass auch der Entleiher als der hieraus Begünstigte berechtigt ist, vom Leih-AN die Arbeitsleistung zu fordern und Weisungen zu erteilen (unten § 43). 2. Die Unübertragbarkeit der Arbeitspflicht Die Arbeitspflicht versteht sich als höchstpersönliche Leistungspflicht, so dass z.B. der angestellte Fahrer, dem für sechs Monate die Fahrerlaubnis entzogen wurde, seinem ArbG nicht an seiner Stelle einen guten Freund zur Überbrückung aufnötigen kann. § 613 S. 1 BGB gilt im Arbeitsrecht nicht nur „im Zweifel“, sondern ausnahmslos. Akzeptiert der ArbG den anderen als Aushilfskraft, hat er mit ihm schon bei nur mündlichem Einverständnis einen Arbeitsvertrag auf unbestimmte Dauer geschlossen. Ein für die Dauer lediglich der Überbrückung sachgrundbefristeter Arbeitsvertrag erfordert demgegenüber noch vor Arbeitsantritt eine © Professor Dr. Hunscha 121 Dezember 2015 schriftliche Befristungsabrede (oben § 13 I. 1.). Den als Fahrer ausfallenden AN kann u.U. eine Kündigung treffen. Der Bestimmung des § 613 S. 1 BGB entspricht die grundsätzliche Unübertragbarkeit des Anspruchs auf die Arbeitsleistung auf einen anderen Arbeitgeber nach § 613 S. 2 BGB. Eine Ausnahme bildet der Fall des Betriebsübergangs nach § 613a BGB (unten § 42). 3. Die Arbeitszeit a) Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ist ein Arbeitsschutzgesetz, das zur Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheit des AN die Höchstgrenzen dafür festlegt, an welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten unter welchen Voraussetzungen wie lange gearbeitet werden darf. Es gilt nicht für leitende Angestellte (§ 18 I Nr. 1 ArbZG; zum Begriff des leitenden Angestellten siehe § 5 III BetrVG). Arbeitszeiten bei mehreren ArbG sind nach § 2 I 1 ArbZG zusammenzurechnen. Zu den Besonderheiten der Abrufarbeit siehe § 12 TzBfG (oben § 12 III. sowie nachfolgend unter IV.) Die gesetzliche Regelung des Ladenschlusses fällt in die Kompetenz der einzelnen Bundesländer (Übersicht dazu unter Nr. 55 der Textsammlung „Arbeitsgesetze“, Beck-Texte im dtv). Die tatsächlichen arbeitsvertraglichen Arbeitszeiten schöpfen die arbeitsschutzrechtlichen Grenzen des ArbZG oft nicht aus. Aber auch dort, wo sie sie überschreiten, muss es sich nicht notwendig um einen Verstoß gegen das ArbZG handeln; denn nicht alle Zeiten, die arbeitsvertraglich als Arbeitszeit gelten, sind zugleich Arbeitszeit im Sinne des ArbZG. Da das ArbZG ausschließlich dem Schutz des AN vor Gefahren für seine Sicherheit und Gesundheit dient, gehören z.B. Umkleide- und Waschzeiten grundsätzlich nicht zur Arbeitszeit im Sinne des ArbZG; denn bei dieser Verrichtung drohen dem AN auch nach dem Ausschöpfen der Höchstarbeitsgrenzen keine Gefahren, denen durch Einbeziehung in die gesetzliche Arbeitszeit vorzubeugen wäre (BAG v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99 – in NZA 2001, 458). Dennoch gelten diese und ähnliche Zeiten nach dem Arbeitsvertrag, aufgrund einer Betriebsvereinbarung oder eines anwendbaren Tarifvertrages häufig als vergütungspflichtige Arbeitszeiten, insbesondere wenn es sich um Dienst- und Sicherheitskleidung handelt, die im Betrieb deponiert wird oder um deren arbeitsbedingt starke Verschmutzung. Vereinbarungen, die gegen die Vorschriften des ArbZG verstoßen, sind nach § 134 BGB nichtig. Diesbezüglichen Weisungen des ArbG muss der AN nicht Folge leisten. Arbeitet er trotzdem, behält er aber seinen Entgeltanspruch. Als Arbeitszeit im Sinne des ArbZG nach ihrer Dauer un nach seinem § 2 I 1 die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit. Mit Ausnahme im Bergbau unter Tage gehören die Ruhepausen (§ 4 ArbZG) hiernach nicht zur gesetzlichen Arbeitszeit. Nicht dazu zählt ferner die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte; ein hierbei auftretende Wegeunfall ist nach § 8 II Nr. 1 SGB VII allerdings als Arbeitsunfall versichert. Die gesetzliche Arbeitszeit beginnt mit der Arbeitsaufnahme bzw. dem Bereithalten des AN zur Arbeit. Vor- und Nacharbeiten, wie die Materialbeschaffung und das Säubern des Arbeitsplatzes, gehören zur Arbeitszeit. Reisezeiten sind Arbeitszeit im Sinne des ArbZG, wenn der AN währenddessen z.B. Büroarbeit verrichtet, etwa am Computer arbeitet, Unterlagen studiert, dienstliche E-Mails liest und sendet, mit Kunden oder seinem Betrieb telefoniert, Terminsvorbereitungen trifft u.Ä. Die Belastung, die für den AN davon ausgeht, dass der ArbG vom ihm das Führen eines Kfz verlangt, steht arbeitsschutzrechtlich der Arbeitsleistung während der Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel gleich. Für einen Außendienstmitarbeiter ist die Reisetätigkeit Arbeitszeit. Das gilt erst recht für die Beschäftigung im Transportwesen. Ansonsten ist die Reisezeit im Rahmen des ArbZG als Arbeitsbereitschaft (siehe nachfolgend unter b) (1)) zu behandeln, deren zeitliche Grenzen nach § 7 IIa oder § 7 I Nr. 1 und Nr. 4 ArbZG erweitert werden können (siehe nachfolgend unter c) (3)). Die Tätigkeit, die arbeitsschutzrechtlich als Arbeitszeit gilt, ist vergütungspflichtig. Darüber hinaus können in einem Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem © Professor Dr. Hunscha 122 Dezember 2015 anwendbaren Tarifvertrag auch andere Zeiten als vertraglich geschuldete Arbeitszeit definiert und vergütet werden. Gerade in Ansehung von Reisezeiten des AN werden oft besondere Regelungen vereinbart. b) Die Zeit der Arbeitsbereitschaft und des Bereitschaftsdienstes zählen zur Arbeitszeit, nicht hingegen die Zeit der Rufbereitschaft. (1) Die Arbeitsbereitschaft bedarf keiner besonderen Vereinbarung, sondern ergibt sich aus der Natur der Beschäftigung. Sie liegt vor, wenn der AN während seiner Arbeitszeit nicht durchweg beschäftigt ist, sondern am Arbeitsplatz darauf wartet, gefordert zu werden. Diese Situation ist typisch für den (angestellten) Taxifahrer, der auf Kundschaft wartet. Gleiches gilt für Verkaufspersonal, sofern es nicht außerhalb der Kundenbetreuung mit anderen Aufgaben betraut ist und für den Kraftfahrer, der während der Be- und Endladezeiten untätig ist. Wachpersonal, das vom Wachraum aus Zugänge und Räume über Bildschirm kontrolliert, leistet Vollarbeit. Der Pförtner hingegen, der das verschlossene Werktor nur auf ein Signal hin zu öffnen hat, leistet Arbeitsbereitschaft (Küttner/Reinecke, Personalbuch 2010 Arbeitsbereitschaft, Rn. 2). Auch die Zeit der bloßen Arbeitsbereitschaft ist vergütungspflichtig. Angesichts der geringeren Belastung des AN kann sie aber geringer bezahlt werden, regelmäßig als Pauschale unter Berücksichtigung des erfahrungsgemäß anfallenden Umfangs an Vollarbeit. Außerdem kann die werktägliche Arbeitszeit unter den Voraussetzungen des § 7 ArbZG verlängert werden (nachfolgend unter c) (3)). (2) Bereitschaftsdienst leistet der AN, der sich außerhalb der Vollarbeit an einer vom ArbG bestimmten Stelle aufzuhalten hat, um seine Arbeit nach Aufforderung unverzüglich aufzunehmen. Auch diese Art des Einsatzes folgt weitgehend aus berufsspezifischer Notwendigkeit, doch bedarf die Verpflichtung des AN zur Leistung von Bereitschaftsdienst stets der Grundlage eines Arbeits- oder Tarifvertrages bei Mitbestimmung des Betriebsrates gemäß § 87 I Nr. 2 BetrVG. Schulbeispiel ist der krankenhausärztliche Bereitschaftsdienst. Die Zeit des Bereitschaftsdienstes wird nach der Vergütung und der Möglichkeit zur Verlängerung der Arbeitszeit im Grundsatz wie die Zeit der Arbeitsbereitschaft behandelt (vorstehend unter (1)). (3) Rufbereitschaft leistet der AN, der sich außerhalb der Vollarbeit an einem Ort seiner Wahl aufhalten kann mit der Einschränkung, dort über „Piepser“ oder „Handy“ erreichbar zu sein, um sich nach Aufforderung zur alsbaldigen Arbeitsaufnahme einfinden zu können. Wie der Bereitschaftsdienst, so bedarf auch die Verpflichtung des AN zur Rufbereitschaft der Grundlage in einem Arbeits- oder Tarifvertrag bei Mitbestimmung des Betriebsrates gemäß § 87 I Nr. 2 BetrVG. Die Zeit der Rufbereitschaft ist keine Arbeitszeit, sondern Ruhezeit im Sinne von § 5 ArbZG. Sie ist aber als besondere Leistung des AN zu vergüten. Da sie den AN am geringsten belastet, wird sie geringer vergütet als die Zeit der Arbeitsbereitschaft oder des Bereitschaftsdienstes; auch hier im Regelfall durch eine Pauschale. c) Das ArbZG enthält für die Lage und die Dauer der Arbeitszeit im Wesentlichen folgende Festlegungen: (1) Im Grundsatz darf nach § 3 Satz 1 ArbZG die werktägliche Arbeitszeit des AN 8 Stunden nicht überschreiten. Dabei geht das ArbZG von der 6-Tage-Woche aus und somit von 48 Wochenstunden: Der Samstag ist ein Werktag! Das bedeutet aber nicht, dass in Fällen der häufig anzutreffenden 5-TageWoche eine tägliche Arbeitszeit von 9,6 Stunden ohne weiteres zulässig wäre. Denn „die werktägliche Arbeitszeit“ in § 3 Satz 1 ArbZG ist die Arbeitszeit an jedem Werktag, einerlei an wie viel Werktagen einer Woche gearbeitet wird. Allerdings lässt § 3 Satz 2 ArbZG eine Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit auf bis zu 10 Stunden zu. Dies aber nur unter der Voraussetzung, dass innerhalb von 6 Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Das sind 1152 Stunden (6 Tage mal 8 Stunden mal 24 Wochen). Hiernach wäre es z.B. zulässig, dass ein AN 19 Wochen lang hintereinander 60 Stunden pro Woche (10 Stunden mal 6 Werktage) arbeitet und anschließend bis zum Ablauf der 24. Woche 5 Wochen lang keine Arbeit verrichtet (RGKU/Kock Rn. 4.1 zu § 3 ArbZG). © Professor Dr. Hunscha 123 Dezember 2015 (2) Nach §§ 4, 5 ArbZG sind Ruhepausen und Ruhezeiten einzuhalten. § 6 ArbZG enthält besondere Schutzbestimmungen zur Einschränkung der Nacht- und Schichtarbeit. (3) Nach § 7 ArbZG sind unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Grenzen abweichende Regelungen von den Schutzbestimmungen des §§ 3 bis 6 ArbZG insbesondere in Gestalt der Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit zugelassen: In einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung auf der Grundlage einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel (tarifdispositives Gesetzesrecht), im Geltungsbereich eines Tarifvertrages auch im Betrieb eines nicht tarifgebundenen ArbG durch Betriebsvereinbarung oder mangels Betriebsrat durch schriftliche Vereinbarung zwischen dem ArbG und seinem AN, ansonsten nach Bewilligung durch die Aufsichtsbehörde oder durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates. (4) §§ 9 ff. ArbZG regeln die Sonn- und Feiertagsarbeit. (5) Ausnahmen von den in §§ 3 bis 7 ArbZG sowie §§ 9 bis 12 ArbZG enthaltenen Regelungen sind (1) zum einen in „außergewöhnlichen Fällen“ (Notfällen) des § 14 ArbZG und (2) zum anderen auf Grund Bewilligung der Aufsichtsbehörde in den besonderen Fällen des § 15 ArbZG möglich. (6) Besondere Schutzvorschriften gelten u.a. für Jugendliche (§§ 8 ff. JArbSchG), werdende und stillende Mütter (§§ 7, 8 MuSchG) und Schwerbehinderte (SGB IX). (7) § 16 ArbZG verpflichtet den ArbG zur Unterrichtung der AN über die einschlägigen ArbeitszeitRegelungen und zur Dokumentation der über die Grenze des § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehenden Überschreitungen der Arbeitszeit. Nach § 17 ArbZG wird die Einhaltung der Bestimmungen des ArbZG von den staatlichen Aufsichtsbehörden, meist in Gestalt der Gewerbeaufsichtsämter oder der Ämter für Arbeitsschutz, überwacht. (8) Sonderregelungen für bestimmte Beschäftigungen im öffentlichen Dienst, in der Luftfahrt, in der Binnenschifffahrt und im Straßentransport enthalten die §§ 19 ff. ArbZG. II. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers 1. Das Weisungsrechts als Leistungsbestimmungsrecht Die Arbeitsleistung ist durch den Inhalt der Tätigkeit sowie durch den Ort, an dem sie und durch die Zeit, in der sie zu erbringen ist, bestimmt. Angaben hierüber sind nach § 2 I 2 Nr. 4, 5 und 7 NachwG in die Niederschrift der wesentlichen Arbeitsvertragsbedingungen aufzunehmen. Da der Arbeitsvertrag die Modalitäten der Arbeitsleistung jedoch unmöglich in allen Einzelheiten im Voraus festlegen kann und es auch immer wieder erforderlich wird, den Einsatz des AN an die sich wandelnden betrieblichen Verhältnisse anzupassen, steht dem ArbG als dem Inhaber der betrieblichen Leitungsmacht nach Maßgabe des § 106 Satz 1 GewO die Befugnis zu, „Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung…näher zu bestimmen“. Nach Satz 2 dieser Vorschrift gilt dies auch „hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der AN im Betrieb“. Es handelt sich um das dem ArbG auf der Grundlage des Arbeitsvertrages zustehende Weisungsrecht (Direktionsrecht) in Gestalt eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts im Sinne des § 315 BGB. Es führt durch fortlaufende Konkretisierung der Leistungspflichten des AN zu einer Ausfüllung des Arbeitsvertrages (oben § 2 I. 2.). 2. Die Grenzen des Weisungsrechts im Überblick Das Weisungsrecht des ArbG ist in mehrfacher Weise begrenzt. © Professor Dr. Hunscha 124 Dezember 2015 a) Zum einen folgt aus seiner Funktion, den Arbeitsvertrag auszufüllen, dass es sich im Rahmen des Arbeitsvertrages halten muss und seine Festlegungen nicht überschreiten darf. Das Weisungsrecht gibt dem ArbG nicht die Befugnis, den Arbeitsvertrag einseitig zu ändern. Und so, wie der Arbeitsvertrag dem Vorrang der Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages und des Gesetzes unterworfen ist, unterliegt auch das Weisungsrecht als ein in den Grenzen des Arbeitsvertrags wirksames Regelungsinstrument dem Rangprinzip. Demgemäß bestimmt § 106 Satz 1 GewO, dass das Weisungsrecht nur soweit greift, wie die Arbeitsbedingungen nicht schon durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Als exemplarisch für das Verhältnis des Arbeitsvertrags zur Weisung erweist sich die nachfolgend unter b) dargestellte Rechtsprechung zur Versetzung des AN. b) Das dem ArbG innerhalb dieser Grenzen eingeräumte Weisungsrecht soll ihm aber auch nicht die Möglichkeit geben, den Arbeitsvertrag willkürlich auszufüllen. Er soll vielmehr unter angemessener Berücksichtigung der Interessen des AN eine sachlich begründete Leistungsbestimmung zu treffen. Demgemäß bestimmt § 106 Satz 1 GewO (wie auch § 315 I BGB) weiterhin, dass der ArbG Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung „nach billigem Ermessen näher bestimmen“ soll. Hierzu nachfolgend unter 4. am Beispiel der Versetzung des AN. c) In Bezug auf die Versetzung eines AN ist als weitere Grenze des Weisungsrechts das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 99 BetrVG zu beachten. Dazu nachfolgend unter 5. Darüber hinaus geht dem Weisungsrecht des ArbG das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates vor, in den sozialen Angelegenheiten des § 87 I BetrVG den Abschluss einer Betriebsvereinbarung erzwingen zu können (oben § 6 III.). 3. Die Begrenzung des Weisungsrechts durch den Arbeitsvertrag am Beispiel der Versetzung Als äußere Grenze des Weisungsrechts spielen vor allem die im Arbeitsvertrag enthaltenen Festlegungen über den Inhalt und den Ort der Tätigkeit des AN eine Rolle. Eine besondere Bedeutung kommt ihnen in den Fällen zu, in denen der ArbG die Versetzung des AN auf einen anderen Arbeitsplatz herbeiführen will, der nach der Arbeitsaufgabe und/oder dem Arbeitsort mit dem bisherigen Arbeitsplatz unter Berücksichtigung der im Arbeitsvertrag hierüber getroffenen Bestimmungen nicht mehr als vergleichbar anzusehen ist und darum auf eine Änderung des Arbeitsvertrages hinausläuft, die der ArbG nicht einseitig vornehmen kann. Er bedarf dazu vielmehr des Einverständnisses des AN. Wird sie verweigert, muss der ArbG versuchen, sich im Wege einer Änderungskündigung (unten § 35) durchzusetzen. Dem ArbG bietet sich jedoch die Möglichkeit, sich ein diesbezügliches Weisungsrecht dadurch zu erhalten, dass er schon in den Arbeitsvertrag eine weite Umschreibung des Einsatzbereichs des AN bzw. entsprechende Umsetzungs- bzw. Versetzungsklauseln aufnimmt. Da der Arbeitsvertrag aber ein Formularvertrag ist, sind auch derartige Klauseln der gerichtlichen Inhaltskontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB unterworfen. Auf die Frage, wie weit diese Inhaltkontrolle im Einzelfall geht, stellt die Rechtsprechung auf nachfolgende Unterscheidung ab: © Professor Dr. Hunscha 125 Dezember 2015 Sofern die Auslegung dieser arbeitsvertraglichen Bestimmungen ergibt, dass sich der ArbG mit ihrer Hilfe nicht irgendeine einseitige Vertragsänderung vorbehält, sondern den tatsächlichen Umfang der vom AN nach dem Arbeitsvertrag geschuldeten Leistung durch die Benennung alternativer Tätigkeitsinhalte und/oder Tätigkeitsorte als weitere Einsatzmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt bestimmt, weichen sie nicht von der gesetzlichen Regelung des § 106 S. 1 GewO ab, so dass § 307 I 1 BGB nicht anwendbar ist (§ 307 III 1 BGB). Es handelt sich vielmehr um eine nähere Bestimmung der Hauptleistung, die ausschließlich der Transparenzkontrolle des § 307 I 2 BGB unterliegt (BAG v.25.8.2010 – 10 AZR 275/09 – in NZA 2010, 1355 ff. Rn.21 ff.; BAG v.19.1.2011 – 10 AZR 738/09 – in NZA 2011, 631 ff. Rn.15 ff.; zur Transparenzkontrolle allgemein siehe oben § 4 I. 2.). Es macht auch „keinen Unterschied, ob im Arbeitsvertrag auf eine Festlegung [z.B.] des Ortes der Arbeitsleistung verzichtet und diese [damit] dem Arbeitgeber im Rahmen von § 106 GewO vorbehalten bleibt oder ob der Ort der Arbeitsleistung bestimmt ist, aber [zugleich] die Möglichkeit der Zuweisung eines anderen Ortes vereinbart wird. In diesem Fall wird lediglich klargestellt, dass § 106 S. 1 GewO gelten und eine Versetzungsbefugnis an andere Arbeitsorte bestehen soll“ (BAG v.19.1.2011 a.a.O. Rn.15). ─ „Die Bestimmung eines Ortes der Arbeitsleistung in Kombination mit einer im Arbeitsvertrag durch Versetzungsvorbehalt geregelten Einsatzmöglichkeit im gesamten Unternehmen (verhindert) regelmäßig die vertragliche Beschränkung auf den im Vertrag genannten Ort der Arbeitsleistung“ (BAG v.19.1.2011 a.a.O. Rn.15; BAG v.13. 4.2010 – 9 AZR 36/09 – in NZA 2011, 64 (Orientierungssatz). Durch eine enge Festlegung von Inhalt und Ort der Arbeitsleistung ohne die Verwendung einer die Hauptleistung des AN näher bestimmenden Versetzungsklausel, ist das Weisungsrecht des ArbG hingegen dahingehend eingeschränkt, dass er dem AN nur die dort genannten Tätigkeiten zuweisen und ggf. weiter konkretisieren kann. Eine Veränderung des Tätigkeitsinhalts und/oder -ortes der Arbeitsleistung kann er dann nur im Einvernehmen mit dem AN vornehmen oder im Wege einer Änderungskündigung herbeiführen (BAG v.19.1.2011 a.a.O. Rn. 17). Ergibt die Auslegung der arbeitsvertraglichen Bestimmungen. dass sich der ArbG mit der Versetzungsklausel das Recht vorbehält, „ohne den Ausspruch einer Änderungskündigung einseitig die vertraglich vereinbarte Tätigkeit unter Einbeziehung geringerwertiger Tätigkeiten zulasten des Arbeitnehmers verändern zu können“, scheitert diese Regelung an der Angemessenheitskontrolle des § 307 I 1 BGB (BAG v.25.8.2010 – 10 AZR 275/09 – in NZA 2010, 1355 ff. Rn.28). Dabei sind etwaige Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages über die Bewertung von Tätigkeiten und die Bildung von Vergütungsgruppen zu beachten. Auf einen Arbeitsplatz mit einer gegenüber seiner bisherigen Beschäftigung geringerwertigen Tätigkeit darf der ArbG den AN selbst dann nicht versetzen, wenn die Vergütung unverändert bleibt (ErfK/Preis § 106 GewO Rn. 13); denn auch dies ist der fachlichen Qualifizierung und Profilierung des AN abträglich. Umsetzungs- und Versetzungsvorbehalte können auch in Tarifverträgen enthalten sein. Nach § 310 IV 1 BGB unterliegen sie nicht der AGB-Kontrolle. Abgesehen davon, dass eine solche Kontrolle die Tarifautonomie in Frage stellen würde, ist davon auszugehen ist, dass der Tarifvertrag die Interessen der AN angemessen berücksichtigt (dazu schon oben § 4 I. 3. am Ende). Tarifvertragliche Versetzungsklauseln müssen aber mit höherrangigem Recht, insbesondere den grundrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 2 und 12 GG, die dem Schutz nicht nur des ArbG, sondern auch des AN dienen (oben unter § 3 III. 2.), vereinbar sein. Das dürfte z.B. nicht mehr der Fall sein, wenn eine Tarifnorm dem ArbG gestattet, den AN gegen seinen Willen rationalisierungsbedingt in eine unternehmensinterne Beschäftigungsgesellschaft zu versetzen (Küttner/Reinecke, Personalbuch 2013 Versetzung, Rn. 7). Es ist festzustellen, dass die Rechtsprechung einer weiten Umschreibung des Tätigkeitsfeldes des AN verbunden mit entsprechenden Umsetzungs- bzw. Versetzungsklauseln durchweg aufgeschlossen gegenübersteht, weil sie erkennt, dass die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis ohne weiteres an veränderte wirtschaftliche Bedingungen anpassen zu können, nicht nur im betrieblichen Interesse liegt, sondern ebenso dem Schutz des AN vor einem betriebsbedingten Verlust seines Arbeitsplatzes dient. Zum einen erweitert sich dadurch für den kündigungsbedrohten AN der Kreis der AN, die wegen vergleichbarer Arbeitsplätze in die nach § 1 III Satz 1 KSchG erforderliche Sozialauswahl (unten § 31) einzubeziehen sind (BAG v.14.4.2006 – 9 AZR 557/05 – in NZA 2006, 1149 ff. Rn. 36, 37). Zum anderen bestehen für ihn vermehrte Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten (unten § 30 II. 3. c). © Professor Dr. Hunscha 126 Dezember 2015 4. Die Ausübung des Weisungsrechts nach billigem Ermessen Eine innere Grenze bildet die in § 106 Satz 1 GewO (schwächer, weil nur „im Zweifel“ die Vorschrift des § 315 I BGB) enthaltene Bestimmung, dass die unter Beachtung der vorstehend dargelegten äußeren Grenzen mögliche Weisung „nach billigem Ermessen“ zu erfolgen hat. Es kommt also, neben der Angemessenheitskontrolle nach § 307 I 1 BGB zu einer Ausübungskontrolle des Weisung, die sicherstellen soll, dass der ArbG nicht willkürlich verfährt, sondern eine sachlich begründete Entscheidung trifft, bei der er neben den eigenen auch berechtigte Interessen des AN angemessen berücksichtigen muss (BAG v.23. 9. 2004 – 6 AZR 567/03 – in NZA 2005, 359 ff.). Der unbestimmte Rechtsbegriff des „billigen Ermessens“ fordert die Rechtsprechung zur Auslegung unter Beachtung der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte vor allem der Art. 1 bis 6, 12 und 14 GG heraus (oben § 3 III. 2.). So sind z.B. bei der Versetzung an einen anderen Arbeitsort oder der Verteilung der Arbeitszeit die familiären Belastungen des AN angemessen zu berücksichtigen. Zu der Frage, mit welchen Konsequenzen sich der AN gegenüber der Zuweisung von Arbeit unter Berufung auf sein Gewissen erwehren kann oben § 3 III. 2. unter (3). 5. Die Begrenzung des Weisungsrechts durch Beteiligungsrechte des Betriebsrates In mitbestimmten Betrieben kommen als weitere äußere Grenze des Weisungsrechts des ArbG die Beteiligungsrechte des Betriebsrates in Betracht. Dabei kommt es zum einen auf § 87 I BetrVG an, wonach der Betriebsrat den ArbG zwingen kann, bestimmte soziale Angelegenheiten nicht im Wege der Weisung, sondern ausschließlich auf Grund einer Betriebsvereinbarung zu regeln. In Ansehung gerade von Versetzungen ist § 99 BetrVG zu beachten, wonach dem Betriebsrat in Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten AN das Recht zusteht, die Zustimmung zu einer vom ArbG angeordneten Versetzung eines AN aus den in Absatz 2 der Vorschrift aufgeführten Gründen verweigern zu dürfen. Wenngleich sich der betriebsverfassungsrechtliche Versetzungsbegriff des § 95 III 1 BetrVG (wohl aber die Bestimmung des § 95 III 2 BetrVG) mit dem individualrechtlichen Verständnis von einer Versetzung nicht deckt, ist auf jeden Fall festzuhalten, dass eine individualrechtlich zulässige Versetzung ohne Zustimmung des Betriebsrates zu der vom ArbG beabsichtigten Maßnahme oder deren Ersetzung durch arbeitsgerichtliche Entscheidung nicht möglich ist (DKKW - Kittner/Bachner § 99 Rn. 88). 6. Weisungen bezüglich des Inhalts der Arbeitsleistung Der Inhalt der Arbeitsleistung ist gleichbedeutend mit der Art der geschuldeten Tätigkeit. Sie richten sich in erster Linie nach den Festlegungen im Arbeitsvertrag (vgl. § 2 I 2 Nr. 5. NachwG). Daraus folgt, dass „die Befugnis des ArbG, dem AN unterschiedliche Aufgaben im Wege seines Direktionsrechts zuzuweisen“, umso weiter geht, „je allgemeiner die vom AN zu leistenden Dienste im Arbeitsvertrag festgelegt sind“ (BAG v.25. 8. 2010 – 10 AZR 275/09 – in NZA 2010, 1355 ff. Rn. 22). Keine den arbeitsvertraglichen Grenzen des Weisungsrecht unterliegende Zuweisung von Arbeit liegt in der Weisung gegenüber dem AN, Nebenarbeiten zu erbringen, die üblicherweise im Zusammenhang mit seinem Tätigkeitsbereich anfallen. Das gleiche gilt in Ansehung von Arbeitsanweisungen hinsichtlich des Wie der dem AN übertragenen Arbeiten. © Professor Dr. Hunscha 127 Dezember 2015 In Notfällen u. ä. Ausnahmesituationen (vgl. § 14 I ArbZG) kann der AN im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet werden, kurzzeitig auch eine andere, ggf. sogar geringwertige Tätigkeit, natürlich bei Fortzahlung der bisherigen Vergütung, zu verrichten. So kann der AN beispielsweise verpflichtet sein, im Falle eines Brandes beim Löschen zu helfen, im Falle eines Umzug beim Einpacken von Geschäftsunterlagen aus seinem Aufgabenbereich mitzuhelfen und andere Selbstverständlichkeiten zu erledigen, die meist schon als Nebenpflicht des AN aus seiner Treuepflicht fließen (unten IV.). ─ Darf z.B. eine schwangere AN ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit wegen eines Beschäftigungsverbots nach §§ 3, 4 MuSchG nicht ausüben, kann sie ausnahmsweise verpflichtet sein, vorübergehend eine andere Tätigkeit zu erbringen; so etwa bei Versetzung einer schwangeren Stewardess in den Bürodienst (unten § 23 II.). 7. Weisungen bezüglich des Ortes der Arbeitsleistung Der Ort der Arbeitsleistung ergibt sich im Regelfall aus dem Arbeitsvertrag (vgl. § 2 I Nr. 4 NachwG). Das ist normalerweise ein bestimmter Betrieb des ArbG. Aus der Beschreibung einer bestimmten Arbeitsaufgabe des AN kann sich eine Konkretisierung auf einen bestimmten Betriebsteil, eine bestimmte Betriebsstätte oder eine bestimmte Arbeitseinheit ergeben. Lässt sich dem Arbeitsvertrag nicht entnehmen, dass der AN nur für einen bestimmten Arbeitsort eingestellt worden ist, kann der AN nach Weisung des ArbG in unterschiedlichen Arbeitsorten eingesetzt werden. Auf einen zusätzlich vereinbarten Versetzungsvorbehalt kommt es dann noch nicht einmal an (BAG v.19.1.2011 – AZR 738/09 – in NZA 2011, 631 Nr. 17 sowie vorstehend unter II. 3.). Vorbehaltlich der Ausübungskontrolle nach Maßgabe des billigen Ermessens gemäß § 106 S. 1 GewO, § 315 I BGB sowie der nach § 99 BetrVG erforderlichen Zustimmung eines etwa bestehenden Betriebsrates, gilt in diesem Fall eine bundesweit unbeschränkte Versetzungsmöglichkeit (ErfK/Preis § 106 GewO Rn. 16). Eine örtliche Konkretisierung der Arbeitspflicht folgt nicht allein aus der Tatsache, dass ein AN über längere Zeit hinweg auf einer bestimmten Stelle mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben beschäftigt worden ist (ErfK/Preis a.a.O.). Entsprechend den berufstypischen Anforderungen der jeweils ausgeübten Tätigkeit kann der Arbeitsort situationsbedingt variieren. Man denke z.B. an Bau- und Montagearbeiten, Zustelldienste, Außendienstmitarbeit, Kundenbetreuung, Catering oder künstlerische Tätigkeiten, die Beschäftigung als Fernfahrer oder eine weiträumige Beratungstätigkeit. Hier kommt dem Weisungsrecht dem ArbG eine besondere Bedeutung zu. Derlei erfüllt weder individual- noch betriebsverfassungsrechtlich (§ 95 III 2 BetrVG) den Tatbestand einer Versetzung. 8. Weisungen bezüglich der Arbeitszeit a) Unter Beachtung der durch das ArbZG gezogenen Grenzen für die Höchstdauer der Arbeitszeit ist die im Einzelfall konkrete Dauer der Arbeitszeit fast ausnahmslos im Arbeitsvertrag oder einem anwendbaren Tarifvertrag festgelegt. Die tarifliche WochenArbeitszeit schwankt nach Branche und Tarifbereich zwischen 34 und 40 Stunden. Im Jahr 2014 z.B. betrug sie im Durchschnitt 35,3 Stunden, davon Vollzeitbeschäftigte 41,5 Stunden und Teilzeitbeschäftigte im Durchschnitt 18,8 Stunden (Stat. Bundesamt). Was hingegen die Lage der Arbeitszeit angeht, so unterliegen der Beginn der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Lage und Dauer der Pausen, die Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage, die Einführung, Änderung und der Abbau von Schichtarbeit einschließlich der Zuordnung der AN zu den einzelnen Schichten, die Einführung © Professor Dr. Hunscha 128 Dezember 2015 von gleitender Arbeitszeit bzw. von Arbeitszeitkonten sowie Fragen des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft der Anordnung des ArbG. Bei Vorhandensein eines Betriebsrates ist es nach § 87 I Nr. 2 BetrVG jedoch erforderlich, dass der ArbG sich zuvor mit ihm über die jeweilige Maßnahme geeinigt hat, meist in Gestalt einer Betriebsvereinbarung. Enthält bereits der Arbeitsvertrag entsprechende Festlegungen, kann der ArbG eine Änderung nur im Einverständnis mit dem AN oder im Wege der Änderungskündigung durchsetzen. Eine nachträgliche Betriebsvereinbarung, die der Betriebsrat erzwingen kann („Initiativrecht“), geht dem Arbeitsvertrag vor, es sei denn, die arbeitsvertraglich getroffene Regelung wäre für den AN günstiger. Entsprechende Festlegungen im Tarifvertrag gestatten regelmäßig den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen (Öffnungsklausel nach § 4 III TVG), da diese Fragen kaum für alle Betriebe einheitlich zu beantworten sind. b) Das Weisungsrecht gibt dem ArbG nicht die Befugnis, eine vorübergehende Verlängerung oder Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit in Gestalt von Überstunden oder von Kurzarbeit einzuführen. Dazu bedarf er vielmehr der besonderen Ermächtigung entweder durch den Arbeitsvertrag, durch einen Tarifvertrag oder durch eine Betriebsvereinbarung (dazu nachfolgend unter III.). 9. Verhaltensvorschriften und Kontrollmaßnahmen Dem Weisungsrecht unterfällt nach § 106 Satz 2 GewO auch die „Ordnung und das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb“. Unter Beachtung zum einen der in das nach § 106 Satz 1 GewO erforderliche „billige Ermessen“ einfließenden grundgesetzlichen Wertentscheidungen, vor allem die der Art. 1 bis 5 GG, zum anderen der Organisationspflichten des ArbG nach Maßgabe des § 12 AGG und des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates nach § 87 I Nr. 1 BetrVG, ist der ArbG berechtigt, Weisungen auszusprechen bzw. Verhaltensvorschriften zu erlassen sowie Kontrollen zur Überwachung ihrer Einhaltung durchzuführen. Verhaltenvorschriften können z.B. das Alkoholverbot, das Rauchverbot, das Verbot der Benutzung des Telefons oder des PC zu privaten Zwecken, das Verbot des Radiohörens im Betrieb, die Parkplatzordnung, die Arbeitskleidung und das äußere Erscheinungsbild des AN sowie das Benachteiligungsverbot nach Maßgabe der §§ 1, 7, 12 AGG betreffen. Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch ein Flirtverbot am Arbeitsplatz oder das Verbot einer privaten Liebesbeziehung zwischen Arbeitskollegen verletzen im Regelfall den Kernbereich der Art 1 und 2 GG und sind rechtswidrig. Als Kontrollmaßnahmen kommen Werksausweise, Eingangskontrollen, stichprobenartige Taschenkontrollen und die Anordnung von Berichtspflichten in Betracht. 10. Unzweckmäßige und rechtswidrige Weisungen Ist die Weisung des ArbG nicht rechtswidrig, aber unzweckmäßig (= der Sache nach nicht sinnvoll), so soll der AN den ArbG bzw. seinen Vorgesetzten darauf aufmerksam machen und vor allem vor etwa drohenden Gefahren warnen. Bleibt der ArbG bei seiner Weisung, ist der AN im Regelfall verpflichtet, Folge zu leisten. Gibt der ArbG hingegen eine rechtswidrige Weisung, braucht der AN sie nicht zu befolgen, muss dies dem ArbG bzw. dessen Repräsentanten vor Ort dann aber vorher kundtun. © Professor Dr. Hunscha 129 Dezember 2015 Viele arbeitsrechtliche Streitigkeiten entwickeln sich daraus, dass der AN einer rechtmäßigen Weisung seines ArbG nicht Folge leistet. Die darin liegende Pflichtverletzung berechtigt den ArbG, den AN wegen dieses Fehlverhaltens abzumahnen und im Wiederholungsfall den Arbeitsvertrag ordentlich (fristgemäß) zu kündigen, bei Geltung des KSchG in Gestalt einer verhaltensbedingten Kündigung, im Fall einer beharrlichen Verweigerungshaltung des AN außerordentlich (fristlos) aus wichtigem Grund nach § 626 BGB. Führt das Nichtbefolgen der Weisung zu einem messbaren Schaden des ArbG, kommt daneben ein Schadensersatzanspruch aus § 280 I BGB in Betracht, bei bewusstem Zuwiderhandeln ohne jede Haftungserleichterung (unten §§ 26/27). III. Überstunden und Kurzarbeit 1. Begriff der Überstunden Abgesehen von den Notfällen des § 14 I ArbZG kann es geboten sein, z.B. zur Deckung von Auftragsspitzen, zum Zweck der Bestandsaufnahme oder anlässlich von Sonderverkäufen die betriebsübliche Arbeitszeit in den Grenzen des ArbZG vorübergehend zu verlängern. In diesen Fällen hat der ArbG die Möglichkeit, Überstunden anzuordnen. Mehrarbeit ist demgegenüber die nach § 7 ArbZG über die im Regelfall gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit von 48 Wochenstunden ausnahmsweise hinausgehende Arbeitszeit. Bezüglich der Vergütung der zusätzlichen Arbeit gibt es keine allgemeinen Regeln. Mit Ausnahme der Fälle, in denen der AN Dienste höherer Art schuldet oder eine deutlich herausgehobene Vergütung jenseits der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung erhält, besteht jedenfalls ein Vergütungsanspruch in Höhe des Entgelts für die übliche Arbeitsleistung gemäß §§ 611, 612 BGB, es sei denn, der Arbeitsvertrag würde ausschließlich einen Freizeitausgleich vorsehen. Auf der Grundlage des Arbeitsvertrages oder eines Tarifvertrags kann es darüber hinaus zur Zahlung von Überstundenzuschlägen kommen. In vielen Betrieben bestehen Arbeitszeitkonten, auf denen die Überstunden mit ihrem Lohnwert gutgeschrieben werden, um damit z.B. in Zeiten von Kurzarbeit die Differenz zum Kurzarbeitergeld auszugleichen (nachfolgend 2.). 2. Begriff der Kurzarbeit Bei der Kurzarbeit geht es um die vorübergehende Verkürzung der Arbeitszeit bei entsprechendem Ruhen der Arbeits- und Vergütungspflicht, ggf. bis hin zu einer zeitweilig völligen Einstellung der Arbeit = „Kurzarbeit Null“. Der Grund für die Einführung von Kurzarbeit liegt zumeist in wirtschaftlichen Schwierigkeiten des ArbG. Ohne Kurzarbeit müsste er den vollen Lohn auch dann zahlen, wenn er seine AN nicht sinnvoll einsetzen kann; denn er trägt das Wirtschaftsrisiko in Gestalt des Beschäftigungsrisikos. Von nicht mehr tragbaren Lohnkosten könnte er sich dann nur durch betriebsbedingte Änderungs- oder Beendigungskündigungen befreien. Um den durch Kurzarbeit eintretenden Lohnverlust auszugleichen, erhalten die AN nach Maßgabe der §§ 95 ff., 105 SGB III Kurzarbeitergeld i.H.v. 67 oder 60 % (für AN ohne Kind) der Nettoentgeltdifferenz im Anspruchszeitraum. Die Regelbezugsfrist beträgt nach § 104 I SGB III längstens sechs Monate, kann aber nach § 109 SGB III durch Rechtsverordnung des BMAS verlängert werden. Gegenwärtig ist die Bezugsdauer für das konjunkturelle Kurzarbeitergeld auf 12 Monate verlängert. Zwar ist der AN Inhaber des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld, doch ist dessen Verwirklichung dem ArbG überantwortet. Er zeigt den Arbeitsausfall der Bundesagentur für Arbeit an, er stellt bei ihr den Antrag auf Kurzarbeitergeld, errechnet es nach Maßgabe seiner Entlohnungsunterlagen und nimmt die Auszahlung an seine AN vor. © Professor Dr. Hunscha 130 Dezember 2015 3. Die Ermächtigungsgrundlage für Überstunden und Kurzarbeit Da die Anordnung von Überstunden oder Kurzarbeit durch den ArbG auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen hinausläuft, bedarf er dazu einer besonderen Ermächtigung. Der ArbG nicht berechtigt, eine solche Maßnahme allein auf Grund seines Weisungsrechts anzuordnen. Da eine Zustimmung aller betroffenen AN oft nicht zu erlangen ist, muss er sich auf Bestimmungen stützen können, die mit Wirkung gegenüber allen seinen AN festlegen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang er Überstunden oder Kurzarbeit anordnen darf. Für die Kurzarbeit kommt es dabei entscheidend auf die in den §§ 95 ff. SGB III enthaltenen Vorschriften an (dazu Köhler in DB 2013, 232 ff.). Für Überstunden fehlt es an entsprechenden Vorgaben. Die generelle Ermächtigung des ArbG zur Einführung von Überstunden oder Kurzarbeit kann • schon im Arbeitsvertrags enthalten sein unter Beachtung der §§ 305 ff. BGB, insbesondere des § 307 BGB; • oder in einem Tarifvertrag; Ist der ArbG tarifgebunden, nicht aber alle seine AN, können die einschlägigen Tarifvertragsklauseln nur dann für alle AN des Betriebes Ermächtigungsgrundlage sein, wenn die Arbeitsverträge der AN unter Bezugnahme auf den Tarifvertrag abgeschlossen (häufigster Fall) oder der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Ist das nicht der Fall, würde die notwendige betriebseinheitliche Regelung bei Tarifgebundenheit des ArbG nur dann eintreten können, wenn man tarifvertragliche Klauseln dieser Art als Rechtsnormen über betriebliche Fragen im Sinne von § 3 II TVG qualifizieren könnte (umstritten). Fällt der Betrieb in den räumlichen und fachlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags, ist aber der ArbG nicht tarifgebunden, werden einschlägige Klauseln dieses Tarifvertrags selten über ihre Bezugnahme im Arbeitsvertrag, sondern meist nur dadurch betriebseinheitlich Geltung erlangen, dass dieser Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde. • oder in einer Betriebsvereinbarung nach § 87 I Nr.3 BetrVG, soweit nicht ein nach § 87 I BetrVG (Einleitungssatz) wegen Tarifbindung des ArbG vorrangiger Tarifvertrag die Angelegenheit abschließend regelt. Dann nämlich gilt der Tarifvorrang. Eine Betriebsvereinbarung würde nicht an § 77 III BetrVG scheitern, weil der Tarifvorbehalt des § 77 III BetrVG nicht für die in § 87 I BetrVG aufgeführten Tatbestände gilt. Hat sich der ArbG, gestützt auf eine der vorgenannten generellen Ermächtigungsgrundlagen, zu Überstunden oder Kurzarbeit entschlossen, bedarf es in mitbestimmten Betrieben zur konkreten Durchführung nach § 87 I Nr.3 BetrVG immer noch einer situationsbezogenen Einigung mit dem Betriebsrat (Vgl. Küttner/Kreitner, Personalbuch 2013, Kurzarbeit Rn.7). Um sicherzustellen, dass die Einigung nicht nur zwischen den beiden Betriebspartnern als lediglich schuldrechtlich bindende Regelungsabrede gilt, sondern auch normative Wirkung für und gegen die AN entfaltet, ist es notwendig, sie in Form einer Betriebsvereinbarung abzuschließen (vgl. § 77 II und IV BetrVG). © Professor Dr. Hunscha 131 Dezember 2015 Ist die Anordnung von Überstunden unwirksam, stellt die Weigerung des AN, Überstunden zu leisten, keine Verletzung seiner Arbeitspflicht dar. Ist die Anordnung der Kurzarbeit unwirksam, bleibt der die angebotene Arbeitsleistung zurückweisende ArbG nach § 615 Satz 1 BGB wegen Annahmeverzugs zur Zahlung des vollen Arbeitslohnes verpflichtet. 4. Im Rahmen der Bestimmungen der §§ 17 ff. KSchG über den Kündigungsschutz bei Massenentlassungen enthält § 19 KSchG eine besondere gesetzliche Ermächtigung für die Einführung von Kurzarbeit (unten § 36). IV. Arbeit auf Abruf im Vollzeitarbeitsverhältnis Eine vorübergehende Verlängerung oder Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit kann auch durch die im Arbeitsvertrag festgelegte Vereinbarung erreicht werden, dass der AN seine Arbeitsleistung in der Spitze entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat = kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit („KAPOVAZ“). Besteht ein Betriebsrat, unterliegen die Einführung und die Abschaffung dieser Form der Abrufarbeit nach § 87 I Nr. 3 BetrVG seiner Mitbestimmung. In entsprechender Anwendung von § 12 II TzBfG muss der ArbG die geplante Veränderung der Arbeitszeit den AN mindestens vier Tage im Voraus mitteilen. Ist die Vereinbarung dieser Art von Abrufarbeit – wie regelmäßig – formularmäßig vorformuliert, gestattet die Rechtsprechung unter Anwendung von § 307 I, II Nr.1 BGB (BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04 – in NZA 2006, 423), dass der ArbG die vom AN zu erbringende wöchentliche Arbeitszeit als Mindestarbeitszeit bis zu 25 % einseitig erhöhen (z.B. von 35 auf bis zu 43,75 Wochenstunden) oder als Höchstarbeitszeit um bis zu 20 % einseitig verringern kann (z.B. von 35 auf bis zu 28 Wochenstunden). Werden beide Möglichkeiten kombiniert, darf der Anteil der flexiblen Arbeitszeit höchstens 25 % der Mindestarbeitsdauer betragen (vgl. oben § 12 III. 2.). Ist die Bandbreitenregelung wegen Überschreitung der Flexibilisierungsgrenzen nach § 307 I 1 BGB unwirksam, ist wegen des untrennbaren Zusammenhangs von regelmäßiger Arbeitszeit und Abrufarbeitszeit die gesamte Arbeitszeitabrede unwirksam. Eine geltungserhaltende Reduktion auf den für sich gesehen beanstandungsfreien Teil des variablen Arbeitszeitvolumens kommt nicht in Betracht, da sie den Verwender der unwirksamen Vertragsbedingungen der Aufgabe entheben würde, selbst für eine rechtmäßige AGB-Praxis zu sorgen. Die gesamte Arbeitszeitabrede ist nun vielmehr im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung neu zu ermitteln. Dabei ist darauf abzustellen, was die Vertragsparteien bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie die Unwirksamkeit der Klausel bedacht hätten. In dem vom BAG a.a.O. Abs. 51 ff. entschiedenen Fall wurde wie folgt argumentiert: Soll die regelmäßige wöchentliche Mindestarbeitszeit 30 Stunden betragen und sollten die AN (unwirksam, weil 33,33 %) verpflichtet gewesen sein, auf Anforderung des ArbG weitere 10 Stunden in der Woche zu arbeiten, und war festzustellen, dass die AN über einen Monat hinweg im Durchschnitt tatsächlich 35,02 Wochenstunden gearbeitet haben, kann von einer gewollten Mindestarbeitszeit von nur 35 Wochenstunden und damit einem zusätzlichen Abrufvolumen von 5 Wochenstunden (= 14,3 %) ausgegangen werden. V. Nebenpflichten des Arbeitnehmers Neben der den Arbeitsvertrag typisierenden Hauptpflicht, für den ArbG auf einem bestimmten Arbeitsplatz innerhalb der vorgesehenen Arbeitszeit eine bestimmte Tätigkeit regelgerecht und weisungsgemäß auszuüben, treffen den AN nach § 611 BGB ver- © Professor Dr. Hunscha 132 Dezember 2015 schiedenartige weitere Pflichten, die man als Nebenpflichten zusammenfasst. Sie werden gemeinhin als Treuepflichten bezeichnet (wohingegen die Nebenpflichten des ArbG als Fürsorgepflichten bezeichnet werden). Sofern die Nebenpflichten nicht gesetzlich oder vertraglich fixiert sind, folgen sie situationsbedingt aus „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ (§ 242 BGB). Als Verhaltenspflichten werden sie gewöhnlich in Handlungs- und Unterlassungspflichten eingeteilt. Erstere verlangen vom AN, in bestimmter Weise tätig zu werden, letztere verbieten dem AN ein bestimmtes Verhalten. Nicht nur das Tun, sondern auch das Unterlassen kann vom ArbG eingeklagt werden (vgl. § 194 I BGB), sofern ihm dies als sinnvoll erscheint. Die Unterlassungsklage setzt analog § 1004 I 2 BGB die Gefahr einer Beeinträchtigung voraus, die meist als Wiederholungsgefahr aus einer bereits eingetretenen Beeinträchtigung folgt, aber auch bei drohender Erstbegehung vorliegen kann. Ggf. kann der Anspruch im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durch eine einstweilige Verfügung gemäß § 935 ZPO gesichert werden. Die Verletzung von Nebenpflichten ist in der Regel ein Fall der Schlechtleistung des AN in Gestalt der Verletzung einer Pflicht aus § 241 II BGB (unten §§ 26, 27). Ist dem ArbG dadurch ein Schaden entstanden, kann er vom AN (unter Beachtung der Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs) Schadensersatz neben der Leistung nach § 280 I BGB verlangen. Im Übrigen kann eine Kündigung des Arbeitsvertrags durch den ArbG in Betracht kommen. Erfüllungsansprüche des ArbG gegen den AN sind selten. Sie treten hauptsächlich als Herausgabeansprüche z.B. bezüglich des Arbeitsergebnisses (nachfolgend 1.), des Dienstwagens und anderer zur Ausführung der Arbeit überlassener oder aus der Tätigkeit erlangter Gegenstände (nachfolgen 2.) in Erscheinung. 1. Überlassung des Arbeitsergebnisses Der AN erhält seine Vergütung dafür, dass er fremdnützige Arbeit leistet: Das Arbeitsergebnis soll dem ArbG zustehen. Demzufolge besteht nach dem Arbeitsvertrag das ungeschriebene Recht des ArbG auf Überlassung des in Erfüllung des Arbeitsvertrags geschaffenen Produkts. An körperlichen Arbeitsergebnissen, die im Wege der Verarbeitung geschaffen werden, wird nach § 950 I BGB der Hersteller Eigentümer: Das ist der ArbG als Inhaber des Produktionsbetriebes (oder der Materiallieferant auf Grund verlängerten Eigentumsvorbehaltes mit Verarbeitungsklausel). Ist § 950 I BGB nicht anwendbar, trifft den AN jedenfalls die ungeschriebene Nebenpflicht, körperliche Arbeitsergebnisse, die er in Ausführung der ihm übertragenen Verrichtung erzielt hat, dem ArbG ohne weiteres zu überlassen. An geistigen Arbeitsergebnissen, die der AN in Erfüllung des Arbeitsvertrags schafft, steht ihm zwar das Urheberrecht im Sinne des § 7 UrhG zu, doch ist er nach §§ 43, 31 V UrhG verpflichtet, dem ArbG die Nutzungsrechte daran in dem Umfang einzuräumen, wie dieser sie nach dem Zweck des Arbeitsvertrags benötigt. Mit der Lohnzahlung ist die Einräumung dieser Nutzungsrechte abgegolten. In Ansehung von Computerprogrammen, die ein AN in Wahrnehmung seiner Aufgaben oder nach den Anweisungen des ArbG geschaffen hat, ist nach § 69b I UrhG, sofern nichts anderes vereinbart wurde, ausschließlich der ArbG zur Ausübung aller vermögensrechtlichen Befugnisse berechtigt. Hat der AN im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses eine Erfindung nach Maßgabe des PatentG gemacht oder einen technischen Verbesserungsvorschlag entwickelt, regelt das AN-ErfindungsG den Rechtserwerb und die Vergütungspflicht des ArbG. Nach § 87 I Nr. 12 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats über die Einführung und Aufstellung allgemeiner Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen. © Professor Dr. Hunscha 133 Dezember 2015 2. Verhaltens- und Schutzpflichten Diesbezügliche Handlungs- wie Unterlassungspflichten des AN folgen vor allem aus der „jeden Teil eines Schuldverhältnisses“, also auch den AN, nach § 241 II BGB treffenden Pflicht „zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils“, hier also des ArbG. Hierbei geht es darum, den ArbG vor Personen- und Sachschaden zu bewahren und damit zugleich den Betrieb zu schützen. Dazu gehört auch die Pflicht des AN, dem ArbG Gefahrenlagen, Störungen oder Schäden anzuzeigen. Zu den schützenswerten Interessen des ArbG gehört es auch, dass nicht Arbeitskollegen oder Außenstehende durch das Fehlverhalten eines AN zu Schaden kommen; denn deren Schädigung trifft regelmäßig auch den ArbG (siehe unten § 26 III. 2./3.). Darüber hinaus trifft den AN insbesondere die Verbote unerlaubter Nebentätigkeit, der Verleitung von Arbeitskollegen zum Vertragsbruch, der Abwerbung von Arbeitskollegen sowie unternehmensschädigender Äußerungen. Viele der Verhaltens- bzw. Schutzpflichten haben eine spezialgesetzliche Reglung gefunden, wie z.B. die Pflicht nach § 18 I ArbSchG, dem ArbG Schäden an einer Arbeitsschutzeinrichtung anzuzeigen. Die Pflicht zur Verschwiegenheit ist in Vorschriften unterschiedlichster Rechtsbereiche enthalten; so in §§ 17 I, 18, 19 UWG; § 9 Nr. 6 BBiG; § 24 II AN-ErfindungsG; § 5 BDSG; § 79 I BetrVG. Das Wettbewerbsverbot ist schon den Bestimmungen der §§ 60, 61, 74 ff. HGB zu entnehmen. Das Schmiergeldverbot ist ein Straftatbestand (§ 299 I StGB). Überhaupt hat der AN alle einschlägigen Rechtsvorschriften zu beachten, wie z.B. umweltschutzrechtliche Bestimmungen und die Vorschriften des StGB. Entsprechend dem Auftragscharakter seiner Tätigkeit hat er dem ArbG Auskunft analog § 666 BGB über den Stand seiner Arbeiten zu geben sowie analog § 667 BGB Anspruch auf Herausgabe dessen, was er zur Ausführung seiner Arbeit erhalten und aus seiner Tätigkeit erlangt hat. Hierher gehört weiterhin die Pflicht des AN, dem ArbG nach § 5 I EFZG die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Inwieweit den AN die Pflicht trifft, dem ArbG Verfehlungen anderer AN mitzuteilen, hängt von seiner Stellung im Betrieb und von der Schwere des Vorfalls ab. 3. Die Wahrung der betrieblichen Ordnung Teils als Handlungspflichten, teils als Unterlassungspflichten zu begreifen sind ferner die allgemeinen Verkehrspflichten zur Wahrung der betrieblichen Ordnung. Hierzu gehört u.a. das Gebot zu korrektem Umgang miteinander, das Gebot körperlicher Sauberkeit und angemessener Kleidung, die Beachtung eines Rauchverbots/Alkoholverbots, die Beachtung des Verbots des Handeltreibens im Betrieb oder der parteipolitischen Agitation, die Beachtung der Torkontrolle u.a.m. In Ansehung seiner privaten Lebensführung treffen den AN im Grundsatz keine arbeitsrechtlichen Verhaltenspflichten. Das private Fehlverhalten darf sich jedoch nicht auf den Betrieb auswirken. Tendenzbetriebe dürfen an ihre Mitarbeiter allerdings strengere Loyalitätsanforderungen stellen. © Professor Dr. Hunscha 134 Dezember 2015 § 16 Die Pflichten des ArbG und die Rechtsfolgen ihrer Verletzung Übersicht über die Gliederung dieses Abschnitts Unter I. 1. geht es um die Hauptpflicht des ArbG, dem AN die vereinbarte Vergütung zu gewähren. Hinsichtlich der Höhe der Vergütung gilt als unterste Lohngrenze der gesetzliche Mindestlohn. Seine Höhe wird jedoch durch die tarifvertraglich ausgehandelten Mindestlöhne zumeist erheblich überschritten. Unter Bezugnahme auf § 105 Satz 1 GewO wird deutlich, dass erst jenseits des hiernach verbindlichen Lohnniveaus für die Parteien des Arbeitsvertrags als Ausdruck des Günstigkeitsprinzips die Freiheit besteht, einen höheren Arbeitslohn zu vereinbaren. Dabei ist festzustellen, dass es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, nach dem für die gleiche Arbeit stets der gleiche Lohn zu zahlen sei, nicht gibt. Unter I. 2. wird die Bedeutung des Tarifvertrags für die Höhe der Vergütung dargestellt. Dabei werden die verschiedenen Situationen aufgeführt, in denen ein Tarifvertrag Wirkung entfalten kann. Unter I. 3. Geht es um die Mitbestimmung des Betriebsrats in Ansehung der Vergütung. Unter II. werden die Formen der Arbeitsvergütung behandelt: Geldlohn – Naturallohn (unter II. 1.); Zeitlohn- Leistungslohn (unter II. 2.); Zusatzentgelte (unter II. 3.), wobei am Beispiel der Weihnachtsgratifikation die Verwendung von Stichtagsklauseln problematisiert wird. Unter III. geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der Kürzung oder Einstellung der Zahlung von Zusatzentgelten unter besonderer Berücksichtigung des Freiwilligkeitsvorbehalts, des Widerrufsvorbehalts, des Anrechnungsvorbehalts sowie unter III. 3. der Gewährung dem Grunde nach kombiniert mit einem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht hinsichtlich der Höhe der Leistung. Unter IV. werden die Lohnkosten des ArbG dargestellt. Unter V. geht es um den Schutz der Arbeitsvergütung. Unter VI. werden die Nebenpflichten des ArbG behandelt: Der Schutz von Leben und Gesundheit des AN (unter VI. 1.); der Schutz von Besitz und Eigentum des AN (unter VI. 2.); der Persönlichkeitsschutz des AN (unter VI. 3.); die Pflicht zur Zeugniserteilung (unter VI. 4.). die Herausgabe der Arbeitspapiere (unter VI. 5.). Unter VII. geht es um die Leistungsverweigerungsrechte des AN gegenüber dem ArbG. I. Die Vergütungspflicht des Arbeitgebers 1. Die Hauptleistungspflicht des ArbG Die Hauptleistungspflicht des ArbG besteht in der Gewährung der vereinbarten Vergütung. Sie hat ihre Rechtsgrundlage im Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB und bildet die Gegenleistung des ArbG für die vom AN erbrachte Arbeit. Was die Frage nach der Höhe der Vergütung angeht, stellt der Wortlaut des § 611 BGB auf die zwischen den Vertragsparteien getroffene Vereinbarung ab. Das ist für den freien Dienstvertrag richtig (oben § 1 II. 1.), gilt für den Arbeitsvertrag aber nur mit Einschränkungen. Zum Schutz des AN vor einer sozial unverträglichen Vergütung bestehen vielmehr zwingende gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen, die den ArbG dazu verpflichten, den AN angemessenen zu entlohnen. Als unterste Lohngrenze gilt nach § 1 I, II MiLoG seit dem 1.1.2015 ein gesetzlicher Mindestlohn von brutto 8,50 € je Zeitstunde, dessen Höhe auf Vorschlag einer ständigen Kommission durch Rechtverordnung der Bundesregierung geändert werden kann (oben § 5 VI.). Trotz nachlassender Tarifbindung ist die wichtigste Quelle für die Bestimmung der Vergütung in den meisten Fällen immer noch der Tarifvertrag, der dem AN in der © Professor Dr. Hunscha 135 Dezember 2015 Regel ein Arbeitsentgelt verschafft, das deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt (oben § 5 I. 1.). Die Normen des Tarifvertrags über die Eingruppierung der AN in Entgeltstufen sind dabei von besonderer Bedeutung. Sollte die tarifvertragliche Vergütungsregelung ausnahmsweise mindestlohnwidrig sein, ist sie nach § 3 MiLoG unwirksam. An ihre Stelle tritt nach § 612 II BGB die ortsübliche Vergütung, mindestens aber der Mindestlohn nach § 1 MiLoG (oben § 5 VI.). Für das AEntG und das AÜG gilt die Übergangsregelung des § 24 I MiLoG. Diese Sachlage entspricht im Grundsatz der Vorschrift des § 105 Satz 1 GewO, wonach ArbG und AN Abschluss und Inhalt des Arbeitsvertrages und damit auch den Arbeitslohn frei vereinbaren können, „soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften (oder) Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages…entgegenstehen.“ Erst jenseits des hiernach verbindlichen Lohnniveaus besteht für die Parteien des Arbeitsvertrags als Ausdruck des Günstigkeitsprinzips (oben § 7) die Freiheit, eine darüber hinausgehenden Vergütung zu vereinbaren. Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass für gleiche Arbeit in jedem Fall der gleiche Lohn gezahlt werden müsse, nicht gibt (Krause a.a.O. § 11 Rn.6). Der ArbG hat im Rahmen der ihm von § 105 S. 1 GewO zugestandenen Vertragsfreiheit vielmehr im Grundsatz die Möglichkeit, mit verschiedenen AN für die gleiche Arbeit situationsbedingt unterschiedliche Entgelte individuell zu vereinbaren. Er darf dabei nur nicht gegen gesetzliche Benachteiligungsverbote, z.B. des § 7 AGG und des § 4 TzBfG verstoßen (oben § 9). In Ansehung kollektiv gewährter Leistungen muss der ArbG darüber hinaus den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz beachten (oben § 3 III. 3.). 2. Die Bedeutung des Tarifvertrags für die Höhe der Vergütung Nach dem jeweiligen Geltungsgrund des Tarifvertrags ist zwischen den nachfolgend aufgeführten Situationen zu unterscheiden. ► Sind ArbG und AN nach § 3 I TVG tarifgebunden, folgt die Verbindlichkeit des Tariflohns schon aus § 4 I TVG, ohne dass es einer arbeitsvertraglichen Umsetzung der tarifvertraglichen Festlegungen bedarf. ► Sind nicht alle AN tarifgebunden, wohl aber der ArbG, wird im Regelfall die Verbindlichkeit des Tariflohns für alle AN des Betriebs dadurch herbeigeführt, dass der ArbG die nicht tarifgebundenen AN mit den tarifgebundenen freiwillig gleichbehandelt. In der Regel enthält dann schon der Arbeitsvertrag aller AN dieses Betriebes eine Bezugnahmeklausel auf den jeweils maßgebenden Tarifvertrag. Für die nicht tarifgebundenen AN hat diese Klausel konstitutive Wirkung, weil für sie der Tarifvertrag nicht kraft § 4 I TVG schon normativ, sondern nur auf Grund arbeitsvertraglicher Vereinbarung gilt. ► Ist der ArbG nicht tarifgebunden, darf er den Tariflohn auch gegenüber tarifgebundenen AN unterschreiten, aber nur bis zur Grenze des Mindestlohns nach dem MiLoG (oben § 5 VI.). Im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte gewährt er seinen AN jedoch in vielen Fällen freiwillig den Tariflohn. Dann gilt der Tarifvertrag für alle seine AN nicht kraft § 4 I TVG normativ, sondern auf Grund arbeitsvertraglicher Vereinbarung. © Professor Dr. Hunscha 136 Dezember 2015 ► Nach § 5 TVG kann ein Tarifvertrag durch Rechtsverordnung des BMAS für allgemeinverbindlich erklärt werden. Der dort festgelegte Tariflohn gilt dann normativ für alle nicht tarifgebundenen ArbG und AN, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen (oben § 5 IV.). ► Auf die AN der in § 4 I AEntG aufgeführten Branchen finden nach §§ 3, 5 und 8 AEntG die Mindestentgeltsätze eines bundesweit geltenden Tarifvertrags Anwendung, wenn dieser entweder nach Maßgabe des § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt wurde oder seine Geltung auf Grund einer Rechtsverordnung des BMAS nach § 7 AEntG auf sie erstreckt wurde (oben § 5 V.). § 4 II AEntG erweitert diese Möglichkeiten der Geltungserstreckung auf alle anderen als die in § 4 I AEntG genannten Branchen, wobei sich die Rechtsverordnung dann auf § 7a AEntG stützt. ► Für den Bereich der AN-Überlassung können einschlägige tarifliche Mindeststundenentgelte als verbindliche Lohnuntergrenze für alle in Deutschland beschäftigten Leih-AN vom BMAS durch Rechtsverordnung nach § 3a AÜG übernommen werden (unten § 43…) ► Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, ist nach § 612 II BGB die (orts)übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Das ist diejenige Vergütung, die in einem bestimmten Wirtschaftsgebiet für eine vergleichbare Tätigkeit in dem betreffenden Wirtschaftszweig überwiegend gezahlt wird. Auch hierbei spielt der Tarifvertrag eine Rolle, weil diese Vergütung sich in vielen Fällen aus einem räumlich und fachlich einschlägigen Tarifvertrag herleiten lässt. Sollte das ortsübliche Entgelt den Mindestlohn unterschreiten, ist das MiLoG maßgebend. 3. Die Mitbestimmung des Betriebsrats in Ansehung derVergütung Eine Betriebsvereinbarung über die Höhe der Vergütung der AN scheitert regelmäßig am Tarifvorbehalt des § 77 III 1 BetrVG. (oben § 7 II. 1. a). Übertarifliche Zusatzentgelte können nach § 88 BetrVG durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Nach § 87 I Nr. 10 BetrVG besteht jedoch ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates „in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung“ betreffend. Es geht dabei nicht unmittelbar um die Lohnhöhe, sondern um Grundsätze der Lohnfindung auf der Grundlage kollektiver abstrakt-genereller Regeln zur Gewährleistung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit (oben § 6 III.). Nach § 87 I Einleitungssatz BetrVG besteht dieses Mitbestimmungsrecht jedoch nur, soweit die Angelegenheit nicht schon durch Gesetz oder einen anwendbaren Tarifvertrag abschließend zwingend geregelt ist. Da dieser Bereich häufig einem vorrangigen Tarifvertrag unterliegt, ist Hauptanwendungsgebiet dieses Mitbestimmungsrechts der Bereich der freiwilligen übertariflichen Leistungen des ArbG: Während der ArbG über das Ob der Leistung und das Zulagevolumen („Leistungstopf“) und damit auch über ihre Beendigung allein entscheidet, unterliegt der Mitbestimmung das Wie der Leistung in Gestalt der Verteilungsgrundsätze nach Maßgabe der Arbeitsleistung. © Professor Dr. Hunscha 137 Dezember 2015 II. Formen der Arbeitsvergütung 1. Geldlohn – Naturallohn Nach § 107 I GewO ist der Geldlohn der gesetzliche Normalfall. In den Grenzen des § 107 II GewO können ArbG und AN Naturallohn durch Sachbezüge als Teil des Arbeitsentgelts vereinbaren. Zu den Sachbezügen gehören z.B. Personalrabatte, eine verbilligte Dienstwohnung und die Bereitstellung eines Dienstwagens zur privaten Nutzung. Nach § 107 III GewO kann die Zahlung eines regelmäßigen Arbeitsentgelts nicht für die Fälle ausgeschlossen werden, in denen der AN für seine Tätigkeit von Dritten ein „Trinkgeld“ erhält. Durch das MiLoG ist auch Vereinbarung eines geringeren Lohns, der erst zusammen mit dem zu erwartenden Trinkgeld den Mindestlohn erreicht oder übersteigt, ausgeschlossen. 2. Zeitlohn – Leistungslohn a) Beim Zeitlohn bemisst sich die Vergütung ausschließlich nach Zeiträumen ohne Rücksicht auf die Quantität oder Qualität der Arbeit. Der AN erhält vielmehr auch im Fall der Schlechtleistung die vereinbarte Vergütung (unten § 26). Richtet sich die Vergütung hingegen nach dem Arbeitsergebnis, wird vom Leistungslohn gesprochen. Der Vereinbarung einer leistungsorientierten Vergütung sind allerdings Grenzen gesetzt. Keinesfalls darf mit dem AN ein ausschließlich am Arbeitserfolg orientierter Leistungslohn vereinbart werden; denn der Arbeitsvertrag ist kein Werkvertrag und lässt es nicht zu, dass das Arbeitsentgeltrisiko auf den AN verlagert wird (Küttner/Griese, Personalbuch 2013, Leistungsorientierte Vergütung Rn.4; Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 Rn.794). Eine nur an leistungsorientierten Elementen orientierte Vergütung ohne einen angemessenen Grundlohn verstößt gegen § 307 II Nr. 1 BGB, weil damit von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abgewichen wird (Küttner/Griese a.a.O.). Um dem AN einerseits einen besonderen Arbeitsanreiz zu geben, andererseits aber zu verhindern, dass er mit dem Risiko der Minderleistung belastet wird, kann der Leistungslohn zu einer Entgeltform gestaltet werden, die dem AN, der eine überdurchschnittliche Arbeitsleistung erbringt, die Möglichkeit gibt, seinen Lohn zu steigern (Lieb/Jacobs § 3 I. 2., Rn. 244). Er kann sich also über einen Grundlohn als Zeitlohn hinaus eine zusätzliche Vergütung als leistungsorientiertes Entgelt erarbeiten. In Anlehnung an die Rechtsprechung zum vertraglich vorbehaltenen Widerruf von Zulagen des ArbG zum Monatslohn (nachfolgend unter III. 1. b) sollten die leistungsbezogenen Entgeltbestandteile etwa 25 % des Gesamtverdienstes nicht überschreiten (Küttner/Griese a.a.O.). b) Eine besondere Form des Leistungslohns ist der Akkordlohn, der in erster Linie eine hohe Quantität an geleisteter Arbeit erreichen soll. Rechtsgrundlage ist im Regelfall entweder der Arbeitsvertrag oder der Tarifvertrag. Keinesfalls kann der ArbG ihn kraft seines Weisungsrechts anordnen. Die Vereinbarung von Akkordlohn kommt vorwiegend aus der industriellen Massenproduktion und ist darauf gerichtet, eine möglichst große Menge (an Stücken, Fläche oder Gewicht u.Ä.) in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, entweder im Einzel- oder im Gruppenakkord. Als Folge immer stärkerer Technisie- © Professor Dr. Hunscha 138 Dezember 2015 rung und Automatisierung der Produktionsvorgänge ist die Steuerung der Menge der produzierten Einheiten in vielen Bereichen nicht mehr primär eine Frage der Arbeitsleistung, wohl aber die Sicherstellung der Qualität des Produktionsergebnisses, insbesondere bei technologisch hoch entwickelten Gütern. Das erklärt, warum der Akkordlohn zunehmend durch den Prämienlohn verdrängt wird (nachfolgend unter c)). Darüber hinaus sind arbeitsvertragliche Zielvereinbarungen im Vordringen begriffen, durch die „Entgeltbestandteile an das Erreichen persönlicher Arbeitsziele geknüpft werden“ (MüArbR/Krause § 57 Rn. 2; nachfolgend unter e)). Die Methoden zur Berechnung des Akkordlohns tragen der Forderung Rechnung, das Risiko des AN, durch Minderleistung unangemessen belastet zu werden, vernünftig zu begrenzen. Dies geschieht im Falle des allgemein üblichen Zeitakkords durch die arbeitswissenschaftlich fundierte Festlegung einer Normalleistung als Vorgabezeit. Darüber hinaus enthalten Tarifverträge für Akkordarbeiter regelmäßig eine Verdienstsicherungsklausel in Gestalt einer Mindestlohngarantie. Dadurch erreicht ein AN auch dann, wenn seine Leistung hinter der Normalleistung quantitativ zurückbleibt wenigstens einen dem Zeitlohn (Stundenlohn) entsprechenden Entgelt (ErfK/Preis § 611 BGB Rn.394). Das Risiko qualitativer Minderleistung trägt der ArbG ohnedies. Zur Berechnung des Akkordlohns siehe Brox/Rüthers/Henssler Rn. 275 ff. sowie Zöllner/Loritz/Hergenröder § 16 V. 3.). c) Der Prämienlohn soll in erster Linie die Erfüllung bestimmter Qualitätsstandards der Produktion, eine optimale Maschinennutzung, sparsamen Verbrauch von Material und Hilfsstoffen, geringen Ausschuss, Termintreue und ähnliche durch Arbeitsleistung beeinflussbare Ergebnisse sicherstellen. Er wird dem AN oder einer Gruppe von AN auf der Grundlage des Arbeitsvertrags, eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung im Regelfall als eine der jeweiligen Leistung entsprechende Zulage zum monatlich zahlbaren Zeitlohn oder zum Akkordlohn gewährt. Die im Prämienlohn zum Ausdruck kommende Belohnung der Arbeitsleistung ist von Anwesenheits-, Pünktlichkeits- oder Treueprämien zu unterscheiden. Sie tragen den Charakter einer Gratifikation (nachfolgend unter 3. b). d) Bei der Vereinbarung von Akkord- und Prämienlohn sind die Verbote z.B. des § 4 III 1 MuSchG, des § 23 Nr. 1 JArbSchG und des § 3 FahrpersonalG zu beachten, die den AN vor einer gesundheitlichen Überforderung schützen sollen. e) Auch Zielvereinbarungen dienen der Leistungssteigerung des AN. Bei ihnen handelt es sich um Absprachen zwischen dem ArbG und einem oder mehreren AN, die darauf gerichtet sind, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens, zumeist eines Jahres, bestimmte Ergebnisse zu erreichen, etwa den Abschluss eines Projekts, eine Steigerung des Umsatzes, eine erhöhte Kundenzufriedenheit u.Ä.. Sie beruhen regelmäßig auf einer Rahmenabrede im Arbeitsvertrag, auf deren Grundlage sich ArbG und AN auf konkrete Ziele einigen. die der ArbG, soweit wie sie erreicht werden, durch Zahlung eines Bonus honoriert. f) Bei der Ausgestaltung der Entlohnungsgrundsätze und -methoden leistungsbezogener Entgelte besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 I Nr. 11 BetrVG, soweit nicht ein infolge Tarifgebundenheit des ArbG vorrangig maßgebender Tarifvertrag hierüber eine abschließende Regelung enthält (Tarifvorrang des § 87 I Einleitungssatz BetrVG). g) Einen Sonderfall bildet die Provision in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Wertes der vom AN vermittelten Geschäfte, wie sie z.B. nach § 65 HGB für Handlungsgehilfen vereinbart werden kann, die als Außendienstmitarbeiter beschäftigt sind. © Professor Dr. Hunscha 139 Dezember 2015 3. Zusatzentgelte In vielen Fällen erhalten die AN als freiwillige zusätzliche Leistung des ArbG auf der Grundlage des Arbeitsvertrags, eines späteren Zusatzes zum Arbeitsvertrag oder einer Gesamtzusage des ArbG Zusatzentgelte, teils in Gestalt von Zulagen bzw. Zuschlägen zum Monatslohn, teils als jährlich zahlbare Sondervergütungen aus bestimmten Anlässen oder mit besonderer Zweckbestimmung. Hinzu kommen ferner die auf Grund einer Betrieblichen Übung entstandenen Leistungsverpflichtungen (oben § 4 II.). a) Zulagen zum Monatslohn werden vom ArbG aus unterschiedlichen Gründen gewährt. (1) Häufig handelt es sich um Leistungs- oder Erschwerniszulagen in Anerkennung besonderer körperlicher oder geistiger Arbeitsanforderungen oder zum Ausgleich besonderer Belastungen, wie Schmutz, Lärm, Hitze, Kälte u. a. Gesundheitsgefahren. Es gibt aber auch Zulagen, die aus der Arbeitsmarktlage erwachsen, etwa um qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen oder zu halten oder einfach aus dem Grund, die Belegschaft durch Teilhabe am Ertrag des Unternehmens nachhaltig zu motivieren. Sie sind laufendes Arbeitsentgelt, das in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung steht: Wie nachfolgend unter III. dargestellt, verbietet diese Erkenntnis dem ArbG die Möglichkeit, laufendes Arbeitsentgelt unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt zu stellen. In Ansehung von Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit bestehen regelmäßig tarifliche Ausgleichsregelungen in Gestalt einer angemessenen Zahl bezahlter freier Tage oder angemessener Zuschläge zum Monatslohn; andernfalls treffen den ArbG die gesetzlichen Ausgleichspflichten der §§ 6 V und 11 II ArbZG. (2) Der ArbG kann aber auch Leistungsverpflichtungen in Ansehung von Zuwendungen übernommen haben, die nicht als unmittelbare Gegenleistung für die geleistete Arbeit gelten, sondern im Wesentlichen auf den Ersatz von Aufwendungen gerichtet sind, die der AN im Allgemeinen selbst tragen muss. Dazu gehört z.B. die Leistung von Fahrkostenzuschüssen, von Essenszuschüssen, die Zahlung einer Trennungsentschädigung, die Bereitstellung eines kostenlosen Werksverkehrs, die Erstattung von Fortbildungskosten, die Übernahme der Reinigung von Dienstkleidung sowie die Bereitstellung eines kostenlosen Parkplatzes. Sie werden als zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gewährte Leistungen oder Vergünstigungen begriffen, die nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung stehen, sondern als „Nebenleistungen“ gelten, die im Grundsatz einen Freiwilligkeitsvorbehalt zulassen (oben § 4 II. 3. d) sowie nachfolgend unter III.). b) Nach der Definition in § 4a EFZG sind jährlich zahlbare Sondervergütungen „Leistungen, die der ArbG zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt“. Damit stehen sie – wie die vorstehend aufgeführten auf den Ersatz von Aufwendungen gerichteten Zuwendungen – nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung, sondern gelten als „Nebenleistungen“, die im Grundsatz einen Freiwilligkeitsvorbehalt zulassen, wie vor allem die Gratifikationen in Gestalt des Urlaubs- oder Weihnachtsgeldes, aber auch die allgemein zugesagten Tantiemen oder Boni (nachfolgend unter III.). © Professor Dr. Hunscha 140 Dezember 2015 Beruhen sie jedoch auf einer speziellen leistungsbezogenen Absprache mit dem AN wie vor allem bei einer Zielvereinbarung mit Bonus (vorstehend unter II. 2. e)), stehen sie zur Arbeitsleistung in einem Gegenseitigkeitsverhältnis und können daher nicht unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt werden (vgl. BAG v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13 – in NZA 2014 595). c) Am Beispiel gerade der Weihnachtsgratifikation haben sich Rechtsregeln entwickelt, die teilweise auch für Jahressonderzahlungen in Gestalt von Boni von Bedeutung sein können. Es geht hierbei vor allem um Stichtagsklauseln, durch die der Anspruch des AN auf die Gratifikation davon abhängig gemacht wird, dass sein Arbeitsverhältnis mindestens bis zum 31.12. des Bezugsjahres noch besteht oder – weitergehend – der AN sich bis zum Ende des Bezugsjahres oder bis zu einem späteren Zeitpunkt des Folgejahres in einem noch ungekündigten Arbeitsverhältnis befindet. In Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung kommt es dem BAG für die Zulässigkeit einer Stichtagsklausel nunmehr darauf an, ob der ArbG mit der Sonderzahlung ausschließlich die Betriebstreue seiner AN belohnen und damit einen Anreiz für ihren weiteren Verbleib im Unternehmen schaffen will oder, ob die Sonderzahlung ausschließlich, mindestens aber zugleich auch (Mischcharakter) dem Zweck dient, seinen AN eine zusätzliche Vergütung für ihre in den letzten 12 Monaten erbrachte Arbeitsleistung zukommen zu lassen. (BAG v.18.1.2012 – 10 AZR 612/10 – in NZA 2012, 561 betreffend eine Weihnachtsgratifikation; BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12 – in NZA 2014, 368) betreffend Sonderzahlungen/Boni für mehrere Jahre in Höhe von insgesamt 91.300 €. Hieraus folgt: (1) Handelt es sich um eine Weihnachtsgratifikation, die nur oder – neben der Belohnung der Betriebstreue – auch den Zweck hat, die im Bezugsjahr erbrachte Arbeitsleistung zusätzlich zu vergüten, verletzt eine Stichtagsklausel aller aufgeführter Varianten den Grundgedanken des § 611 BGB und ist darum nach § 307 I 1 BGB unwirksam, weil sie dem ArbG bei Nichterfüllung ihrer Voraussetzungen das Recht gibt, dem AN die gesamte bereits erarbeitete Zusatzentgelt vorzuenthalten bzw. zu entziehen. Macht die Stichtagsklausel die Zahlung vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses am 31.12. des Bezugsjahres oder zu einem Zeitpunkt im Folgejahr, etwa dem 31.3., abhängig, erschwert sie dem AN unter Verletzung der durch Art 12 I GG geschützten Berufsfreiheit (oben § 3 III. 2. (6)) auch noch die Ausübung des Kündigungsrechts und ist deswegen nach § 307 I 1 BGB unwirksam. Gegen die Anwendung einer Kürzungsklausel bestehen in diesem Fall keine Bedenken, denn sie dient ja gerade dem Zweck, die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung zu honorieren, da sie dem ArbG das Recht einräumt, die Zuwendung pro Fehltag des AN zu einem angemessenen Prozentsatz zu kürzen. Der bei einer Gratifikation mit Mischcharakter gleichzeitig verfolgte Zweck, die Betriebstreue zu belohnen, wird durch die Kürzung nicht verletzt. Bei den Kürzungsgründen handelt es sich vor allem um Fehltage infolge Krankheit des AN (unter Beachtung von § 4a EFZG), Beteiligung an einem Arbeitskampf, unbezahlten Urlaubs und vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis. Eine Kürzung kommt auch bei Elternzeit in Betracht. Für Frauen soll darin keine nach § 3 II AGG mittelbare Benachteiligung liegen, obwohl vor allem die Mütter Erziehungszeit in Anspruch nehmen. Nicht hingegen soll eine Kürzung in den Fällen der §§ 3 und 6 MuSchG möglich sein. Die Kürzungsklausel gibt der Weihnachtsgratifikation den Charakter einer Anwesenheitsprämie. (2) Dient die Weihnachtsgratifikation ausschließlich dem Zweck, die Betriebstreue zu belohnen, sind Stichtagsklauseln möglich. Sofern sie die Zuwendung vom ungekündigten Bestehen des Arbeitsverhältnisses im Folgejahr abhängig machen, ist allerdings zu bedenken, dass die zeitliche Entfernung des Stichtags vom Bezugsjahr nicht zu einer für den AN unangemessenen Kündigungserschwerung führten darf. Ein Stichtag über den 30.4. des Folgejahres hinaus dürfte nach § 307 I 1 BGB unwirksam sein. Die entscheidende Frage ist aber die, unter welchen Voraussetzungen einer Weihnachtgratifikation der Zweck zukommt, ausschließlich die Betriebstreue der AN zu belohnen. Allein aus der Bezeichnung als Weihnachtsgratifikation folgt derlei nicht. Es ist im Gegenteil als Regelfall davon auszugehen, dass die Gratifikation ein Ausdruck der Anerkennung des ArbG für den Arbeitseinsatz seiner AN in den vergangenen 12 Monaten ist (ErfK/Preis, § 611 BGB Rn.534 ff.; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rn.101 f.). Vor diesem Hintergrund liegt es nahe zu vermuten, dass eine Weihnachtsgratifikation auch nicht dadurch, dass der ArbG sie mit einer Stichtagsklausel versieht. ausschließlich zu einer Treuprämie wird. Allenfalls handelt es sich dann um eine Jahressonderzahlung mit Mischcharakter, bei der die Anwendung © Professor Dr. Hunscha 141 Dezember 2015 der Stichtagsklausel – wie vorstehend unter (1) dargestellt – nach § 307 I 1 BGB unwirksam ist. Verwendet der ArbG hingegen eine Kürzungsklausel, bestätigt er den Regelfall einer zusätzlichen Vergütung für erbrachte Arbeitsleistung. Das gilt auch für den Fall, dass die Sonderzahlung mindestens 25 % der Gesamtvergütung des AN ausmacht (Staudinger/Richardi/Fischinger (2011) § 611 BGB Rn.875). Eine Sondervergütung, die ausschließlich die Betriebstreue belohnt, nicht aber zugleich die Arbeitsleistung, dürfte nach allem höchst selten sein (ErfK/Preis, § 611 BGB Rn.534). Es ist zu bezweifeln, ob die ausdrückliche Erklärung des ArbG, dass die gewährte Weihnachtsgratifikation ausschließlich dem Zweck dient, die Betriebstreue zu belohnen, eine Stichtags- und Rückzahlungsreglung rechtfertigen könnte. Eine Aufteilung der Sonderzahlung in eine Treuprämie mit Stichtagsklausel und ein Zusatzvergütung für geleistete Arbeit mit Kürzungsklausel wäre denkbar. III. Möglichkeiten und Grenzen der Kürzung oder Einstellung der Zahlung von Zusatzentgelten 1. In Ansehung von Zusatzentgelten, die der ArbG seinen AN ohne gesetzliche oder tarifvertragliche Verpflichtung aus freiem Entschluss auf arbeitsvertraglicher Grundlage gewährt, besteht aus seiner Sicht das Interesse, sie aus wirtschaftlichen Gründen kürzen oder einstellen zu können. Auf der anderen Seite steht das Interesse des AN am Schutz seines Vertrauens in die Beständigkeit der ihm versprochenen Leistung. Beide Interessen müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Hinweis: Beruhen die Zusatzentgelte auf einem den ArbG bindenden Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung, kann der ArbG versuchen, durch Verhandlungen mit der Gewerkschaft oder dem Betriebsrat eine Regelung zu erreichen, die seiner wirtschaftlichen Lage Rechnung trägt. Bei einer Betriebsvereinbarung könnte er eine Kündigung nach § 77 V BetrVG erwägen. Ist in einem Tarifvertrag eine Teilkündigung nicht vorgesehen, verbietet sich eine Vollkündigung als unverhältnismäßig. Mitunter ist dem ArbG in dem Kollektivvertrag eine Änderungsbefugnis eingeräumt, von der er im Rahmen billigen Ermessens im Sinne des § 315 BGB Gebrauch machen darf. 2. Auf arbeitsvertraglicher Grundlage gewährte Zusatzentgelte können durch eine Änderungsvereinbarung zwischen ArbG und AN oder durch eine Änderungskündigung seitens des ArbG eingeschränkt oder abgeschafft werden. Zur Vermeidung der damit verbundenen Probleme werden vom ArbG auf arbeitsvertraglicher Grundlage gewährte Zusatzentgelte daher ● häufig unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit oder des Widerrufs ● seltener nur befristet, ● speziell übertarifliche Zulagen zum Monatslohn oft unter Anrechnung auf künftige Erhöhungen des Tariflohns zugesagt. Da der Arbeitsvertrag und seine späteren Ergänzungen jedoch den Charakter allgemeiner Geschäftsbedingungen tragen (oben § 4 I. 2.), sind die §§ 305 ff. BGB zu beachten, die zum Schutz des AN vor unangemessener Benachteiligung eine richterliche Inhaltskontrolle der vom ArbG verwendeten Änderungsklauseln ermöglichen. Aus der jüngeren Rechtsprechung lassen sich die folgenden Leitlinien herauslesen. a) Die Besonderheit des Freiwilligkeitsvorbehalts liegt darin, dass er einen Rechtsanspruch auf die Leistung erst gar nicht entstehen lässt. Näheres dazu bereits oben unter § 4 II. 1. d) sowie 3. b). © Professor Dr. Hunscha 142 Dezember 2015 (1) Nach dem Urteil des BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06 – in NZA 2007, 853 ff. ist ein vom ArbG formularmäßig verwendeter Freiwilligkeitsvorbehalt in Ansehung laufenden Arbeitsentgelts in Gestalt einer monatlich zahlbaren Leistungszulage nach § 307 I 1 i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB unwirksam. Die Begründung des Urteils ist bereits oben unter § 4 II. 3. c) behandelt, wo es um den vergleichbaren Fall geht, dass der ArbG seinen AN eine monatliche Leistungszulage zukommen lässt, ohne dazu aus irgend einem Grund verpflichtet zu sein und er darum das Entstehen einer Betrieblichen Übung durch die Verwendung eines Freiwilligkeitsvorbehalts verhindern will. Das BAG stellt a.a.O. Rn.20/21 im Ergebnis fest, dass der ArbG sein Interesse an einer Flexibilisierung von als laufendes Arbeitsentgelt einzustufenden Zuwendungen „in hinreichender Weise mit der Vereinbarung von Widerrufs- oder Anrechnungsvorbehalten (dazu nachfolgend unter b) und c)) verwirklichen (kann)“. Die unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellte arbeitsvertragliche Zusage von zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gewährten Leistungen, die nach h.M. nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung stehen, verstößt hingegen nicht gegen 307 I 1 i.V.m. 307 II Nr. 1 BGB, kann aber das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB verletzen (nachfolgend unter (2)). (2) Verwendet der ArbG einen Freiwilligkeitsvorbehalt in Ansehung von nicht zum laufenden Arbeitsentgelt zählenden „Nebenleistungen“ (oben § 4 II. 3. d)), liegt darin kein Verstoß gegen § 307 I 1 i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB. Jedoch kann in Ansehung von jährlich zahlbaren Sondervergütungen, die zu den „Nebenleistungen“ gehören, nach der Rechtsprechung des BAG ein Verstoß gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB in Betracht kommen. So hat das BAG v. 20.2.2013 – 10 AZR 177/12 – in NJW 2013, 2844 die Wirksamkeit eines Freiwilligkeitsvorbehalts bezüglich einer im Arbeitsvertrag zugesagten Weihnachtsgratifikation („zur Zeit wird gewährt“) verneint. Selbst wenn der ArbG unmittelbar im Anschluss an sein Leistungsversprechen erklärt, dass die Zahlung „in jedem Einzelfall freiwillig und ohne Begründung eines Rechtsanspruchs für die Zukunft“ erfolgt, soll hierin regelmäßig ein zur Unwirksamkeit des Vorbehalts führender Verstoß gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB liegen: Einerseits die nach Voraussetzungen und Höhe der Sonderleistung im Einzelnen festgelegte Zusage und andererseits der anschließend erklärte Freiwilligkeitsvorbehalt können zu Zweifeln darüber führen, was nun wirklich gelten soll; Zweifel, die nach § 305c BGB zu Lasten des ArbG als dem Verwender des Arbeitsvertragsformulars gehen. So im Wesentlichen auch schon BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07 – in NZA 2008, 1173, gleichfalls in Bezug auf eine Weihnachtsgratifikation sowie BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06 – in NZA 2008, 40 in Bezug auf eine jährliche Bonuszahlung. Es ist nicht ausgeschlossen dass diese Rechtsfolge auch andere Arten von „Nebenleistungen“ treffen kann. Gegen einen einwandfrei formulierten Widerrufsvorbehalt würden nach Meinung des BAG a.a.O. keine Bedenken bestehen (nachfolgend unter b)). Diese Rechtsauffassung überspannt den Transparenzbegriff und unterschätzt die Auffassungsgabe des AN. Wie hätte das BAG wohl entschieden, wenn der Arbeitsvertrag einen einzigen Satz enthalten hätte: „Wir zahlen Ihnen freiwillig ohne Anerkennung einer Leistungspflicht und ohne dadurch einen Rechtsanspruchs für die Zukunft zu begründen eine Weihnachtsgratifikation in folgender Höhe…“? © Professor Dr. Hunscha 143 Dezember 2015 Wenn der ArbG seine volle Entscheidungsfreiheit behalten will, bleibt ihm angesichts dieser Rechtsprechung nichts anderes übrig, als die Sondervergütung einfach ohne eine ihn verpflichtende Rechtsgrundlage auszuzahlen und das Entstehen einer Betrieblichen Übung dadurch zu verhindern, dass er die jeweilige Zahlung mit einem klaren Freiwilligkeitsvorbehalt verbindet (Kock in NJW 2013, 2846 als Anmerkung zum Urteil des BAG v. 20.2.2013). Näheres dazu oben § 4 II. 3. b) Während der Freiwilligkeitsvorbehalt eine vertragliche Leistungspflicht des ArbG erst gar nicht entstehen lässt, setzt der Widerrufsvorbehalt eine vertragliche Bindung gerade voraus, denn man kann nur etwas Bestehendes widerrufen. (oben § 4 II. 1. d). Da dem ArbG ein Widerrufsrecht nicht kraft Gesetzes zusteht, muss er es sich im Wege der Vereinbarung mit den AN ausbedingen, und zwar zusammen mit der Begründung seiner Leistungsverpflichtung. Würde er erst einmal seine Leistungsverpflichtung gegenüber den AN eingehen und später versuchen, sich mit ihnen über einen Widerrufsvorbehalt zu einigen, hätte er dazu kaum eine Chance, da die AN etwas ohne Gegenleistung aufgeben müssten. Wenn der ArbG den Widerrufsvorbehalt aber mit dem Leistungsversprechen verbindet, werden die AN sein Angebot unwidersprochen akzeptieren. Bei einer bereits im Arbeitsvertrag enthaltenen und mit einem Widerrufsvorbehalt verbundenen Leistungszusage des ArbG liegt eine beides umfassende ausdrückliche Vereinbarung mit den AN vor. Sagt der ArbG die mit einem Widerrufsvorbehalt versehene Leistung seinen AN in einem ihnen später zugeleiteten Zusatz zum Arbeitsvertrag zu oder verspricht er sie im Wege einer Gesamtzusage, kommt die Vereinbarung dadurch zustande, dass die AN das in dem Vertragszusatz oder in der Gesamtzusage enthaltene Angebot des ArbG durch die widerspruchslose Entgegennahme der versprochenen Leistung konkludent annehmen. In den Fällen, in denen der ArbG seinen AN eine Leistung oder Vergünstigung unter gleichzeitiger Erklärung eines Widerrufsvorbehalts einfach zukommen lässt, ohne schon dazu verpflichtet zu sein (Näheres dazu oben § 4 II. 1 a) und d)), macht er ihnen mit der Vornahme der Leistung das konkludente Angebot einer ihn für die Zukunft bindenden, aber mit einem Widerrufsvorbehalt versehenen Leistungsverpflichtung, das die AN durch die widerspruchslose Entgegennahme seiner Zuwendung ebenso konkludent annehmen. Der Widerrufsvorbehalt des ArbG ist ein Bestandteil der zwischen ihm und seinen AN konkludent zustande gekommenen Vereinbarung über die Begründung seiner Leistungsverpflichtung. Nach § 3 i.V.m. § 2 Nr. 6 NachwG muss der ArbG die mit den AN widerruflich vereinbarte Leistungsverpflichtung in geeigneter Weise dokumentieren. (1) Der Widerrufsvorbehalt gibt dem ArbG das Recht, die eingetretene Bindungswirkung durch einseitige Widerrufserklärung für die Zukunft zu beseitigen. Das setzt allerdings voraus, dass der Widerrufsvorbehalt dem AN nach § 308 Nr.4 BGB i.V.m. § 307 BGB zumutbar ist. Hierzu ist ein sachlicher Grund erforderlich, der im Widerrufsvorbehalt hinreichend konkret ausgeführt sein muss, z.B. die wirtschaftlichen Lage des Betriebs oder der Wegfall des Zwecks der Leistungszulage. (2) Anders als der Freiwilligkeitsvorbehalt, ist der Widerrufsvorbehalt, auch auf monatlich zahlbare Leistungszulagen anwendbar. In diesem Fall erfordert die Erfüllung des nach § 308 Nr.4 BGB i.V.m. § 307 BGB erforderliche Merkmal der Zumutbarkeit © Professor Dr. Hunscha 144 Dezember 2015 neben dem im Widerrufsvorbehalt hinreichend konkretisierten sachlichen Grund, dass der widerrufliche Teil des laufenden Arbeitsentgelts zum Schutz des Kernbereichs des Arbeitsvertrags unter 25 % des Gesamtverdienstes liegt und das Tarifniveau oder der branchenübliche Lohn in der Region nicht unterschritten wird (BAG v.12.1.2005 – 5 AZR 364/04 – in NZA 2005, 465 ff.). (3) Der Widerruf von jährlichen Sondervergütungen verletzt nicht den Kernbereich des Arbeitsvertrags, erfordert aber auf jeden Fall einen transparenten sachlichen Grund. c) Statt des Widerrufs kann die Zuwendung vom ArbG befristet werden. In diesem Fall gelten die für den Widerrufsvorbehalt maßgebenden Regeln entsprechend. d) Der Anrechnungsvorbehalt gibt dem ArbG das Recht, eine spätere Erhöhung des Tariflohns auf ein übertarifliches Zusatzentgelt anzurechnen. Wird der Tariflohn erhöht, bekommt der AN aber schon nach dem Arbeitsvertrag mehr als den laufenden Tariflohn, kann der übertarifliche Lohn im Wege der Anrechnung auf die Tariflohnerhöhung absorbiert (= aufgesaugt) werden. Da hierdurch der geltende Tariflohn nicht unterschritten wird, sieht die Rechtsprechung darin keinen Verstoß gegen §§ 307 I 1, 308 Nr. 4 BGB, sondern verlangt lediglich eine dem Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB genügende Klarstellung im Vertragstext. Heißt es z. B., dass die übertarifliche Zulage nur für die Laufzeit des Tarifvertrags gilt, kann der ArbG die nächstfolgende Tariflohnerhöhung mit der übertariflichen Zulage verrechnen. Ebenso kann das Gegenteil vereinbart sein. Heißt es z.B. dass „zwei Euro über dem jeweiligen Tariflohn“ gezahlt werden, erhöht sich der vertraglich geschuldete Lohn um die Tariflohnerhöhung. Was aber soll gelten, wenn das Wort „jeweiligen“ fehlt? Soll das Zusatzentgelt qualifizierte Arbeitskräfte locken, wird im Zweifel eine Aufstockung gewollt sein. Bei Auslegungszweifeln kann § 305c II BGB helfen. Von Seiten vor allem der Gewerkschaften wird gelegentlich versucht, zur Vermeidung einer Anrechnung in den Tarifvertrag die Regelung aufzunehmen, dass die übertarifliche Leistung zusammen mit der Tariflohnerhöhung den neuen Tariflohn bildet (Effektivgarantieklausel), zumindest aber die übertarifliche Zulage als solche neben der Tariflohnerhöhung effektiv erhalten bleibt (begrenzte Effektivklausel). Beide Klauseln werden von der Rechtsprechung als unzulässig angesehen. Sie sollen insbesondere gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, weil sie ohne sachlichen Grund, nämlich abhängig vom jeweiligen übertariflichen Lohnanteil, für die einzelnen AN zu unterschiedlich hohen Tariflöhnen führen. (Kritisch dazu Gamillscheg a.a.O. Bd. I § 18 IV. 2., S. 867 ff.). Wenn der ArbG die Höhe der Sonderzahlung nicht nach billigem Ermessen festsetzen will (siehe BAG v. 16.1.2013 - 10 AZR 26/12 - in ArbR 2013, 180 und NJW 2013, 1020, 3. Eine interessante Alternative Insbesondere für die jährlich zahlbaren Sondervergütungen, die zu den „Nebenleistungen“ gehören, bietet sich als Alternative eine Vertragsgestaltung an, die eine für den ArbG und seine AN eine gleichermaßen interessengerechte Lösung der Wirtschaftlichkeitsproblematik solcher Zuwendungen bietet. Es geht um die der Entscheidung des BAG v. 16.1.2013 – 10 AZR 26/12 – in ArbR 2013, 180 = NJW 2013, 1020. zugrunde liegende Regelung in einem Formulararbeitsvertrag, mit der der ArbG jährlich eine Weihnachtsgratifikation dem Grunde nach gewährt, sich in Ansehung ihrer jeweiligen Höhe jedoch ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht vorbehält. Das BAG a.a.O. © Professor Dr. Hunscha 145 Dezember 2015 stellt fest, dass es sich hierbei nicht um einen unzulässigen Änderungsvorbehalt im Sinne des § 308 Nr. 4 BGB handelt und diese Regelung auch nicht unangemessen (§ 307 I 1 BGB) oder intransparent (§ 307 I 2 BGB) ist. Es gilt vielmehr § 315 BGB, wonach die jeweils gewährte Gratifikation billigem Ermessen entsprechen muss; einem Maßstab, der im Streitfall gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Damit haben die AN die Gewähr eines dauernden, an die Wirtschaftslage des Unternehmens anknüpfenden Anspruchs und der ArbG die Möglichkeit, die Zuwendung an die jeweilige Wirtschaftslage anzupassen zu können und vorübergehend auch einmal auszusetzen. IV. Die Lohnkosten des Arbeitgebers Die Vergütungsabrede ist als Bruttolohnvereinbarung zu verstehen, so dass der AN seine Steuerlast selbst trägt und darüber hinaus seinen Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe etwa der Hälfte von derzeit rund 40 % des Bruttolohnes selbst aufbringen muss. Die Lohnsteuer des AN wird vom ArbG unmittelbar an das Finanzamt abgeführt (§§ 38, 41a EStG). Die Sozialversicherungsbeiträge (Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung), die AN und ArbG jeweils etwa anteilig tragen, werden vom ArbG an die Krankenkasse abgeführt, die ihrerseits die Verteilung an die einzelnen Leistungsträger besorgt. Die Arbeitskosten je geleistete Arbeitsstunde setzen sich aus dem Entgelt für geleistete Arbeit einschließlich Überstundenzuschlägen, Schichtzulagen und regelmäßig gezahlten Prämien sowie den sog. Personalzusatzkosten zusammen. Zu den Personalzusatzkosten des ArbG zählen zum einen die direkten Kosten in Gestalt vor allem der Entlohnung für arbeitsfreie Tage (gesetzliche Feiertage und Urlaub) sowie Sonderzahlungen, wie etwa das Weihnachtsgeld, und zum anderen die indirekten Kosten, zu denen vor allem die Beiträge zur Sozialversicherung, die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Umlagepflichten nach dem AAG sowie Aufwendungen für die betriebliche Altersversorgung und die betriebliche Mitbestimmung gerechnet werden. Diese Kosten betragen im Durchschnitt mehr als das Doppelte dessen, was der AN als Nettolohn ausgezahlt bekommt. V. Der Schutz der Arbeitsvergütung 1. Verletzt der ArbG seine Hauptleistungspflicht zur Zahlung der Arbeitsvergütung dadurch, dass er „die fällige Leistung nicht…erbringt“ (vgl. §§ 281 I, 323 I BGB), gerät er wegen Verzögerung der Leistung in Schuldnerverzug, der nach § 286 I 1, IV BGB neben der Fälligkeit der Leistung auch noch die (An)mahnung der ausgebliebenen Leistung durch den Gläubiger (AN) und das „Vertretenmüssen“ in Gestalt der Verantwortlichkeit des Schuldners (ArbG) erfordert. Die Mahnung ist jedoch im Regelfall nach § 286 II Nr. 1 BGB entbehrlich und die Nichterfüllung einer fälligen Geldschuld stets ein Fall des Vertretenmüssens. Infolge des Verzuges schuldet der ArbG nach §§ 280 I, II, 286 I, 288 I BGB neben dem ausstehenden Geldbetrag Verzugszinsen (5 % über dem Basiszinssatz des § 247 BGB) und ggf. weiteren Schadensersatz über § 288 III BGB, z.B. wegen der Zinsen, die dem AN durch Aufnahme eines Überbrückungskredits entstanden sind. Zugleich hat der AN nach Ablauf einer angemessenen Schonfrist das Recht, durch Geltendmachung der Einrede des nicht erfüllten Vertrages gemäß § 320 BGB seine Arbeitsleistung zu verweigern (unter Beibehaltung des Lohnanspruchs gemäß § 326 II 1 Altn. 1 BGB, aber auch gemäß §§ 615, 298 BGB, der kein Vertretenmüssen des Schuldners voraus- © Professor Dr. Hunscha 146 Dezember 2015 setzt) und schließlich die Möglichkeit, nach § 626 BGB das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund fristlos zu kündigen. 2. Wegen seiner für den AN existentiellen Bedeutung ist das Arbeitsentgelt auf unterschiedliche Weise vor Zugriffen und Verlust geschützt. ► Schutz vor Gläubigern des AN, die den Lohnanspruch des AN gegen den ArbG auf der Grundlage eines Vollstreckungstitels pfänden, bieten die §§ 850 ff. ZPO. So kann der Gläubiger nach § 850a ZPO bestimmte Bezüge überhaupt nicht pfänden und nach § 850c ZPO nur die Teile des Arbeitseinkommens, die außerhalb der Pfändungsfreigrenzen liegen. ► Schutz vor dem Zugriff des ArbG bietet § 394 Satz 1 BGB, wonach der ArbG mit einem gegen den AN gerichteten Zahlungsanspruch nicht gegen die Lohnforderung des AN aufrechnen kann, soweit die Lohnforderung nach den vorerwähnten §§ 850 ff. ZPO unpfändbar ist. ► Schutz bei Insolvenz des ArbG bieten die §§ 183 ff. SGB III. Da Forderungen auf rückständiges Arbeitsentgelt aus der Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Insolvenzforderungen sind (§ 38 InsO), die nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgt werden können (§ 87, 174 ff. InsO), besteht die Gefahr, dass die AN mit ihrer Forderung ausfallen. Darum werden Entgeltrückstände für die letzten drei Monate vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach Maßgabe der §§ 165 ff SGB III von der Bundesagentur für Arbeit als sog. Insolvenzgeld gezahlt, dessen Mittel der ArbG in einem Umlageverfahren (U 3) zusammen mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag über die Krankenkasse als Einzugstelle monatlich entrichtet. Besteht das Arbeitsverhältnis über das Insolvenzereignis (§ 183 I 1 Nr. 1., 2. oder 3. SGB III) hinaus fort, muss unterschieden werden. Wurde das Insolvenzverfahren eröffnet, ist der Anspruch auf Lohn bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (§ 113 I InsO) oder bei Weiterbeschäftigung durch den Insolvenzverwalter (§ 103 I InsO) Masseverbindlichkeit, die vom Insolvenzverwalter aus der Insolvenzmasse vorrangig zu befriedigen ist. Wurde das Insolvenzverfahren nicht eröffnet, muss sich der AN an seinen ArbG halten. Führt die Insolvenz des ArbG zu einer geplanten Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG, kommen die §§ 125 ff. InsO zur Anwendung. Zum Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung siehe § 112 BetrVG. Für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung gilt das Schutzsystem der §§ 7 ff. BetrAVG. VI. Nebenpflichten des Arbeitgebers Neben der den Arbeitsvertrag arbeitgeberseitig typisierenden Hauptpflicht, dem AN die vereinbarte Vergütung zu gewähren, treffen den ArbG verschiedenartige weitere Pflichten, die man als Nebenpflichten zusammenfasst. Sie werden gemeinhin als Fürsorgepflichten bezeichnet (wohingegen die Nebenpflichten des AN als Treuepflichten bezeichnet werden; siehe oben § 15 IV.). Als Schutzpflichten im Sinne des § 241 II BGB dienen sie vorwiegend dem Zweck, den AN vor den Gefahren zu bewahren, die aus seiner betrieblichen Tätigkeit folgen. © Professor Dr. Hunscha 147 Dezember 2015 Im Falle ihrer Verletzung steht dem AN, soweit dies möglich und sinnvoll ist, ein Anspruch auf Erfüllung der jeweiligen Nebenpflicht des ArbG gemäß §§ 611, 241 II BGB zu. Erleidet der AN durch die Verletzung arbeitgeberseitiger Nebenpflichten einen Schaden, steht ihm ein Anspruch auf Schadensersatz neben der Leistung wegen Vertragsverletzung aus §§ 280 I, 241 II BGB, ggf. über § 278 BGB, oder wegen unerlaubter Handlung aus § 823 I/II BGB, ggf. nach § 831 I 1 BGB zu. Nach § 273 I BGB kann dem AN ein Zurückbehaltungsrecht an seiner Arbeitsleistung zustehen, bis der ArbG die ihm obliegende Nebenpflicht erfüllt hat (Leistungsverweigerungsrecht unter Beibehaltung des Lohnanspruchs gemäß § 326 II 1 Altn.1 BGB). Bei schwerwiegender Nebenpflichtverletzung kann der AN das Arbeitsverhältnis binnen zwei Wochen ab Kenntnis von der Pflichtverletzung nach § 626 BGB fristlos kündigen. Nach § 628 II BGB ist der ArbG dem AN in diesem Fall zum Ersatz der durch die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schadens verpflichtet. 1. Der Schutz von Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers Der Schutz von Leben und Gesundheit des AN, den schon die Vorschriften der §§ 617 bis 619 BGB bezwecken, hat im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) von 1996 und den auf Grundlage seiner §§ 18 bis 20 erlassenen Rechtsverordnungen eine umfassende Regelung gefunden. Ergänzend sind die nach § 15 SGB VII erlassenen Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften zu beachten. Nach diesen Bestimmungen kann der AN einen Erfüllungsanspruch haben (z.B. auf Zurverfügungstellung von Schutzkleidung), ein Leistungsverweigerungsrecht erhalten und bei Sachschäden einen Schadensersatzansprüche geltend machen. Erleidet der AN dadurch einen Personenschaden (Körperverletzung oder Tod), dass der ArbG seine Arbeitsschutzpflichten verletzt, handelt es sich um einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eines Beschäftigten (§ 2 I Nr. 1 SGB VII) im Sinne der §§ 7 bis 9 SGB VII. In diesen Fällen ist die Haftung des ArbG nach § 104 SGB VII durch einen Anspruch auf Leistungen der zuständigen Berufsgenossenschaft als Unfallversicherer abgelöst, den der ArbG kraft Gesetzes verpflichtet ist, durch seine Beiträge zu finanzieren. Die Berufsgenossenschaft hat für den ArbG damit die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Zur Ablösung der Haftung des AN gemäß § 105 SGB VII, der im Rahmen seiner betrieblichen Tätigkeit einem Arbeitskollegen Personenschaden zufügt, siehe unten § 27 III. 2. 2. Der Schutz von Besitz und Eigentum des Arbeitnehmers Der ArbG ist zum Schutz von Besitz und Eigentum des AN an Gegenständen verpflichtet, die dieser mit sich führen muss oder darf (z.B. Tageskleidung, Arbeitskleidung, Armbanduhr, Geldbörse, Pkw). Der ArbG hat im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren für eine sichere Aufbewahrung Sorge zu tragen. Bei Beschädigung und Verlust haftet der ArbG unter der Voraussetzung des Vertretenmüssens (§§ 276, 278 BGB) auf Schadensersatz aus Pflichtverletzung (§ 280 I BGB), ggf. aus. unerlaubter Handlung (§ 823 I BGB). Eine verschuldensunabhängige Haftung des ArbG gegenüber dem AN auf Ersatz analog § 670 BGB kommt nicht nur bei freiwilligen Aufwendungen des AN für seinen ArbG in Betracht (z. B. Ersatz für Betriebsstoffe und Verschleiß bei dienstlicher Fahrt mit eigenem Pkw), sondern auch bei Sachschäden des AN, die er bei betrieblicher veranlasster Tätigkeit erleidet (z. B. an seiner Kleidung). © Professor Dr. Hunscha 148 Dezember 2015 Rein vermögensbezogene Schutzpflichten zu Gunsten des AN treffen den ArbG z.B. in Ansehung der ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Pflichten zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und der Lohnsteuer des AN. Hierher gehören ferner Aufklärungspflichten des ArbG z.B. über die Rechtsnachteile des AN aus dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages (unten § 28 III.). 3. Der Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers a) Nach § 241 II BGB trifft den ArbG auch die arbeitsvertragliche (Neben-)Pflicht zum Persönlichkeitsschutz des AN. Verfassungsrechtlich ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Art. 1 I und 2 I GG gewährleistet. Es hat seine spezielle Ausprägung in zahlreichen Sondergesetzen gefunden. So z.B. im AGG, im BDSG und in den §§ 22, 23 KunstUrhG (Recht am eigenen Bild). Im Recht der unerlaubten Handlungen des BGB wird es als „sonstiges Recht“ i.S.v. § 823 I BGB geschützt. Nach § 75 II BetrVG BetrVG sind ArbG und Betriebsrat verpflichtet, „die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern.“ Kollidiert das Persönlichkeitsrecht des AN mit gleichfalls grundgesetzlich geschützten betrieblichen Interessen des ArbG (Art. 12 und 14 GG), ist dieser Konflikt im Wege der Güter- und Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu lösen (oben § 3 III. 2 vor (1). So z.B. beim Fragerecht des ArbG im Einstellungsgespräch und bei der Überwachung des AN am Arbeitsplatz sowie der Torund Taschenkontrolle. b) Einzelfälle: Nach dem AGG ist der ArbG verpflichtet, Benachteiligungen des AN wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zu verhindern oder zu beseitigen. Hierunter fällt auch das Mobbing. das für den ArbG zu Konsequenzen nach § 12, 14 und 15 AGG führen kann. Daneben kommen Ansprüche des betroffenen AN aus Pflichtverletzung und unerlaubter Handlung in Betracht. Das Mobbing aus anderen als den in § 1 AGG genannten Gründen fällt ausschließlich unter § 241 II BGB sowie §§ 823 I/II, § 826 BGB. Ohne die eingrenzende Bezugnahme auf die in § 1 AGG genannten Gründe ist der ArbG auch verpflichtet, den AN am Arbeitsplatz vor sexueller Belästigung i.S.d. § 3 IV AGG zu schützen. Dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dient das BDSG, das sich auch an private ArbG richtet. Hierhergehört ferner der Anspruch des AN auf Beschäftigung (oben § 3 III. 2. (1)) sowie die Regeln über die Personalaktenführung, die dem AN über seine (auch in betriebsratsfreien Betrieben geltenden) Rechte aus § 83 BetrVG hinaus auch die Befugnis geben, unzutreffende Eintragungen löschen zu lassen (oben § 3 III. 2. (1)). 4. Die Pflicht zur Zeugniserteilung § 630 Satz 4 BGB weist darauf hin, dass der Anspruch des AN gegen den ArbG auf Zeugniserteilung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus § 109 GewO folgt. Auf Verlangen des AN ist vom ArbG entweder ein einfaches Zeugnis über die Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses und eine genaue Beschreibung der ausgeübten Tätigkeit oder ein qualifiziertes Zeugnis, zu erteilen, das darüber hinaus Angaben über Leistung und Verhalten enthält. Bei sehr kurzen Arbeitsverhältnissen kann ein qualifiziertes Zeugnis allerdings nicht verlangt werden. © Professor Dr. Hunscha 149 Dezember 2015 Aus triftigem Grund kann der AN auch ein einfaches oder qualifiziertes Zwischenzeugnis verlangen, etwa im Falle seiner Versetzung, der Zuweisung einer neuen Tätigkeit, eines Wechsels des Vorgesetzen, bei längerem Ruhen des Arbeitsverhältnisses z.B. infolge Elternzeit, ferner zur Teilnahme an einer Fortbildung sowie im Falle eines beabsichtigten Stellenwechsels. Bei Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses ist der Ausbildende nach § 16 BBiG verpflichtet, dem Auszubildenden ein Zeugnis auszustellen, das zusätzlich Angaben über das „Ziel der Berufsausbildung sowie über die erworbenen beruflichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten des Auszubildenden“ enthalten muss. Auf Verlangen des Auszubildenden sind in das Zeugnis auch Angaben über Verhalten und Leistung aufzunehmen. Das Zeugnis muss äußerlich eine ordentliche Form aufweisen. Die elektronische Form ist nach § 630 Satz 3 BGB ausgeschlossen. Nach § 109 II GewO muss das Zeugnis „klar und verständlich formuliert“ sein und darf keine Geheimzeichen oder Geheimsprache enthalten. Da es für künftige ArbG eine Grundlage ihrer Personalauswahl ist, muss es vollständig und wahrheitsgemäß sein. Da es das berufliche Fortkommen des AN aber nicht unnötig erschweren darf, soll es zugleich vom Wohlwollen eines verständigen ArbG getragen sein. Zwischen beiden Maßstäben besteht ein Spannungsverhältnis. Das führt häufig zu nichts sagenden oder verschleiernden Wendungen sowie Auslassungen. In der Praxis hat sich hat sich eine abschließende Beurteilung in Anlehnung an die Schulnoten von „sehr gut“ bis „ungenügend“ durchgesetzt, wobei die Steigerung von einer ausreichenden zu einer besseren Bewertung zumeist durch Fortlassen oder Hinzufügen des Wortes „stets“ und durch Fortlassen, Hinzufügen oder die (sprachlich fehlerhafte) Steigerung des Wortes „voll“ ergänzend zur behaupteten „Zufriedenheit“ des ArbG zum Ausdruck gebracht wird: „zu unserer Zufriedenheit“ (= ausreichend), „stets zu unserer Zufriedenheit (= befriedigend bis ausreichend), „zu unserer vollen Zufriedenheit“ (= befriedigend), „stets zu unserer vollen Zufriedenheit“ (= gut), „zu unserer vollsten Zufriedenheit“ (= sehr gut bis gut), „stets zu unserer vollsten Zufriedenheit“ (= sehr gut). Kommt es zu einem Rechtsstreit, weil der AN eine über „befriedigend“ hinausgehende Bewertung beansprucht, trägt er die Beweislast (BAG v. 18.11.2014 – 9 AZR 584/13 – in NZA 2015, ). Der ArbG trägt die Beweislast für eine schlechtere Bewertung. In der Praxis wird häufig die Note „gut“ vergeben, um zeitraubenden und kostenträchtigen Auseinandersetzungen mit dem ausgeschiedenen AN aus dem Wege zu gehen. Das beeinträchtigt allerdings den Aussagewert der Schlussbeurteilung und führt nicht selten dazu, dass der künftige ArbG den ehemaligen ArbG um erläuternde Auskünfte bittet. Das Datenschutzrecht und die Rechtsprechung zum Persönlichkeitsschutz setzen der Erfüllung dieses Verlangens allerdings Grenzen. Im Grundsatz ist hierzu die (vorherige) Einwilligung des ausgeschiedenen Mitarbeiters erforderlich und ihm auf Verlangen über Inhalt und Empfänger der Auskunft Mitteilung zu machen. Die Wortwahl im Zeugnis liegt im „billigen Ermessen“ des ArbG, wobei er sich bei seiner Abfassung im Einzelfall mit der gebotenen Vorsicht auch der Mitwirkung des AN bedienen darf, schon um späteren Auseinandersetzungen mit dem ausgeschiedenen Mitarbeiter vorzubeugen. Auf eine Schlussformel, wie z.B. „mit Dank und guten Wünschen“, hat der AN keinen Anspruch (BAG v. 11.12.2012 – 9 AZR 227/11 – in ArbR © Professor Dr. Hunscha 150 Dezember 2015 2013; 14), sie wird aber in der Regel verwendet. Ist der Zeugnisinhalt unzutreffend, kann der AN nach § 611 BGB i.V.m. § 109 GewO eine Zeugnisberichtigung verlangen. Sagt der ArbG wider besseres Wissen Ungünstiges, kann er einem Schadensersatzanspruch des AN gegen ihn aus §§ 611 BGB, 109 GewO, 280 I BGB ausgesetzt sein. Erteilt er dem AN ein zu günstiges Zeugnis, kann er dem späteren ArbG des AN gegenüber aus § 826 BGB oder vertragsähnlichem Rechtverhältnis im Sinne von §§ 311 II Nr. 3 oder III, 241 II, 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden. 5. Die Herausgabe der Arbeitspapiere Bei der tatsächlichen Beendigung seines Arbeitsverhältnisses hat der ArbG dem AN die in seinem Besitz befindlichen und ggf. ordentlich ausgefüllten Arbeitspapiere herauszugeben. Dazu gehören zum einen – mit Ausnahme des Lebenslaufs und der Bewerbungsschrift – alle Unterlagen, die der AN dem ArbG zu Beginn des Arbeitsverhältnisses überlassen hat, wie z.B. den Sozialversicherungsausweis, den Gesundheitspass, die Arbeitserlaubnis und die Mitgliedsbescheinigung der Krankenkasse. Zum anderen geht es vor allem um die Lohnsteuerbescheinigung nach § 41b I 2 EStG, die für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erforderliche Arbeitsbescheinigung nach § 312 SGB III, die Urlaubsbescheinigung nach § 6 II BUrlG, die Bescheinigung über die Meldungen an die Sozialversicherung nach § 25 DEÜV und ggf. Unterlagen über die betriebliche Altersversorgung. An den Arbeitspapieren hat der ArbG kein Zurückbehaltungsrecht wegen etwaiger Gegenansprüche. Die Herausgabe der Papiere darf er auch nicht davon abhängig machen, dass der AN eine Ausgleichsquittung unterzeichnet, mit der er bestätigt, dass alle Ansprüche des AN gegen den ArbG aus dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung damit abgegolten sind. Die Empfangsbestätigung der Arbeitspapiere und die Erteilung einer Ausgleichsquittung sind zwei voneinander unabhängige und deutlich zu trennende Rechtsakte. Im Übrigen ist festzuhalten, dass der AN dem ArbG von Rechts wegen nur zur Erteilung einer Quittung nach § 368 Satz 1 BGB, mit der er Empfangs einer Leistung des ArbG bestätigt, verpflichtet ist. Auf die Erteilung einer Ausgleichsquittung hat der ArbG keinen Anspruch. Da sie im Regelfall den Zweck hat, alle (oder eine bestimmte Gruppe von) bekannten oder unbekannten Ansprüchen zum Erlöschen zu bringen (= konstitutives, negatives Schuldanerkenntnis i.S.d. § 397 II BGB), stellt sie für den AN ein hohes Risiko dar, auf das er sich nicht einlassen muss. Wird eine vom ArbG vorformulierte Ausgleichsquittung dennoch vom AN unterschrieben, kommen zu seinem Schutz die §§ 305 ff. BGB zur Anwendung. Nach § 307 I 1 BGB sind den AN einseitig belastende Ausgleichsquittungen, die nur ihm einen Verzicht abverlangen, ohne (wie etwa in einem Aufhebungsvertrag) eine entsprechende Gegenleistung zu gewähren, unwirksam (BAG v. 21.6.2011 – 9 AZR 203/10 – in NZA 2011, 180 ff. Rn. 47 ff.; vgl. einseitige Ausschlussklauseln, die nur Ansprüche des AN gegen den ArbG erfassen, unten § 44 II.). – Ist die vom ArbG vorformulierte Bestätigung des Empfangs der Arbeitspapiere unauffällig mit der Aussage verknüpft, dass weitere Ansprüche des AN gegen den ArbG nicht bestehen, wird die so versteckte Ausgleichsquittung schon nach § 305c I BGB als überraschende Klausel nicht Bestandteil der Vereinbarung (vgl. die überraschende Ausschlussklausel, unten § 44 II.). Hat sich der AN über Inhalt der Vereinbarung (die er wirklich gelesen und nicht nur blind unterschrieben hat) in einem Irrtum befunden, kann er seine Erklärung ferner nach § 119 I BGB anfechten, im Fall arglistiger Täuschung nach § 123 BGB, um sich bestehende Forderungsrechte zu erhalten. © Professor Dr. Hunscha 151 Dezember 2015 VII. Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitnehmers Unter bestimmten Voraussetzungen hat der AN das Recht, die Arbeitsleistung zu verweigern. Wie das Maßregelungsverbot des § 612a BGB klarstellt, darf der ArbG die Leistungsverweigerung in diesem Fall nicht mit Sanktionen beantworten, wie etwa mit einer Abmahnung oder einer Kündigung. Darüber hinaus behält der AN nach § 615 Satz 1 BGB seinen Entgeltanspruch, ohne die ausgefallene Arbeitszeit nachholen zu müssen. Solche Leistungsverweigerungsrechte enthält schon das Allgemeine Schuldrecht des BGB: ► Nach § 320 BGB kann der AN seine Arbeitsleistung verweigern, wenn sich der ArbG mit der ihm obliegenden Gegenleistung, die vereinbarte Vergütung zu zahlen, in einem nicht unerheblichen Rückstand befindet; ► Nach § 273 BGB hat der AN an seiner Arbeitsleistung ein Zurückbehaltungsrecht, wenn der ArbG seine Nebenpflichten aus dem Arbeitsvertrag verletzt, beispielsweise die nach § 618 BGB zum Schutz von Leben und Gesundheit des AN erforderlichen Maßnahmen nicht ergreift. Im Übrigen enthalten z.B. § 9 III ArbSchG und § 14 AGG spezielle arbeitsrechtliche Leistungsverweigerungsrechte. © Professor Dr. Hunscha 152 Dezember 2015 § 17 Das Ausbleiben der Arbeitsleistung I. Vorbemerkungen Wenn die Leistung des Schuldners ausbleibt, ist das ein Tatbestand, der Anlass gibt, danach zu fragen, • ob der Schuldner die ausgebliebene Leistung nachholen muss oder nicht; • welche Auswirkungen das Ausbleiben der Leistung des Schuldners im gegenseitigen Vertrag auf die Pflicht des Gläubigers zur Erbringung seiner Gegenleistung hat; • ob dem Gläubiger ein Anspruch gegen den Schuldner auf Ersatz des ihm durch die Nichtleistung entstandenen Schadens zusteht. Diese Fragen stellen sich auch für den Fall des Ausbleibens der Arbeitsleistung des AN. Die Antworten jedoch, die das Allgemeine Schuldrecht des BGB bereithält, werden den Besonderheiten des Arbeitsrechts nur teilweise gerecht. Vor allem bei der Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen der Nichtleistung von Arbeit auf den Lohnanspruch des AN geht das Arbeitsrecht eigene Wege. II. Die Nichtleistung der Arbeit ein Fall der Unmöglichkeit der Leistung Im Gegensatz zum Werkvertrag, dessen Gegenstand nach § 631 II BGB ein „durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg“ ist, verpflichtet sich der AN nach § 611 I BGB „zur Leistung der versprochenen Dienste“. Die Leistung ist also “nicht erfolgsbezogen, sondern zeitbezogen bestimmt“ (Richardi in NZA 2002, 1006). Darum bemisst sich auch die Vergütung des AN regelmäßig nach Zeiträumen ohne Rücksicht auf die Quantität oder Qualität seiner Arbeit (Zeitlohn; oben § 16 II. 2.). Und folgerichtig spricht § 2 II EFZG von „Arbeitszeit, die infolge eines gesetzlichen Feiertages ausfällt“. Der AN verpflichtet sich, Arbeit zu einer bestimmten Zeit zu leisten. Ist der AN in diesem Zeitraum nicht tätig, ist die Erfüllung dieser Verpflichtung durch Zeitablauf endgültig ausgeblieben. Die Verpflichtung zur Arbeitsleistung begründet somit eine absolute Fixschuld. Die ausgebliebene Arbeitsleistung ist darum nicht ein Fall der Leistungsverzögerung, sondern der Unmöglichkeit der Leistung im Sinne von § 275 I BGB. Der in dieser Vorschrift angeordnete Ausschluss von der Pflicht zur Leistung tritt mit dem Augenblick ein, in dem der AN zu dem vertraglich vorgegebenen Zeitpunkt tatsächlich nicht tätig ist. Natürlich kann ein AN, wenn dies arbeitstechnisch machbar ist, durch sein Fehlen liegen gebliebene Arbeit nach Wiederaufnahme seiner Tätigkeit neben der nunmehr geschuldeten Leistung mit erledigen. Die ausgefallene Arbeitszeit wird dadurch aber nicht nachgeholt. Ausgefallene Arbeitszeit kann nur durch zusätzliche Arbeitszeit ersetzt werden, was in einem Betrieb normalerweise kaum möglich ist. Gelegentlich sieht ein Tarifvertrag die Nachholung ausgefallener Stunden oder Schichten vor. Im Fall von Gleitzeitarbeit oder der Führung von Arbeitszeitkonten kann eine Nachleistungspflicht in Betracht kommen. Unmöglichkeit tritt dann erst ein, wenn die Arbeit in dem hiernach zur Verfügung stehenden Erfüllungszeitraum nicht geleistet wird. (Zit) © Professor Dr. Hunscha 153 Dezember 2015 III. Die Auswirkung des Ausbleibens der Arbeit auf den Lohnanspruch des AN 1. Ist der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Nacherbringung der ausgebliebenen Arbeitsleistung nach § 275 I BGB ausgeschlossen, würde nach der Regel des § 326 I 1 BGB auch der Anspruch des AN gegen den ArbG auf Lohnzahlung entfallen: Ohne Arbeit kein Lohn. Diese Rechtsfolge ist kein Fall des Schadensersatzes, sondern trägt ausschließlich der Tatsache Rechnung, dass der Arbeitsvertrag ein gegenseitiger, d.h. ein auf den Austausch von einander geschuldeten Leistungen gerichteter Vertrag ist: Wenn es dem einen Vertragsteil unmöglich ist, seine Leistung zu erbringen, soll er vom anderen Vertragsteil auch nicht die Gegenleistung verlangen dürfen. Insoweit spielt es auch keine Rolle, ob der Schuldner die Unmöglichkeit seiner Leistung zu vertreten hat oder nicht. Das Vertretenmüssen des Schuldners ist erst dann von Bedeutung, wenn der Gläubiger von ihm wegen der Nichterfüllung Schadensersatz (statt der – durch Zeitablauf endgültig ausgebliebenen – Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB) begehrt (unten § 25). Von der Regel des § 326 I 1 BGB kennt das Arbeitsrecht jedoch eine Vielzahl von Ausnahmevorschriften innerhalb und außerhalb des BGB, nach denen dem AN der Anspruch auf den Arbeitslohn trotz Unmöglichkeit seiner Arbeitsleistung erhalten bleibt (Einzelheiten nachfolgend unter §§ 18 bis 24). In diesen Fällen erfüllt das Ausbleiben der Arbeitsleistung noch nicht einmal den objektiven (= äußeren) Tatbestand einer Vertragsverletzung (= Pflichtverletzung): Wer aus den dort genannten Gründen keine Arbeit leisten kann, leisten muss oder leisten darf, verletzt keine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis. Fragt man nach Gründen für diese Abweichung von dem alle anderen Austauschverträge kennzeichnenden Grundsatz des „do ut des“ (= ich gebe dir weil/damit du mir gibst), so kann festgestellt werden, dass dem ArbG eine Vergütungspflicht ohne Arbeitsleistung im Großen und Ganzen aus sozialen Gründen auferlegt wird. Dabei geht es um teilweise sehr verschiedenartige Situationen. Das sind hauptsächlich die Fälle, in denen (1) der Grund für das Ausbleiben der Arbeitsleistung darin liegt, dass das Gesetz den AN von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung unter Beibehaltung seines Lohnanspruchs freigestellt. Dazu gehört die Entgeltzahlung an gesetzlichen Feiertagen nach § 2 EFZG und während des Erholungsurlaubs nach Maßgabe des BUrlG. (2) der Grund für das Ausbleiben der Arbeitsleistung zwar in den persönlichen Verhältnissen des AN liegt, das Gesetz dem ArbG aber trotzdem die Verpflichtung zur Lohnzahlung auferlegt. Hierbei geht es zum einen darum, dass dem AN die Erbringung seiner Arbeitsleistung nach § 3 EFZG infolge Krankheit oder nach § 616 BGB infolge persönlicher Verhinderung unmöglich oder unzumutbar ist. Zum anderen gehört hierher auch die Zahlung des Arbeitsentgelts nach § 11 MuSchG oder des Zuschusses zum Mutterschaftsgeld nach § 14 MuSchG während der Beschäftigungsverbote nach §§ 3 ff. MuSchG. (3) der Grund für den Arbeitsausfall dem Verantwortungsbereich des ArbG zuzurechnen ist. Hierher gehört vor allem die Anwendung des § 615 BGB, wenn der ArbG den AN entweder aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann (Annahmeunmöglichkeit) oder aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Überlegungen nicht beschäftigen will (Annahmeunwilligkeit). Von geringer praktischer Bedeutung ist die Vorschrift des § 326 II 1 Altn. 1 BGB. © Professor Dr. Hunscha Dezember 2015 154 2. Bevor Einzelheiten der Entgeltzahlung trotz Nichtleistung der Arbeit behandelt werden, kommt es zu einem tabellarischen Überblick über die arbeitsrechtlichen Ausnahmen von der Regel des § 326 I 1 BGB: Ausbleiben der Arbeitsleistung Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung (1) an gesetzlichen Feiertagen nach Maßgabe der (1) gemäß § 2 EFZG §§ 9 ff. ArbZG (2) von Funktionsträgern der Betriebsverfassung gemäß §§ 37 II, 38 BetrVG, § 14 I SprAuG, § 96 IV SGB IX (2) gemäß §§ 37 II, 38 BetrVG, § 14 I SprAuG, § 96 IV SGB IX (3) bei Betriebsratswahlen gemäß § 20 III BetrVG, zum Besuch des Betriebsrats gemäß § 39 III BetrVG und zur Teilnahme an der Betriebsversammlung gemäß § 44 I 2 BetrVG (3) gemäß §§ 20 II, 39 III, 44 I 2 BetrVG (4) Auszubildender wegen Teilnahme am Berufsschulunterricht und an Prüfungen gemäß § 7 BBiG (4) gemäß § 12 I 1 Nr. 1 BBiG (5) wegen Erholungsurlaubs nach Maßgabe der §§ 1 ff. BUrlG (5) in Gestalt des Urlaubsentgelts nach §§ 11, 12 BUrlG (6) im Krankheitsfall nach § 3 EFZG (6) gemäß § 3 EFZG; Aufwendungsausgleich für den ArbG nach dem AAG (7) aus Gründen des Mutterschutzes nach Maßga- (7) Arbeitsentgelt gemäß § 11 MuSchG oder Zuschuss be der §§ 3 ff. MuSchG zum Mutterschaftsgeld gemäß § 14 MuSchG; Aufwendungsausgleich für den ArbG nach dem AAG (8) wegen vorübergehender Verhinderung nach Maßgabe des § 616 BGB (8) gemäß § 616 BGB (9) weil der ArbG dafür allein oder weit überwie- (9) gemäß § 326 II 1, Alt. 1 BGB gend verantwortlich ist, § 326 II 1, Alt. 1 BGB (10a) weil der ArbG dem AN die Beschäftigung (10a) gemäß § 615 S. 1 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB verwehrt (Annahmeunwilligkeit), vor allem im Falle arbeitsgeberseitig rechtswidriger Kündigung oder Aussperrung sowie bei wirtschaftlicher Schwäche des ArbG (10b) weil der ArbG den AN aus betrieblichtechnischen Gründen nicht beschäftigen kann (Annahmeunmöglichkeit) (10b) gemäß § 615 S. 3 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB © Professor Dr. Hunscha 155 Dezember 2015 § 18 Lohn ohne Arbeit gemäß § 326 II 1 Altn.1 BGB I. Die Anordnung des § 326 II 1 Altn.1 BGB, dem Schuldner die Gegenleistung zu erbringen, wenn seine Leistung aus Gründen ausfällt, für die der Gläubiger „allein oder weit überwiegend verantwortlich“ ist, gilt auch im Arbeitsrecht. Wenn der AN nicht leisten kann, weil der ArbG diesen Umstand zu vertreten hat, behält der AN seinen Anspruch auf den Arbeitslohn. Angesichts des breiten Anwendungsbereichs des § 615 BGB (nachfolgend § 19), ist die praktische Bedeutung des § 326 II 1 Altn. 1 BGB gering. Da der ArbG der Gläubiger der Arbeitsleistung ist, die §§ 276 ff. BGB aber von der Verantwortlichkeit des Schuldners sprechen, finden die §§ 276, 278 BGB auf den ArbG hier analoge Anwendung. In den nachfolgend unter 1. und 2. aufgeführten Situationen ist allerdings von einer unmittelbaren Anwendung dieser Vorschriften auszugehen, wenn man berücksichtigt, dass der ArbG hier Nebenpflichten zum Schutz des AN (Fürsorgepflichten) verletzt (oben § 16 VI.). 1. § 326 I 1 Altn.1 BGB trifft zum einen den Sonderfall, dass der ArbG für die Arbeitsunfähigkeit des AN deswegen verantwortlich ist, weil er den Verlust, den Untergang oder die Beschädigung von besonderen, für dessen Arbeitsleistung unerlässlichen Arbeitsutensilien nach § 276 BGB oder § 278 BGB zu vertreten hat. Das ist z.B. der Fall, wenn die für den Auftritt des angestellten Artisten notwendigen Tonbänder, Geräte oder Tiere nicht zur Verfügung stehen, weswegen die Darbietung ausfallen muss. Hier würde auch § 615 BGB greifen. Es handelt sich um einen Fall der Annahmeunmöglichkeit des ArbG, weil er nicht in der Lage ist, dem AN das Substrat (= die Grundlage) in Gestalt der für seine Arbeitsleistung technisch erforderlichen Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Dieses Manko, einerlei ob verschuldet oder nicht, belastet den ArbG als Ausdruck seines Betriebsrisikos (nachfolgend § 19 II. 1.). 2. Zum anderen bedarf es für den Fall einer vom ArbG verschuldeten Erkrankung des AN der Anwendung des § 326 II 1 Altn. 1 BGB, wenn sie die Dauer von sechs Wochen überschreitet; denn bis zur Dauer von sechs Wochen erhält der AN die Entgeltfortzahlung des § 3 EFZG auch und erst recht dann, wenn der ArbG für die Erkrankung des AN verantwortlich ist. II. Hierher gehören auch die Fälle, in denen der AN die Arbeitsleistung durch Geltendmachung der Einrede des nicht erfüllten Vertrages gemäß § 320 BGB wegen arbeitgeberseitiger Verletzung seiner Hauptpflicht, die vereinbarte Vergütung zu entrichten, oder aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts wegen arbeitgeberseitiger Verletzung von Nebenpflichten, etwa nach § 9 III ArbSchG oder § 14 AGG, ansonsten nach § 273 I BGB, verweigert (oben § 14 III.). In all diesen Fällen bleibt dem AN der Anspruch auf das Entgelt erhalten, wenn und weil er die Arbeit aus Gründen verweigert, für die der ArbG allein oder weit überwiegend verantwortlich ist. Dieses Ergebnis lässt sich allerdings auch auf der Grundlage von §§ 615, 298 BGB erreichen (nachfolgend § 19 III.). © Professor Dr. Hunscha 156 Dezember 2015 § 19 Lohn ohne Arbeit gemäß § 615 BGB I. § 615 BGB verdrängt § 326 II 1 Altn. 2 BGB Im Arbeitsrecht tritt an die Stelle des § 326 II 1 Altn. 2 BGB der § 615 BGB. § 615 BGB erfasst die Fälle, in denen dem arbeitsfähigen und arbeitswilligen AN die Arbeitsleistung unmöglich wird, weil der ArbG ihn nicht beschäftigt und deswegen auch nicht bezahlt. Einerlei, warum der ArbG den AN die Arbeitsleistung nicht erbringen lässt, er wird hierfür seine Gründe haben, aus denen ihm nicht immer ein Schuldvorwurf gemacht werden kann. Mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit des AN ist er jedoch nicht befugt, dem AN deswegen zugleich den Lohn vorzuenthalten. Darum bestimmt § 615 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB, dass dem AN in diesen Fällen entgegen § 326 I 1 BGB der Anspruch auf die Gegenleistung in Gestalt seines Arbeitslohnes aus § 611 BGB trotz ausbleibender Arbeitsleistung erhalten bleibt, ohne dass es darauf ankommt, ob der ArbG die Gründe für das Zurückweisen der Arbeitsleistung des AN zu vertreten hat oder nicht. Auch wenn der ArbG die Gründe für die Zurückweisung der Arbeitsleistung des AN zu vertreten hat, braucht der seinen Lohn beanspruchende AN nicht den § 326 II 1 Altn. 1 BGB (siehe vorstehend § 18) zu bemühen, sondern kann sich einfach auf § 615 BGB stützen. II. Die Fallgruppen des § 615 BGB Fragt man nach den Gründen, die den ArbG veranlassen, den AN nicht zu beschäftigen und deswegen die Entlohnung einzustellen, lassen sich zwei Fallgruppen bilden. 1. Die eine Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der ArbG den AN aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann, so dass dem AN die Arbeitsleistung unmöglich ist. Man spricht man insoweit vom Fall der Annahmeunmöglichkeit des ArbG, für die § 615 Satz 3 BGB gilt. Als Situationen dieser Art kommen z.B. in Betracht: Brand im Betrieb, Maschinenschaden, Ausfall der Stromversorgung, Ausfall der Heizung im Winter, Rohstoffmangel und behördliche Verbote sowie eine Überschwemmung des Betriebsgeländes und andere Naturkatastrophen, die die Produktion verhindern. Es sind dies Gründe, die den ArbG nach § 615 Satz 3 BGB als Ausdruck des Betriebsrisikos belasten mit der Folge, dass er entsprechend § 615 S. 1 BGB lohnzahlungsverpflichtet bleibt. 2. Die andere Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der ArbG dem AN die Beschäftigung verwehrt, so dass dem AN die Arbeitsleistung unmöglich ist. Man spricht insoweit vom Fall der Annahmeunwilligkeit des ArbG, für die § 615 Satz 1 BGB gilt. Beispiele hierfür sind die Fälle, in denen der ArbG nach dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung oder nach dem Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist den gekündigten AN bei sich verständlicherweise nicht weiterbeschäftigt und auch nicht mehr entlohnt, weil er das Arbeitsverhältnis beendet hat, die vom AN dagegen angestrengte Kündigungsschutzklage jedoch die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung feststellt, so dass der ArbG sich von Anfang an nach § 615 Satz 1 BGB im Annahmeverzug befindet; © Professor Dr. Hunscha 157 Dezember 2015 in denen der ArbG nicht genug Arbeit hat, weswegen es sich für ihn nicht lohnt, den AN zu beschäftigen, wie bei Auftrags- bzw. Absatzmangel, fehlender Verleihmöglichkeit im Arbeitnehmerüberlassungsgewerbe, ausbleibendem Abruf zur vereinbarten Tätigkeit. Es handelt sich hierbei jedoch um Situationen, die der ArbG nicht zu Lasten des Entgeltanspruchs des AN abfedern darf. Den ArbG trifft insoweit das Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko, das ihn ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Einsatz seiner AN zur uneingeschränkten Lohnzahlung verpflichtet, § 615 Satz 1 BGB. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn die vom ArbG wegen einer augenblicklichen Flaute angeordnete Kurzarbeit mangels Ermächtigungsgrundlage unwirksam ist (siehe oben § 15 III. 3.). Auch das Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko kann als eine Form des Betriebsrisikos des ArbG: Das in § 615 Satz 3 BGB genannte Betriebsrisiko ist betrieblich-technischer Natur, das Wirtschaftsbzw. Beschäftigungsrisiko ist ein den ArbG treffendes Betriebsrisiko betrieblich-wirtschaftlicher Natur. 3. Beachte: Von der aus § 615 BGB fließenden Vergütungspflicht kann sich der ArbG vor allem durch die (rechtmäßige) Anordnung von Kurzarbeit (oben § 15 III. 3.), bei lang andauernder Störung durch betriebsbedingte Kündigungen befreien. Angesichts dieser Möglichkeiten besteht für eine Einschränkung der Vergütungspflicht des ArbG im Fall einer seine Existenz gefährdenden Notlage seines Unternehmens kein Bedarf. 4. Der Vergütungsanspruch des AN geht auf die Zahlung des Bruttolohns. Dass er nach § 615 S. 1 BGB zur Nachleistung nicht verpflichtet ist, folgt schon aus § 275 I BGB. Nach § 615 S. 2 BGB muss der AN sich wie in § 326 II S. 2 BGB tungsanspruch dreierlei anrechnen lassen: auf den Vergü- durch den Arbeitsausfall ersparte Aufwendungen, wie z.B. notwendige Fahrtkosten. Das gilt allerdings nicht im Fall des § 11 KSchG; anderweitig erzielte Bruttoeinkünfte oder öffentlich-rechtliche Sozialleistungen; böswillig unterlassenen Erwerb. Sein Vergütungsanspruch mindert sich daher um Einnahmen, die der AN in der Zeit des Arbeitsausfalls hätte erzielen können, er die Erwerbsmöglichkeit aber vorsätzlich grundlos ablehnt oder vorsätzlich verhindert, obwohl sie ihm zumutbar ist. III. § 615 BGB als Sonderfall des Gläubigerverzugs § 615 BGB ist ein Sonderfall des Gläubigerverzugs, so dass es in Ansehung seiner Voraussetzungen auf die Bestimmungen der §§ 293 ff. BGB ankommt. Daraus folgt, dass § 615 BGB wie schon vorstehend unter I. hervorgehoben auch dann anwendbar ist, wenn der ArbG als der Gläubiger der Arbeitsleistung den Grund für die Nichtbeschäftigung des AN nicht zu vertreten hat; dass der AN zur Verdeutlichung seiner Arbeitsbereitschaft seine Arbeitsleistung tatsächlich (§ 294 BGB), ggf. nur wörtlich (§ 295 BGB) anbieten muss; Gestützt vor allem auf § 296 S. 1 BGB (= ArbG unterlässt kalendarisch bestimmte [Arbeitszeit!] Mitwirkungshandlung durch Nichtzurverfügungstellung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes) lässt die h.M. hiervon im Ergebnis sinnvolle Ausnahmen zu. So muss der gekündigte AN außer der Anrufung des Arbeitsgerichts (§ 4 KSchG) nichts weiter unternehmen, um den Anspruch auf die Vergütung Prozessgewinn vorausge aufrecht zu erhalten. Das gleiche gilt für den Rechtsstreit über die Wirksamkeit einer Befristung (§ 17 TzBfG). Selbst im Fall der unrechtmäßigen Anordnung von © Professor Dr. Hunscha 158 Dezember 2015 Kurzarbeit wendet das BAG v.27.1.1994 – 6 AZR 541/93 – in NZA 1995, 134 unter II. 1. § 296 S. 1 BGB an. Im Übrigen gerät der ArbG bei Abrufarbeit ohne weiteres in Annahmeverzug, wenn er die Arbeitsleistung des AN nicht im Umfang des Mindestdeputats abruft. wobei § 297 BGB klarstellt, dass die Fähigkeit und Bereitschaft des AN zur Arbeitsleistung im Augenblick seines tatsächlichen (§ 294 BGB) oder wörtlichen (§ 295 BGB) Angebots der Arbeitsleistung oder bei dessen Entbehrlichkeit nach § 296 BGB Voraussetzungen des Annahmeverzugs des ArbG ist. Aus diesem Grunde kann der ArbG für die Zeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des AN nicht in Annahmeverzug kommen. In diesem Fall hat der AN jedoch Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG. Der ArbG kommt auch dann nicht in Annahmeverzug, wenn der AN nicht in der Lage ist, den Weg zur Betriebsstätte zu bewältigen. Staus, Fahrverbote, Verkehrsstreiks, Unwetter und ähnliche Vorkommnisse gehen insoweit zu Lasten des AN. Kann der AN den Betrieb wegen des Hochwassers nicht erreichen, entfällt der Lohnanspruch; bewirkt das Hochwasser dagegen nur den Stillstand des Betriebs, ohne den AN am Kommen zu hindern, behält er seinen Lohnanspruch. Das Wegerisiko trifft also den AN. Ausnahmefälle sind jedoch die eigene Autopanne des AN oder seine persönliche Unfallbeteiligung. Sie unterliegen der Anwendung des § 616 BGB wonach der AN des Anspruchs auf die Vergütung (allerdings arbeitsvertraglich abdingbar) nicht dadurch verlustig geht, „dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden (Alkoholfahrt!) an der Dienstleistung verhindert wird“ (unten § 21). Hält der AN seine Arbeitsleistung auf der Grundlage von § 320 BGB oder von § 273 I BGB u.ä. Gegenrechten mit Recht zurück, gerät der ArbG gemäß § 298 BGB trotzdem in Annahmeverzug. Im Übrigen bleibt der ArbG dann schon wegen § 326 II Altn. 1 BGB zur Gegenleistung verpflichtet (oben § 18). IV. Grenzen der Abdingbarkeit des § 615 BGB Trotz seines überragenden Schutzzwecks muss man im Umkehrschluss zu § 619 BGB davon ausgehen, dass § 615 BGB abdingbar ist. Dies aber nur im Wege einer wirklichen Individualvereinbarung, einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrages mit der Einschränkung, dass das den ArbG nach § 615 BGB treffende Entgeltrisiko nicht pauschal und generell auf den AN verlagert werden darf, sondern nur für bestimmte Störungen aus dem Kreis der Tatbestände, die nicht dem Einflussbereich des ArbG zugerechnet werden können. Ein formularmäßiges Abbedingen hingegen scheitert regelmäßig an § 307 I 1, II Nr. 1 BGB mit Ausnahme von Gelegenheitstätigkeiten. Die Klausel „Bezahlt wird nur die tatsächlich geleistete Arbeit“ schließt nur die Anwendung des § 616 BGB aus (unten § 21). Die formularmäßige Vereinbarung mit der für das Reinigen einer Schule eingestellten Arbeitskraft über das Ruhen des Arbeitsverhältnisses während der Dauer der Schulferien verstößt nicht gegen § 307 BGB, wenn das Reinigungsobjekt in dieser Zeit geschlossen ist und Reinigungsarbeiten nicht anfallen (BAG v. 10.1.2007 – 5 AZR 84/06 – in NZA 2007, 384). Unter dieser Voraussetzung wäre auch eine Sachgrundbefristung nach § 14 II Nr. 1 TzBefrG denkbar. Würde sich der ArbG allerdings vorbehalten haben, Reinigungsleistungen auch während der Schulferien im Bedarfsfall abzufordern, wäre die Ruhensvereinbarung nach § 307 BGB unangemessen, weil sie die Arbeitspflicht des AN bzw. ihr Ruhen einseitig dem ArbG überantwortet und damit gegen wesentliche Grundgedanken der in § 615 BGB getroffenen Regelung verstößt (vgl. BGH v.9.7.2008 – 5 AZR 810/07 – in NZA 2008, 1408). © Professor Dr. Hunscha 159 Dezember 2015 Nach § 11 IV 2 AÜG darf das Recht des Leih-AN auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers nicht aufgehoben oder beschränkt werden (unten § 43 II. 2.). © Professor Dr. Hunscha 160 Dezember 2015 § 20 Lohn ohne Arbeit während eines Streiks? I. Das Arbeitskampfrisiko Die Beeinträchtigung eines Betriebs durch Umstände, die auf Streikmaßnahmen der AN beruhen, befreit den ArbG nicht nur von der Lohnzahlungspflicht gegenüber den Streikenden (nachfolgend II.), sondern entgegen § 615 BGB auch gegenüber den am Streik nicht beteiligten, arbeitswilligen AN, sofern er sie wegen des Streiks nicht mehr sinnvoll beschäftigen kann (nachfolgend III.). An die Stelle des den ArbG in Ansehung seiner Lohnzahlungspflicht belastenden Betriebsrisikos (oben § 1 IV. sowie § 19 I./II.) tritt das Arbeitskampfrisiko, das sich auf ArbG und AN angemessen verteilt, um ein annähernd ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen den kämpfenden Parteien zu gewährleisten (Kampfparität): Stillstand der Produktion – Lohnverlust (vgl. oben § 5 III. 1.). II. Die Rechtsfolgen eines Streiks für die streikenden Arbeitnehmer 1. Der rechtmäßig streikende AN (einschließlich des streikbeteiligten Außenseiters) verletzt nicht seine Arbeitspflicht, denn er darf die Arbeit niederlegen. (Zum Arbeitskampf als Instrument der Tarifautonomie und den Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines Streiks siehe oben § 5 III. 2.). Nach der Rechtsprechung führt der rechtmäßige Streik zum Ruhen der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsvertrag, also der Arbeitspflicht des AN und der Lohnzahlungspflicht des ArbG. Das Arbeitsverhältnis als solches bleibt hingegen bestehen und damit auch die daraus fließenden Nebenpflichten des AN und des ArbG. Die durch ihre Streikbeteiligung arbeitslos gewordenen AN haben nach §§ 160 II, 100 SGB III weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch auf Kurzarbeitergeld; denn der Staat darf nach §§ 160 I 1, 100 I SGB III durch die Leistung von Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld nicht in Arbeitskämpfe eingreifen. Es gilt der Grundsatz staatlicher Neutralität im Arbeitskampf zum Schutz der Tarifautonomie (oben § 5 I.). Streikende Gewerkschaftsmitglieder erhalten von ihrer Gewerkschaft ein Streikgeld nach Maßgabe der Gewerkschaftssatzung. Nach dem Urteil des BAG v.1.3.1995 – 1 AZR 786/94 – in NZA 1995, 996 muss der ArbG in dieser Zeit auch dann nicht gemäß § 2 I EFZG Feiertagslohn zahlen, wenn die Gewerkschaft den Streik während eines Feiertags aussetzt (unten § 22 II.). 2. Die Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik hingegen ist eine Verletzung des Arbeitsvertrages in Gestalt der Nichtleistung. Das Ausbleiben der Arbeitsleistung führt zur Anwendung der §§ 275 I, 326 I 1 BGB. Der Anspruch des ArbG gegen den rechtswidrig streikenden AN auf Erfüllung des Arbeitsvertrages durch Arbeitsleistung kann im Wege einer einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO geltend gemacht werden, ist nach § 888 III ZPO aber nicht vollstreckbar. Der schuldhaft handelnde AN kann wegen Vertragsverletzung nach § 280 I, III, 283 BGB sowie nach § 823 I BGB aus dem Gesichtspunkt der Verletzung des „sonstigen Rechts“ des ArbG am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (betriebsbezogener Eingriff in das Recht des ArbG auf ungestörte Nutzung seines Gewerbebetriebes) schadensersatzpflichtig werden, sofern er sich nicht auf einen unverschuldeten Rechtsirrtum berufen kann, weil er der Rechtmäßigkeit des Handelns der streikführenden Gewerkschaft vertrauen durfte. Deliktsrechtlich kann ferner die Anwendung des § 823 II BGB i.V.m. § 240 StGB (Nötigung) und § 253 StGB (Erpressung) in Betracht kommen sowie § 826 BGB. In allen Fällen einer unerlaubten Handlung gelten die für den ArbG günstigen §§ 830, 840 BGB. Weiterhin kommt nach vorausgehender Abmahnung im Wiederholungsfall © Professor Dr. Hunscha 161 Dezember 2015 eine ordentliche, ggf. eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG in Betracht. Als Rechtsbehelf gegen die streikführende Gewerkschaft kommt in der Praxis vor allem der im Wege einer einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO geltend zu machende Anspruch auf Unterlassung des Arbeitskampfes analog § 1004 I BGB i.V.m. § 823 I BGB, Art. 9 III GG in Betracht. Dieser Anspruch erfordert kein Verschulden des Anspruchsgegners und greift schon bei erstmals drohender Beeinträchtigung des Gewerbebetriebes mit einem widerrechtlichen Eingriff. Eine Haftung der streikführenden Gewerkschaft auf Schadensersatz nach § 280 I BGB (über § 31 BGB, ggf. über § 278 BGB) wegen Verletzung des Tarifvertrags kommt nur bei einem schuldhaften Verstoß gegen die Friedenspflicht aus einem laufenden Tarifvertrag in Betracht, die durch besondere tarifvertragliche Absprache bis zum Scheitern der Schlichtungsverhandlungen verlängert sein kann (oben § 5 II. 1. und III. 1.). Daneben kann der bestreikte Arbeitgeber einen deliktischen Schadensersatzanspruch aus § 823 I BGB (über § 31 BGB, ggf. nach § 831 BGB) wegen Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geltend machen. Eine ausschließlich deliktische Haftung trifft die Gewerkschaft in den anderen zur Rechtswidrigkeit des Streiks führenden Fällen (oben § 5 III. 1.). Handelt es sich um einen nicht von der Gewerkschaft geführten sog. wilden Streik, muss sie, um Haftung zu vermeiden, auf ihre Mitglieder zwecks Wiederaufnahme der Arbeit einwirken. III. Die Rechtsfolgen eines Streiks für die arbeitswilligen Arbeitnehmer 1. Die arbeitswilligen AN des durch einen rechtmäßigen Streik betroffenen Unternehmens erhalten für die Dauer des Streiks dann keinen Lohn, wenn ihre Beschäftigung dem ArbG wegen des Streiks betrieblich-technisch nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist. Dabei ist es einerlei, ob sie bei Teil- oder Schwerpunktstreiks in dem unmittelbar bestreikten Betrieb tätig sind oder in einem anderen Betrieb desselben Unternehmens, selbst wenn dieser räumlich oder fachlich einem anderen Tarifvertrag unterfällt. Der Grund dafür, dass § 615 BGB in dieser Situation keine Anwendung findet, liegt bei vordergründiger Betrachtung darin, dass die streikbedingte Störung der Sphäre der Arbeitnehmerschaft entstammt. Es scheint so, als würde den arbeitswilligen AN der Lohn als eine Art von Solidaritätsopfer vorenthalten. Dahinter stehen jedoch spezifisch arbeitskampfrechtliche Überlegungen, die maßgeblich auf die Gesichtspunkte der Partizipation und Parität abstellen. Der Partizipationsgedanke stellt darauf ab, dass auch die arbeitswilligen AN des kampfbetroffenen Unternehmens an den Ergebnissen des erkämpften Tarifvertrages teilhaben, wenn und weil der ArbG zur Vermeidung von Unfrieden innerhalb der Belegschaft und mit dem Ziel, die nichtorganisierten AN seines Unternehmens nicht wegen §§ 3 I, 4 I TVG in die Organisiertheit zu treiben, den erkämpften Tarifvertrag auf alle seine AN gleichermaßen anwendet (oben § 5 II. 2). Wer aber in den Genuss der Vorteile des Arbeitskampfes kommt, soll auch dessen Nachteile mittragen müssen. Weitaus gewichtiger ist jedoch der Paritätsgedanke. Da Arbeitskämpfe den Zweck haben, die Voraussetzungen für den Abschluss von Tarifverträgen zu schaffen, darf die Rechtsordnung keiner Seite so starke Kampfmittel zur Verfügung stellen, dass dem sozialen Gegenspieler keine gleichwertige Verhandlungschance bleibt. Entscheidend ist dabei der Druck, der durch die beiderseitigen Kampffolgen ausgeübt wird. Bliebe dem ArbG in dieser Situation zusätzlich zum Produktionsausfall und den weiterlaufenden Gemeinkosten die Vergütungspflicht für seine arbeitswilligen AN aufgebürdet, wäre das Gleichgewicht der Arbeitskampfgegner (Kampfparität, Waffengleichheit) gestört. Angesichts der modernen Minimax-Strategie der Gewerkschaften, mit wenigen AN Teil- oder Schwerpunktstreiks in Schlüsselstellungen zu führen, würde der ArbG mit dem Lohn für alle Anderen faktisch den gegen ihn gerichteten Streik mitfinanzieren. Das gilt vor allem für das unmittelbar bestreikte Unternehmen. © Professor Dr. Hunscha 162 Dezember 2015 Diese Sicht der Dinge wird durch die Anordnungen des § 160 III 1 Nr. 1 und des § 100 SGB III bestätigt, wonach der Anspruch des AN auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld ruht, wenn er durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, in einem Betrieb arbeitslos geworden ist, der im räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages liegt. Vor diesem Hintergrund eröffnet die Rechtsprechung des BAG v.31.1.1995 – 1 AZR 142/94 – in NZA 1995, 959 dem ArbG die Möglichkeit, im räumlichen und gegenständlichen Rahmen des Streikaufrufs der Gewerkschaft eine Stilllegung des hiernach unmittelbar bestreikten Betriebs oder Betriebsteils anzuordnen, ohne den Eintritt der streikbedingten Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Beschäftigung abwarten zu müssen. Der ArbG soll sich vielmehr dem Streikaufruf beugen und durch sofortige Einstellung der Beschäftigung die Situation vorwegnehmen dürfen, die durch den Streik herbeigeführt werden soll, nämlich die Lahmlegung eines bestimmten Betriebs oder Betriebsteils des umkämpften Unternehmens. Die Stilllegung führt zu einem Ruhen der gegenseitigen Hauptleistungspflichten auch der arbeitswilligen AN des unmittelbar bestreikten Betriebs oder Betriebsteils des umkämpften Unternehmens. In nicht unmittelbar bestreikten weiteren Betriebsstätten des umkämpften Unternehmens bleibt es hingegen bei der eingangs getroffenen Feststellung, dass die dort tätigen AN erst bei streikbedingt eingetretener Beschäftigungsunmöglichkeit oder -unzumutbarkeitarbeitslos werden können. 2. Im Falle eines rechtswidrigen Streiks behalten die arbeitswilligen AN ihren Lohnanspruch, sofern es dem ArbG möglich und zumutbar ist, die eingetretene Betriebsstörung mit den ihm gegen die Störer zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln zu bewältigen. So etwa bei einem mangels gewerkschaftlicher Führung sog. wilden Streik von Belegschaftsmitgliedern, dessen er sich schon im Wege der Abmahnung unter Androhung der fristlosen Kündigung bei gleichzeitiger Einstellung der Lohnzahlung erwehren kann. Führt die Gewerkschaft einen rechtswidrigen Streik z.B. unter Verletzung der Friedenspflicht, muss der ArbG versuchen, seinen Anspruch auf Unterlassung der Kampfmaßnahme gegen die Gewerkschaft im gerichtlichen Schnellverfahren der einstweiligen Verfügung durchzusetzen. IV. Die Fernwirkungen eines Streiks Unternehmen, die nicht unmittelbar bestreikt sind, von den Fernwirkungen eines Streiks aber derart betroffen werden, dass ihnen die Produktion faktisch unmöglich oder nicht mehr zumutbar ist (z.B. stockt die Produktion infolge des Streiks beim Zulieferer oder es stockt der Absatz des Zulieferers infolge des Streiks beim Abnehmer), sind nach der Rechtsprechung des BAG von der Lohnzahlungspflicht befreit, wenn dies der Partizipationsgedanke rechtfertigt, aber auch aus dem Paritätsgedanken heraus, nach welchem es in dieser Situation darauf ankommt, ob die Belastung des mittelbar kampfbetroffenen ArbG mit der Lohnzahlungspflicht das Kräftegleichgewicht zwischen dem unmittelbar kampfbetroffenen ArbG und der kampfführenden Gewerkschaft durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ zu Lasten des Bestreikten verschiebt (dazu nachfolgend unter 3.). Die Möglichkeit, wie den unmittelbar, so auch den mittelbar streikbetroffenen Betrieb einfach stillzulegen, ist dem ArbG hingegen verwehrt. 1. Liegt das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen im räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages, greift schon der Partizipationsgedan- © Professor Dr. Hunscha 163 Dezember 2015 ke, weil davon auszugehen ist, dass das Ergebnis des Arbeitskampfes auch seinen AN zugute kommt. Hier gelten ferner die §§ 160 III 1 Nr. 1, 100 SGB III. 2. Liegt das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen außerhalb des räumlichen, aber innerhalb des fachlichen Geltungsbereichs (Branche) des umkämpften Tarifvertrages, greift der Partizipationsgedanke nur dann, wenn in dem räumlichen Geltungsbereich, dem das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen angehört, auch schon „eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des umkämpften Tarifvertrages nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen, und das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrages im Wesentlichen übernommen wird“. So der Wortlaut des § 160 III 1 Nr. 2 SGB III, der unter diesen Voraussetzungen das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und damit über § 100 SGB III auch des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld anordnet. Man spricht hier vom Fall der Tarifführerschaft des unmittelbar bestreikten Unternehmens auf Grund koalitionspolitischer Verbindung zum mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen durch Mitgliedschaft im gleichen Arbeitgeber-(Spitzen-)Verband. Ob beide Unternehmen derselben Gewerkschaft gegenüberstehen, ist gleichgültig. 3. In den vorstehend unter 1. und 2. beschriebenen Fällen kommt aber auch der Paritätsgedanke zum Tragen. Die durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ hervorgerufene Beeinflussung des Arbeitskampfes zu Lasten des unmittelbar Bestreikten wird von der Rechtsprechung des BAG in der konzernbedingten wirtschaftlichen Abhängigkeit des unmittelbar Bestreikten von dem oder den mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen gesehen. • • Soweit Lohnzahlungen, die Konzernmitglieder als mittelbar Kampfbetroffene leisten müssen, den ganzen Konzern schwächen, wird das unmittelbar bestreikte Unternehmen dadurch zusätzlich getroffen. Es ist davon auszugehen, dass die mittelbar kampfbetroffenen Konzernmitglieder, zu denen auch die Konzernmutter gehört, wenn sie nicht gerade das unmittelbar bestreikte Unternehmen ist, zur Vermeidung schädigender Fernwirkungen des Streiks auf das unmittelbar bestreikte Unternehmen Druck ausüben, sich im Konzerninteresse mit der streikführenden Gewerkschaft schnell auf einen neuen Tarifvertrag zu einigen, auch wenn es dem Eigeninteresse des unmittelbar Bestreikten zuwiderläuft. 4. Die vorstehend unter 3. beschriebene Verletzung des Paritätsgedankens ist aber nicht auf die vorstehend unter 1. und 2. behandelten Fälle beschränkt. Angesichts häufig anzutreffender Mischkonzerne und ferner der Tatsache zunehmenden Vernetzung und Abhängigkeiten der Unternehmen auch außerhalb von Konzernbindung, dürfte die erwähnte Beeinflussung der Kampfparität durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ ein allgemeines Phänomen sein und damit auch dort sich auswirken, wo das bzw. die mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen nicht nur außerhalb des räumlich, sondern auch außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrages liegen. Man denke z.B. an einen Streik in Versorgungsbetrieben wie der Bahn oder der Energiewirtschaft. Das kommt ja schon einem Generalstreik gleich. Die mittelbar streikbetroffenen ArbG dürften auch in diesen Fällen unter der Voraussetzung faktisch unmöglich gewordener oder nicht mehr zumutbarer Produktion berechtigt sein, die Lohnzahlungen einzustellen. Im Unterschied zu den vorstehend unter 1. und 2. beschriebenen Situationen gelten hier die Verbote der §§ 160 III, 100 SGB III allerdings nicht. Vielmehr stellt § 160 I 2 SGB III klar, dass kein verbotener staatlicher Eingriff in den Arbeitskampf vorliegt, „wenn © Professor Dr. Hunscha 164 Dezember 2015 Arbeitslosengeld Arbeitslosen geleistet wird, die zuletzt in einem Betrieb beschäftigt waren, der nicht dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zuzuordnen ist“. Wenn aber diese Bestimmung für Betriebe außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrages die staatliche Verpflichtung zur Gewährung von Arbeitslosengeld aufrechterhält, geht sie offensichtlich vom Wegfall des Lohnanspruchs aus! 5. Leidet die Produktion eines inländischen Unternehmens unter den Fernwirkungen eines ausländischen Arbeitskampfs, ist diese Belastung nach bisheriger Rechtsauffassung Ausdruck des ausschließlich den ArbG treffenden Betriebs- und Wirtschaftsrisikos. © Professor Dr. Hunscha 165 Dezember 2015 § 21 Lohn ohne Arbeit nach § 616 BGB I. Der Grundsatz Leistet der AN keine Arbeit mit der Rechtsfolge des § 275 I BGB, so bleibt ihm nach § 616 Satz 1 BGB entgegen § 326 I 1 BGB der Anspruch auf die Vergütung unter der Voraussetzung erhalten, „dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird.“ § 616 Satz 1 BGB wird zum Teil verdrängt durch spezialgesetzliche Vorschriften. Für Auszubildende (§§ 1 II, 19 BBiG) gilt anstelle von § 616 BGB der § 19 I 1 Nr. 2 lit. b BBiG. Im Fall der Erkrankung des AN (auch ein „in seiner Person liegender Grund“) wird § 616 BGB durch die Entgeltfortzahlung nach den §§ 3 ff. EFZG verdrängt. Nur für die Erkrankung von Dienstverpflichteten, die keine AN sind, wie z.B. freie Mitarbeiter, arbeitnehmerähnliche Personen und Organmitglieder, etwa der Geschäftsführer einer GmbH, bleibt es bei der Anwendung des § 616 BGB. Für den Mutterschutz gilt das MuSchG. II. Die in der Person des AN liegende Verhinderung Die Arbeitsverhinderung muss ihren Grund in den persönlichen Verhältnissen des AN haben. Sie darf nicht an allgemeinen Leistungshindernissen liegen, wie etwa Verkehrshindernissen durch Stau, Ausfall von Verkehrsmitteln, Demonstrationen, Naturereignissen, Fahrverboten u.Ä. Bei dem persönlichen Leistungshindernis handelt es sich entweder um ein Ereignis, das dem AN keine Wahl lässt, so dass ihm die Arbeitsleistung tatsächlich unmöglich ist, wie z.B. im Fall der Entführung des AN oder seiner vorläufige Festnahme. Zum anderen kann es sich um ein Ereignis handeln, dessen Überwindung dem AN unzumutbar ist, so dass er nach § 275 III BGB die Leistung verweigern kann. Die hierbei erforderliche Abwägung zwischen den Interessen des AN und denen des ArbG muss ergeben, dass die vertragsgemäße Leistungserbringung für den AN in außergewöhnlichem Maße belastend wäre. Überschätzt der AN seine Zwangslage, findet § 616 BGB mangels Unzumutbarkeit keine Anwendung: Der AN müsste vielmehr versuchen, vom ArbG die Zustimmung zu einer vorübergehenden Freistellung zu erlangen, regelmäßig unbezahlt oder unter in Anspruchnahme von Urlaub. Fälle der Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung sind z.B. Arztbesuche, die sich nicht außerhalb der Arbeitszeit einrichten lassen; Pflege erkrankter Familienangehöriger und Lebenspartner; besondere Familienereignisse, wie etwa die Eheschließung, Niederkunft der Ehefrau, Todesfälle und Begräbnisse naher Angehöriger; persönliche Unglücksfälle, wie etwa Brand oder Einbruch, die eigene Autopanne oder die Beteiligung an einem Verkehrsunfall (das unerlaubte Entfernen vom Unfallort ist nach § 142 StGB strafbar!); die gerichtliche Vorladung als Partei, als Angeklagter oder als Zeuge; der Einsatz bei der Freiwilligen Feuerwehr oder als Schöffe; der Umzug. Ist der Termin des persönlichen Hindernisses disponibel, muss der AN zeitliche Wünsche des ArbG berücksichtigen. Ansonsten reicht die rechtzeitige Benachrichtigung des ArbG über den Eintritt des Hindernisses aus. Anders als § 275 III BGB gibt § 2 I PflegeZG dem AN ein bis zu zehn Tagen währendes Leistungsverweigerungsrecht ohne Abwägungserfordernis, „um für einen pflegbedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen.“ Bei Erkrankung des Kindes gewährt § 45 SGB V dem AN unter strengen Vorausset- © Professor Dr. Hunscha 166 Dezember 2015 zungen zeitlich begrenzte Ansprüche auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitsleistung und auf Krankengeld. III. Die Verhinderung des AN ohne sein Verschulden Die Pflicht des ArbG zur Fortzahlung der Vergütung tritt nur ein, wenn den AN an dem Umstand, der zur Arbeitsbehinderung führt, kein Verschulden trifft. Das Verschulden des AN im Sinne des § 616 S.1 BGB ist aber (genauso wie im Fall des § 3 I 1 EFZG) als ein „Verschulden gegen sich selbst“ zu verstehen, durch das der AN gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eignen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt. Es genügt also nicht leichte Fahrlässigkeit, sondern erfordert eine vorsätzliche oder „besonders“ grob fahrlässige Herbeiführung des Verhinderungsgrundes. Beispiel: Unfallbeteiligung unter Alkoholeinfluss. IV. Die Verhinderung des AN für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit Verhinderung für eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“? Mangels gesetzlicher Vorgaben besteht Rechtsunsicherheit. Die h.M. fordert eine ereignisbezogene Betrachtungsweise, insbesondere nach der Art und Schwere des Verhinderungsgrundes, will aber gleichzeitig die Dauer des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt wissen. Ab einer Beschäftigung von einem Jahr sollen höchstens zwei Wochen in Betracht kommen. Demgemäß soll auch bei der Erkrankung freier Dienstverpflichteter nicht die Sechswochenfrist des § 3 I 1 EFZG gelten. Die jeweils maßgebenden Erheblichkeitsgrenzen werden häufig durch Tarifvertrag festgelegt. Überschreitet die Arbeitsverhinderung die Erheblichkeitsgrenze, entfällt der gesamte Vergütungsanspruch. Wenn sich der ausländische AN angesichts der ihm in seiner Heimat drohenden Bestrafung dafür entscheidet, dem ausländischen Wehrdienst Folge zu leisten, ist er zwar an der Arbeitsleistung persönlich verhindert, unterfällt jedoch nicht der Anwendung des § 616 BGB, wenn der Wehrdienst die im Einzelfall noch tragbare zeitliche Grenze überschreitet. V. Die Abdingbarkeit der Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB § 616 BGB ist durch Individualvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag abdingbar; beim Vorliegen eines Formularvertrages unter Beachtung von § 305c BGB und § 307 I 1, II Nr. 1 BGB. Auf diese Weise können die Fälle und Zeiträume der Entgeltfortzahlung beschränkt werden. Sie kann aber auch völlig ausgeschlossen werden. Die Klausel hierfür lautet regelmäßig: „Bezahlt wird nur die tatsächliche geleistete Arbeit“. Hingegen kann der Anspruch des AN auf eine (dann eben unbezahlte) Freistellung von der Arbeit nicht abbedungen werden. © Professor Dr. Hunscha 167 Dezember 2015 VI. Freizeit zur Stellensuche nach § 629 BGB § 616 S. 1 BGB findet auch im Fall des § 629 BGB Anwendung. Diese Bestimmung gibt dem AN einen Anspruch auf angemessene Freizeitgewährung zum Zweck der Stellungssuche nach der Kündigung. Da die Freizeitgewährung in diesem Fall in der Regel keinen Aufschub duldet, wird man dem AN ausnahmsweise sogar ein Recht zur Selbstbeurlaubung zugestehen müssen. Die Sollvorschrift des § 2 II Satz 2 Nr. 3 SGB III unterstreicht die Bedeutung des § 629 BGB. Eine Regelung über die Zahlung der Vergütung während der Freistellung trifft § 629 BGB nicht. Sie folgt vielmehr aus § 616 S. 1 BGB „für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“. Wegen der Abdingbarkeit des § 616 BGB kann der Anspruch des AN auf allerdings entfallen (siehe vorstehend V.), das Recht des AN auf Freizeitgewährung hingegen nicht, da § 629 BGB unabdingbar ist, © Professor Dr. Hunscha 168 Dezember 2015 § 22 Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz I. Vorbemerkung Das EFZG regelt nach seinem § 1 „die Zahlung des Arbeitsentgelts an gesetzlichen Feiertagen und die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall des Arbeitnehmers…“. Leistet also der AN keine Arbeit mit der Rechtsfolge des § 275 I BGB, weil die Arbeit wegen eines gesetzlichen Feiertags ausfällt oder er ohne sein Verschulden arbeitsunfähig krank ist, hat er entgegen § 326 I 1 BGB nach Maßgabe der §§ 2 ff. EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Nach § 12 EFZG kann von diesen Vorschriften mit Ausnahme des § 4 IV EFZG nicht zu Ungunsten des AN abgewichen werden (einseitig zwingendes Gesetzesrecht). II. Die Entgeltfortzahlung an Feiertagen Nach § 9 I ArbZG besteht an gesetzlichen Feiertagen im Grundsatz ein Beschäftigungsverbot. Ausnahmen hiervon enthalten die §§ 10 ff. ArbZG. Abgesehen vom durch Bundesgesetz bestimmten 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, ist die Festlegung von Feiertagen eine Angelegenheit der einzelnen Bundesländer. Um zu verhindern, dass gesetzliche Feiertage das Entgelt der AN mindern, bestimmt § 2 I EFZG, dass der ArbG dem AN für die „infolge eines gesetzlichen Feiertages“ ausgefallene Arbeitszeit „das Arbeitsentgelt zu zahlen (hat), das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte.“ Wer allerdings „am letzten Arbeitstag vor oder am ersten Arbeitstag nach Feiertagen unentschuldigt der Arbeit“ fernbleibt, hat nach § 2 III EFZG keinen Anspruch auf Feiertagslohn. Das soll der eigenmächtigen Erweiterung der Freizeit entgegenwirken. Der Feiertag muss die alleinige Ursache für den Arbeitsausfall gewesen sein. Hätte der AN an diesem Tag sowieso nicht gearbeitet, z.B. weil er teilzeitbeschäftigt ist, oder wäre die Arbeit z.B. infolge eines Arbeitskampfes ausgefallen, besteht kein Anspruch auf Feiertagslohn; während des Arbeitskampfes selbst dann nicht, wenn der Streik an dem Feiertag ausgesetzt wird (BAG v. 1.3.2995 - 1 AZR 786/94 - in NZA 1995, 996). Es gibt allerdings Grenzfälle, in denen das Gesetz sich für den Feiertagslohn entscheidet. Das gilt zum einen nach § 2 II EFZG für den gleichzeitigen Arbeitsausfall infolge Kurzarbeit, zum anderen nach § 4 II EFZG für den gleichzeitigen Arbeitsausfall infolge einer Erkrankung des AN. Liegt ferner der Feiertag im Erholungsurlaub des AN, wird er nach § 3 II BUrlG nicht auf den Urlaub angerechnet, so dass es deswegen beim Feiertagslohn bleibt. III. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall 1. Die Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung Nach § 3 EFZG hat der vollzeit- wie teilzeitbeschäftigte AN im Krankheitsfall gegen den ArbG den Anspruch auf Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: • Die schon vierwöchige (= 28 Tage) ununterbrochene Dauer des Arbeitsverhältnisses; © Professor Dr. Hunscha 169 Dezember 2015 Die Wartezeit des § 3 III EFZG beginnt mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme. Der Fristlauf berechnet sich nach §§ 187 II, 188 II Hs. 2 BGB, z.B. von Mittwoch, den 5. 1. 2011, bis Dienstag, den 1. 2. 2011, so dass am Mittwoch, den 2. 2. 2011 der Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt; jetzt auch erst für den bereits zuvor arbeitsunfähig erkrankten AN. • Ein noch bestehendes Arbeitsverhältnis; Nach § 8 I EFZG bleibt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung allerdings dann erhalten, wenn der ArbG das Arbeitsverhältnis aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit kündigt oder wenn der AN es nach § 626 BGB aus einem vom ArbG zu vertretenden Umstand fristlos beendet. Endet das Arbeitsverhältnis gemäß § 8 II EFZG hingegen nach Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vor Ablauf der Sechs-Wochen-Frist, ohne dass es einer Kündigung bedarf, z.B. weil es befristet ist oder infolge einer Kündigung aus anderen als den in Abs. 1 bezeichneten Gründen, so endet der Anspruch mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses. • Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des AN; Krankheit ist ein regelwidriger Gesundheitszustand, der einer Heilbehandlung bedarf. Er führt erst dann zur Arbeitsunfähigkeit, wenn der AN infolge der Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen oder sie (nach objektiven medizinischen Kriterien) nicht ausüben sollte, weil die Weiterarbeit seine Heilung beeinträchtigt oder andere gefährdet. Ist der AN, der sich z.B. den Fuß gebrochen hat, nur nicht in der Lage, den Arbeitsplatz mit seinem Pkw, öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß zu erreichen, wohl aber fähig, seine ohnedies oder ihm vorübergehend zugewiesene sitzende Tätigkeit auszuüben, kann er im Einzelfall verpflichtet sein, für ein geeignetes Transportmittel zu sorgen. Ob der ArbG dann für dessen Kosten einzustehen hat, ist umstritten, dürfte aber analog § 670 BGB bejaht werden können. Die Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen ist von der Arbeitsrechtsprechung als Krankheit anerkannt. Keine Krankheit im Sinne des EFZG ist das altersbedingte Nachlassen der körperlichen oder geistigen Kräfte. Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des AN muss die alleinige Ursache für das Ausbleiben seiner Arbeitsleistung sein. Der Fortzahlungsanspruch entfällt, wenn der AN auch ohne die Erkrankung nicht gearbeitet hätte, z.B. während eines Arbeitskampfes, einerlei ob er am Streik teilnimmt oder der Betrieb infolge des Streiks stillliegt. Für die durch Kurzarbeit ausfallende Arbeitszeit erhält der AN nicht Entgeltfortzahlung, sondern Krankengeld in Höhe des Kurzarbeitergeldes, für die verbleibende Arbeitszeit Entgeltfortzahlung, bei Kurzarbeit Null nur Krankengeld. Erkrankt ein AN während des Erholungsurlaubs, gilt die Sonderregelung des § 9 BUrlG, wonach „die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet (werden)“. Demgegenüber führt die Erkrankung des AN während der Freizeit, die ihm zum Ausgleich von Überstunden gewährt wird, nicht zu einer Nachgewährung von Freizeit. • Kein Verschulden des AN am Eintritt der Arbeitsunfähigkeit; Das Verschulden im Sinne des § 3 EFZG ist (genauso wie im Fall des § 616 BGB; oben § 21 III.) ein „Verschulden gegen sich selbst“, durch das der AN gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartendes Verhalten verstößt. Es genügt also nicht leichte Fahrlässigkeit, sondern erfordert die vorsätzliche oder „besonders“ grob fahrlässige Herbeiführung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Geläufige Beispiele sind Verletzungen durch alkoholbedingte KfzUnfälle, wegen Missachtung der Anschnallpflicht oder von Arbeitsschutzvorschriften. Die auf einer Suchterkrankung beruhende Arbeitsunfähigkeit wird nicht mehr als selbstverschuldet angesehen; auch nicht der Suizidversuch. Verletzungen aufgrund sportlicher Aktivitäten sind nur dann selbstverschuldet, wenn der AN in grober Weise gegen anerkannte Sportregeln verstoßen oder sich krass überfordert hat. 2. Dauer und Höhe der Entgeltfortzahlung Nach § 3 I 1 EFZG besteht für jede einzelne Krankheit ein Anspruch des AN auf Entgeltfortzahlung „für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen“. Danach erhält der AN von der Krankenkasse Krankengeld. © Professor Dr. Hunscha 170 Dezember 2015 Beruhen wiederholte Erkrankungen allerdings auf demselben Grundleiden, bleibt es bei einer Entgeltfortzahlung von insgesamt nicht mehr als sechs Wochen, es sei denn, dass der AN nach § 3 I 2 EFZG entweder (Nr.1) „vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war“ oder (Nr.2) „seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist“. Nach dem Ablauf dieser Frist steht dem AN auch wegen der Fortsetzungserkrankung wieder Entgeltfortzahlung für bis zu sechs Wochen zu. Da der ArbG die Krankheitsursache im Regelfall nicht kennt, ist er normalerweise nicht in der Lage, das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung zu beweisen, um sich auf § 3 I 2 EFZG berufen zu können. Um ihm diesen Beweis zu erleichtern, muss nach neuerer Rechtsprechung der AN, der innerhalb der Zeiträume dieser Vorschrift länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank ist, auf Verlangen des ArbG darlegen, dass es sich nicht um eine Fortsetzungserkrankung handelt und (nur) insoweit auch seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinden (Mitteilungen über die Tätigkeit des BAG im Jahre 2005 in NZA 2005, 1328 unter III. 1. e unter Bezugnahme auf BAG v. 13.7.2005 - 5 AZR). Nach § 4 EFZG beträgt die Höhe der Entgeltfortzahlung 100 % des dem AN regelmäßig zustehenden Brutto-Arbeitsentgelts einschließlich aller Zusatzentgelte und Sachbezüge, wie z.B. eines Firmenwagens, nicht jedoch das für vorübergehend angeordnete Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt. Das Entgeltausfallprinzip gilt auch in Ansehung von Leistungslohn (oben § 16 II. 2.). Arbeitet der erkrankte AN im Akkord, kann zum Vergleich die Leistung ebenso beschäftigter Arbeitskollegen herangezogen oder auf die Leistung des Erkrankten unmittelbar vor der Erkrankung oder im Durchschnitt der letzten Wochen abgestellt werden (ErfK/Dörner § 4 EFZG Rn. 14 f.). Nach § 47 SGB V beträgt das von der Krankenkasse gezahlte Krankengeld 70 % des letzten vollen monatlichen Bruttolohns, aber höchstens 90 % des letzten vollen monatlichen Nettolohns und ist grundsätzlich zur Renten-, Arbeitslosen und Pflegeversicherung heranzuziehen, nicht aber zur Krankenversicherung. Effektiv beläuft sich das NettoKrankengeld auf etwa 75 % des regelmäßigen Nettoverdienstes. 3. Anzeige- und Nachweispflichten a) Nach § 5 I 1 EFZG ist der AN verpflichtet, dem ArbG seine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich (= ohne schuldhaftes Zögern, § 121 BGB) anzuzeigen, damit dieser sofort disponieren kann. Im Arbeitsrecht bedeutet dies, dass die Mitteilung dem ArbG im Regelfall am ersten Tag der Erkrankung zugegangen sein muss, im Allgemeinen telefonisch, auch per Telefax oder E-mail, SMS, ggf. durch persönliche Ablieferung. Das gilt auch für Teilzeit-AN, die an diesem Tag nicht gearbeitet hätten. Eine briefliche Mitteilung, die erst am nächsten Tag zugeht, gilt als verspätet! Adressat der Anzeige ist der ArbG, ein Mitarbeiter der Personalabteilung, ein sonst zur Entgegennahme solcher Erklärungen autorisierter Mitarbeiter, in Zweifelsfällen ein Vorgesetzter. Beim Einsatz eines Arbeitskollegen als Boten trägt der AN das Risiko ordentlicher Übermittlung. b) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage (also einschließlich eines etwa arbeitsfreien Sonnabend, Sonntag oder Feiertag), hat der AN nach § 5 I 2 EFZG dafür zu sorgen, dass dem ArbG eine ärztliche Bescheinigung als Nachweis über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauf folgenden Arbeitstag (also an dem vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit) vorliegt (nicht etwa erst zugesandt wird!), sofern der AN an diesem Tag arbeiten müsste (maßgebend ist die individuelle Arbeitsverpflichtung). Beginnt die Arbeitsunfähigkeit am Donnerstag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Montag vorliegen, wenn für den AN nicht schon der Sonntag, sondern erst der Montag ein Arbeitstag ist. © Professor Dr. Hunscha 171 Dezember 2015 Beginnt die Arbeitunfähigkeit am Freitag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Montag vorliegen, wenn für den AN der Montag ein Arbeitstag ist. Beginnt die Arbeitsunfähigkeit am Samstag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Dienstag vorliegen, wenn der AN montags bis freitags zu arbeiten hat; in diesem Fall allerdings wird der am arbeitsfreien Wochenende erkrankte AN seine Arbeitsunfähigkeit zweckmäßigerweise erst am Montag mitteilen, so dass die ggf. erforderliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung spätestens am Donnerstag vorzulegen ist. Nach § 5 I 3 EFZG ist der ArbG berechtigt, den Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen, auch schon am ersten Tag der Erkrankung. In einem mitbestimmten Betrieb kann der ArbG den einzelnen AN ohne Beteiligung des Betriebsrates allein aufgrund seines Weisungsrechts (unter Beachtung von § 315 I BGB) dazu auffordern; für eine generelle Anordnung bedarf es wegen § 87 I Nr.1 BetrVG einer Betriebsvereinbarung. Eine entsprechende Regelung durch Tarifvertrag schließt ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates wegen des Tarifvorrangs des § 87 I Einleitungssatz BetrVG aus. Häufig enthält schon der Arbeitsvertrag eine entsprechende Klausel, ohne dass ein etwa bestehender Betriebsrat sie aus dem Grunde des § 87 I Nr.1 BetrVG beanstanden darf. § 99 II Nr. 1 BetrVG gibt ihm kein Recht zur Inhaltskontrolle einzelner Bestimmungen des Arbeitsvertrags (oben § 11 III.). Eine Übergabe des Attestes am nächsten Tag ist unbedenklich, sofern der erste Tag der Arbeitsunfähigkeit mit abgedeckt ist und eine Übergabe am ersten Tag weder möglich noch zumutbar war (ErfK/Dörner, § 5 EFZG Rn. 13). Um sicherzustellen, dass bereits der erste Tag krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch ärztliches Attest belegt ist, genügt zur Vermeidung von zeitbedingten Nachweisproblemen allerdings die Klausel: „Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss mit Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit innerhalb von drei Tagen dem ArbG vorgelegt werden.“ (Vgl. BAG v.1.10.1997 - 5 AZR 726/96 in NZA 1998, 396 ff.). c) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als angezeigt, ist der AN nach § 5 I 4 EFZG verpflichtet, dem ArbG die Fortdauer der Erkrankung durch Vorlage einer neuen ärztlichen Bescheinigung unverzüglich nachzuweisen. d) Hält sich der AN bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Ausland auf, im Regelfall während des Urlaubs, gilt hinsichtlich der Nachweispflicht des AN die Regelung des § 5 I EFZG, was wegen der Postlaufzeit zu Schwierigkeiten führen kann, wenn sich die ärztliche Bescheinigung dem ArbG nicht vorab telefaxen lässt. In Ansehung der Anzeigepflicht enthält § 5 II EFZG eine Erweiterung. So umfasst die Anzeigepflicht hier zum einen auch die Mitteilung des ausländischen Aufenthaltsortes (einschließlich der Telefonnummer) und ist nicht nur unverzüglich, sondern „schnellstmöglich“ zu erfüllen, also nicht brieflich (Postlaufzeit!), sondern durch Telefon, SMS, Telefax oder E-Mail. Die dadurch entstehenden Kosten hat der ArbG zu tragen. Darüber hinaus ist der gesetzlich krankenversicherte AN verpflichtet, auch seine Krankenkasse zumindest über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer „unverzüglich“ zu informieren. Bei Fortdauer Erkrankung im Ausland ist nicht nur die gesetzliche Krankenkasse, sondern (obwohl § 5 II EFZG dazu schweigt) natürlich auch der ArbG erneut unverzüglich zu informieren und diesem ferner eine neue ärztliche Bescheinigung als Nachweis zuzuleiten. e) Bei schuldhafter Verletzung seiner Anzeige- und Nachweispflicht, kann der ArbG den AN abmahnen und im Wiederholungsfall (verhaltensbedingt) ordentlich kündigen. Mehrfache Pflichtverletzungen dieser Art können zu einer fristlosen Kündigung führen. © Professor Dr. Hunscha 172 Dezember 2015 4. Forderungsübergang bei Dritthaftung Kann der AN aufgrund gesetzlicher Vorschriften von einem Dritten Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls beanspruchen, der ihm durch die Arbeitsunfähigkeit entstanden ist, z.B. aus Vertragsverletzung gemäß § 280 I BGB oder aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 I BGB, ggf. aus § 7 StVG, so geht dieser Anspruch nach § 6 I EFZG insoweit auf der ArbG über, als dieser dem AN Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall einschließlich der darauf entfallenden Beiträge zur Sozialversicherung leistet (Forderungsübergang kraft Gesetzes = cessio legis). Nach § 6 II EFZG hat der AN dem ArbG unverzüglich die zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Angaben zu machen; andernfalls der ArbG nach § 7 I Nr.2 EFZG zur Leistungsverweigerung berechtigt ist. 5. Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitgebers Nach § 7 I Nr. 1 EFZG ist der ArbG berechtigt, die Entgeltfortzahlung zu verweigern, solange der AN den Anzeige- und Nachweispflichten des § 5 EFZG schuldhaft (§ 7 II EFZG) nicht nachkommt. Das Leistungsverweigerungsrecht entfällt rückwirkend, sobald der AN seine diesbezüglichen Pflichten erfüllt. Nach § 7 I Nr. 2 EFZG steht dem ArbG ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht zu, wenn der AN den Übergang seines Schadensanspruchs gegen den Dritten schuldhaft verhindert, z.B. durch Erlassvertrag oder Vergleichsabschluss. Im Übrigen gilt das gleiche wie im Fall des § 7 I Nr.1 EFZG, solange der AN es schuldhaft unterlässt, dem ArbG die zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Angaben zu machen. IV. Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen ArbG, die regelmäßig nicht mehr als 30 AN beschäftigen, erhalten nach dem durch das Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (AAG) geregelten „U 1-Verfahren“ einen Ausgleich der Aufwendungen, die ihnen bei Krankheit ihrer AN entstehen. Nach § 1 I AAG erstatten die Krankenkassen dem ArbG 80 % der nach dem EFZG zu zahlenden Entgelte und bis zu 80 % der darauf entfallenden Arbeitgeberanteile zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Die Mittel zur Durchführung des Ausgleichs werden nach § 7 AAG durch eine Umlage der am Ausgleichsverfahren beteiligten ArbG aufgebracht. Ihre Höhe richtet sich nach der Satzung der Krankenkasse. © Professor Dr. Hunscha 173 Dezember 2015 § 23 Entgeltfortzahlung im Mutterschutz I. Vorbemerkung Begleitend zum Kündigungsverbot des § 9 MuSchG (unten § 29 II. 1) kümmert sich der Gesetzgeber zum einen um den Schutz der Gesundheit werdender oder stillender Mütter vor den mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren durch die in § 2 MuSchG enthaltenen Vorschriften zur Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsabläufen sowie durch die in den §§ 3 bis 8 MuSchG aufgeführten Beschäftigungsverbote. Darüber hinaus geht es dem Gesetzgeber darum sicherzustellen, dass werdende oder stillende Mütter, die ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nicht ausüben können oder dürfen, Schutz vor finanziellen Nachteilen erhalten. II. Entgeltfortzahlung bei allgemeinen und besonderen Beschäftigungsverboten Nach § 13 I MuSchG erhalten Frauen, die einer gesetzlichen Krankenkasse angehören, für die Zeit der Schutzfristen der allgemeinen Beschäftigungsverbote des § 3 II und des § 6 I MuSchG (grundsätzlich 6 Wochen vor der Geburt und 8 Wochen nach der Geburt) sowie für den Entbindungstag nach § 200 RVO (oder nach § 29 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte) ein Mutterschaftsgeld in Höhe von 13 € pro Tag. In Höhe der Differenz zum durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsentgelt einschließlich aller Zusatzleistungen und Sachbezüge, wie z.B. eines Firmenwagens, nicht jedoch das für vorübergehend angeordnete Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt leistet der ArbG nach § 14 MuSchG einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld. Darf die Frau wegen der besonderen Beschäftigungsverbote der §§ 3 I, 4 bis 6 II und III sowie 8 I, III oder V MuSchG nicht beschäftigt werden, hat der ArbG nach § 11 MuSchG das gesamte durchschnittliche Arbeitsentgelt allein fortzuzahlen. Der Entgeltschutz der Schwangeren setzt voraus, dass ihre Arbeitsleistung allein wegen eines Beschäftigungsverbots entfällt. Weigert sie sich, vorübergehend eine nicht verbotene und zumutbare Ersatztätigkeit auszuüben, entfällt ihr Anspruch in entsprechender Anwendung der in § 326 II 2 BGB / § 615 S. 2 BGB enthaltenen Bestimmungen (Dütz/Thüsing Rn. 284; oben § 15 I. 4. c). III. Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen Wäre eine solche finanzielle Belastung des ArbG durch die Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin wirklich das letzte Wort, müsste befürchtet werden, dass er die Beschäftigung von Frauen einschränkt. Damit aber würden sich der Entgeltschutz des MuSchG auf Arbeitnehmerinnen faktisch diskriminierend auswirken. Das hat auch das BVerfG in seinem Beschluss v. 18.11.2003 – 1 BvR 302/96 – in NZA 2004, 22 erkannt und den Gesetzgeber veranlasst, das Aufwendungsausgleichsgesetz für Entgeltfortzahlung (AAG) zu schaffen, nach dessen § 7 alle ArbG zu einer Umlage herangezogen werden (U 2 Verfahren), aus deren Mitteln nach § 1 II AAG die Krankenkassen ihnen den nach § 14 I MuSchG gezahlten Zuschuss zum Mutterschaftsgeld sowie das nach § 11 MuSchG gezahlte Arbeitsentgelt in vollem Umfang erstatten. Die Höhe der Umlage richtet sich nach der Satzung der Krankenkasse. © Professor Dr. Hunscha 174 Dezember 2015 Für AN, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, gilt Entsprechendes nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte. Frauen, die nicht Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind, erhalten Mutterschaftsgeld zu Lasten des Bundes. Im Übrigen gilt das Vorstehende. © Professor Dr. Hunscha 175 § 24 Entgeltfortzahlung im Erholungsurlaub Dezember 2015 © Professor Dr. Hunscha 176 Dezember 2015 § 25 Die Rechtsfolgen der Nichterfüllung der Arbeitspflicht I. Grundlegendes 1. Das Erfordernis der Pflichtwidrigkeit Die Hauptpflicht des AN ist die Arbeitspflicht. Bleibt er der Arbeit fern, kann der ArbG den AN wegen Nichterfüllung seiner Arbeitspflicht auf verschiedene Weise rechtlich belangen. Nach den jeweils in Betracht kommenden gesetzlichen Vorschriften ist dafür Grundvoraussetzung, dass die Arbeitsleistung des AN pflichtwidrig (= vertragswidrig) ausgeblieben ist. Ist hingegen im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder in einem Tarifvertrag eine Klausel über die Kürzung von Sondervergütungen für Fehlzeiten vereinbart, kann sie auch Fälle erfassen, in denen die Arbeitsleistung nicht pflichtwidrig ausgeblieben ist, wie z.B. bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit (nachfolgend unter IV. 2.). Sofern dem AN trotz der Tatsache, dass er der Arbeit fernbleibt, sein Anspruch auf die Entgeltzahlung gemäß den oben unter §§ 17 III sowie 18 bis 24 aufgeführten arbeitsrechtlichen Sonderbestimmungen erhalten bleibt, entfällt schon der objektive (= äußere) Tatbestand einer Pflichtverletzung. Denn wer aus den dort genannten Gründen keine Arbeit leisten kann, leisten muss oder leisten darf, handelt nicht pflichtwidrig (= vertragswidrig). Das gleiche gilt, wenn der AN durch eine besondere Vereinbarung mit dem ArbG von der Arbeitspflicht befreit ist. 2. Objektiv pflichtwidriges Handeln Bleibt der AN der Arbeit hingegen fern, ohne sich auf eine der Sonderbestimmungen über die Entgeltfortzahlung oder eine besondere Vereinbarung mit dem ArbG berufen zu können, handelt er, zwar nicht immer schuldhaft, auf jeden Fall aber objektiv pflichtwidrig mit der Konsequenz, für die Zeit seines Fernbleibens mindestens seinen Lohnanspruch zu verlieren (nachfolgend unter II. 2.) und ggf. auf die Erfüllung seiner Arbeitspflicht (nachfolgend unter II. 1.) in Anspruch genommen zu werden; denn das sind Rechtfolgen, die ein Verschulden des Anspruchsgegners nicht voraussetzen. Beispiele: Liegt der Grund für die Arbeitsverhinderung nicht in den persönlichen Verhältnissen des AN, sondern in allgemeinen Hindernissen, die eine unbestimmte Vielzahl von Personen zugleich treffen kann, findet § 616 BGB keine Anwendung. So vor allem im Fall des Nichterscheinens bzw. Zuspätkommens des AN zur Arbeit infolge von Verkehrshindernissen durch Staus, Straßensperrungen, Demonstrationen, den Ausfall von Verkehrsmitteln, Naturereignisse wie Überschwemmungen oder Blitzeis, Fahrverbote u.ä Störfälle. Der AN trägt insoweit das Wegerisiko, das ihn Teile des Lohns kosten kann, obwohl ihn an diesen Störfällen keine Schuld trifft (oben § 19 III. Pkt. 3 und § 21 II.). § 616 BGB kann z.B. auch deswegen nicht anwendbar sein, weil die unverschuldete persönliche Verhinderung des AN die Zeitgrenze des § 616 BGB überschreitet (oben § 21 IV.). 3. Subjektiv pflichtwidriges, weil schuldhaftes Handeln Muss dem AN wegen seines Fernbleibens auch noch ein Schuldvorwurf gemacht werden (§ 276 BGB), handelt er nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv pflichtwidrig (= innerer Tatbestand der Pflichtwidrigkeit in Gestalt des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit), so dass ihn darüber hinaus weitere Konsequenzen treffen können, insbesondere eine Schadensersatzpflicht (nachfolgend unter II. 3.) © Professor Dr. Hunscha 177 Dezember 2015 Beispiele: Der AN bleibt der Arbeit unentschuldigt fern, kommt unentschuldigt zu spät, verlässt zwischendurch eigenmächtig den Arbeitsplatz oder beendigt seine Arbeit eigenmächtig vor dem Arbeitsende, nimmt oder verlängert sich eigenmächtig seinen Erholungsurlaub. Die Verantwortlichkeit für den persönlichen Verhinderungsgrund in den Fällen des § 3 EFZG und des § 616 BGB greift allerdings erst dann, wenn der AN gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt, er sich also vorsätzlich oder „besonders“ grob fahrlässig verhält (oben § 21 III. und § 22 III. 1. Pkt. 4). Beispiele: Der AN ist arbeitsunfähig krank durch eine Verletzung, die er bei einem Kfz-Unfall infolge Alkoholgenuss oder Missachtung der Anschnallpflicht erlitten hat. Der Vorwurf des Abwägungsfehlgebrauchs durch Überschätzen der zur Unzumutbarkeit führenden Zwangslage (§§ 275 III, 616 BGB) erfordert ein ungewöhnlich hohes Maß an Gedankenlosigkeit des AN. II. Die dem ArbG gegen den AN im Fall des pflichtwidrigen Ausbleibens der Arbeitsleistung nach dem Gesetz zustehenden Rechte 1. Der Anspruch auf Erfüllung der Arbeitspflicht In den Fällen, in denen der AN der Arbeit fernbleibt, weil er seine Arbeitsstelle nicht antreten will oder vorzeitig aufgibt, für eine ordentliche Kündigung aber eine lange Frist vereinbart ist – selbst für die Probezeit kann nach § 622 V 3 BGB eine mehrmonatige Kündigungsfrist vereinbart werden – und er darum fristlos kündigt, allerdings ohne sich wirklich auf einen wichtigen Grund berufen zu können, kann es für den ArbG unter Umständen von Interesse sein, gegen den AN einen Anspruch auf Erfüllung der Arbeitspflicht aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag geltend zu machen. Ansonsten wird von dem Erfüllungsanspruch kaum Gebrauch gemacht, zumal das hierauf gerichtete Urteil nach § 62 II 1 ArbGG, § 888 III ZPO nicht vollstreckbar ist: Schließlich kann der vom ArbG beauftragte Gerichtsvollzieher den zur Erfüllung verurteilten AN nicht zwangsweise dem Betrieb zuführen. Nach § 61 II 1 ArbGG kann die Erfüllungsklage allerdings mit einem Antrag auf Entschädigung verbunden werden. 2. Das Recht des ArbG, die Entgeltzahlung zu verweigern, folgt aus §§ 275 I, 326 I 1 BGB. Auf ein Verschulden des AN stellen diese Vorschriften nicht ab, doch setzt die Anwendung des § 326 I 1 BGB voraus, dass des AN weder kraft Gesetzes (oben unter §§ 17 III. sowie 18 bis 24) noch auf Grund einer besonderen Vereinbarung mit dem ArbG von seiner Arbeitspflicht befreit ist, also mindestens objektiv pflichtwidrig bzw. vertragswidrig gehandelt hat. 3. Der Anspruch des ArbG auf Schadensersatz statt der Leistung Der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Schadensersatz statt der Leistung aus § 280 I, III, 283 BGB wegen infolge der Nichtleistung endgültig ausgebliebener Arbeitsleistung. tritt neben die Möglichkeit, die Vergütung des AN einzubehalten (vorstehend unter 2.). Er setzt nach § 280 I BGB voraus, dass der AN die objektiv pflichtwidrige Nichtleistung nach § 276 BGB zu vertreten hat. Der dem ArbG durch die Nichtleistung entstandene Schaden liegt zumeist in den Vermögensnachteilen, die er durch einen Produktionsausfall oder in Gestalt der Mehrkosten erleidet, die er zur Vermeidung eines Produktionsausfalls aufwenden muss. © Professor Dr. Hunscha 178 Dezember 2015 Hat der ArbG die durch das Ausbleiben der Arbeitsleistung des vertragsbrüchigen AN drohenden Vermögensnachteile dadurch auffangen können, dass seine AN ihren Einsatz verstärkt haben und/oder er selbst die Arbeit des Vertragsbrüchigen mit übernommen hat, billigt ihm die Rechtsprechung Anspruch auf Ersatz des sog. normativen Schadens in Gestalt eines angemessenen Entgelts zu, weil es unbillig wäre, den Vertragsbrüchigen durch die Mehrarbeit anderer zu entlasten. In den Fällen, in denen der AN der Arbeit fernbleibt, weil er seine Arbeitsstelle nicht antreten oder vorzeitig aufgeben will und darum vorfristig kündigt, besteht kein Anspruch des ArbG auf Ersatz der ihm wegen der Neubesetzung entstehenden Inserats- und Vorstellungskosten, da sie ihm auch bei vertragsgemäßer Kündigung durch den AN entstanden wären (= rechtmäßiges Alternativverhalten). Die für den Fall der Schlechtleistung bei betrieblich veranlasster Tätigkeit für den AN richterrechtlich entwickelten Haftungserleichterungen (dazu unten § 27) finden im Fall der Nichtleistung keine Anwendung, auch nicht § 619a BGB. Daher muss der AN bei Nichtleistung seiner Arbeit diejenigen Umstände beweisen, die ihn entschuldigen können (§ 280 I 2 BGB). Unterliegt der AN einem Rechtsirrtum, weil er infolge fehlerhafter Einschätzung der Rechtslage eine Leistungspflicht nicht für gegeben hält, stellt die Rechtsprechung an seine Einlassung, der Irrtum sei für ihn nicht vermeidbar gewesen, so dass ihn nicht einmal leichte Fahrlässigkeit treffe, strenge Anforderungen. 4. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Nichtleistung, ggf. nach Abmahnung Als spezifisch arbeitsrechtliche Sanktion kommt im Fall des Ausbleibens der Arbeitsleistung eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG wegen Pflichtverletzung des AN in Gestalt der Nichtleistung der Arbeit in Betracht. a) Hat der AN die zur Unmöglichkeit führende Nichtleistung der Arbeit i.S.d. § 276 BGB zu vertreten, kann ihn über die Rechtsfolgen der §§ 326 I 1 und 283 BGB hinaus das Risiko treffen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Da es sich um einen Verhaltensfehler des AN handelt, ist der ArbG zunächst einmal verpflichtet, dem AN gegenüber eine Abmahnung auszusprechen (unten § 30 IV. 3.). Erst im Wiederholungsfall kann der ArbG das Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche (fristgemäße) Kündigung einfach nach § 622 BGB, bei Geltung des KSchG durch eine verhaltensbedingte Kündigung nach Maßgabe des § 1 KSchG (unten § 30 IV.) beenden. Bei einer schweren Pflichtverletzung kann den AN – unter Umständen sogar ohne vorherige Abmahnung wegen eines ähnlichen Fehlverhaltens – eine außerordentliche (fristlose) Kündigung nach § 626 I BGB treffen (unten § 33). In diesem Fall ist der AN dem ArbG nach § 628 II BGB auch zum Ersatz des durch die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schadens (vorstehend unter 3.) verpflichtet. b) Kommt der AN seiner Arbeitspflicht für eine insgesamt erhebliche Zeitdauer nicht nach, ohne dass ihn daran ein Verschulden trifft, z.B. wegen einer Langzeiterkrankung oder häufiger Kurzerkrankungen, läuft er Gefahr – unter Beachtung der vor dem Ausspruch krankheitsbedingter Kündigungen erforderlichen Fürsorgemaßnahmen des ArbG (unten § 30 III. 3.) – einfach nach § 622 BGB ordentlich gekündigt zu werden, wenn dem ArbG die Fortführung des Arbeitsverhältnisses wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist, bei Geltung des KSchG personenbedingt nach Maßgabe des von § 1 KSchG (unten § 30 III.). © Professor Dr. Hunscha 179 Dezember 2015 III. Vereinbarte Sanktionen für den Fall der Nichterfüllung der Arbeitspflicht 1. Der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Zahlung einer Vertragsstrafe Der Anspruch des ArbG gegen den AN aus §§ 339, 340 ff. BGB wegen Nichterfüllung der Arbeitspflicht, tritt neben die Möglichkeit, die Vergütung einzubehalten. Als pauschalisierte Form des Schadensersatzes statt der Leistung setzt er wie dieser voraus, dass der AN die Nichtleistung nach § 276 BGB zu vertreten hat. Insbesondere für den Fall, dass die Erfüllung der Arbeitspflicht ausbleibt, weil der AN seine Arbeitsstelle entweder nicht antritt oder vorzeitig aufgibt, ohne nach § 626 BGB einen wichtigen Grund zur Kündigung zu haben, findet sich in den vom ArbG vorformulierten Arbeitsverträgen häufig eine Vertragsstrafeklausel. Da ein Anspruch auf Erfüllung der Arbeitspflicht nicht vollstreckbar ist (vorstehend unter II. 1.), ferner ein Anspruch auf Entschädigung oder auf Schadensersatz oft am Nachweis eines konkreten Vermögensnachteils scheitert und die Entgeltverweigerung nach § 326 I 1 BGB den AN, der eine bessere Stelle gefunden hat, von seiner Entscheidung sowieso nicht abhält, hat sich die Vereinbarung eines Strafgeldes als eine im Arbeitsrecht geltende Besonderheit dafür durchgesetzt, dem ArbG einen pauschalisierten Mindestschaden zu ersetzen. Darum unterliegt die vom ArbG vorformulierte Vertragsstrafeklausel nach § 310 IV 2 Halbs. 1 BGB auch nicht dem Klauselverbot des § 309 Nr. 6 BGB. Die Vertragsstrafeklausel ist jedoch unwirksam, wenn sie den AN nach § 307 I 1 BGB unangemessen benachteiligt. Das wäre der Fall, wenn die Vertragsstrafe höher ist, als die Arbeitsvergütung, die für die Zeit zwischen dem Nichtantritt der Arbeit oder ihrer tatsächlichen vorzeitigen Beendigung und dem durch Kündigung rechtlich zulässigen Beendigungszeitpunkt zu zahlen wäre (BAG v. 18.12.2008 – 8 AZR 81/08 – in DB 2009, 2269 ff.). Bei langen Kündigungsfristen wird man jedoch von einem niedrigeren Betrag ausgehen müssen. Die h.M. hält im Regelfall eine Vertragsstrafe in Höhe eines Brutto-Monatsgehalts für angemessen. Kündigt der AN vor Arbeitsantritt, ist eine Vertragsstrafe von einem Brutto-Monatsgehalt allerdings nicht angemessen, wenn sich der AN nach § 622 III BGB von dem Vertrag rechtmäßig mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen lösen kann (BAG 4.3.2004 – 8 AZR 196/03 – in NZA 2004, 757 ff. Rn.61 ff.). Eine nachträgliche geltungserhaltende Reduktion der Vertragsstrafe auf ein halbes Brutto-Monatsgehalt für Kündigungen während der Probezeit ist unzulässig, so dass der AN wegen Unwirksamkeit der Vertragstrafeklausel überhaupt keine Vertragsstrafe schuldet, wohl noch nicht einmal bei einer späteren vorzeitigen Aufgabe des Arbeitsverhältnisses. Eine Herabsetzung der Vertragsstrafe auf das angemessene Maß nach § 343 BGB kommt nur bei verwirkten d.h. wirksam vereinbarten Vertragsstrafen in Betracht (BAG v. 4.3.2004 a.a.O. Rn.63 ff.). Unwirksam ist eine Vertragsstrafe auch wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB, wenn sie die strafbewehrte Pflichtverletzung nicht so klar benennt, dass der AN sich darauf einstellen kann. Das ist z.B. der Fall, wenn Vertragsstrafe ganz allgemein „für schuldhaft vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers“ vereinbart worden ist (BAG v. 21.4. 2005 a.a.O. Rn.31). © Professor Dr. Hunscha 180 Dezember 2015 2. Das Recht des ArbG, Sondervergütungen zu kürzen Im Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag kann für Fehlzeiten eine Vereinbarung über die Kürzung von zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gewährte Sondervergütungen, wie z.B. einer Weihnachtsgratifikation getroffen werden. Eine solche Kürzungsklausel ist in den Grenzen des § 4a EFZG auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit zulässig. Weiteres oben § 16 II. 3. c) (1). 3. Die Betriebsbuße Betriebsbußordnungen beruhen im Regelfall auf einer Betriebsvereinbarung und dienendem Zweck, das „arbeitsbegleitende Ordnungsverhalten der AN im Betrieb zu gewährleisten“ (Krause a.a.O. § 15 II. 2. e). Sie können auch in einem Tarifvertrag geregelt sein. Im Bereich der Nichterfüllung der Arbeitspflicht könnten Arbeitszeitversäumnisse wegen häufigen Zuspätkommens eine Betriebsbuße auslösen. Je nach Gewicht und Häufigkeit der Verstöße kann eine Ermahnung, ein Verweis oder eine Geldbuße unter Beteiligung des Betriebsrats aus gesprochen werden. Es muss allerdings festgestellt werden, dass die Verhängung von Betriebsbußen weitgehend unüblich geworden ist. An ihre Stelle sind in der Praxis die Abmahnung durch den ArbG getreten, die im Wiederholungsfall zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen kann (vorstehend unter III. 4.). © Professor Dr. Hunscha 181 Dezember 2015 § 26 Die Schlechtleistung des Arbeitnehmers unter besonderer Berücksichtigung seiner Haftung auf Schadensersatz I. Die Schlechtleistung des AN im Überblick 1. Pflichtverletzung durch Schlechtleistung Die Schlechtleistung bezeichnet eine Störung im Vollzug eines vertraglichen Schuldverhältnissen, die darin ihren Ausdruck findet, dass der Schuldner eine ihm hiernach obliegende Pflicht nicht ordentlich erfüllt. Für den AN als Schuldner kann diese Pflichtverletzung dazu führen, dass der ArbG ihm das Arbeitsverhältnis kündigt: Bei Geltung des KSchG ordentlich (fristgemäß) entweder personenbedingt oder verhaltensbedingt unter Beachtung von § 1 I, II KSchG, ansonsten einfach nach § 622 BGB. Im Falle grober Pflichtverletzung ist eine außerordentliche (fristlose) Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB möglich. Erleidet der ArbG durch die Schlechtleistung des AN einen Schaden, kann er ihn, schuldhaftes Fehlverhalten vorausgesetzt, darüber hinaus auf Schadensersatz neben der Leistung unmittelbar aus § 280 I BGB, ggf. aus unerlaubter Handlung sowie aufgrund von sondergesetzlichen Vorschriften in Anspruch nehmen. Der nach dem System des Allgemeinen Schuldrechts des BGB für den Fall der Schlechtleistung an erster Stelle stehende Anspruch des Gläubigers gegen den Sachschuldner auf Nacherfüllung durch Gutleistung, sein in zweiter Linie bestehendes Recht auf Rücktritt wegen nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung (§ 323 BGB) und die daneben bestehende Möglichkeit, Schadensersatz statt der endgültig ausgebliebenen Leistung verlangen zu können (§§ 280 I, III, 281 BGB), kommen hier nicht in Betracht. Auch ist der ArbG nicht berechtigt, dem AN wegen mangelhaft erbrachter Arbeitsleistung den Lohn zu kürzen. Der ArbG kann vom AN kraft seines Weisungsrechts die Beseitigung von Qualitätsmängel verlangen, doch kommt dem AN auch für die Zeit, die er zur Mangelbeseitigung benötigt, der volle Lohn zu. In den Fällen, in denen der AN dem ArbG wegen schuldhaften Verhaltens schadensersatzpflichtig ist, kann es allerdings faktisch zu einer Lohnkürzung dadurch kommen, dass der ArbG mit seinem Schadensersatzanspruch in den Grenzen des § 394 S. 1 BGB i.V.m. §§ 850 ff. ZPO gegen den Lohnanspruch des AN aufrechnet. Durch eine im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag vereinbarte Kürzungsklausel kann dem ArbG das Recht eingeräumt werden, in Fällen schuldhafter Schlechtleistung zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gewährte Sondervergütungen, wie z.B. eine Weihnachtsgratifikation, unter Beachtung der Rechtsprechungsregeln über den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend unter 2.) zu kürzen. Liegt das Fehlverhalten des AN in einem Verstoß gegen die betriebliche Ordnung (oben unter § 15 VI. 3.), kann der AN auf der Grundlage einer (nach § 87 I Nr. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtigen) Betriebsbußenordnung mit einer Betriebsbuße durch mündliche Verwarnung, schriftlichen Verweis oder Auferlegung einer Geldbuße belegt werden (gerichtsähnliches Verfahren unter paritätischer Beteiligung der Arbeitgeberseite und des Betriebsrats, arbeitsgerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar). 2. Pflichtverletzungen bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten Für die Haftung des AN auf Schadensersatz gelten besondere Regeln, wenn sich der schadenstiftende Vorfall bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit ereignet hat. Das sind diejenigen Tätigkeiten, die dem AN nach dem Arbeitsvertrag obliegen, weil sie © Professor Dr. Hunscha 182 Dezember 2015 ihm zur Ausführung übertragen worden sind oder weil er sie in Verfolgung betrieblicher Zwecke für den Betrieb ausführt (BAG vom 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in NZA 2003, 37 ff. unter II. 2. b). Ein bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit entstandener Schaden liegt zum einen dann vor, wenn der AN gerade die ihm gestellte Aufgabe als solche mangelhaft erfüllt: Man spricht von der Verletzung der Haupt(leistungs)pflicht des AN nach §§ 611, 241 I BGB durch quantitative oder qualitative Minderleistung (Schlechtleistung im engen und eigentlichen Sinne; nachfolgend unter II. 1.). Ein Schaden bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit kann aber auch dadurch entstehen, dass der AN in sonstiger Weise Vermögensinteressen des ArbG verletzt, vor allem dadurch, dass er im Zusammenhang mit seiner Arbeit Personen- oder Sachschaden anrichtet, mag er auch die ihm gestellte Aufgabe als solche fehlerfrei erfüllt haben: Man spricht davon, dass der AN seine die Arbeitsleistung begleitende Nebenpflicht zur Rücksichtnahme „auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen“ des ArbG nach § 241 II BGB verletzt habe (Schlechtleistung im uneigentlichen, weiteren Sinne; nachfolgend unter II. 2.). Weil der ArbG kraft seiner Leitungsmacht die Betriebsorganisation und die Betriebsabläufe beherrscht, trifft ihn an derlei betriebsbezogenen Schadensfällen ein situationsbedingt differenziertes Maß an Mitverantwortung als Ausdruck des Betriebsrisikos, das er als Unternehmer trägt. Es zeigt sich darin, dass der auf Schadensersatz in Anspruch genommene AN eine Haftungserleichterung erfährt, und zwar dergestalt, dass der ArbG nach den Grundsätzen über den innerbetrieblichen Schadensausgleich die von seinem AN herbeigeführten Schäden in angemessenem Umfang mittragen muss (siehe schon oben § 1 IV.). Nachfolgend unter III. wird aufgezeigt, welche Haftungsrisiken den AN nach Maßgabe der Vorschriften des BGB treffen können. Die Haftungserleichterungen nach den Grundsätzen, die die Rechtsprechung zum innerbetrieblichen Schadensausgleich entwickelt hat, werden anschließend unter § 27 dargestellt. 3. Pflichtverletzungen außerhalb des Rahmens betrieblich veranlasster Tätigkeit Liegt das Verhalten, das die Haftung des AN begründet, hingegen außerhalb des Rahmens betrieblich veranlasster Tätigkeit, besteht für eine Haftungserleichterung des AN zu Lasten des ArbG kein Anlass. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn sich die Schlechtleistung des AN (im weiteren Sinne) in der Beschädigung des Firmenwagens während seiner privaten Nutzung äußert oder in Schäden als Folge einer eigenmächtigen „Spaßfahrt“ mit dem Gabelstapler zeigt, einerlei, ob sie in der Pause oder während der Arbeit geschah (BAG vom 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in NZA 2003, 37 ff.). An einer betrieblich veranlassten Tätigkeit fehlt es vor allem dann, wenn sich das Tun des AN bewusst gegen die betrieblichen Interessen richtet, wie in den Fällen eines Verstoßes des AN gegen die Verschwiegenheitspflicht, ein Wettbewerbsverbot, das Verbot von unternehmensschädigenden Äußerungen; ferner bei strafbaren Handlungen, wie etwa Diebstahl und Unterschlagung, Betrug und Untreue, Verrat von Geschäftsgeheimnissen sowie Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (Schmiergeldverbot). In diesen Fällen bleibt es bei der uneingeschränkten Schadensersatzhaftung des AN nach § 280 I 1 BGB einschließlich der Beweislastumkehrregelung des § 280 I 2 BGB (§ 619a BGB gilt für diese Fälle nicht!), ggf. nach §§ 823 I/II, 826 BGB sowie spezialgesetzlichen Vorschriften (oben § 15 V. 2.). © Professor Dr. Hunscha 183 Dezember 2015 II. Die Tatbestände der Schlechtleistung bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten 1. Die quantitative und/oder qualitative Minderleistung Die Schlechtleistung (im engeren und eigentlichen Sinne) beschreibt das BGB als eine Pflichtverletzung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Schuldner „die fällige Leistung … nicht wie geschuldet erbringt“ (§ 281 I BGB) bzw. „nicht vertragsgemäß erbringt“ (§ 323 I BGB). „Fällig“ im Sinne dieser Bestimmungen ist die Leistung des AN an jedem Arbeitstag, an dem er dem ArbG zur Verfügung steht. Vom AN „geschuldet“ ist die Leistung, zu deren Erbringung er vertraglich verpflichtet ist. Das ist mehr als die bloße Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft und weniger als die Herbeiführung eines bestimmten Leistungserfolges. Was der AN schuldet, ist die Arbeit als solche in Gestalt eines erfolgsorientierten Tätigwerdens. Schuldrechtlich gesprochen ist dies die Hauptpflicht des AN gemäß § 611 BGB (oben § 15 I.), mit deren Erbringung er den Anspruch des ArbG auf Arbeitsleistung erfüllt. „Nicht wie geschuldet erbracht“/„nicht vertragsgemäß erbracht“ ist die Arbeitsleistung des AN, wenn die ihm obliegende Arbeit quantitativ oder qualitativ minderwertig ist. Da die Menschen von unterschiedlichem Leistungsvermögen sind und noch dazu jeder von ihnen Leistungsschwankungen unterliegt, kann von einer rechtserheblichen Schlechtleistung des AN erst dann gesprochen werden, wenn er seine Arbeit zu langsam oder zu fehlerhaft erbringt. Damit aber stellt sich die Frage nach dem Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsleistung. Hierbei kommt es in erster Linie auf die im Arbeitsvertrag getroffenen Vereinbarungen an. Lassen sich dem Arbeitsvertrag keine hinreichend deutlichen Vorgaben über Menge und Beschaffenheit der zu leistenden Arbeit entnehmen, ist der vom ArbG in Ausübung seines Weisungsrechts festgelegte Arbeitsinhalt maßgebend (BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02 – in NZA 2004, 784 unter B. I. 2. b). Dabei ist zu beachten, dass von einem AN nur die Leistung verlangt werden kann, „die er bei angemessener Anspannung seiner geistigen und körperlichen Kräfte auf Dauer ohne Gefährdung seiner Gesundheit zu leisten imstande ist“ (ErfK/Preis § 611 Rn. 643). „Der AN muss tun, was er soll, und zwar so gut, wie er kann“ (BAG a.a.O.). Vor diesem Hintergrund liegt eine Schlechtleistung jedenfalls in Gestalt einer Pflichtverletzung im objektiven Sinne erst dann vor, wenn die Leistung des AN nicht nur vorübergehend so deutlich hinter der nach ihrer Tätigkeit vergleichbarer AN zurückbleibt, dass dem ArbG ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag nicht mehr zumutbar ist. Die Zumutbarkeitsgrenze dürfte bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 überschritten sein (vgl. BAG a.a.O. unter B. I. 2. d sowie BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06 – in NZA 2008, 693). Ist der AN nach Kräften bemüht, seine Arbeit zu erledigen, wird ihm die (objektive) Pflichtverletzung nicht (subjektiv) vorgeworfen werden können. Selbst wenn das Bemühen des AN den normalen Sorgfaltsmaßstab des § 276 II BGB nicht erfüllen sollte, weil seine individuelle Sorgfalt nicht den Anforderungen der allgemein „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ genügt, kann ihn kein Schuldvorwurf treffen. Der im Grundsatz abstrakte und objektive Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 II BGB lässt es zu, bereichsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen, wie sie gerade das Arbeitsrecht im Hinblick auf die Anforderungen an die Intensität der Arbeitsleistung des AN aufweist. Daraus folgt, dass der AN, © Professor Dr. Hunscha 184 Dezember 2015 der seine individuelle Leistungsfähigkeit ausschöpft und trotzdem zu langsam oder zu fehlerhaft arbeitet, dem ArbG mangels Verschuldens nicht schadensersatzpflichtig wird. Wegen des in der objektiven Pflichtverletzung zutage tretenden Eignungsmangels des AN kann sich der ArbG von ihm aber im Weg einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB trennen. Gilt das KSchG, kommt eine personenbedingte Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG in Betracht (unten § 30 III. 1. b). Beruht die Schlechtleistung des AN hingegen darauf, dass er seine Leistungsfähigkeit bewusst nicht ausschöpft, sich also mindestens keine Mühe gibt bzw. sich gehen lässt, seinen Dienst achtlos bis gleichgültig versieht und darum zu langsam und zu fehlerhaft arbeitet, liegt eine Pflichtverletzung auch im subjektiven Sinne vor, die den ArbG berechtigt, vom AN wegen schuldhafter Schlechtleistung Schadensersatz zu verlangen. Darüber hinaus kann sich der ArbG vom AN im Wege einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB trennen. Gilt das KSchG, kann es zu einer verhaltensbedingten Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG (unten § 30 IV. 1.) kommen. Bei grober Pflichtverletzung besteht die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB. In diesem Fall kann es nach § 628 II BGB dazu kommen, dass der AN zum Ersatz des durch die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schaden verpflichtet ist. Quantitative wie qualitative Minderleistung des AN führt zu Zeit- und Materialverschwendung, stört das Zusammenspiel in der Arbeitsgruppe, bewirkt Reibungsverluste, belastet die Betriebsabläufe und damit das Betriebsergebnis. Die Produktion des Betriebes Verzögerungen und Ausfällen sowie den damit verbundenen Folgeschäden. Die dem Betrieb und damit dem ArbG daraus erwachsenden Vermögensnachteile sind allerdings oft nur schwer messbar und einem bestimmten Störer oft nicht eindeutig zurechenbar. Es kommt hinzu, dass es dem ArbG Schwierigkeiten bereiten kann, dem störenden AN ein Verschulden nachzuweisen; denn nach § 619a BGB trägt die Beweislast hierfür entgegen § 280 I 2 BGB der ArbG. In diesen Fällen wird der ArbG daher eher versuchen, sich von dem AN wegen Eignungsmangels im Wege einer personenbedingten Kündigung zu trennen. Kommt es hingegen bei oder durch die Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten dazu, dass der AN Sach- oder Personenschaden anrichtet, ist die darin liegende Pflichtverletzung leichter fassbar und zurechenbar. Das gleiche gilt, wenn der AN gegen gesetzliche Vorschriften, wie etwa des Umwelt- oder des Arbeitsschutzrechts verstößt. Da es nicht um die Arbeitsleistung als solche, sondern um die Begleitumstände der Arbeit geht, handelt es sich in diesen Fällen um die Verletzung der vertraglichen Nebenpflicht des Schuldners ─ hier des AN ─ „zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils“ ─ hier des ArbG ─ nach § 241 II BGB (nachfolgend 2.). 2. Die Verletzung der Nebenpflicht des AN zur Rücksichtnahme In den Fällen, in denen der AN bei oder durch die Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit Personen- oder Sachschaden verursacht, kommt es kaum zu den im Falle quantitativer oder qualitativer Minderleistung aufgezeigten Unsicherheiten. Denn hier sind die Merkmale, die die Verantwortlichkeit des AN kennzeichnen, eindeutig definiert. So wie § 823 I BGB den eines Eingriffs in diese Rechtsgüter schuldigen Täter zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet, stellt § 241 II BGB klar, dass dieser Mangel an Rücksichtnahme, wenn er im Rahmen eines Vertrages auftritt, zugleich eine Pflichtverletzung ist, die den Täter Vertretenmüssen nach § 276 BGB vorausgesetzt nach § 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden lässt. Das gleiche gilt für die sonstigen gesetzlichen © Professor Dr. Hunscha 185 Dezember 2015 Ge- und Verbote, die der AN bei der Verrichtung seiner Arbeit zu beachten hat. Sollten für den entstandenen Schaden mehrere AN nebeneinander verantwortlich sein, verbietet der Schutzzweck des Arbeitsrechts allerdings eine gesamtschuldnerische Haftung der beteiligten AN („Einer für alle“), wie sie § 840 BGB vorsieht. Die schuldhafte Verletzung der Nebenpflicht des AN aus § 241 II BGB durch die Herbeiführung von Sachschäden bildet die Hauptmenge der Fälle, in denen der ArbG vom AN Schadensersatz wegen der ihm dadurch entstehenden Einbußen verlangt. Es kommt z.B. zur Beschädigung oder Zerstörung von Materialien, Werkzeugen, Gerätschaften, Maschinen, Fahrzeugen, Gebäuden und sonstigen Sachgütern des ArbG, als deren Folge durch den damit verbundenen Nutzungsausfall sowie erforderlich werdende Reparatur- oder Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten finanzielle Einbußen entstehen. Dass der AN seinem ArbG einen Personenschaden zufügt, ist demgegenüber eher selten. Zu einer schadenstiftenden Verletzung von sonstigen nicht in Personen- oder Sachgütern gebundenen Vermögensinteressen des ArbG, kann es z.B. dadurch kommen, dass der Betrieb wegen des Verstoßes des AN z.B. gegen Vorschriften des Umwelt- oder Sicherheitsrechts mit einer Geldbuße belegt wird. Fügt der AN einem anderen AN oder einem außenstehenden Dritten Schaden zu, verletzt er nicht eine diesen Geschädigten gegenüber bestehende vertragliche Nebenpflicht, weil ihn mit diesen Personen kein vertragliches Schuldverhältnis verbindet. Ihnen gegenüber hat er einfach eine unerlaubte Handlung nach §§ 823 I/II BGB begangen. Darin liegt jedoch zugleich eine Nebenpflichtverletzung gegenüber dem ArbG, wenn der ArbG von dem Verletzten wegen des erlittenen Schadens aus seiner Haftung für den Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB und/oder aus seiner Verantwortlichkeit für den Erfüllungsgehilfen nach §§ 280 I, 278 BGB in Anspruch genommen wird oder der vom AN geschädigte Arbeitskollege als Arbeitskraft ausfällt und/oder den ArbG wegen seines Schadens analog § 670 BGB in Anspruch nimmt. In diesen Fällen kann der ArbG den schadenstiftenden AN nach §§ 241 II, 280 I BGB wegen Schlechtleistung (im weiteren Sinne) in Regress nehmen (nachfolgend IV. 2./3.). Neben der Inanspruchnahme des AN auf Schadensersatz kann es in diesen Fällen natürlich auch zu einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB, bei Geltung des KSchG zu einer verhaltensbedingten Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG, im Falle grob fahrlässigen Fehlverhaltens des AN zu einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB kommen. III. Die nach Maßgabe der Vorschriften des BGB mögliche Haftung des AN auf Schadensersatz bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten (Zur Beschränkung der Haftung des AN nach Maßgabe der Rechtsprechung über den innerbetrieblichen Schadensausgleich siehe nachfolgend § 27). Im Vordergrund steht der Fall, dass der AN dem ArbG haftet, weil er ihm unmittelbar einen Schaden zugefügt hat (nachfolgend unter 1.). Der AN kann dem ArbG aber auch dann haften, wenn er einem Außenstehenden oder einem Arbeitskollegen einen Schaden zugefügt hat und diese deswegen statt des AN den ArbG in Anspruch nehmen (nachfolgend unter 2. und 3.). Der AN hat in diesem Fall den ArbG gleichsam mittelbar geschädigt und wird dafür nun vom ArbG im Wege des Regresses zur Rechenschaft gezogen. © Professor Dr. Hunscha 186 Dezember 2015 1. Der AN schädigt unmittelbar den ArbG Da AN und ArbG in einem vertraglichen Schuldverhältnis zueinander stehen, erfüllt das schadenstiftende Verhalten des AN den Tatbestand der Verletzung entweder seiner Hauptpflicht aus dem Arbeitsvertrag nach §§ 611, 241 I BGB durch quantitative oder qualitative Minderleistung (vorstehend unter II. 1.) oder einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag nach §§ 611, 241 II BGB durch die Herbeiführung von Sach-, Personen- oder reinem Vermögensschaden des ArbG (vorstehend unter II. 2. b). der im Grundsatz zu einem Anspruch des geschädigten ArbG gegen den AN aus § 280 I BGB auf Schadensersatz des (neben der Leistung) führen kann. Ggf. kann es neben dem Anspruch aus § 280 I BGB auch zu einem Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach § 823 I/II BGB sowie aus Sondergesetzen kommen. Beachte: Erleidet der ArbG durch seinen AN einen Personenschaden als Arbeitsunfall, treten an die Stelle einer möglichen Haftung des schadenstiftenden AN die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 105 SGB VII (unten § 27 II. 1.). Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Der Schadensersatzanspruch des ArbG gegen den AN erfährt analog § 254 BGB u.U. eine Kürzung, ggf. bis auf null. 2. Der AN schädigt einen Außenstehenden a) Da AN und Außenstehender nicht vertraglich verbunden sind, kommen Schadensersatzansprüche des Geschädigten gegen den AN nur aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach §§ 823 I/II BGB in Betracht. Beachte: Diese Haftung geht nicht nur auf den Ersatz von Sachschaden, sondern auch von Personenschaden, da die gesetzliche Unfallversicherung den schädigenden AN vor der Inanspruchnahme aus einem Personenschaden nur dann schützt, wenn es sich um einen Arbeitsunfall i.S.d § 8 I SGB VII handelt, der Geschädigte also ein/e Arbeitskollege/in ist. b) Fügt der AN einem Außenstehenden Schaden zu, verletzt er damit zugleich gegenüber dem ArbG seine Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag gemäß § 241 II BGB zur Rücksichtnahme auf die „Interessen“ seines ArbG, sofern der Außenstehende statt des Schädigers den ArbG mit Erfolg auf Schadensersatz in Anspruch nimmt: Ist der Außenstehende ein Vertragspartner des ArbG, kann er den ArbG wegen des erlittenen Personen- und Sachschadens auf Ersatz nach §§ 280 I, 278 BGB aus dessen Verantwortlichkeit für den AN als seinen gegenüber Vertragspartnern eingesetzten Erfüllungsgehilfen in Anspruch nehmen. Statt aus Vertragsrecht könnte der ArbG vom Außenstehenden aber auch aus § 831 BGB wegen eines Aufsichtsverschuldens über den AN als seinen Verrichtungsgehilfen in Anspruch genommen werden; dies allerdings nur dann mit Erfolg, wenn der Verrichtungsgehilfe eines der in § 823 I aufgeführten Rechtsgüter des Außenstehenden oder ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 II BGB verletzt hat und dem ArbG der Exkulpationsbeweis nach § 831 I 2 BGB nicht gelingen sollte. Über diese Inanspruchnahme hinaus kann der Schaden des ArbG kann auch darin liegen, dass er wegen des Fehlverhaltens seines AN den Auftrag verliert, weil der Außenstehende den Vertrag aus wichtigem Grund nach § 314 BGB kündigt oder nach § 324 BGB vom Vertrag zurücktritt. © Professor Dr. Hunscha 187 Dezember 2015 Ist der Außenstehende nicht Vertragspartner des ArbG, kann der Schaden des ArbG darin liegen, dass der Außenstehende ihn wegen Aufsichtsverschuldens über seinen Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB in Anspruch nimmt (siehe vorstehender Punkt). Eine Inanspruchnahme des ArbG aus §§ 280 I, 278 BGB, der keinen Exkulpationsbeweis kennt, kommt in diesem Fall mangels vertraglicher Beziehung zum Außenstehenden nicht in Betracht. Wegen des dem ArbG aus seiner Inanspruchnahme entstehenden Schadens könnte dieser den AN nach § 280 I BGB in Regress nehmen. c) Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Zu vorstehend 2. a) Der Schadensersatzanspruch des Außenstehenden gegen den AN besteht uneingeschränkt, doch kann der AN in analoger Anwendung des § 670 BGB von seinem ArbG Freistellung von der Haftung in dem Umfang verlangen, wie dieser analog § 254 BGB den Schaden im Ergebnis (mit)tragen muss. ─ Zu vorstehend 2. b) Nimmt der Außenstehende statt des AN den ArbG auf Schadensersatz in Anspruch, kann der ArbG von seinem AN Regress nur in dem Umfang verlangen, wie der ArbG den Schaden analog § 254 BGB nicht (mit)tragen muss. 3. Der AN schädigt einen Arbeitskollegen a) Da die AN im Verhältnis zueinander nicht vertraglich verbunden sind, kommen Schadensersatzansprüche des geschädigten Arbeitskollegen gegen den ihn schädigenden AN nur aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach §§ 823 I, II BGB in Betracht. Dies gilt aber nur in Ansehung von Sachschäden! Beachte: Erleidet ein AN durch einen/e Arbeitskollegen/in einen Personenschaden als Arbeitsunfall, tritt an die Stelle der Haftung des schadenstiftenden AN die Sonderregelung des § 105 I SGB VII (dazu unten § 27 IV. 2.). b) Fügt der AN einem Arbeitskollegen einen Schaden zu, verletzt der AN damit zugleich gegenüber dem ArbG seine Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag gemäß § 241 II BGB zur Rücksichtnahme auf die „Interessen“ seines ArbG, sofern der Arbeitskollege statt des Schädigers den ArbG wegen seines Sachschadens mit Erfolg auf Ersatz in Anspruch nimmt. Erleidet der Arbeitskollege einen Sachschaden, z.B. durch die Beschädigung von Arbeitskleidung, Schuhwerk, Armbanduhr u.Ä., kann der Vermögensschaden des ArbG aus diesem Vorfall darin liegen, dass er dem Geschädigten nach §§ 280 I, 278 BGB (denn der schädigende AN ist im Verhältnis zum geschädigten AN ein Erfüllungsgehilfe des ArbG in Ansehung der Nebenpflicht des ArbG aus dem Arbeitsvertrag mit dem geschädigten AN, diesen davor zu schützen, im Betrieb durch Unachtsamkeit von Kollegen Schaden zu erleiden), aber auch nach § 831 BGB wegen Aufsichtsverschuldens über seinen Verrichtungsgehilfen (siehe vorstehend unter 2. a) und ggf. analog § 670 BGB Ersatz leisten muss (siehe oben § 16 III. 2. sowie unten § 27 III. 1.). Erleidet ein AN bei der Verrichtung seiner Arbeit durch Fehlverhalten eines Arbeitskollegen einen Körperschaden, entsteht dem ArbG kraft Gesetzes ein Vermögensschaden, weil er dem erkrankten AN Entgeltfortzahlung leisten muss; dabei ist aber die Erstattung zu berücksichtigen, die ein ArbG, der nicht mehr als 30 AN beschäftigt, nach § 1 I AAG erhält (oben § 22 IV.). Im Übrigen kann dem ArbG ein Schaden durch den Ausfall der Arbeitskraft des Verletzten bzw. entsprechende Abhilfemaßnahmen (Beschäftigung einer Ersatzkraft) entstehen. Wegen des dem ArbG aus diesen Gründen entstehenden Schadens kann er den AN nach § 280 I BGB in Regress nehmen. © Professor Dr. Hunscha 188 Dezember 2015 c) Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Zu vorstehend 3. a) Der Anspruch des geschädigten Arbeitskollegen wegen seines Sachschadens gegen den AN besteht uneingeschränkt, doch kann der AN in analoger Anwendung des § 670 BGB von seinem ArbG Freistellung von der Haftung in dem Umfang verlangen, wie dieser analog § 254 BGB den Schaden im Ergebnis (mit)tragen muss. ─ Zu vorstehend 3. b) Nimmt der geschädigte Arbeitskollege statt des AN den ArbG auf Schadensersatz in Anspruch, kann der ArbG von seinem AN Regress nur in dem Umfang verlangen, wie der ArbG den Schaden analog § 254 BGB nicht (mit)tragen muss. Das gilt auch für den Arbeitsausfall-Schaden des ArbG. © Professor Dr. Hunscha 189 Dezember 2015 § 27 Die Beschränkung der Haftung des Arbeitnehmers für Schäden bei betrieblich veranlasster Tätigkeit (Zum Begriff der betrieblich veranlassten Tätigkeit siehe schon oben § 26 I. 2.) I. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung des ArbG 1. Personenschaden Erleidet der ArbG durch schuldhaftes Verhalten des AN unmittelbar einen Personenschaden als Arbeitsunfall, tritt an die Stelle der Haftung des schadenstiftenden AN die Sonderregelung des § 105 SGB VII (unten VI. 2.). Das gilt nach § 105 II SGB VII ausdrücklich für den Fall, dass der ArbG nicht selbst unfallversichert ist. Die h.M. wendet § 105 I SGB VII aber auch auf den Fall an, dass der ArbG nach § 2 I Nr. 5 bis 7, 9 SGB VII, § 3 SGB VII oder § 6 SGB VII versichert ist (vgl. HWK/Giesen, § 105 SGB VII Rn. 8/9). 2. Sachschaden und sonstigen Vermögensschaden Erleidet der ArbG durch schuldhaftes Verhalten des AN in den oben § 26 III. 1. bis 3. aufgezeigten Situationen unmittelbar einen Sachschaden oder unmittelbar wie mittelbar einen sonstigen Vermögensschaden in Gestalt finanzieller Einbußen und könnte er den AN deswegen auf Schadensersatz aus § 280 I BGB und ggf. auch aus § 823 I/II BGB in Anspruch nehmen, haftet der AN ihm aber nur unter Beachtung der nachstehend beschriebenen Beschränkungen. a) Die Beweislastregel des § 619a BGB Abweichend von der dem Schuldner hinsichtlich des Vertretenmüssens nachteiligen Beweislastumkehrregelung des § 280 I 2 BGB, die für die Mehrzahl der Schuldverträge sinnvoll ist, trägt in Fällen der Haftung des AN für den aus der Verletzung einer Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis entstehenden Schaden nach § 619a BGB der ArbG als Gläubiger die Beweislast dafür, dass der AN die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Es gilt also wieder der prozessuale Regelfall, wie er auch für Ansprüche aus § 823 BGB maßgebend ist, nämlich dass den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast für alle anspruchsbegründenden Tatsachen trifft. Im Fall eines Schadensersatzanspruchs aus § 280 I 1 BGB muss der ArbG (entgegen §280 I 2 BGB) also nicht nur die Tatsache der Pflichtverletzung, der Schadensentstehung und des Ursachenzusammenhangs zwischen beidem darlegen und beweisen, sondern auch das Verschulden des AN. Dadurch soll verhindert werden, dass der ArbG sein Betriebsrisiko über die Beweislastumkehr des § 280 I 2 BGB auf den AN abwälzen kann. b) Der innerbetriebliche Schadensausgleich analog § 254 BGB Kommt unter Berücksichtigung der Beweislastregel des § 619a BGB (vorstehend unter a) eine Schadensersatzpflicht des AN wegen schuldhafter Pflichtverletzung in Betracht, ist nunmehr die von der Rechtsprechung zum Schutz des AN vor finanzieller Überforderung entwickelten Doktrin vom innerbetrieblichen Schadensausgleich anwendbar. Über die im Einzelfall mögliche Mitverantwortung des ArbG für den entstandenen Schaden auf Grund konkreter Organisationsmängel hinaus, die ihn in unmittelbarer Anwendung © Professor Dr. Hunscha 190 Dezember 2015 des § 254 BGB trifft (nachstehend unter c), rechnet ihm die Rechtsprechung generell in entsprechender Anwendung des § 254 BGB den Umstand, dass er mit der Eröffnung des Betriebs die Arbeitsbedingungen seiner AN geschaffen hat und beherrscht, als hinreichenden Grund dafür zu, durch betrieblich veranlasste Tätigkeiten seiner AN herbeigeführte Schäden in angemessenem Umfang mittragen zu müssen (Sphärengedanke). Man spricht von der mit der Ausübung von Leitungsmacht verbundenen Verantwortung des ArbG für die tätigkeitsspezifischen Gefahren, denen seine AN ausgesetzt sind, als einem Aspekt des Betriebsrisikos, das der ArbG trägt (oben § 1 III. 4.). Die daraus abgeleitete Verantwortlichkeit des ArbG wird auch durch die Erkenntnis unterstützt, dass es dem AN wegen der regelmäßig fehlenden Äquivalenz von Arbeitsentgelt und Risiko nicht zugemutet werden kann, durch jeden Fehler seine wirtschaftliche Existenz zu gefährden, zumal der ArbG die im Durchschnitt zu erwartenden Schadensfälle kalkulatorisch erfassen und in seine Preise einrechnen sowie versichern kann. Aus diesem Grunde kommen dem AN, der einen Schaden in Ausübung der ihm obliegenden Arbeit verursacht hat, erhebliche Haftungserleichterungen zugute. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs trifft den AN • keine Haftung bei leichtester Fahrlässigkeit („Das kann jedem mal passieren“); • eine anteilige Haftung bei mittlerer (= leichter) Fahrlässigkeit. Eine mittlere Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der AN die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (= objektiver, abstrakter, typisierender Maßstab) außer Acht gelassen hat (so die Legaldefinition des § 276 II BGB), ohne dass ihm ein schwerer Vorwurf zu machen ist („Das sollte eigentlich nicht passieren“). Das entspricht genau dem Begriff der leichten Fahrlässigkeit nach dem BGB. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des BAG der Haftungsanteil des AN unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu bestimmen und liegt nach der Rechtsprechung in den meisten Fällen deutlich unter 50 % des Schadens. Maßgebende Kriterien auf Seiten des AN sollen vor allem Art, Schwierigkeit und Gefährlichkeit seiner Tätigkeit sein, die Voraussehbarkeit des Schadenseintritts, die persönlichen und beruflichen Fähigkeiten des AN, seine Berufserfahrung oder seine Unerfahrenheit, seine Stellung im Betrieb, ferner die Schadenshöhe und die Einkommenslage des AN. Auf Seiten des ArbG spielen die Möglichkeiten einer vorsorglichen Verhinderung oder Begrenzung des Schadens eine Rolle; hierher kann auch der Abschluss einer Kasko- oder Schadensversicherung durch den ArbG gehören (nachfolgend unter V.). Es ist nicht zu verkennen, dass eine auf solche Umstände gestützte Abwägung zu Rechtsunsicherheit führt. Dennoch hat sich das BAG bisher nicht zu einer generellen Beschränkung der Haftung des AN auf einen Höchstbetrag durchringen können. Eine Haftungshöchstgrenze von drei Monatsgehältern (brutto) sollte das Äußerste sein. Im Grunde genommen darf der AN nicht viel mehr als einen fühlbaren „Denkzettel“ erhalten. • eine geminderte Haftung bei grober Fahrlässigkeit („Das darf nicht passieren“) unter der Voraussetzung eines erheblichen Missverhältnisses zwischen Verdienst und Schaden; so z.B. in Höhe der Hälfte des über rund 110.000 DM entstandenen Eigenschadens des ArbG an seinem Omnibus, mit dem der AN als Fahrer grob fahrlässig bei Rot in den Kreuzungsbereich eingefahren war (BAG v. 12.10.1989 - 8 AZR 276/88 - in NZA 1990, 97); so z.B. in Höhe von 10.000 DM zur Abgeltung eines Eigenschadens des ArbG von rund 75.000 DM an seinem auf dem Flughafengelände eingesetzten Enteisungsfahrzeug, den der AN als Fahrer während der Frühschicht im Winter bei einem Blutalkoholgehalt von 1,4 Promille infolge kurzzeitigen Einnickens verursacht hat (BAG v. 23.1.1997 - 8 AZR 893/95 - in NZA 1998, 140); so z.B. in Höhe eines Jahresbruttogehalts von 3.840 € zu Abgeltung eines Schadens von 30.500 €, den eine Reinigungskraft grob fahrlässig verursacht hat (BAG v. 28.10.2010 - 8 AZR 418/09 - in NZA 2011, 345). © Professor Dr. Hunscha 191 Dezember 2015 • volle Haftung bei gröbster (= besonders grober) Fahrlässigkeit und bei Vorsatz. In diesen Fällen ist zu beachten, dass sich das Verschulden des AN sons auf den eingetretenen Schaden beziehen muss. Wird ein mit dem Abladen von Waren beschäftigter AN angewiesen, den Gabelstapler hierfür nicht zu benutzen (nämlich weil er mit ihm noch nicht vertraut ist) und benutzt er ihn dennoch mit der Folge, dass er mit ihm das Tor der Lagerhalle beschädigt, haftet er nur dann wegen vorsätzlicher Schädigung des ArbG, wenn er diesen Schaden herbeiführen wollte oder ihn als möglich vorausgesehen und billigend in Kauf genommen hat. Hat der AN sich über das ihm erteilte Benutzungsverbot zwar vorsätzlich hinweggesetzt, den Schaden selbst aber nur grob fahrlässig herbeigeführt, weil er unüberlegt annahm, mit den beiden hochgefahrenen Gabeln unter dem nicht vollständig geöffneten Rolltor ohne weiteres hindurch zu kommen, hat er den ArbG nicht vorsätzlich, sondern lediglich grob fahrlässig geschädigt, so dass die Haftung des AN gemindert werden kann (BAG v. 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in ZIP 2002, 1909: „Ein vorsätzlicher Pflichtenverstoß führt nur dann zur vollen Haftung des Arbeitnehmers, wenn auch der Schaden vom Vorsatz erfasst ist“). c) Die Mitverantwortung des ArbG in unmittelbarer Anwendung des § 254 BGB Nach § 254 BGB darf ein Geschädigter nicht den vollen Schadensersatz verlangen, soweit er den Schaden in zurechenbarer Weise selbst mit ausgelöst hat. Dabei handelt es sich nicht um eine arbeitsrechtliche Besonderheit, sondern um eine allgemeine Regel des Schadensersatzrechts. Ihre Anwendung kann dazu führen, dass die schon nach den Regeln des innerbetrieblichen Schadensausgleichs analog § 254 BGB geminderte Haftung des AN noch ein weiteres Mal eine Minderung erfährt oder gar gänzlich entfällt. Das „Mitverschulden“ des Geschädigten ist untechnisch zu verstehen, nämlich im Sinne eines Verstoßes gegen das wohlverstandene Eigeninteresse, selbst so wenig wie möglich Schaden zu erleiden. Man spricht auch von einem „Verschulden gegen sich selbst“. Nach § 254 I BGB ist darum bei der Ermittlung des Mitverschuldens des Geschädigten in erster Linie auf seinen Anteil an der Verursachung des eingetretenen Schadens abzustellen und zu fragen, in welchem Maße er den Schaden im Vergleich zum Schädiger wahrscheinlicher gemacht hat. Erst in zweiter Linie kommt es dann auf den Grad des beiderseitigen Verschuldens an. Im Arbeitsrecht führen vor allem konkrete Organisationsmängel im Betrieb zu einer Minderung, in Extremfällen sogar zu einem Erlöschen der AN-Haftung. Hierbei muss sich der ArbG nach §§ 254 II 2, 278 BGB auch ein Verschulden einer für ihn tätigen Aufsichtsperson als Mitverschulden anrechnen lassen. Beispiele eines konkreten Organisationsverschulden des ArbG sind fehlerhafte Arbeitszuweisung, Überforderung des AN, mangelhafter Arbeitsschutz, fehlende oder nachlässige Weisungen und Kontrollen sowie das Unterlassen möglicher und zumutbarer Versicherungen. Der Abschluss einer Versicherung ist vor allem in den Fällen geboten, in denen Schäden wegen der Art der Tätigkeit besonders häufig auftreten oder eine beträchtliche Größenordnung erreichen können. keinen Reisepass mit sich führt, wegen der ihren ArbG deswegen treffenden Einreisestrafe diesem im Regresswege bei mittlerer Fahrlässigkeit nur in Höhe der Hälfte der Geldbuße, kommt es zu einer weiteren Minderung ihrer Haftung, wenn der ArbG keine Kontrolle zur Überprüfung der Einreisedokumente seines Personals vor Flugantritt vorgenommen hat (BAG v. 16.2.1995 – 8 AZR 493/93 – in NZA 1995, 565). II. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung eines Außenstehenden 1. Erleidet ein Außenstehender durch schuldhaftes Verhalten des AN einen Sachschaden oder einen Personenschaden (anders als bei Schädigung des oder eines ist der Personenschaden des Außenstehenden nicht durch die Berufsgenossenschaft versichert!) und nimmt er deswegen statt des ArbG den AN aus § 823 I/II BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des Geschädigten gemäß 254 BGB) auf © Professor Dr. Hunscha 192 Dezember 2015 Schadensersatz in Anspruch, kann der schädigende AN in Höhe des Betrages, der ihn nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zum innerbetrieblichen Schadensausgleich analog § 254 BGB nicht treffen soll, von seinem ArbG analog § 670 BGB Freistellung von der Haftung verlangen. Über seinen Wortlaut hinaus wird § 670 BGB als Ausdruck der Erkenntnis begriffen, dass derjenige, der zum eigenen Nutzen einen anderen Tätigkeiten ausüben lässt, auch für die damit verbundenen Risiken und dabei entstehenden Schäden in angemessenem Umfang einstehen muss. Die dem AN als gleichsam Beauftragtem aus der Verrichtung seiner Tätigkeit erwachsende Schadensersatzpflicht gegenüber dem Außenstehenden wird im übertragenen Sinn als eine unter Umständen ganz oder teilweise erforderliche Aufwendung zum Zweck der Ausführung des Auftrags angesehen, die der ArbG als gleichsam Auftraggeber zu ersetzen hat. Um zu verhindern, dass den AN mangels Drittwirkung des innerbetrieblichen Schadensausgleichs das Risiko uneingeschränkter Außenhaftung trifft, kann er von seinem ArbG analog § 670 BGB die Befreiung von der Verbindlichkeit gegenüber dem Außenstehenden in Höhe des Verantwortungsbeitrags des ArbG verlangen. Der Freistellungsanspruch ist allerdings nichts wert, wenn der ArbG insolvent ist. Hier kann dem AN nur eine eigene Haftpflichtversicherung helfen. Entstand die Forderung aus einer Beschädigung von Sachen, die dem Außenstehenden aufgrund der Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts, einer Sicherungsübereignung oder eines Leasinggeschäfts mit dem ArbG gehören, könnte die Haftung den AN auch dem Außenstehenden gegenüber nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleich dadurch begrenzt sein, dass der fraglichen Vereinbarung eine zumindest stillschweigend „Haftungsbeschränkung zu Gunsten Dritter“, nämlich des AN, der die Gerätschaften ja typischerweise bedient, entnommen werden kann. 2. Nimmt der Außenstehende den ArbG nach §§ 280 I, 278 BGB oder § 831 BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des Geschädigten gemäß § 254 BGB) mit Erfolg in Anspruch, kann der ArbG vom AN im Wege des Regresses nach § 280 I BGB nicht mehr verlangen, als dieser ihm nach den Grundsätzen über den innerbetrieblichen Schadensausgleich schulden würde, wenn er unmittelbar den ArbG auf diese Weise verletzt hätte (oben I. 2.). III. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung von Arbeitskollegen 1. Sachschaden Erleidet ein/e Arbeitskollege/in durch schuldhaftes Verhalten des AN einen Sachschaden z.B. durch Beschädigung der Arbeitskleidung, und nimmt der/die Geschädigte deswegen den AN aus § 823 I BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des/der Geschädigten gemäß § 254 BGB) auf Schadensersatz in Anspruch, kann der Schädiger in Höhe des Betrages, der ihn nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zum innerbebetrieblichen Schadensausgleich analog § 254 BGB nicht treffen soll, von seinem ArbG analog § 670 BGB Freistellung von der Haftung verlangen. Zur Anwendbarkeit dieser Vorschriften siehe vorstehend unter II. Nimmt der/die geschädigte Arbeitskollege/in den ArbG auf der Grundlage von §§ 280 I, 278 BGB oder von § 831 BGB, ggf. analog § 670 BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen eigenen konkreten Mitverschuldens gemäß § 254 BGB) mit Erfolg in Anspruch, kann der ArbG vom Schädiger im Wege des Regresses nach § 280 I BGB nicht mehr verlangen, als dieser ihm schulden würde, wenn er unmittelbar den ArbG auf diese Weise verletzt hätte (oben II.). © Professor Dr. Hunscha 193 Dezember 2015 2. Personenschaden Verletzt ein im Betrieb tätiger AN durch eine betriebliche Tätigkeit Leben oder Gesundheit eines/r Arbeitskollegen/in (oder weiterer nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherter Personen), so liegt ein Arbeitsunfall i.S.v. § 8 I SGB VII vor, der zur Anwendung des § 105 I SGB VII führt; dies allerdings mit der Einschränkung, dass der Versicherungsfall nicht vorsätzlich oder auf einem nach § 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt worden ist. Hinweis: Zu dem von § 105 I SGB VII als Geschädigter betroffenen Personenkreis gehört auch der ArbG (vorstehend unter I. 1.). Das bedeutet im Einzelnen: a) § 105 I SGB VII ist keine Anspruchsgrundlage, sondern eine Vorschrift, die bestimmt, dass die als Folge des Arbeitsunfalls mögliche Haftung des schädigenden AN „nach anderen gesetzlichen Vorschriften“ gegenüber dem Verletzten, seinen Angehörigen und Hinterbliebenen, vor allem nach § 823 I/II BGB, und infolgedessen auch die damit verbundene Verpflichtung des ArbG zur Freistellung des haftenden AN analog § 670 BGB nach Maßgabe der Regeln des innerbetrieblichen Schadensausgleichs sowie die neben dem schädigenden AN mögliche Haftung des ArbG für das Verhalten seines AN als Erfüllungsgehilfen nach §§ 280 I, 278 BGB und als Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB (vgl. oben § 26 III. 3.) dadurch ersetzt wird, dass ausschließlich der Unfallversicherer, ─ im Regelfall die jeweilige Berufsgenossenschaft, der der ArbG seine Pflichtbeiträge leistet ─ für die Ausgleichung des Unfallschadens eintritt. So wie die gesetzliche Unfallversicherung nach § 104 SGB VII den ArbG, der seinem AN Personenschaden zufügt, vor einer Inanspruchnahme durch den Verletzten (und dessen Angehörige oder Hinterbliebene) schützt (dazu oben § 16 VI. 1.), sind auch seine AN, die (dem ArbG oder) Arbeitskollegen/innen Personenschaden zufügen, nach § 105 SGB VII von einer Haftung gegenüber dem Verletzten befreit und infolgedessen auch der ArbG nicht mittelbar durch eine Verpflichtung zur Freistellung seines AN oder eine Nebenhaftung gegenüber dem Verletzten belastet. Damit ist die gesetzliche Unfallversicherung nicht nur für den zu ihrem Abschluss gesetzlich verpflichteten ArbG, sondern auch für seine AN eine besondere Art der Haftpflichtversicherung. Es ist allerdings zu beachten, dass der Unfallversicherer nach § 110 SGB IV bei dem ArbG oder dem Arbeitskollegen Rückgriff nehmen kann, wenn diese den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben. Obwohl der Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 26 SGB VII nicht auch die Zahlung eines Schmerzensgeldes und eines etwaigen Verdienstausfalls vorsieht, ist diese Haftungsersetzung zwingend: Der Schädiger und sein ArbG können also noch nicht einmal wegen dieser vom Unfallversicherer nicht gezahlten „Schadensspitzen“ © Professor Dr. Hunscha 194 Dezember 2015 in Anspruch genommen werden. Der hierin liegende Nachteil wird durch die Vorteile ausgeglichen, die diese Unfallversicherung bietet: Der Träger der Unfallversicherung ist nämlich im Gegensatz zum schädigenden AN stets solvent, leistet nach rein objektiven Kriterien ohne Rücksicht auf ein etwaiges Mitverschulden des Verletzten und auch bei Schuldlosigkeit des Schädigers. Außerdem führt die Haftungsablösung dazu, dass der Betriebsfrieden nicht durch die klageweise Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen von AN untereinander oder im Verhältnis zwischen ArbG und AN gestört wird. b) Schädiger und Verletzter müssen nicht AN desselben ArbG sein. Schädiger oder Verletzter können auch AN eines anderen ArbG sein, wenn sie nur bei der Schadensverursachung gerade in dem Betrieb tätig sind, in dem der Arbeitsunfall durch eine betriebliche Tätigkeit herbeigeführt wurde, z.B. durch Mithilfe beim Abladen angelieferter und dem Aufladen abzuholender Waren. c) § 105 I 1 SGB VII bestimmt in seinem letzten Satzteil zum einen, dass der im Zusammenhang mit dem Aufsuchen oder Verlassen des Betriebes außerhalb des Betriebes stattfindende Wegeunfall (§ 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII) bereits zum allgemeinen Straßenverkehr zählt und darum keine Haftungsersetzung bewirkt: Nach § 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII besteht zwar ein Anspruch des Verletzten auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, zugleich stehen ihm aber auch Ansprüche auf Schadensersatz gegen den Schädiger nach anderen gesetzlichen Vorschriften zu, insbesondere nach BGB und StVG (unter Berücksichtigung der Kfz-Haftpflichtversicherung). Diese Haftung ist allerdings gemäß §§ 105 I 3, 104 III SGB VII gemindert um die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, so dass sie nur auf das Schmerzensgeld und den Ersatz von etwaigem Verdienstausfall gehen wird. War der Weg außerhalb des Betriebes allerdings betrieblich bedingt, d.h. durch Anordnung des ArbG zur dienstlichen Aufgabe erklärt worden, wie etwa Botengänge, Montageeinsätze bei Kunden, Lieferfahrten oder Dienst- und Geschäftsreisen, unterfällt der auf dem Wege erlittene Unfall als Arbeitsunfall auch dem § 105 I SGB VII. § 105 I 1 SGB VII bestimmt in seinem letzten Satzteil zum anderen, dass auch für den vom AN vorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfall keine Haftungsersetzung gilt. Auch in diesem Fall besteht zwar ein Anspruch des Verletzten auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, zugleich stehen ihm aber auch Ansprüche auf Schadensersatz gegen den Schädiger nach anderen gesetzlichen Vorschriften zu. IV. Der Abschluss einer freiwilligen Versicherung durch den ArbG? Für den ArbG besteht die Möglichkeit, einen Schaden an Betriebsmitteln durch eine Sachversicherung sowie Personen- und Sachschäden Dritter durch eine Betriebshaftpflichtversicherung abzusichern. Auswirkungen auf den Haftungsumfang des AN hat eine solche Versicherung aber nur dann, wenn der AN von dem Versicherer nicht in Regress genommen werden kann! Eine Verpflichtung des ArbG zum Abschluss einer die Haftung des AN beschränkenden Kasko- oder Sachversicherung kann sich nach Auffassung des BAG (Urteil v. 24.11.1987 8 AZR 66/82 - in NZA 1988, 584) nur aus dem Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag ergeben. Ist dem AN allerdings die ihn aufgrund innerbetrieblichen Schadensausgleichs bei mittlerer Fahrlässigkeit treffende anteilige Haftung für den am Kfz des ArbG herbeigeführten Schaden nicht in voller Höhe zuzumuten, soll es nach dieser © Professor Dr. Hunscha 195 Dezember 2015 Rechtsprechung „bei Abwägung aller für den Haftungsumfang maßgebenden Umstände“ zu einer weiteren Ermäßigung u.U. bis auf den Betrag kommen können, der bei Abschluss einer Vollkaskoversicherung als Selbstbeteiligung zu vereinbaren gewesen wäre (BAG a.a.O.). Die Rechtsprechung lehnt es jedoch ab, im Unterlassen des ArbG, zur Entlastung seines AN von der Haftung für Schäden an einem betrieblich eingesetzten Kfz des ArbG eine Vollkaskoversicherung abzuschließen, ein Mitverschulden des ArbG unmittelbar nach § 254 BGB zu sehen. V. Der Sonderfall der Mankohaftung Die Grundsätze über die Beschränkung der AN-Haftung gelten auch, wenn der AN wegen einer Fehlmenge oder eines Fehlbetrages eines von ihm verwalteten Waren- oder Kassenbestandes in Anspruch genommen wird. Einerlei, ob es sich um einen vom AN ausschließlich allein beherrschbaren Bereich handelt oder der verwaltende AN keinen alleinigen Zugang zu den Gegenständen seiner Verwaltung hat, treffen ArbG und AN zur Regelung der Haftung für Fehlbestände häufig eine besondere Mankoabrede. So ist es z.B. zulässig zu vereinbaren, dass der AN für den innerhalb eines Jahres auftretenden Fehlbestand bis zur Höhe eines ihm für das Jahr zusätzlich zu seiner Vergütung gewährten Mankogeldes ohne Verschuldensnachweis haftet. Da dem AN das nicht verbrauchte Mankogeld als zusätzliche Vergütung verbleibt, besteht für ihn der Anreiz zu besonderer Sorgfalt. Eine das Mankogeld überschreitende Haftung des AN kommt nur dann in Betracht, wenn ihm mindestens grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen ist. © Professor Dr. Hunscha 196 Dezember 2015 § 28 Die Beendigung des Arbeitverhältnisses I. Vorbemerkung Während der Kaufvertrag auf einen im Regelfall einmaligen Leistungsaustausch gerichtet ist und normalerweise durch die Erfüllung der gegenseitigen Leistungspflichten ohne weiteres sein Ende findet, begründet der Arbeitsvertrag ein Dauerschuldverhältnis, dessen Beendigung durch einen ausdrücklichen rechtsgeschäftlichen Akt herbeigeführt werden muss. Als Instrumente hierfür stellt das Gesetz zum einen vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, nämlich die Vereinbarung eines befristeten oder auflösend bedingten Vertrages oder den Abschluss eines Vertrages zur Aufhebung des Dauerschuldverhältnisses (Aufhebungsvertrag). Zum anderen gibt es als einseitige Lösungsmöglichkeit die Kündigung und den allgemeinen Rechtsbehelf der Anfechtung. Aus dem Schutzbedürfnis des AN (oben § 1 III.) folgt, dass die Anwendung dieser Werkzeuge seinem Interesse an der Erhaltung des Arbeitsplatzes soweit wie möglich Rechnung tragen muss. Das gilt vor allem für die einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Wege arbeitgeberseitiger Kündigung und den arbeitsvertraglichen Beendigungstatbestand in Gestalt eines befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsverhältnisses. II. Die einvernehmliche Beendigung bei Vereinbarung eines befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsvertrages Zu einer einvernehmlichen Beendigung kann es dadurch kommen, dass ArbG und AN meist schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages die Dauer des Arbeitsverhältnisses nach § 620 III BGB unter Beachtung der §§ 14 ff. TzBfG durch Vereinbarung einer Befristung begrenzen. Das Gesetz stellt als mögliche Gestaltungsformen die Sachgrundbefristung und die sachgrundlose Befristung zur Verfügung. Vor einem die ANInteressen vernachlässigenden Einsatz der Sachgrundbefristung schützen die von Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an das Vorliegen eines tragfähigen Sachgrundes. Bei der sachgrundlosen Befristung folgt der Schutz des AN hauptsächlich aus seiner zeitlichen Begrenzung und dem Erfordernis, zur Vermeidung einer unwirksamen Befristung bestimmte Formalien und Verfahrensweisen einzuhalten. Die damit zusammenhängenden Rechtsfragen sind bereits oben unter § 13 behandelt. Nach § 21 TzBfG ist die Vereinbarung einer den Arbeitsvertrag beendenden auflösenden Bedingung nur entsprechend § 14 I TzBfG mit einem den Bedingungseintritt kennzeichnenden Sachgrund zulässig. III. Die einvernehmliche Beendigung durch Aufhebungsvertrag Viele Arbeitsverhältnisse werden einvernehmlich im Wege eines Aufhebungsvertrages beendet, etwa zur Vermeidung einer Kündigung durch den ArbG oder durch gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich (§ 779 BGB) bei vorangegangener Kündigung, über deren Wirksamkeit gestritten wurde. Zu einem Aufhebungsvertrag kommt es ferner, mal auf Wunsch des AN, mal auf Wunsch des ArbG, in diesem Fall dann mit einer Abfindung verbunden, um den Arbeitsvertrag mit einem unkündbaren oder nur langfristig kündbaren AN zu beenden. © Professor Dr. Hunscha 197 Dezember 2015 Nach § 623 BGB (der von einem „Auflösungsvertrag“ spricht) ist Wirksamkeitsvoraussetzung die Einhaltung der Schriftform des § 126 BGB unter Ausschluss der elektronischen Form. Trotz Erfüllung dieses Erfordernisses versucht der AN gelegentlich, den Aufhebungsvertrag wieder in Frage zu stellen mit der Begründung, er sei bei Vertragsschluss unter Druck gesetzt worden. Über den Weg einer Inhaltskontrolle des Aufhebungsvertrages nach Maßgabe der AGB-rechtlichen Grundsätze der §§ 305 ff. BGB hat der AN allerdings keinen Erfolg, da die getroffene Vereinbarung regelmäßig individuell ausgehandelt wurde. Außerdem sind nach § 307 III 1 BGB kontrollfähig nur die Nebenabreden, nicht aber die Beschreibung und Leistung und Gegenleistung, vor allem nicht die Aufhebung des Arbeitsvertrages als solche. Auch ein Verstoß gegen das Transparenzgebot nach § 307 I 2, III 2 BGB wird nicht in Betracht kommen. Ein Widerruf des Aufhebungsvertrags nach § 312 I Nr. 1 BGB i.V.m. § 355 BGB scheitert daran, dass sich diese Bestimmungen nur auf „besondere Vertriebsformen“ beziehen und der Betrieb der für den Abschluss derartiger Vereinbarungen typische Ort ist. Gelegentlich enthalten Tarifverträge die (wirksame) Klausel, wonach Aufhebungsverträge innerhalb einer bestimmten Bedenkzeit widerrufen werden können. Eine Anfechtung des Aufhebungsvertrages wegen arbeitgeberseitiger Täuschung oder Drohung gemäß § 123 I BGB setzt voraus, dass der AN beweisen kann, vom ArbG hinters Licht geführt oder einer Drohung ausgesetzt worden zu sein. Wird der AN vom ArbG vor die Alternative gestellt, entweder einen Aufhebungsvertrag zu unterzeichnen (oder eine Eigenkündigung zu erklären) oder gekündigt zu werden, ggf. auch mit einer Strafanzeige rechnen zu müssen, liegt ein zur Anfechtung nach § 123 I BGB berechtigende Fehlverhalten des ArbG nur dann vor, wenn ein verständiger ArbG in der konkreten Situation eine Kündigung/eine Strafanzeige nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hätte (BAG v. 30.1.1986 – 2 AZR 196/85 – in NZA 1987, 91; BAG v. 27.11.2003 – AZR 135/03 – in NZA 2004, 597). Ein Irrtum des AN über die sozialversicherungsrechtlichen Nachteile des Aufhebungsvertrags oder über seinen kündigungsrechtlichen Bestandsschutz, so z.B. einer ANin über eine bestehende Schwangerschaft oder über deren mutterschutzrechtliche Folgen, berechtigt nicht zu einer Anfechtung nach § 119 I oder II BGB (BAG vom 6.2.1992 – 2 AZR 408/91 – in BB 1992, 1286 bezüglich des entsprechenden Falles einer Eigenkündigung). Kommt der Aufhebungsvertrag auf Betreiben des ArbG zustande, fordert die Rechtsprechung von ihm allerdings als Nebenpflicht (§ 241 II BGB), einen erkennbar unwissenden AN über die Rechtslage angemessen aufzuklären, vor allem über Einbußen bei der betrieblichen Altersversorgung und die Nachteile einer Sperrzeit beim Bezug von Arbeitslosengeld (§§ 144 I 1 Nr. 1, 128 I SGB III). Bei schuldhafter Verletzung von Aufklärungspflichten haftet der ArbG dem AN auf Schadensersatz nach § 280 I BGB in Verb. mit §§ 241 II, 311 BGB in Gestalt des finanziellen Ausgleichs entstandener Vermögensnachteile, aber nicht auf Wiedereinstellung. © Professor Dr. Hunscha 198 Dezember 2015 IV. Die einseitige Beendigung durch Kündigung seitens des Arbeitgebers 1. Die Kündigungstatbestände im Überblick Der wichtigste Beendigungstatbestand ist die Kündigung. Sie kann sowohl vom ArbG als auch vom AN im Wege einseitiger Willenserklärung in Gestalt entweder einer ordentlichen Kündigung oder einer außerordentlichen Kündigung ausgesprochen werden. Da sich das Arbeitsrecht in erster Linie als AN-Schutzrecht versteht (oben § 1 III.), geht es hier zunächst einmal nur um Fragen der Wirksamkeit einer (ordentlichen oder außerordentlichen) Kündigung durch den ArbG. Die Kündigung durch den AN wird in einem gesonderten Kapitel behandelt (unten § 41). Das BGB verwendet weder den Begriff der ordentlichen, noch den der außerordentlichen Kündigung. Da die fristgemäße Kündigung der Normalfall ist, wurde sie aber in der Literatur zum Arbeitsrecht schon früh als „ordentliche“ Kündigung bezeichnet und im Gegensatz dazu die fristlose Kündigung aus wichtigem Grund die „außerordentliche“ Kündigung genannt. Der Gesetzgeber machte von diesen Bezeichnungen erstmals im KSchG von 1951 und im BetrVG von 1952 Gebrauch. a) Nach dem in den §§ 622 ff. BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsverständnis des BGB-Gesetzgebers bedarf die ordentliche Kündigung keines besonderen Grundes. Es ist lediglich erforderlich, dass zwischen dem Ausspruch der Kündigung und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Kündigungsfrist eingehalten wird. Abgesehen von der Beachtung der sondergesetzlichen Kündigungsverbote (unten § 29 II.), kann bei einer begründungsfreien Kündigung nur ein minimaler Kündigungsschutz in Betracht kommen (unten § 34). Auf den größten Teil der Arbeitsverhältnisse ist jedoch der allgemeine Kündigungsschutz des KSchG anwendbar, wonach die ordentliche Kündigung nur dann zulässig ist, wenn sie aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt ist (unten §§ 30 bis 32). Die Fristenregeln der ordentlichen Kündigung sind beschränkt abdingbar, nämlich für die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 des § 622 BGB nach Maßgabe der Absätze 4 bis 6. (nachfolgend unter 4.). b) Die in § 626 BGB geregelte außerordentliche Kündigung verlangt nicht die Einhaltung einer Kündigungsfrist, sondern beendet das Arbeitsverhältnis fristlos sofort. Sie kann allerdings ausnahmsweise mit einer Auslauffrist erklärt werden, doch muss der Kündigende dann deutlich machen, dass er trotzdem außerordentlich kündigen will. In jedem Fall aber ist sie davon abhängig, dass ein „wichtiger Grund“ gestützt auf Tatsachen vorliegt, nach denen „dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses…nicht zugemutet werden kann.“ Abgesehen von den auch hier geltenden sondergesetzlichen Kündigungsverboten, führt dieser Begründungszwang zu einem spezifischen Kündigungsschutz (unten § 33). Das Recht zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund ist beidseitig zwingendes Recht. Durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag ist weder seine Beseitigung noch seine Beschränkung, etwa durch Abhängigmachen von der Zustimmung des Betriebsrates, oder seine Erweiterung, etwa durch Erstreckung auf minder wichtige Gründe, möglich; auch nicht in der Weise, dass bestimmte Kündigungsgründe abschließend vereinbart werden . In § 314 I BGB hat die außerordentliche Kündigung ihren Ausdruck als allgemeiner Rechtsgrundsatz gefunden; nach§ 314 II BGB auch die Regel, dass ihr eine Abmahnung vorausgehen muss. c) Die vom ArbG erklärte Kündigung muss nicht immer ausschließlich auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zielen („Beendigungskündigung“). Sie kann vielmehr © Professor Dr. Hunscha 199 Dezember 2015 auch darauf gerichtet sein, nur bestimmte Arbeitsbedingungen zu ändern („Änderungskündigung“; unten § 35), dadurch dass sie dem Gekündigten AN die Möglichkeit gibt, das gekündigten Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen fortzusetzen. Auch die Änderungskündigung kann entweder als ordentliche oder als außerordentliche Kündigung erklärt werden. d) Eine wirksam erklärte Kündigung kann nicht einseitig zurückgenommen werden. Die Fortsetzung des wirksam gekündigten Arbeitsverhältnisses bedarf einer neuen Vereinbarung, die nach § 625 BGB auch stillschweigend erfolgen kann. Zieht der ArbG während des Kündigungsschutzprozesses die Kündigung zurück. anerkennt er das Klagebegehren des AN (§ 4 S. 1 KSchG) mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst ist. 2. Allgemeine rechtsgeschäftliche Wirksamkeitserfordernisse des Kündigung a) Schriftform Nach § 623 BGB bedarf die Kündigungserklärung der Schriftform des § 126 I BGB. Die elektronische Form des § 126a BGB ist ausdrücklich ausgeschlossen; eine Kündigung per Telefax, durch E-Mail oder SMS ist also nicht möglich. Eine ohne Beachtung dieser Erfordernisse erklärte Kündigung ist nach § 125 S. 1 BGB nichtig. Die Angabe des Kündigungsgrundes im Kündigungsschreiben ist kein Wirksamkeitserfordernis der Kündigung. Eine Ausnahme machen § 22 III BBiG und § 9 III 2 MuSchG. Im Übrigen kann ein solcher Begründungszwang durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag vereinbart werden. Spätestens im Kündigungsschutzprozess muss der ArbG als Beklagter den von ihm in Anspruch genommenen Kündigungsgrund dann aber darlegen und beweisen. Handelt es sich um eine außerordentliche Kündigung, hat der Gekündigte nach § 626 II 2 BGB allerdings das Recht, vom Kündigenden schon vorher zu verlangen, dass er ihm „den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilt“. Ferner hat im Fall einer betriebsbedingten ordentlichen Kündigung nach dem KSchG der ArbG nach § 1 III 1 Halbs. 2 KSchG „auf Verlangen des Arbeitnehmers die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben“. Es führt aber nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn der ArbG in diesen Fällen keine, unvollständige oder unrichtige Auskünfte gibt. Er kann jedoch dem AN nach § 280 I BGB in Höhe der Prozesskosten schadensersatzpflichtig werden, die dieser nutzlos aufgewendet hat, weil er die Erfolgsaussichten seiner Klage nicht einschätzen konnte. Im Fall des § 1 III KSchG ist der klagende AN bei fehlenden oder unzureichenden Auskünften von der ihn nach dieser Vorschrift treffenden Darlegungs- und Beweislast befreit. b) Eindeutigkeit Die Kündigung ist eine einseitige (= sie bedarf keiner Annahmeerklärung des Empfängers) empfangsbedürftige (= sie muss dem Empfänger zugehen) Willenserklärung. Bei Unklarheit darüber, ob eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung vorliegt, ist die Kündigung als ordentliche zu behandeln. Werden die Wörter „Kündigung“ oder „kündigen“ vom ArbG nicht verwendet, sondern das Arbeitsverhältnis „für beendet erklärt“ oder als „aufgelöst betrachtet“ oder auf ähnliche Weise der Wille, das Arbeitsverhältnis nicht fortsetzen zu wollen, zum Ausdruck gebracht, handelt es sich trotzdem um eine Kündigung, wenn der ArbG damit auf eine während des Arbeitsverhältnisses eingetretene Störung reagiert. Führt jedoch eine im Vorfeld des Vertragschlusses verübte Täuschungshandlung des AN dazu, dass der ArbG ihn einstellt, kann die Beendigungserklärung des ArbG nur eine Anfechtung sein. © Professor Dr. Hunscha 200 Dezember 2015 c) Zugang Die Kündigung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung. Die Kündigungserklärung ist also erst wirksam, wenn das die Kündigung enthaltende Schriftstück dem Gekündigten zugegangen ist. Der sicherste Weg, den Zugang herbeizuführen, ist die persönliche Übergabe des Kündigungsschreibens im Betrieb unter Zeugen oder gegen Empfangsbestätigung des Adressaten. Unter Abwesenden, wie im Falle des Postversandes oder der Einschaltung eines Boten, wird die Kündigung durch Zugang i.S.d. § 130 BGB wirksam, wenn das Kündigungsschreiben dergestalt in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass er von ihm unter den gewöhnlich zu erwartenden Umständen Kenntnis nehmen kann. Ob und wann er tatsächlich Kenntnis nimmt, ist unerheblich. Ein Brief, der außerhalb der üblichen Postzustellungszeiten eingeworfen wird, etwa am Abend, ist erst am nächsten Tag zugegangen. Ortsabwesenheit, z.B. durch Urlaubsreise oder Krankenhausaufenthalt, hindert den Zugang nicht. Ist deswegen die Frist für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage verstrichen, kann der AN nach § 5 KSchG, der trotz seiner Stellung im KSchG für alle Arten von arbeitgeberseitigen Kündigungen gilt (vgl. § 13 KSchG), die nachträgliche Zulassung seiner verspäteten Klage beantragen; im Fall des Krankenhausaufenthaltes allerdings nur, wenn eine häusliche Vertretung unmöglich war, weil sonst Verschulden des AN angenommen werden kann; ein fehlender Nachsendeantrag bei urlaubsbedingter Abwesenheit begründet kein Verschulden des AN. Trifft der Postbote, der das Kündigungsschreiben als Übergabe-Einschreiben (am besten mit Rückschein) abliefern soll, niemand an, geht es erst dann zu, wenn der Empfänger das Schreiben auf Grund des eingeworfenen Benachrichtigungsscheins bei der Post abholt. Unterlässt der Adressat das Abholen, kann darin eine Zugangsvereitelung liegen, weswegen er sich analog § 162 I BGB so behandeln lassen muss, als sei ihm das Schreiben zugegangen. Das gleiche gilt, wenn er Zugangshindernisse schafft oder tatenlos hinnimmt. Das von der Post neuerdings angebotene Einwurf-Einschreiben geht wie ein normaler Brief zu. d) Stellvertretung Die Kündigung kann nach § 164 I BGB durch einen Vertreter des ArbG erklärt werden, etwa den Prokuristen des ArbG oder den Leiter der Personalabteilung. Handelt auf der Arbeitgeberseite ein Außenstehender, wie z.B. ein Rechtsanwalt oder Unternehmensberater im Auftrag des ArbG, kann der AN nach § 174 S. 1 BGB die Kündigung unverzüglich zurückweisen, wenn der Kündigung keine ordentliche Vollmachtsurkunde (§ 126 I BGB: Originalunterschrift!) beigefügt ist. e) Allgemeine Nichtigkeitsgründe Wie jede Willenserklärung kann auch die Kündigung nach § 134 BGB wegen Gesetzesverstoßes, nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit und nach § 242 BGB wegen Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam (= nichtig) sein. Hauptfälle der Nichtigkeit einer Kündigung wegen Gesetzesverstoßes sind Kündigungen unter Verstoß gegen Vorschriften des sondergesetzlichen Kündigungsschutzes (unten § 29 II.). Zum Verstoß gegen die Diskriminierungsverbote der §§ 1, 7 AGG (oben § 9) siehe nachfolgend § 29 unter VI. Zur Nichtigkeit von Kündigungen wegen Sittenwidrigkeit oder Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben siehe unten § 34. © Professor Dr. Hunscha 201 Dezember 2015 3. Die in mitbestimmten Betrieben zur Wirksamkeit der Kündigung erforderliche Anhörung des Betriebsrates a) In einem mitbestimmten Betrieb ist nach § 102 I BetrVG der Betriebsrat vor jeder (arbeitgeberseitigen) Kündigung anzuhören, einerlei, ob es sich um eine ordentliche oder eine außerordentliche Kündigung handelt. Sinn und Zweck dieser Regelung liegt darin, den Ausspruch einer unberechtigten oder vermeidbaren Kündigung nach Möglichkeit zu verhindern. Die Anhörung muss ordnungsgemäß sein. Das erfordert eine umfassende Unterrichtung des Betriebsrates über die Person des AN, die Art der Kündigung, die Kündigungsfrist, den Kündigungstermin und die mit konkreten Tatsachen belegten Gründe, auf die er die Kündigung stützen will, einschließlich Erklärungen zur Verhältnismäßigkeit der Kündigung (unten § 30 II. 3.). Sind dem ArbG weitere Kündigungsgründe bekannt, die er dem AN gegenüber in der Hinterhand behalten möchte, kann er sie im Kündigungsschutzprozess nur dann „nachschieben“, wenn sie von ihm in das Anhörungsverfahren schon eingebracht worden waren (zum sog. Nachschieben von Kündigungsgründen ausführlich unten § 38). Geht es um (die für personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen nach dem KSchG kennzeichnenden) Pflichtverletzungen des AN, muss der ArbG auch ihm bekannte Umstände, die den AN entlasten, vortragen. Geht es um die (bei betriebsbedingten Kündigungen nach dem KSchG erforderliche) Sozialauswahl unter mehreren AN, muss der ArbG die Auswahlkriterien für alle AN mit vergleichbarer Tätigkeit konkretisieren. Die Anhörung läuft über den Vorsitzenden des Betriebsrates oder des nach § 28 BetrVG gebildeten Personalausschusses, nicht über beliebige Gremienmitglieder. Die Anhörungsfrist kann ggf. durch Vereinbarung zwischen ArbG und Betriebsrat verlängert werden. Bei unvollständiger Unterrichtung durch den ArbG trifft den Betriebsrat keine Erkundigungspflicht. Fragt er dennoch nach und erhält er ergänzende Informationen, die kündigungsrelevant sind, läuft die Äußerungsfrist des § 102 II BetrVG von neuem (Däubler/Kittner/Bachner, BetrVG § 102 Rn 157). b) Eine ohne oder ohne ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates ausgesprochene Kündigung ist nach § 102 I 3 BetrVG unwirksam. Eine nachträgliche Anhörung ist nicht ordnungsgemäß und heilt den Mangel nicht. Eine erneute ordentliche Kündigung aus demselben Grund ist erst nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates möglich, eine erneute außerordentliche Kündigung aus demselben Grund wird an § 626 II 1 BGB scheitern. Praxishinweis: Die Ordnungsgemäßheit der Anhörung zu bestreiten, ist eine oft erfolgreiche Einwendung des den AN vertretenden Rechtsanwalts gegen die Kündigung des ArbG, so wie umgekehrt der Anwalt des ArbG gerne die Ordnungsgemäßheit des Widerspruchs des Betriebrates angreift (unten § 37 II.). Ein Mangel des Anhörungsverfahrens, der im Verantwortungsbereich des Betriebsrates liegt, z.B. schlechte Amtsführung oder fehlerhafte Beschlussfassung, führt auch dann nicht zu einer Unwirksamkeit der Kündigung, wenn der ArbG den Mangel kannte. Der Betriebsrat soll nicht dadurch, dass er Fehler begeht, eine arbeitgeberseitige Kündigung unwirksam machen können. c) Der Betriebsrat kann innerhalb der Äußerungsfristen des § 102 II schweigen gegenüber einer ordentlichen Kündigung gilt das nach Ablauf der Äußerungsfrist als Zustimmung, in Ansehung einer außerordentlichen Kündigung einfach als unterlassene Stellungnahme oder der Kündigung ausdrücklich zustimmen. Andererseits kann er aus beliebigen Gründen Bedenken erheben, insbesondere den Kündigungsgrund angreifen. © Professor Dr. Hunscha 202 Dezember 2015 Aber: Einer vom ArbG beabsichtigten ordentlichen Kündigung kann der Betriebsrat stattdessen aus den besonderen Gründen des § 102 III Nr. 1 bis 5 BetrVG „widersprechen“. Die Widerspruchsgründe zielen auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung nach Maßgabe des KSchG. Das setzt anders als die vorstehend unter a) und b) behandelte Anhörungsverpflichtung des ArbG nach § 102 I BetrVG und das Recht des Betriebsrates zur Stellungnahme nach § 102 II BetrVG die gleichzeitige Geltung des KSchG voraus, von der bei Existenz eines Betriebsrates allerdings ausgegangen werden kann, weil es wohl kaum einen mitbestimmten Betrieb mit weniger als elf vollzeitbeschäftigten AN (§ 23 I KSchG) gibt. Die besondere Bedeutung des Widerspruchs liegt darin, dass er den betriebsverfassungsrechtlichen Weiterbeschäftigungsanspruch des AN nach Maßgabe des § 102 V BetrVG auszulösen vermag (unten § 37 II.). d) § 102 BetrVG beschränkt den ArbG nicht in seiner Kündigungsfreiheit. Einerlei, ob und wie der vom ArbG angehörte Betriebsrat zu der beabsichtigten Kündigung Stellung genommen hat, ist der ArbG nach Ablauf der Äußerungsfrist darin frei, sich nun für oder gegen eine Kündigung zu entscheiden. § 102 IV BetrVG macht deutlich, dass selbst ein Widerspruch des Betriebsrates gegen die Kündigung ihren Ausspruch nicht hindert. Die Kündigungsfreiheit des ArbG kann durch eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat nach Maßgabe des § 102 VI BetrVG beschränkt werden. Kündigt der ArbG, obwohl der Betriebsrat nach § 102 III BetrVG der Kündigung widersprochen hat, so hat er dem AN nach § 102 IV BetrVG mit der Kündigung eine Abschrift der Stellungnahme des Betriebsrates zuzuleiten. Dadurch wird der AN in die Lage versetzt, die Erfolgsausichten einer Kündigungsschutzklage besser einzuschätzen und sich vor Gericht auf den Widerspruch des Betriebsrates zu berufen. Unterlässt der ArbG die Übermittlung der Stellungnahme, kann er aus § 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden. e) Bei der Kündigung eines leitenden Angestellten bestimmt § 31 II SprAuG ähnlich § 102 I BetrVG, dass der Sprecherausschuss vor jeder Kündigung zu hören ist, wobei der ArbG ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen hat. Auch hier ist eine ohne vorhergehende Anhörung ausgesprochene Kündigung unwirksam. Die gegen eine ordentliche Kündigung gerichteten „Bedenken“ des Sprecherausschusses können jedoch niemals zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Gekündigten führen. Derlei sieht das SprAuG nicht vor. Es kann auch nicht zu einem sog. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des leitenden Angestellten kommen. 4. Die Kündigungsfristen der ordentlichen Kündigung (Zur Kündigung durch den Arbeitnehmer siehe unten § 41) a) Die Mindestkündigungsfrist der ordentlichen Kündigung beträgt nach § 622 I BGB vier Wochen (= 28 Tage) entweder zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats. Nach § 187 I BGB beginnt der Lauf der Kündigungsfrist einen Tag nach dem Zugang der Kündigungserklärung. Das gilt auch dann, wenn die Kündigung an einem Sonnabend, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag zugeht: § 193 BGB findet keine Anwendung! Ebenso kann auch der Tag, an dem das Arbeitsverhältnis durch den Ablauf der Kündigungsfrist endet, ein Sonnabend, Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag sein: Der Ablauf der Kündigungsfrist richtet sich nach § 188 II Halbs. 1 BGB. Die spätesten Zugangsdaten für eine Kündigung nach § 622 I BGB sind also (Staudinger/Preis, § 622, Rn. 24): Im Februar der 31.1. zum 28.2., im Schaltjahr der 1.2. zum 29.2. oder der 15.2. zum 15.3., im Schaltjahr der 16.2. zum 15.3.; In Monaten mit 30 Tagen der 2. des Monats zum 30. des Monats und der 17. des Monats zum 15. des Folgemonats; © Professor Dr. Hunscha 203 Dezember 2015 In Monaten mit 31 Tagen der 3. des Monats zum 31. des Monats und der 18. des Monats zum 15. des Folgemonats. Der kündigende ArbG kann freiwillig mit einer längeren Frist kündigen. Kündigt der ArbG mit einer zu kurzen Kündigungsfrist, ist seine Willenserklärung i.d.R. dahin auszulegen, dass sie das Arbeitsverhältnis zum zutreffenden späteren Zeitpunkt beenden soll (BAG v. 15.12.2005 – 2 AZR 148/05 - in NZA 2006, 791 Rn. 22 ff.). Problemen bei der Auslegung seiner Willenserklärung kann der Kündigende dadurch begegnen, dass er die Kündigung des Arbeitsverhältnisses „fristgerecht zum…“ mit der Hinzufügung versieht, „hilfsweise zum nächstzulässigen Termin“. Nach § 622 II BGB bestehen für eine Kündigung durch den ArbG gegenüber länger beschäftigte AN gestaffelte längere Kündigungsfristen. b) Nach § 622 III BGB kann während der vereinbarten Probezeit, längstens für die Dauer von sechs Monaten, das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt werden. Nach § 622 IV BGB kann die Kündigungsfrist während der Probezeit durch Tarifvertrag abgekürzt oder verlängert, nach § 622 V 3 BGB durch einzelvertragliche Vereinbarung lediglich verlängert werden. Bei einer längeren Probezeit gilt nach Ablauf der sechs Monate die Frist des § 622 I BGB. Ist die Probezeit nach § 14 I TzBfG befristet, kann es zu einer zwischenzeitlichen Kündigung nur nach § 15 III TzBfG kommen. c) Nach § 622 IV BGB darf durch Tarifvertrag von den gesetzlichen Fristen des § 622 I bis III BGB in jede Richtung abgewichen werden (tarifdispositives Gesetzesrecht). d) § 622 V 1 BGB gestattet in zwei Sonderfällen die Vereinbarung kürzerer Kündigungsfristen auch durch Arbeitsvertrag (beschränkt dispositives Gesetzesrecht):nach Nr. 1. bei einer Aushilfstätigkeit in den ersten drei Monaten bis auf Null, nach Nr. 2. in einem Kleinunternehmen ohne die vorgeschriebenen Kündigungstermine. Nach § 622 V 3 BGB bleibt die einzelvertragliche Vereinbarung längerer als der in § 622 I bis III BGB genannten Kündigungsfristen hiervon unberührt. Kürzere als die in § 622 II und III BGB genannten Fristen können einzelvertraglich hingegen nicht vereinbart werden. e) In jedem Fall gilt nach § 622 VI BGB, dass für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den AN keine längere Frist vereinbart werden darf als für die Kündigung durch den ArbG (Fristenparität). Einzelheiten dazu unten § 41. V. Die einseitige Beendigung durch Anfechtung des Arbeitsvertrages Wie die Kündigung, so ist auch die Anfechtung der zum Abschluss des Arbeitsvertrages erforderlichen Willenserklärung (man spricht häufig ungenau von der Anfechtung des Arbeitsvertrages) des ArbG durch den ArbG oder des AN durch den AN wegen Irrtums in den Fällen des § 119 BGB und wegen Täuschung oder Drohung nach § 123 BGB (oben § 10 IV. 4. und 5. sowie § 11 IV.) eine einseitige Willenserklärung, die das Arbeitsverhältnis, das noch nicht in Vollzug gesetzt wurde, nach § 142 I BGB mit Rückwirkung, das bereits in Vollzug gesetzte nach der Lehre vom faktischen Arbeitsverhältnis entgegen § 142 I BGB nur für die Zukunft vernichtet (oben § 11 IV.). © Professor Dr. Hunscha 204 Dezember 2015 VI. Die einseitige Beendigung durch Auflösung nach §§ 9, 12 und 13 KSchG Eine einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird durch seine Auflösung einerseits auf Antrag des AN oder des ArbG im Kündigungsschutzprozess nach § 9 und § 13 KSchG, andererseits durch Erklärung des obsiegenden AN gegenüber dem ArbG nach Rechtskraft des Urteils gemäß § 12 KSchG herbeigeführt (unten § 39), VII. Sonderfälle 1. Aus der Höchstpersönlichkeit der geschuldeten Arbeitsleistung (§ 613 S. 1 BGB) folgt, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Tod des AN endet. Stirbt hingegen der ArbG, treten seine Erben nach §§ 1922, 1967 BGB in das im Regelfall fortbestehende Arbeitsverhältnis ein. 2. Der rechtsgeschäftliche Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils auf einen neuen Inhaber führt nicht zu einer Beendigung der davon betroffenen Arbeitsverhältnisse. Der neue Inhaber tritt vielmehr nach § 613a BGB in die Rechte und Pflichten aus dem im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines AN durch den bisherigen ArbG oder durch den neuen Inhaber aus dem Anlass des Übergangs ist unwirksam (unten § 42). 3. Auch die Stilllegung des Betriebs führt nicht automatisch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Sie rechtfertigt aber eine (betriebsbedingte) ordentliche Kündigung des AN. 4. Von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des ArbG bleibt das Arbeitsverhältnis nach § 108 I 1 InsO zunächst einmal unberührt. Der Insolvenzverwalter, der kraft Amtes in die Stellung des ArbG rückt, kann dem AN jedoch unter Beachtung der §§ 113 ff. InsO kündigen, muss jedoch den allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz beachten. 5. Mit dem Erreichen eines bestimmten Alters oder des Zeitpunkts, in dem der AN eine Altersrente beanspruchen kann, tritt nicht automatisch ein Erlöschen des Arbeitsverhältnisses ein. Die als Beendigungsakt notwendige Kündigung oder Aufhebungsvereinbarung muss die Vorgaben des § 41 SGB VI beachten. Um zu vermeiden, dass eine Vereinbarung von Altersgrenzen im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag zu einer unzulässigen Befristung des Arbeitsverhältnisses führt, bedarf sie der Rechtfertigung durch das Vorliegen eines sachlichen Grundes, im Allgemeinen durch Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 SGB VI. Eine darüber hinausgehende befristete Weiterbeschäftigung kann als sachlich gerechtfertigt gelten, möglicherweise nach § 14 I 2 Nr. 6 TzBfG. Niedrigere Altersgrenzen werden nach dem AGG als diskriminierend anzusehen sein; so z.B. die tarifliche Altersgrenze von 60 Jahren für Lufthansa-Piloten (EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – in NZA 2011, 1039; dem folgt jetzt auch das BAG v.. 15.2.2012 – 7 AZR 946/10 – in NZA 2012, 866).. © Professor Dr. Hunscha 205 Dezember 2015 § 29 Der Kündigungsschutz im Überblick I. Vorbemerkung Um einer besonderen Situation, in der sich der AN befindet, Rechnung zu tragen oder ihn einfach vor einer willkürlichen Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu bewahren, genießt der AN gegenüber einer Kündigung durch den ArbG ein mehr oder weniger starkes Maß an Kündigungsschutz entweder in Gestalt eines Kündigungsverbotes oder einer Kündigungserschwerung, insoweit die Kündigung an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. II. Besonderer Kündigungsschutz Der besondere Kündigungsschutz knüpft an die besondere persönlichen Situation oder die besondere betrieblichen Stellung an, in der der AN sich zur Zeit der Kündigung befindet. Er ist überwiegend in Sondergesetzen geregelt, gelegentlich aber auch in Vorschriften des BGB und des BetrVG enthalten. Dabei ist zu beachten, dass die jeweiligen Regelungen spezifische Unterschiede aufweisen. Sofern die in Betracht kommende Vorschrift die Kündigung nur sinngemäß verbietet, sie aber nicht ausdrücklich für nichtig, unwirksam oder unzulässig erklärt, tritt die bei Verstoß gegen das Kündigungsverbot beabsichtigte Nichtigkeitsfolge über § 134 BGB ein. 1. Der Kündigungsschutz für Schwangere und Mütter nach § 9 MuSchG § 9 I MuSchG schließt die ordentliche wie die außerordentliche Kündigung aus. Andere Beendigungstatbestände, wie die Anfechtung und der Aufhebungsvertrag, bleiben hingegen unberührt. Hat die Nichterneuerung eines befristeten Arbeitsvertrages, dessen nochmalige Befristung zulässig wäre, erkennbar ihren Grund in der Schwangerschaft der Arbeitnehmerin, liegt darin eine vom ArbG zu vertretende diskriminierende Einstellungsverweigerung wegen des Geschlechts, die ihn nach § 15 I AGG schadensersatzpflichtig werden lässt (EuGH v. 4.10.2001 - C 438/99 - in NZA 2001, 1243). Eine Eigenkündigung Frau, die sie in Unkenntnis der Schwangerschaft ausgesprochen hat, kann von ihr nicht wegen Irrtums nach § 119 BGB angefochten werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 9 I MuSchG ist, dass die Arbeitnehmerin bei Zugang der Kündigung schwanger oder das Kind noch nicht älter als 4 Monate ist. Das Kündigungsverbot bis zum Ablauf von 4 Monaten nach der Entbindung gilt auch in den Fällen einer Totgeburt, dem Tod des Kindes kurz nach der Geburt oder seiner alsbaldigen Freigabe zur Adoption. § 9 I MuSchG ist entsprechend anwendbar im Fall des Schwangerschaftsabbruchs, sofern das Kind ein Mindestgewicht von 500 gr erreicht hatte. Das Kündigungsverbot gilt nicht, wenn die Schwangerschaft erst während des Laufs der Kündigungsfrist einsetzt. Voraussetzung für die Anwendung des § 9 I MuSchG ist weiterhin, dass „dem ArbG zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird; das Überschreiten dieser Frist ist unschädlich, wenn es auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht, und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.“ Wie bei § 616 BGB und § 3 I EFZG wird das Vertretenmüssen als ein „Verschulden gegen sich selbst“ verstanden, das erst dann vorliegt, wenn die Arbeitnehmerin in grober Weise gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartenden Verhalten verstößt. Nach § 9 III MuSchG kann die zuständige Behörde „in besonderen Fällen, die nicht mit dem Zustand der Frau während der Schwangerschaft oder ihrer Lage…nach der Entbindung im Zusammenhang stehen, ausnahmsweise die Kündigung (einer Schwangeren oder einer stillenden Mutter) für zulässig erklären“. Erst nach Vorliegen dieses Verwaltungsaktes kann der ArbG (ordentlich oder außerordentlich) © Professor Dr. Hunscha 206 Dezember 2015 wirksam kündigen. Dieses Sonderkündigungsrecht erfordert außergewöhnliche Umstände im Verhalten der Arbeitnehmerin oder in der wirtschaftlichen Situation des ArbG, die ihm die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses schlechthin unzumutbar machen. § 9 MuSchG wird durch § 18 BEEG ergänzt, wonach der ArbG das Arbeitsverhältnis auch während der Elternzeit im Grundsatz nicht kündigen darf (siehe nachfolgend). 2. Kündigungsschutz während der Elternzeit nach § 18 BEEG Der ArbG darf gemäß § 18 BEEG das Arbeitsverhältnis „ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt worden ist, höchstens jedoch acht Wochen vor Beginn der Elternzeit, und während der Elternzeit nicht [ordentlich oder außerordentlich] kündigen“. In besonderen Fällen kann ausnahmsweise eine Kündigung durch die für den Arbeitsschutz zuständige Behörde für zulässig erklärt werden, so z.B. bei Wegfall des Arbeitsplatzes vor allem wegen Stilllegung des Betriebes oder einer Betriebsabteilung, ferner wegen besonders schwerer Vertragsverletzung durch den AN oder der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des ArbG. 3. Kündigungsschutz für den pflegenden AN nach § 5 PflegeZG Siehe daselbst. 4. Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach § 85 ff. SGB IX § 85 SGB IX schließt weder die ordentliche noch die außerordentliche Kündigung des Schwerbehinderten durch den ArbG aus, sondern macht sie von der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes abhängig. Ist die Behinderung nicht offensichtlich und hat der ArbG weder von einer behördlichen Anerkennung der Behinderung des AN noch davon, dass dieser einen entsprechenden Antrag gestellt hat, Kenntnis, ist es Sache des AN, den ArbG hiervon zu unterrichten, andernfalls der Sonderkündigungsschutz entfällt (BAG v. 7.3.2002 - 2 AZR 612/00 - in NZA 2002, 1145). Für andere Beendigungstatbestände, wie die Anfechtung, die Befristung, den Aufhebungsvertrag und die Eigenkündigung gilt der Sonderkündigungsschutz nicht (oben § 10 IV. 2.). 5. Kündigungsschutz für Auszubildende nach Ablauf der Probezeit gemäß § 22 II Nr. 1 BBiG Das nach § 21 I BBiG durch den Ablauf der Ausbildungszeit befristete Berufsausbildungsverhältnis kann gemäß § 22 II Nr. 1 BBiG vom ArbG nach dem Ablauf der Probezeit (§ 20 BBiG) nur „aus einem wichtigen Grund ohne Einhalten einer Kündigungsfrist“, also außerordentlich, gekündigt werden. 6. Kündigungsschutz bei Teilzeitarbeit nach § 11 TzBfG Unwirksam nach § 11 TzBfG ist die (ordentliche wie außerordentliche) Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus dem Grunde, dass der AN sich weigert, von Vollzeit- in Teilzeitarbeit und umgekehrt zu wechseln. 7. Kündigungsschutz für betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger nach § 15 I KSchG Nach § 15 I 1 KüSchG ist die ordentliche Kündigung von betriebsverfassungsrechtlichern Funktionsträgern mit Ausnahme der in § 15 IV/V KüSchG genannten Fälle unzulässig. 15 III/IIIa KüSchG erweitert den Sonderkündigungsschutz auf Mitglieder des Wahlvorstandes, auf (wählbare) Wahlbewerber und auf (die ersten drei) Initiatoren einer Betriebratswahl. §§ 15 I 2, II 2 III 2 und IIIa 2 KSchG gewähren darüber hinaus einen abgestuften nachwirkenden Kündigungsschutz. Andere Beendigungstatbestände, wie z.B. die Anfechtung und die Befristung, sind hiervon nicht erfasst. Für Mitglieder des Sprecherausschusses gilt das Benachteiligungsverbot des § 2 III 2 SprAuG. © Professor Dr. Hunscha 207 Dezember 2015 Die außerordentliche Kündigung bleibt möglich, aber nur wegen einer Verletzung von Pflichten aus dem Arbeitsvertrag, nicht von Amtspflichten, §§ 23, 120 BetrVG. Nach § 103 I BetrVG bedarf die außerordentliche Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrates und gleichgestellter Funktionsträger sowie des Wahlvorstands und von Wahlbewerbern der Zustimmung des Betriebsrates. Nach § 103 II BetrVG kann die verweigerte Zustimmung auf Antrag des ArbG durch das Arbeitsgericht ersetzt werden. 8. Kündigungsschutz für die Vertrauensperson der Schwerbehinderten nach §§ 94, 96 III SGB IX Siehe daselbst. 9. Kündigungsschutz für den sicherheitsbeauftragten AN nach § 22 III SGB VII Siehe daselbst 10. Kündigungsschutz für den immissionsschutzbeauftragten AN nach § 58 BImSchG Siehe daselbst 11. Kündigungsschutz für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten nach § 4f III, 3, 6 BDSG Siehe daselbst 12. Kündigungsschutz für Abgeordnete nach Art. 48 II S. 2 GG, § 2 III AbgeoG). Siehe daselbst. III. Allgemeiner Kündigungsschutz Allgemein ist der Kündigungsschutz, der im Grundsatz allen AN zuteil wird und im Wesentlichen an den Sachgründen für die jeweilige Kündigung anknüpft. 1. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber ordentlichen Kündigungen nach Maßgabe von § 1 KSchG, wonach die ordentliche Kündigung rechtsunwirksam weil sozial ungerechtfertigt ist, „wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist“ (Einzelheiten unten §§ 30, 31), 2. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber außerordentlichen Kündigungen nach Maßgabe des § 626 BGB, wonach die außerordentliche Kündigung nur rechtswirksam ist bei Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB (Einzelheiten unten § 33) 3. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber sittenwidrigen oder treuwidrigen ordentlichen und außerordentlichen Kündigungen, © Professor Dr. Hunscha 208 Dezember 2015 wonach die Kündigung nicht gegen § 138 und § 242 BGB verstoßen darf (Einzelheiten unten § 34). 4. Der Schutz des AN vor einer ordentlichen oder außerordentlichen Vergeltungskündigung nach § 612a BGB i.V.m. § 134 BGB 5. Der Schutz des AN vor einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung wegen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils nach § 613a IV BGB Dazu unten § 42 IV. 5. IV. Gibt es einen Kündigungsschutz nach § 7 I AGG i.V.m. § 134 BGB? Das Diskriminierungsverbot des § 7 I AGG führt nicht neben den Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz über § 134 BGB zu einem „zweiten Kündigungsschutzrecht“ in Gestalt einer besonderen „Diskriminierungsklage“. Die Vorschrift des § 2 IV AGG, nach der „für Kündigungen…ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz (gelten)“, ist vielmehr richtlinienkonform (oben § 9 I. 1.) als Hinweis auf die Tatsache zu verstehen, dass die in den §§ 1 bis 10 AGG enthaltenen Diskriminierungsverbote zugleich tragende Gesichtspunkte im Rahmen der Anwendung schon des allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzes sind (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361): Im Anwendungsbereich des KSchG als Konkretisierungen des Begriffs der Sozialwidrigkeit, außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG zur Ausfüllung der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB und im Fall der Kündigung nach § 626 BGB bei der Prüfung des wichtigen Grundes. Bei schwerwiegender Verletzung des Persönlichkeitsrechts kann der AN neben der Kündigungsschutzklage auch einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 II AGG geltend machen (BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12 – in ArbRB 2014, 163). V. Vereinbarter Kündigungsschutz Während das Recht zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB beidseitig zwingendes Recht ist, kann einzelvertraglich oder durch Tarifvertrag, in den Grenzen des § 77 III BetrVG auch durch Betriebsvereinbarung, die ordentliche Kündigung ausgeschlossen werden. Bekannt sind die tarifvertraglichen Kündigungsverbote im öffentlichen Dienst gemäß § 53 III BAT / § 34 II TV-L, ferner in der Metallindustrie für AN, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb 10 Jahre angehören. Man denke ferner an die Vereinbarung eines zumeist befristeten Ausschlusses betriebsbedingter Kündigungen aus Anlass betrieblicher Umstrukturierungen in Gestalt von Rationalisierungsschutzabkommen oder zum Ausgleich einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses für Arbeit. In außergewöhnlichen Fällen, wie etwa dem einer Stilllegung des Betriebs, muss dann die eigentlich in Betracht kommende ordentliche (betriebsbedingte) Kündigung durch eine „fristgemäße Kündigung aus wichtigem Grund“ ersetzt werden. © Professor Dr. Hunscha 209 Dezember 2015 § 30 Der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG I. Die Anwendbarkeit des KSchG Gegenüber einer ordentlichen Kündigung des ArbG genießt der AN Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 1 bis 14 KSchG unter zwei Voraussetzungen: ► Zum einen muss das Arbeitsverhältnis nach § 1 I KSchG in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden haben. Die Wartezeit ist also auch dann erfüllt, wenn die Tätigkeit ununterbrochen nacheinander in mehreren Betrieben desselben Unternehmens erbracht worden ist. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob der AN in Voll- oder Teilzeit tätig war. Auf die Wartezeit ist auch die in demselben Betrieb oder Unternehmen unmittelbar vorausgehende Ausbildungszeit anzurechnen; ebenso ein betriebliches Praktikum im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Eine Unterbrechung liegt vor, wenn auf ein rechtlich beendetes Arbeitsverhältnis ein neues Arbeitsverhältnis folgt. Eine rechtliche Unterbrechung kann allerdings unerheblich sein, wenn zwischen beiden Arbeitsverhältnissen ein innerer sachlicher Zusammenhang besteht, etwa weil dem AN die Fortsetzung seiner bisherigen Tätigkeit schon in Aussicht gestellt worden war. Im Übrigen ist eine Anrechnung von Vordienstzeiten wie auch eine Abkürzung der Wartezeit entgegen der (einseitig zwingenden) Bestimmung des § 1 I KSchG stets durch einzel- oder kollektivvertragliche Regelung möglich, weil sie den AN günstiger stellt. Zweck der Wartezeit ist es, dem ArbG die Möglichkeit zu geben, den AN innerhalb der ersten 6 Monate auf Probe beschäftigen zu können, ohne bereits an das Verbot sozial ungerechtfertigter Kündigungen gebunden zu sein. ► Zum anderen muss der ArbG im Augenblick der Kündigung nach § 23 I KSchG in dem Betrieb, dem der Gekündigte angehört, in der Regel mehr als 10 AN mit Ausnahme Auszubildender vollzeitig beschäftigen. Teilzeitbeschäftigungen werden anteilig berechnet. Nach dem Urteil des BAG v. 24.1.2013 – 2 AZR 140/12 – in DB 2013, 1494 sind hierbei auch im Betrieb beschäftigte Leih-AN zu berücksichtigen, wenn sie auf einem Arbeitsplatz tätig sind, der zum regelmäßigen Bestand des Betriebes gehört, ob er nun mit einem eigenen oder mit einem entliehenen AN besetzt ist. Aus Gründen des Vertrauensschutzes bleibt denjenigen AN, die bei Anhebung des Schwellenwertes von mehr als 5 auf mehr als 10 AN ab 1.1.2004 bereits Kündigungsschutz genossen, der Kündigungsschutz erhalten, sofern ihre Gruppe nicht unter den alten Schwellenwert absinkt. Betrieb im Sinne des § 23 KSchG ist die Organisationseinheit, die über einen Leitungsapparat verfügt, der die nach Maßgabe des KSchG relevanten Entscheidungen selbständig treffen kann. Die Aufspaltung eines Unternehmens in mehrere diesbezüglich unselbständige oder nur scheinbar selbständige Betriebsstätten, in denen die Zahl der Beschäftigten den Schwellenwert nicht überschreitet, führt darum nicht zu kündigungsschutzfreien Kleinbetrieben. Zweck des § 23 I KSchG ist es vor allem, Kleinbetriebe vor den finanziellen Folgen des allgemeinen Kündigungsschutzes in Gestalt vor allem der Weiterbeschäftigungspflicht (unten § 36) und den Abfindungsregeln der §§ 1a (unten § 31 III.), 9, 10 KSchG (unten § 38) zu schützen. © Professor Dr. Hunscha 210 Dezember 2015 Gemäß § 14 II KSchG gilt das KSchG auch für leitende Angestellte mit der Besonderheit, dass der ArbG einen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG (unten § 38) ohne Begründung stellen kann. Demgegenüber sind die in § 14 I KSchG genannten Personen keine AN. II. Das Verbot sozialwidriger Kündigungen 1. Die Vorgaben des § 1 KSchG Nach § 1 I KSchG ist die ordentliche Kündigung gegenüber einem AN, dessen Arbeitsverhältnis unter das KSchG fällt, „rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.“ § 1 II 1 KSchG verdeutlicht diese Aussage durch die Feststellung, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, „wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.“ § 1 II 2 Nr. 1 b) KSchG sowie Satz 3 dieses Absatzes heben hervor, dass die Kündigung „auch sozial ungerechtfertigt“ ist, wenn die Möglichkeit besteht, den AN auf einem anderen Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen. Die Bestimmungen des § 1 II 2 Nr. 1 a), III bis V KSchG betreffen Besonderheiten nur der betriebsbedingten Kündigung. Nach der Rechtssprechung des BAG sind bei richtlinienkonformer Auslegung des § 2 IV AGG die Diskriminierungsverbote der §§ 1 bis 10 AGG bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des KSchG in der Weise zu beachten, dass sie Konkretisierungen des Begriffes der Sozialwidrigkeit darstellen (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361). Siehe dazu oben § 29 IV. 2. Die Geltung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips In dem Bemühen, das Verbot einer sozial ungerechtfertigten Kündigung interessengerecht zu konkretisieren, haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung aus den in § 1 KSchG enthaltenen Vorgaben die Erkenntnis abgeleitet, dass ein vernünftiger Ausgleich zwischen dem grundgesetzlich geschützten Interesse des AN an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes und dem ebenso grundgesetzlich geschützten Interesse des ArbG, eine Entscheidung über die Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses eigenverantwortlich treffen zu können, unter Anwendung des VerhältnismäßigkeitsPrinzips herbeizuführen ist (oben unter § 3 III. 2. vor (1) sowie zu (6)). Danach ist der in der Kündigung des Arbeitsverhältnisses liegende Eingriff in die Grundrechtsposition des AN nur dann sozial gerechtfertigt, wenn er eine zum Schutz der betrieblichen Interessen des ArbG nicht nur geeignete, sondern auch erforderliche und darüber hinaus angemessene Maßnahme ist. Die Kündigung darf sich mit anderen Worten nicht als eine Übermaßreaktion des ArbG erweisen. Positive Aussagen über die Voraussetzungen der sozialen Rechtfertigung der Kündigung trifft § 1 II 1 KSchG zum einen dadurch, dass er drei Störungstatbestände nennt, die durch eine Kündigung beendet werden dürfen. Das Gesetz beschreibt sie als Gründe in der Person oder im Verhalten des AN oder als dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des AN in diesem Betrieb entgegenstehen. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben für jeden dieser Gründe spezifische inhaltliche Anforderungen entwickelt (unten III. 1., IV. 1., V. 1.). Das Vorliegen eines hiernach legitimen Kündigungsgrundes kann allerdings für sich allein eine Kündigung noch nicht rechtfertigen. Darum wird der legitime Kündigungsgrund auch nur als „an sich geeigneter Kündigungsgrund“ bezeichnet. Ob er im konkreten Fall wirklich zur Beendigung des Ar- © Professor Dr. Hunscha 211 Dezember 2015 beitsverhältnisses führt, hängt vielmehr davon ab, dass auch die auf ihn gestützte Kündigung legitim ist. Man spricht deshalb von einem zweistufigen Prüfungsverfahren: Die Feststellung, dass ein als solcher geeigneter Kündigungsgrund vorliegt, bildet die Grundlage für die anschließende Prüfung, ob die zur Beseitigung der dadurch gekennzeichneten Störung ausgesprochene Kündigung verhältnismäßig ist. Der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand ist nur der Anlass dafür, die Kündigung als ein zur Beseitigung der eingetretenen Störung im Grundsatz geeignetes Mittel in Erwägung zu ziehen. Diese Zweiteilung findet ihren Niederschlag in der weiteren positiven Aussage des § 1 II KSchG, insoweit er die Forderung aufstellt, dass die Kündigung durch einen dieser Gründe „bedingt“ sein muss. In dieser Wortwahl kommt zum Ausdruck, dass allein das Vorliegen eines dieser Störungstatbestände noch nicht zur Kündigung ausreicht. Es ist vielmehr unerlässlich, die Feststellung zu treffen, dass die Kündigung zur Beseitigung der im Kündigungsgrund liegenden Störung nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich ist. Das ist aber nur dann der Fall, wenn zu diesem Zweck kein gleichermaßen geeignetes, aber milderes Mittel zur Verfügung steht, wie etwa die in § 1 II 2 Nr. 1 b) KSchG und Satz 3 dieses Absatzes beschriebene Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens (= Geeignetheit und Erforderlichkeit der Kündigung). Aus der negativen Aussage des § 1 II 1 KSchG, dass die Kündigung dann nicht sozial gerechtfertigt ist, wenn sie nicht durch einen der dort aufgeführten drei Kündigungsgründe bedingt ist, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass allein aus dem Bedingtsein der Kündigung durch einen der genannten Kündigungsgründe schon die soziale Rechtfertigung der Kündigung folgt. Aus ihr kann nur abgeleitet werden, dass eine Kündigung, wenn sie sozial gerechtfertigt ist, immer durch einen Kündigungsgrund bedingt ist. Damit ist das Bedingtsein der Kündigung durch einen der genannten Kündigungsgründe zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung ihrer sozialen Rechtfertigung (Dathe a.a.O. S. 88). Mit seiner negativen Formulierung eröffnet § 1 II 1 KSchG vielmehr den Weg, zusätzlich zum Bedingtsein der Kündigung durch einen der drei Kündigungsgründe auf die Notwendigkeit einer Abwägung der Interessen von ArbG und AN abzustellen, die der sozialen Schutzbedürftigkeit des AN Rechnung trägt (= Angemessenheit der Kündigung). 3. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips a) Die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderliche Prognose Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses dient dem Zweck, die durch Gründe in der Person oder im Verhalten des AN oder durch ein betriebsbedingtes Weiterbeschäftigungshindernis entstandene Belastung des Betriebs zu beheben. Liegt ein als solcher geeigneter Kündigungsgrund vor, besteht für den ArbG die Möglichkeit, die Kündigung auszusprechen, wenn sie das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel ist, die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu beenden. Als empfangsbedürftige Willenserklärung wird die Kündigung mit dem Zugang der Kündigungserklärung beim AN wirksam. Da es sich um eine ordentliche Kündigung handelt, endet das Arbeitsverhältnis aber erst mit dem Ablauf der Kündigungsfrist. Bezogen auf diesen Zeitpunkt muss sie sich als geeignet, erforderlich und angemessen erweisen. Wegen dieses die fristgemäße Kündigung kennzeichnenden Merkmals wird dem ArbG für den Zeitraum zwischen der Kündigungserklärung und dem Ablauf der Kündigungsfrist von Rechts wegen eine Prognose abverlangt. Er muss bereits im Kündigungszeitpunkt davon ausgehen können, dass sich die Kündigung bei Ablauf der Kündigungsfrist als verhältnismäßig erweist. Im Regelfall entsteht dem ArbG daraus kein Problem. Im Fall einer langen Kündigungsfrist kann es allerdings geschehen, dass sich die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Verhältnisse, die ihn zur © Professor Dr. Hunscha 212 Dezember 2015 Kündigung veranlassten, bis zum Ablauf der Kündigungsfrist so entscheidend verändert haben, dass sie eine jetzt ausgesprochene Kündigung nicht mehr rechtfertigen würden. War die ursprüngliche Prognose nach dem damaligen Stand der Dinge aber zulässig, wird die Kündigung durch die Veränderung der Umstände nicht unwirksam (nachfolgend unter 4.). Es kommt aber nicht nur wegen dieser rechtstechnisch bedingten Besonderheit der fristgemäßen Kündigung zu einem Prognose-Spielraum. Als ein Mittel, die den Kündigungsgrund bildende Störung zu beseitigen, liegt der Zweck der Kündigung gerade darin, die Gefahr der Fortdauer der Störung oder ihrer Wiederholung zu unterbinden. Man spricht von der Zukunftsbezogenheit der Kündigung und meint damit, dass die Kündigung dann eine angemessene Reaktion ist, wenn die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Umstände die negative Prognose stützen, dass die im Kündigungsgrund liegende Störung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus auf nicht absehbare Zeit fortdauern oder sich wiederholen wird. Sollte es für einen objektiven Betrachter auf Grund der im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Umstände hingegen erkennbar gewesen sein, dass die kündigungsrelevante Störung zwar erst nach dem Ablauf der Kündigungsfrist, aber noch innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung zumutbaren Zeitspanne von sich aus entfallen oder sich nicht wiederholten wird, würde es an der Angemessenheit der Kündigung fehlen (nachfolgend unter d) (1)). War die ursprüngliche negative Prognose nach dem damaligen Stand der Dinge allerdings zulässig, wird die Kündigung durch eine Veränderung der Umstände nicht unwirksam (nachfolgend unter 4.). Eine solch weitgehende negative Prognose wird von der Rechtsprechung vor allem im Fall der personenbedingten Kündigung wegen einer Langzeiterkrankung oder häufiger Kurzerkrankungen, krankheitsbedingter Minderung der Leistungsfähigkeit oder dauerhafter Arbeitsunfähigkeit verlangt (nachfolgend unter III. 1. a)). Sie kann ferner bei der betriebsbedingten Kündigung eine Rolle spielen für den Fall, dass der zur Kündigung Anlass gebende Auftragsmangel innerhalb einer absehbaren Zeitspanne nach Ablauf der Kündigungsfrist enden sollte. Bei einer verhaltensbedingten Kündigung folgt die negative Prognose hingegen aus der Tatsache, dass die der Kündigung vorausgegangene/n Abmahnung/en erfolglos war/en (nachfolgend unter IV. 3.). Im Fall einer krankheitsbedingten Kündigung erstreckt sich die „zunächst“ erforderliche negative Gesundheitsprognose nach der Rechtsprechung (hier in der Zusammenfassung des BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 – in NJW 2015, 1979 Rn.16 wiedergegeben) auf drei Schritte: (1) die Feststellung, dass im Kündigungszeitpunkt objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis der Fortdauer der Erkrankung oder weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen, die (2) zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessenführen, sowohl in Gestalt von Betriebsablaufstörungen als auch wegen zu erwartender Entgeltfortzahlungskosten über den Umfang von sechs Wochen hinaus. Im Rahmen der (3) „gebotenen Interessenabwägung“ sei sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom ArbG gleichwohl hingenommen werden müssen. Dies alles an den Anfang der Prüfung zu stellen, ist unglücklich: Während die Stufen (1) und (2) die Frage nach dem als solchen geeigneten Störungstatbestand betreffen, gehört die Interessenabwägung zur Angemessenheit am Ende der Prüfung. (nachfolgend unter d) und VI.) b) Die Geeignetheit der Kündigung Die Kündigung ist eine geeignete Maßnahme, wenn es durch ihren Einsatz möglich ist, die eingetretene Störung mit dem Ablauf der Kündigungsfrist zu beseitigen. © Professor Dr. Hunscha 213 Dezember 2015 Das setzt voraus, dass der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand in diesem Zeitpunkt (noch) vorliegt. Ist die kündigungsrelevante Störung bis zu diesem Zeitpunkt entfallen, z.B. weil der wegen einer Dauererkrankung personenbedingt gekündigte AN vor Ablauf der Kündigungsfrist gesundet oder der für eine betriebsbedingte Kündigung Anlass gebende Auftragsmangel vor Ablauf der Kündigungsfrist bis auf weiteres endet, fehlt es an der Geeignetheit der Kündigung. Der Wegfall der Störung kann vor allem bei langen Kündigungsfristen vorkommen. Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob der Kündigende diese Tatsache im Kündigungszeitpunkt erkannt und trotzdem gekündigt hat oder sie hätte erkennen und die Kündigung deswegen unterlassen müssen. Zum diesbezüglichen Prognoserisiko des ArbG siehe nachfolgend unter 4. a) bis c). Hat allerdings ein legitimer, an sich geeigneter Kündigungsgrund in Wahrheit nie bestanden, ist die darauf gestützte Kündigung ohne weiteres rechtsunwirksam. Für eine Prognose ist hier kein Raum; siehe nachfolgend unter 4. d). c) Die Erforderlichkeit der Kündigung Das Merkmal der Erforderlichkeit der Kündigung gebietet, von mehreren gleich geeigneten Mitteln dasjenige anzuwenden, das den Betroffenen am wenigsten belastet. Man spricht auch vom Gebot des ultima-ratio-Prinzips, die Kündigung des AN nur als das unausweichlich letzte Mittel anzuwenden, um die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu beenden. Steht dem ArbG zu diesem Zweck bei Ablauf der Kündigungsfrist ein gleichermaßen geeignetes, aber milderes Mittel zur Verfügung, ist die Kündigung nicht erforderlich. Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob der Kündigende diese Tatsache im Kündigungszeitpunkt erkannt und trotzdem gekündigt hat oder sie hätte erkennen und die Kündigung deswegen unterlassen müssen. Zum diesbezüglichen Prognoserisiko des ArbG siehe nachfolgend unter 4. a) bis c). (1) Wie § 1 II 2 Nr.1b) KSchG einschließlich Satz 3 dieses Absatzes erkennen lässt, kommt der Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG als gegenüber der Kündigung milderes Mittel besondere Bedeutung zu. Bevor der ArbG eine personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigung ausspricht, trifft ihn daher die „Initiativlast“ (ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn. 254) zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des AN „an einem anderen Arbeitsplatz in dem selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens“ (§ 1 Absatz 2 Satz 2 Nr.1b) besteht oder „die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach [dem AN wie dem ArbG; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 390 ff.] zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen“ (§ 1 Absatz 2 Satz 3 Altn. 1) dort möglich ist. Die Prüfung erstreckt sich über den Betrieb hinaus auf das gesamte Unternehmen, nicht aber auf den Konzern. Der ArbG ist nicht verpflichtet, einen freien Arbeitsplatz erst durch geeignete Organisationsmaßnahmen zu schaffen. Vielmehr muss der Arbeitsplatz beim Zugang der Kündigung frei sein oder bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei werden. Es sollte sich in erster Linie um einen vergleichbaren Arbeitsplatz handeln, so dass der AN, falls er den Arbeitsplatzwechsel ablehnt, schon durch Weisung des ArbG (und nicht erst im Wege einer Änderungskündigung) dorthin versetzt werden kann. In einem mitbestimmten Betrieb ist aber in jedem Fall § 99 BetrVG zu beachten! Darüber hinaus erfasst die Prüfung auch „eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unter geänderten Arbeitsbedingungen… (sofern) der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat“ (§ 1Absatz 2 Satz 3 Altn. 2). Kommt es hierüber zu keiner Einigung zwischen ArbG und AN, kann es als gegenüber der Beendigungskündigung milderes Mittel zu einer Änderungskündigung kommen (unten § 35). © Professor Dr. Hunscha 214 Dezember 2015 Im Fall von Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen kann der AN keine Weiterqualifizierung für eine höherwertige Tätigkeit verlangen, sondern nur eine Einarbeitung in die besonderen Anforderungen eines seinem bisherigen gleichwertigen Arbeitsplatzes. Entgegen dem Wortlaut des § 1 II Satz 2 und 3 KSchG gilt dies alles auch dann, wenn der Betriebsrat nicht widersprochen hat oder kein Betriebsrat besteht! Eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit ist nach dem ultima-ratio-Prinzip immer zu berücksichtigen! Der gemäß § 1 II 2 Nr. 1 a) KSchG die Sozialwidrigkeit der Kündigung auslösende Verstoß gegen eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG betrifft praktisch nur die zwischen ArbG und Betriebsrat in einer Betriebsvereinbarung festgelegten Regeln zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen (§ 1 IV KSchG). Dazu unten § 31. (2) Zu weiteren der Kündigung vorrangigen Maßnahmen, die speziell zu den einzelnen Kündigungsgründen passen, siehe nachfolgend III. 3., IV. 3. und V. 3. d) Die Angemessenheit der Kündigung Das Merkmal der Angemessenheit verlangt, im Wege einer Interessenabwägung zu prüfen, ob dem ArbG trotz personen-, verhaltens- oder betriebsbedingt entstandener Störung, zu deren Beseitigung die Kündigung das sowohl geeignete als auch erforderliche Mittel ist, nicht doch zugemutet werden kann, auf die Kündigung zu verzichten, weil der Vorteil, den sie ihm bringt, in keinem Verhältnis zu dem Nachteil steht, den sie dem AN zufügt. Die Kündigung ist also nur dann das angemessene Mittel, den im Kündigungsgrund liegenden Störungstatbestand zu beseitigen, wenn das Interesse des ArbG an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des AN am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist bei vernünftiger Gewichtung überwiegt. Hierbei kommt es zu verschiedenen Prüfungsbereichen. (1) Bei allen drei Kündigungsgründen kommt es darauf an, über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus den Blick auf die künftige Entwicklung des gestörten Arbeitsverhältnisses zu richten, um die mutmaßliche Fortdauer der Störung einzuschätzen. Dabei würde es an der Angemessenheit der Kündigung fehlen, wenn auf Grund der bei der Kündigung obwaltenden Umstände erkennbar wäre, dass der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand nach dem Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne von sich aus entfallen würde, oder dass nach dem Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne ein milderes Mittel zur Beseitigung der Störung zur Verfügung stehen würde. Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob der Kündigende diese Tatsachen im Kündigungszeitpunkt erkannt und trotzdem gekündigt hat oder sie hätte erkennen und die Kündigung deswegen unterlassen müssen. Zum diesbezüglichen Prognoserisiko des ArbG siehe nachfolgend unter 4. a) bis c). © Professor Dr. Hunscha 215 Dezember 2015 Die Zumutbarkeitsgrenze für den ArbG, die personenbedingte, verhaltensbedingte oder betriebsbedingte Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus hinzunehmen, könnte in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zur Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen, wenn die Beeinträchtigung des ArbG allein auf Entgeltfortzahlungskosten beruht, bei höchstens drei Monaten liegen (vgl. Dathe a.a.O. S.151 f. unter Bezugnahme auf BAG v. 5.7.1990 – 2 AZR 154/1990 – in AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 26 unter II. 3. a). Für die negative Prognose über die Fortdauer oder Wiederholung der im Kündigungsgrund liegenden Störung der betrieblichen Interessen insbesondere im Fall der krankheitsbedingten Kündigung (vorstehend unter 3. a)) über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus folgt daraus, dass die Kündigung angemessen ist, wenn die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Umstände für einen objektiven Betrachter keine innerhalb der Zumutbarkeitsgrenze liegende Entstörung erkennbar werden lassen. (2) Nur in den Fällen der personen- und der verhaltensbedingten Kündigung kommt es darüber hinaus dazu, mit Blick auf den bisherigen Verlauf des Arbeitsverhältnisses sowie die besonderen Umstände des Störfalls und die persönliche Situation des AN die Tatsachen zu berücksichtigen, die es dem ArbG aus sozialen Gründen gebieten, die eingetretene Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen als das kleinere Übel hinzunehmen. Hierbei kommen zum einen die bei der betriebsbedingten Kündigung schon im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 III 1 KSchG maßgebenden Daten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung des AN in Betracht. Darüber hinaus können hier aber z. B. auch der bisherige Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses, die Bedeutung der verletzten Pflicht, das Ausmaß der eingetretenen Störung, der Grad des Verschuldens des AN, Mitschuld des ArbG, die Berufsbedingtheit des Kräfteverfalls oder der Erkrankung u. ä. Gesichtspunkte als Beurteilungskriterien herangezogen werden. Ist eine hiernach erhebliche Tatsache nicht oder nicht angemessen berücksichtigt worden, fehlt es an der Angemessenheit der Kündigung, weshalb sie ohne weiteres rechtsunwirksam ist. Für eine Prognose ist hier kein Raum; siehe nachfolgend unter 4. d). (3) Bei der betriebsbedingten Kündigung hingegen findet eine Interessenabwägung zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen nicht statt; denn es ist dem ArbG außer in den eingangs unter (1) aufgeführten zeitlich begrenzten Sonderfällen nicht zumutbar, den entstandenen Arbeitskräfteüberhang hinzunehmen. An die Stelle einer Interessenabwägung aus sozialen Gründen zwischen ArbG und AN tritt bei der betriebsbedingten Kündigung die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG im Verhältnis der AN untereinander, die wegen vergleichbarer Arbeitsplätze gleichermaßen kündigungsbedroht sind, um den oder die AN zu ermitteln, dem oder denen die Kündigung aufgrund ihrer sie weniger belastenden Sozialdaten eher zuzumuten ist (unten § 31). Fehler bei der Sozialauswahl führen ohne weiteres zur Rechtsunwirksamkeit der Kündigung. Für eine Prognose ist hier kein Raum; siehe nachfolgend unter 4. d). © Professor Dr. Hunscha 216 Dezember 2015 4. Das Prognoserisiko des Arbeitgebers a) Die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips bringt es mit sich, dass der Kündigende im Kündigungszeitpunkt teilweise mit dem Risiko von Prognosen bezogen auf die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist und noch darüber hinaus belastet ist: Das gilt zum einen hinsichtlich des Vorliegens des kündigungsrelevanten Störungstatbestandes noch im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist (vorstehend unter 3. b) = Geeignetheit der Kündigung) und in Ansehung seiner Fortdauer über eine dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbare Zeitspanne über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus (vorstehend unter 3. d (1) = Angemessenheit der Kündigung). Das gilt zum anderen hinsichtlich der Frage nach einem milderen Mittel als dem der Kündigung, das dem ArbG bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (vorstehend unter 3. c) = Erforderlichkeit der Kündigung) oder erst nach diesem Zeitpunkt innerhalb einer ihm für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne (vorstehend unter 3. d) (1) = Angemessenheit der Kündigung) zur Verfügung steht. Die Prognosen sind tragfähig, wenn sie sich für einen verständigen ArbG aus den im Zeitpunkt der Kündigung bestehenden Verhältnissen rechtfertigen lassen. Liegt ein Störungstatbestand vor, der einen (an sich geeigneten) personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Kündigungsgrund bildet, kommt es also darauf an, ob aus der Sicht eines objektiven Betrachters auf Seiten des Kündigenden im Kündigungszeitpunkt die (negative) Prognose begründet erscheint, dass die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt (Geeignetheit), dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein milderes Mittel als das der Kündigung zur Verfügung steht, die Störung zu beseitigen (Erforderlichkeit) und dass die Störung nicht innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne nach diesem Zeitpunkt von alleine entfällt oder dass ihm in diesem Zeitraum ein milderes Mittel zur Beseitigung der Störung nicht verfügbar sein wird (Angemessenheit). b) Stellt sich bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der vom ArbG ausgesprochenen Kündigung heraus, dass ein mit den Gegebenheiten im (damaligen) Kündigungszeitpunkt vertrauter verständiger ArbG mindestens eine dieser Prognosen nicht getroffen hätte, ist die Kündigung rechtsunwirksam. In dieser Rolle eines objektiven Betrachters ex ante befindet sich das Arbeitsgericht und stellen sich im Kündigungsschutzprozess die Frage, ob auf der Grundlage der im Verlauf des Prozesses gewonnen Erkenntnisse über die im Kündigungszeitpunkt vorliegende Situation eine Kündigung damals hätte ausgesprochen werden dürfen. Wie die Kündigung nach heutigem Kenntnisstand zu beurteilen wäre, ist unerheblich. Eine Ausnahme hiervon bildet die Verdachtskündigung (unten § 32 II. 2. b). © Professor Dr. Hunscha 217 Dezember 2015 c) Nach der Kündigung eintretende Ereignisse und Entwicklungen, die die im Zeitpunkt der Kündigung zulässig prognostizierte Situation verändern, spielen keine Rolle. Erweist sich eine im Kündigungszeitpunkt zutreffende Prognose infolge damals nicht voraussehbarer Veränderungen im Nachhinein als falsch, bleibt die Kündigung wirksam. Es gilt die Faustregel: Einmal wirksam, immer wirksam! (Gamillscheg). Erweist sich jedoch eine im Kündigungszeitpunkt zutreffende Prognose aufgrund des Eintritts neuer Umstände noch in dem Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist als unzutreffend, kommt ausnahmsweise ein Anspruch des gekündigten AN auf Wiedereinstellung in Betracht. Es sind dies die Fälle, in denen es an der Geeignetheit der Kündigung zur Beseitigung einer Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen z.B. darum fehlt, weil der Kündigungsgrund vor Ablauf der Kündigungsfrist weggefallen ist; so wenn der wegen einer Dauererkrankung gekündigte AN in diesem Zeitraum gesundet (oben unter 3. a). Ist die Gesundung hingegen erst danach eingetreten, bleibt die Kündigung geeignet und ist die Kündigung rechtswirksam, sofern nicht im Zeitpunkt der Kündigungszugangs erkennbar gewesen ist, dass der AN innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne nach Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsfähig werden würde. Dann nämlich würde es an der Angemessenheit der Kündigung fehlen (oben unter 3. c). d) Beachte: Ebenso wie in Ansehung des Bestehens eines an sich geeigneten Kündigungsgrundes (oben 3. b)) kommt es auch bei der im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit der Kündigung erforderlichen Interessenabwägung aus sozialen Gründen (vorstehend unter 3. d) (2) nicht zu einer Prognose, denn es geht dabei ausschließlich um die Berücksichtigung bereits feststehender Fakten. Liegt ein an sich geeigneter Kündigungsgrund nicht vor oder ist eine für die Interessenabwägung aus sozialen Gründen erhebliche Tatsache nicht oder nicht angemessen berücksichtigt worden, ist die Kündigung ohne weiteres rechtsunwirksam. Das gleiche gilt in Ansehung der Tatsachen, die bei einer betriebsbedingten Kündigung für die Sozialauswahl (vorstehend unter 3. d) (3)maßgebend sind. 5. Zur Beweislast im Kündigungsschutzprozess a) Es ist Aufgabe des AN, im Kündigungsschutzprozess (substantiiert) darzulegen, dass die Kündigung wenigstens an einem der nachfolgend aufgeführten Fehler krankt, nämlich dass kein als solcher geeigneter Kündigungsgrund vorgelegen hat, dass wenigstens eine Prognose des ArbG fehlerhaft ist. dass die Interessenabwägung aus sozialen Gründen fehlerhaft ist, Im Fall einer betriebsbedingten Kündigung muss der AN nach § 1 III 3 KSchG die Tatsachen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt erscheinen lassen, weil die Sozialauswahl fehlerhaft ist, nicht nur (substantiiert) darlegen, sondern auch beweisen. Wenn er die Sozialdaten seiner Arbeitskollegen nicht kennt, hilft ihm der Auskunftsanspruch nach § 1 III 1 Halbs. 2 KSchG. © Professor Dr. Hunscha 218 Dezember 2015 b) Den ArbG trifft nach § 1 II 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein als solcher geeigneter Kündigungsgrund vorgelegen hat, die objektiven Verhältnisse im Kündigungszeitpunkt die Prognosen bezogen auf die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist und darüber hinaus rechtfertigten, dass weder die Interessenabwägung aus sozialen Gründen noch die Sozialauswahl fehlerhaft ist. III. Der personenbedingte Kündigungsgrund 1. Der an sich geeignete Störungstatbestand Der personenbedingte Kündigungsgrund entstammt der Sphäre des AN. Er erfordert das Vorliegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses durch eine Pflichtverletzung des AN in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung. Im Gegensatz zum verhaltensbedingten Kündigungsgrund beruht die Pflichtverletzung hier nicht auf einem willensgesteuerten Fehlverhalten des AN, sondern darauf, dass dem AN aufgrund von persönlichen Umständen, die er nicht willensgesteuert beherrschen kann, die Möglichkeit oder Fähigkeit fehlt, seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen. Mangels Verschuldens des AN handelt es sich um eine Pflichtverletzung im (lediglich) objektiven Sinn. Jede Nicht- oder Schlechtleistung ist schuldrechtlich eine Pflichtverletzung mindestens im objektiven Sinne sowie arbeitsrechtlich eine Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen und damit ein Störungstatbestand, der zu einer Kündigung führen kann (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 68). Da die personenbedingte Nicht- oder Schlechtleistung aber kein Verschulden des AN voraussetzt, soll sie im Grundsatz von Ausnahmen abgesehen sozusagen als Ausgleich für das fehlende Merkmal des Verschuldens erst dann einen Kündigungsgrund abgeben, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt hat. Das gilt vor allem in den Fällen, in denen die personenbedingte Pflichtverletzung auf Krankheit beruht; denn der AN soll vor der Gefahr geschützt sein, seinen Arbeitsplatz aufgrund einer im Regelfall vorübergehenden Schwächeerscheinung ohne sein Verschulden allzu schnell zu verlieren. a) Hauptfall eines personenbedingten Kündigungsgrundes ist die Krankheit des AN. (1) Im Fall einer Langzeiterkrankung, kommt es für die Feststellung eines kündigungsrelevanten Störungstatbestandes zum einen auf die Art der Erkrankung sowie auf die Dauer der bisher aufgelaufenen Fehlzeiten an, die ein gewichtiges Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit des AN bilden. Zum anderen muss die anhaltende Arbeitsunfähigkeit des AN zu einer erheblichen Belastung der betrieblichen Interessen geführt haben und weiter führen, regelmäßig in Gestalt von Betriebsablaufstörungen. Dabei kommt es u. a. auf die Bedeutung des Arbeitsplatzes für den Betrieb an und darauf, ob es für den ArbG möglich und wirtschaftlich tragbar ist, Überbrückungsmaßnahmen zu ergreifen. Als solche kommen z.B. die Beschäftigung von Ersatzpersonal, die Schaffung von Vertretungsmöglichkeiten und die Vornahme organisatorischer Umstellungen in Betracht (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 133). (2) Im Regelfall ungleich störender als die Langzeiterkrankung eines AN sind häufige Kurzerkrankungen. Dies gilt vor allem für kleinere Betriebe, für die das Vorhalten einer Personalreserve, die solche Ausfälle abfangen soll, finanziell oft nicht tragbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit einer © Professor Dr. Hunscha 219 Dezember 2015 Personalreserve ausgestattete Großbetriebe häufige Kurzerkrankungen großzügiger hinzunehmen hätten. Für die Feststellung eines kündigungsrelevanten Störungstatbestandes kommt es zum einen auf die Art, die Häufigkeit und die Dauer der bisher aufgetretenen Erkrankungen an, die die Wiederholungsgefahr indizieren. Zu dem weiteren Erfordernis einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen siehe zunächst vorstehend unter (1). Darüber hinaus sind im Fall häufiger Kurzerkrankungen bei wiederholten Erkrankungen jeweils unterschiedlicher Ursache Belastungen mit über sechs Wochen pro Jahr hinausgehenden Entgeltfortzahlungskosten von Bedeutung. Erhebliche Beeinträchtigungen können ferner aus Störungen im Produktionsablauf folgen, insbesondere bei Arbeit in der Gruppe, ferner aus der wiederholt vorübergehenden Beschäftigung von Aushilfskräften, aus der Enttäuschung von Kunden über Verzögerungen, aus dem Verlust von Kundenaufträgen und dem Unfrieden in der Belegschaft infolge wiederholter Vertretungsnotwendigkeiten sowie der Durchführung von Überarbeit (über die regelmäßige betriebliche Arbeitszeit hinaus) oder Mehrarbeit (über die regelmäßige gesetzliche Arbeitszeit hinaus) (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn 140). Gerade häufige Kurzerkrankungen nähren den Verdacht, dass sich der AN gehen lässt und es sich angewöhnt hat, jeder kleinen Unpässlichkeit nachzugeben oder gar ganz bewusst gelegentlich „seine Grippe zu nehmen“. Insoweit befindet sich dieser Störungstatbestand in einer Grauzone zwischen einem personenbedingten und einem verhaltensbedingten Kündigungsgrund. Letzterer würde als regelmäßig schuldhafte Pflichtverletzung eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gerade nicht voraussetzen; siehe nachfolgend unter IV. In diesen Fällen gelingt es jedoch nur selten, die Schuldfrage zu klären. Bemerkenswert ist allerdings die häufig anzutreffende Erkenntnis, dass ein ernstes Gespräch des ArbG mit dem AN darüber, wie es in Zukunft weitergehen soll, oft Wunder wirkt. Zu der entsprechenden Problematik im Fall der Minderleistung des AN siehe nachfolgend unter b). (3) Wie im Fall von Eignungsmängeln (nachfolgend unter b) ist im Fall krankheitsbedingter Minderung der Leistungsfähigkeit der kündigungsrelevante Störungstatbestand einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen eingetreten, wenn die Arbeitsleistung in dem Maße hinter den berechtigten Erwartungen des ArbG zurückbleibt, dass sie in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis mehr zur Entlohnung steht. Von einer schweren Störung im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung kann bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 gegenüber der durchschnittlichen Leistung vergleichbarer AN gesprochen werden. (4) Im Fall krankheitsbedingt dauernder Leistungsunfähigkeit wird der kündigungsrelevante Störungstatbestand einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen aus der Tatsache abgeleitet, dass dem AN die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit unmöglich geworden ist. (5) Leistungsausfälle infolge von Alkohol- und Drogensucht erfüllen den Tatbestand der Krankheit. Sie sind personenbedingte Kündigungsgründe, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt haben und weiter führen. Es finden vor allem die für Langzeiterkrankungen geltenden Maßstäbe Anwendung (vorstehend unter (1)). Hinzu kommt, dass die Tätigkeit des AN mit Gefahren für ihn selbst und Dritte verbunden ist. Da der ArbG stets befürchten muss, dass der AN nicht nüchtern ist, ist er auf seinem Arbeitsplatz kaum mehr einsetzbar. b) Fachliche Eignungsmängel körperlicher und/oder geistiger Art, die sich z.B. durch unzureichende Kenntnisse, Fertigkeiten oder Fähigkeiten sowie das Nichtbestehen von Prüfungen bemerkbar machen, sind ein personenbedingter Kündigungsgrund. Sie führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, wenn die Arbeitsleistung in dem Maße hinter der nach ihrer Tätigkeit vergleichbarer AN zurückbleibt, dass sie zu der Entlohnung in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis mehr stehen. Von einem nicht mehr hinnehmbaren Ungleichgewicht kann bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 gegenüber der durchschnittlichen Leistung vergleichbarer AN gesprochen werden. (Vgl. oben § 26 II. 1. sowie BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02 – in NZA 2004, 784 sowie BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06 – in NZA 2008, 693). Durch eine sorgfältige Personalauswahl, begleitende Beobachtung und Unterstützung des AN in der Probezeit, ggf. zunächst eine nur befristete Einstellung, wiederholte Schulungen und eine aufmerksame Personalführung sollte derlei vermieden werden können. Auch persönliche Eignungsmängel, vorwiegend charakterlicher Art, können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse führen, etwa in Gestalt von mangelnder Kooperationsfä- © Professor Dr. Hunscha 220 Dezember 2015 higkeit, Entscheidungsschwäche, mangelnder Fähigkeit zur Menschenführung, autoritärer Führungsstil, fehlender pädagogischer Befähigung. Hierbei kann es auch zu einer Druckkündigung kommen (nachfolgend unter i). Der Eignungsmangel insbesondere in Gestalt der fachlichen Minderleistung kann seine Ursache auch darin haben, dass der AN seine Leistungsfähigkeit willensgesteuert nicht ausschöpft und sich also mindestens keine Mühe gibt, wenn nicht gar ganz bewusst langsam und nachlässig arbeitet. Eine dergestalt schuldhafte Pflichtverletzung setzt den AN einer verhaltensbedingten Kündigung aus, die keine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen voraussetzt (siehe nachfolgend unter IV.). Die Grenze zwischen der willensgesteuerten Nachlässigkeit und der unwillentlichen Unfähigkeit ist jedoch fließend. Überdies gelingt es in diesen Fällen oft nicht, die Schuldfrage zu klären. Anstelle einer Abmahnung kann jedoch auch ein ernsthaftes Gespräch zwischen ArbG und AN darüber, wie es in Zukunft weitergehen soll, zu einer Verbesserung der Situation führen. Zu der entsprechenden Problematik im Fall häufiger Kurzerkrankungen des AN siehe vorstehend unter a) (2). c) Das Lebensalter als solches ist kein personenbedingter Kündigungsgrund, doch kann eine altersbedingte Leistungsminderung bei erheblicher Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen einen personenbedingten Kündigungsgrund bilden. Es gelten die Maßstäbe der krankheitsbedingten Leistungsminderung (vorstehend a (3)). d) Beschäftigungsverbote wegen rechtskräftiger Versagung des Aufenthaltstitels nach §§ 4 III, 18 AufenthaltsG bilden ohne weiteres einen personenbedingten Kündigungsgrund, weil sie den Einsatz des AN im Betrieb generell unmöglich machen. Das Fehlen der jeweils erforderlichen Erlaubnis zur Berufsausübung z.B. als Kraftfahrer (Führerschein), Pilot (Fluglizenz), Arzt (Approbation) macht die Ausübung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit unmöglich und kann darum ein personenbedingter Kündigungsgrund sein, wenn der AN nicht anderweitig einsetzbar ist. e) Die haftbedingte Arbeitsverhinderung bildet, abhängig von der Dauer der Haft sowie von Art und Ausmaß der daraus folgenden betrieblichen Auswirkungen, einen personenbedingter Kündigungsgrund. Für den Fall einer Untersuchungshaft wird der ArbG den ersten Haftprüfungstermin abwarten müssen. Auch ohne das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen können außerhalb des Dienstes begangene Straftaten zu einer personenbedingten Kündigung führen, wenn sie „einschlägig“ sind, weil sie das Arbeitsverhältnis konkret berühren (z.B. Vermögensdelikt eines Bankangestellten, Trunkenheitsfahrt eines Berufskraftfahrers oder Zugführers bei der Bahn, BTM-Delikt einer Krankenschwester). f) Der Arbeitsplatzschutz deutscher AN nach § 2 I ArbPlSchG für Wehrübungen wird in Deutschland auch von AN aus einem EU-Staat in Anspruch genommen werden können. Überschreitet der Wehrdienst eines ausländischen AN, dessen Heimatstaat nicht der EU angehört, den Zeitraum von zwei Monaten, liegt darin allerdings regelmäßig ein personenbedingter Kündigungsgrund. g) Glaubens- und Gewissenskonflikte des AN, die ihm übertragenen Arbeiten vertragsgemäß auszuführen, machen die vertraglich geschuldete Tätigkeit des AN unmöglich und können zu einer personenbedingten Kündigung führen, wenn der AN nicht anderweitig einsetzbar ist (oben § 3 III. 3. (2)). h) Ist der AN bei einem Tendenzunternehmen oder einer Religionsgemeinschaft bzw. kirchlichen Einrichtung (siehe § 118 BetrVG sowie oben § 6 IV. 2. bis 4.) als Tendenzträger beschäftigt, darf der ArbG von ihm erwarten, sich mit den Zielen des Unternehmens im Wesentlichen zu identifizieren und durch seine Arbeitsleistung an ihrer Verwirklichung mitzuwirken. Läuft die persönliche Haltung des AN bzw. die von ihm erbrachte Arbeitsleistung dem Tendenzzweck zuwider, liegt ein personenbedingter Kündigungsgrund vor. i) Es kommt vor, dass der ArbG einem AN kündigt, weil die Belegschaft, der Betriebsrat oder ein Geschäftspartner dies von ihm unter Ausübung von Druck verlangt. Man spricht in diesem Fall von einer Druckkündigung. Sofern sich das Entlassungsbegehren bei objektiver Betrachtung auf eine in der Person oder im Verhalten des AN liegenden Störung der zurückführen lässt, bildet es einen besonderen, an der Person des AN anknüpfenden und darum personenbedingten Kündigungsgrund, wenn es © Professor Dr. Hunscha 221 Dezember 2015 dem ArbG trotz intensiver Bemühungen nicht gelingt, dem Druck entgegenzuwirken und die Kündigung das einzige Mittel ist, von dem Betrieb Schaden abzuwenden. Fehlt es hingegen an einem dem AN zuzurechnenden Anlass für die Drucksituation, kann es nach der Rechtsprechung des BAG zu einer betriebsbedingten Kündigung kommen. Das gilt insbesondere in den Fällen, in denen ein Vertragspartner des ArbG den Druck dadurch ausübt, dass er mit Auftragsentzug droht. Entstünden für den ArbG bei Verwirklichung der Drohung schwere wirtschaftliche Schäden, muss der ArbG aus wirtschaftlichen Gründen handeln. Der Kündigungsgrund ist darum seiner Sphäre zuzuordnen. 2. Zur Geeignetheit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe oben unter II. 3. b). 3. Zur Erforderlichkeit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3. c) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG, im Fall einer krankheitsbedingten Kündigung die Weiterbeschäftigung auf einem „leidensgerechten“ Arbeitsplatz oder die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll sich im Einzelfall auch die Verpflichtung des ArbG ergeben können, dem AN vor einer Kündigung die Chance zu bieten, spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten auszuschließen. In jedem Fall kommt als der personenbedingten Kündigung spezifisch vorrangige Maßnahme vor allem in den Fällen häufiger Kurzerkrankungen (Nichtleistung) oder anhaltender Minderleistung bzw. wiederholter Schadensfälle (Schlechtleistung) ein klärendes Gespräch in Betracht, in dem der ArbG auf den Störungstatbestand hinweist und mit dem AN Maßnahmen zur Abhilfe bespricht. Da in diesen Fällen nicht auszuschließen ist, dass der AN sich nur einfachen gehen lässt, kann ein solches Gespräch Wunder wirken. Von besonderer Bedeutung ist es, vor jeder krankheitsbedingten Kündigung das in § 84 II SGB IX beschriebene betriebliche Eingliederungsmanagement durchzuführen, und zwar unabhängig davon, ob der AN behindert ist oder nicht (BAG v. 12.7.07 – 2 AZR 716/06 – in NZA 08, 173; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 – in NJW 2015, 1979 mit zustimmender Anm. von Kock a.a.O.). Es ist Sache des ArbG, hierzu die Initiative zu ergreifen. Zu den erforderlichen Aktivitäten siehe § 84 II SGB IX und die ausführliche Darstellung im Urteil des BAG v. 20.11.2014 a.a.O. Rn.30 ff. Im Fall von Alkohol- oder Drogensucht soll von einer negativen Prognose nur ausgegangen werden dürfen, wenn der AN eine Entziehungskur ablehnt oder eine derartige Maßnahme sich als erfolglos erweist. 4. Zur Angemessenheit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3 d). Da krankheitsbedingte Störungen zumeist vorübergehender Natur sind, kommt dem unter II. 3. d) (1) aufgeführten Gesichtspunkt, dass die nach Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne eintretende Wiederherstellung des AN die Angemessenheit der Kündigung entfallen lässt, besondere Bedeutung zu. Er spielt eine entscheidende Rolle für die negative Zukunftsprognose (siehe oben unter II. 3. a)). © Professor Dr. Hunscha 222 Dezember 2015 Überdies kann dem AN eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen Gründen zugute kommen (oben unter II. 3. d) (2). Lehnt ein alkoholabhängiger AN eine Entziehungskur bzw. Therapie ab, kann der ArbG in aller Regel davon ausgehen, dass der AN von seiner Alkoholkrankheit in absehbarer Zeit nicht geheilt sein wird (BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 565/12 – in ArbRB 2014, 165). IV. Der verhaltensbedingte Kündigungsgrund 1. Der an sich geeignete Störungstatbestand Wie der personenbedingte, so entstammt auch der verhaltensbedingte Kündigungsgrund der Sphäre des AN und erfordert das Vorliegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses durch eine Pflichtverletzung in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung. Im Gegensatz zum personenbedingten Kündigungsgrund ist die Pflichtverletzung hier aber dadurch gekennzeichnet, dass der AN seine arbeitsvertraglichen Pflichten im Wesentlichen willensgesteuert verletzt und damit im Regelfall schuldhaft handelt. Darin liegt eine Pflichtverletzung nicht nur im objektiven, sondern zugleich im subjektiven Sinne. Da die verhaltensbedingte Kündigung grundsätzlich ein Verschulden des AN voraussetzt, liegt in der anlassgebenden Nicht- oder Schlechtleistung anders als im Fall der personenbedingten Kündigung selbst dann ein an sich geeigneter Kündigungsgrund, wenn die Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen noch nicht erheblich ist. Geringe Schuld des AN kann allerdings bei der Prüfung der Frage, ob die Kündigung im Sinne des Verhältnismäßigkeits-Prinzips angemessen ist, eine Rolle spielen. Typische Fälle verhaltensbedingter Kündigungsgründe sind unentschuldigtes Fehlen, Unpünktlichkeit, Erledigung privater Angelegenheiten während des Dienstes, Surfen im Internet zu privaten Zwecken; Bummelei infolge Überziehens der Pausen, Zeitunglesens, Computerspielens und ausgedehnter privater Telefonate; eigenmächtiges Verlassen des Arbeitsplatzes, Verletzung eines betrieblichen Alkohol- oder Rauchverbots, Missachtung von Weisungen, unsorgfältiges Arbeiten, Störung des Betriebsfriedens, aufdringliche Werbung für Parteien, Religionsgemeinschaften und Sekten, schadenstiftendes Verhalten, Verrat von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen, Beleidigung von Arbeitskollegen, sexuelle Belästigung von Mitarbeitern. Aus der Sicht des ArbG kann es geboten sein, neben einer verhaltensbedingten Kündigung zugleich eine entsprechende (ordentliche) Verdachtskündigung auszusprechen für den Fall, dass der Gekündigte die vom ArbG behauptete/n Pflichtverletzung/en beharrlich bestreitet, den dringenden Tatverdacht jedoch nicht entkräften kann. BAG 21.11.13 – 2 AZR 797/11 – ArbR 14, 101/ArbRB 14, 71 Eine Verdachtskündigung kommt in Betracht, wenn Tatsachen den dringenden Verdacht belegen, dass der AN eine Pflichtverletzung begangen hat, die im Falle ihrer Erweislichkeit eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen würde. Sie ist jedoch nur wirksam, wenn der ArbG alle zumutbaren Anstrengen zur (allerdings vergeblichen) Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem AN im Wege der Anhörung die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verdachtskündigung kommt es entgegen dem Normalfall der Kündigung (oben § 30 II. 4.) nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung beim AN, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Kündigungsschutzprozess an, auf deren Grundlage das Urteil ergeht. Wird der dringende Tatverdacht noch bis zu diesem Zeitpunkt ausgeräumt, gewinnt der AN seinen Prozess. Stellt sich die Haltlosigkeit des Verdachts erst danach heraus, kann der AN vom ArbG Wiedereinstellung verlangen, sofern sein Arbeitsplatz noch © Professor Dr. Hunscha 223 Dezember 2015 verfügbar ist. Mindestens hat der AN Anspruch auf eine entsprechende Ehrenerklärung in der Form eines Zeugnisses oder in sonst wie geeigneter Weise. 2. Zur Geeignetheit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe oben unter II. 3. b). 3. Zur Erforderlichkeit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3. c) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG. Weil der AN sein Verhalten im Grundsatz willensmäßig steuern kann, ist eine verhaltensbedingte Pflichtverletzung im Regelfall nur dann kündigungsrelevant, wenn auch künftige Störungen zu besorgen sind. Darum kommt als der verhaltensbedingten Kündigung spezifisch vorrangige Maßnahme die Abmahnung des AN wegen der störenden Pflichtverletzung in Betracht mit der Folge, dass die Kündigung erst im Wiederholungsfall als das zur Beseitigung der Störung erforderliche Mittel infrage kommt, wenn nicht zunächst einmal eine weitere Abmahnung geboten sein sollte oder eine Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG (dazu schon oben unter II. 3. b) die eingetretene Störung beseitigen kann. Um ihre Funktion erfüllen zu können, muss die Abmahnung drei Elemente enthalte: (a) die Beanstandung einer Pflichtverletzung, (b) die Aufforderung, sich künftig vertragsgemäß zu verhalten und (c) die Warnung vor der möglichen Konsequenz in Gestalt einer Kündigung im Falle einer erneuten Pflichtverletzung vergleichbarer Art. Sie sollte schriftlich ausgesprochen und zur Personalakte genommen werden. Eine unberechtigte Abmahnung darf der AN in entsprechender Anwendung des § 1004 BGB aus der Personalakte entfernen lassen (oben § 3 III. 3. (1). Einer vorangehenden Abmahnung bedarf es dann nicht, wenn von vornherein feststeht, dass sie die eingetretene Störung nicht beseitigen kann; denn sie ist dann kein gegenüber der Kündigung geeignetes milderes Mittel. So etwa im Fall einer Pflichtverletzung, die das Vertrauensverhältnis zwischen ArbG und AN auf Dauer belastet. Neben dem ArbG ist jeder zur Abmahnung berechtigt, der dem Betroffenen gegenüber weisungsberechtigt ist oder vom ArbG hierzu bevollmächtigt wurde. Die Abmahnung unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrates. 4. Zur Angemessenheit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3. d). Dass die verhaltensbedingt eingetretene Störung nach Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne ohne eine Kündigung von alleine entfällt und es darum an der Angemessenheit fehlt, dürfte kaum vorkommen Immer noch kann dem AN aber eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen Gründen zugutekommen. V. Der betriebsbedingte Kündigungsgrund 1. Der an sich geeignete Störungstatbestand Das Gesetz bezeichnet die betriebsbedingte Kündigung als „durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt.“ Der Kündigungsgrund entstammt insoweit der Sphä- © Professor Dr. Hunscha 224 Dezember 2015 re des ArbG, als er einer betrieblichen Umgestaltung Rechnung trägt, die der ArbG in Ausübung seiner Leitungsfunktion für notwendig erachtet. a) Im Regelfall geht es darum, dass der ArbG sich dazu entschließt entweder als Reaktion auf wirtschaftliche Probleme, wie sie infolge von Auftrags- oder Rohstoffmangel, Absatzschwierigkeiten oder Kreditrestriktionen entstehen können oder als reiner Gestaltungsakt zur Verwirklichung seiner betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse, Vorstellungen oder Absichten sich dazu entschließt, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, deren Vollzug den Beschäftigungsbedarf verringert, etwa durch die Umstellung, Einschränkung oder Einstellung von Produktionsbereichen oder die Auflösung von Abteilungen bis hin zur Stilllegung des Betriebs, auf Grund von Rationalisierungsmaßnahmen durch den Einsatz personalsparender Maschinen, der Einführung neuer Fertigungsmethoden, der Straffung der Arbeitsabläufe, der Leistungsverdichtung, des Abbau von Hierarchieebenen, der Auslagerung von Tätigkeiten usw. Hierdurch entfallende Beschäftigungsmöglichkeiten führen nach § 615 BGB zu „Lohn ohne Arbeit“. Der darin liegende Störungstatbestand des Arbeitskräfteüberhangs wird kündigungsrelevant, sobald die Organisationsentscheidung „greifbare Formen“ angenommen hat. Eine das Arbeitsverhältnis beendigende Kündigung, durch die bei Fortbestand der Arbeitsplätze lediglich teures Personal entlassen werden soll, um es durch die Neueinstellung billigerer Arbeitskräfte zu ersetzen, ist eine unzulässige Austauschkündigung. Eine Entgeltkürzung kann allerdings im Wege einer betriebsbedingten Änderungskündigung herbeigeführt werden. Das setzt jedoch voraus, dass andernfalls der Abbau von Arbeitsplätzen oder gar die Stilllegung des Betriebs droht (unten § 34). Keine unzulässigen Austauschkündigungen sind betriebsbedingte Kündigungen, die als Folge der Entscheidung des ArbG ausgesprochen werden, bisher von seinen AN wahrgenommene Tätigkeiten künftig durch andere Unternehmer ausführen zu lassen. Ist der mit der Wahrnehmung dieser Tätigkeiten beauftragte Unternehmer reiner Nachfolger in der Funktion, liegt ein Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB, der betriebsbedingte Kündigungen beim Auftraggeber hindern würde, nicht vor (unten § 40 I. 5.). Überträgt der ArbG die Erledigung solcher Aufgaben aber künftig auf Leih-AN, tragen deswegen gegenüber seinem Stammpersonal ausgesprochene betriebsbedingte Kündigungen den Charakter unzulässiger Austauschkündigungen. Um derlei von vornherein zu begegnen, ist der Betriebsrat des Entleihbetriebs nach § 14 III AÜG vor dem Einsatz eines Leih-AN nach § 99 BetrVG zu hören und kann nach § 99 II Nr. 3 BetrVG die Zustimmung zur Entleihe verweigern. Die unternehmerische Entscheidung darf sich nicht allein in der Kündigung erschöpfen. Die Kündigung muss sich vielmehr als Folge einer innerbetrieblichen Organisationsaktes erweisen, andernfalls es an der Betriebsbedingtheit der Kündigung fehlt. Es reicht auch nicht, sie nur mit Schlagworten, wie „wegen Auftragsmangels“, „aus Rationalisierungsgründen“ oder „wegen des Abbaus von Produktionskapazitäten“ zu erklären. Im Kündigungsschutzprozess jedenfalls muss der ArbG im Einzelnen darlegen, welche außer- oder innerbetrieblichen Umstände zu welcher Organisationsmaßnahme geführt haben und wie sie sich auf die Beschäftigungsmöglichkeiten auswirkt. Auf ihre wirtschaftliche Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit hingegen soll die unternehmerische Entscheidung nicht überprüft werden dürfen. Als Grund hierfür wird hauptsächlich angeführt, dass es nicht Aufgabe der Arbeitsgerichte ist, dem ArbG eine „bessere“ oder „richtigere“ Unternehmenspolitik vorzuschreiben. Nur um groben Rechtsmissbrauch zu verhindern, soll es geboten sein, die Unternehmerent- © Professor Dr. Hunscha 225 Dezember 2015 scheidung daraufhin zu überprüfen, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist (BAG v. 26.9.2002 – AZR 636/01 – in NZA 2003, 549). Insoweit allerdings trifft im Grundsatz den AN im Kündigungsschutzprozess die Last, derlei Umstände darzulegen und zu beweisen (BAG v. 23.4.08 – 2 AZR 1110/06 – in NZA 2008, 939). Der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit bedeutet immer eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse. Da es dem ArbG nicht zuzumuten ist, die unproduktive Zahlung von Lohn ohne Arbeit aus sozialen Erwägungen auf Dauer hinzunehmen, kennt die betriebsbedingte Kündigung auch keine zusätzliche allgemeine Interessenabwägung zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen. An ihre Stelle tritt die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG unter den AN, die durch vergleichbare Arbeitsplätze gleichermaßen kündigungsbedroht sind (unten § 31). Der betriebsbedingte Wegfall eines oder mehrerer Arbeitsplätze führt damit nicht zwangsläufig zur Kündigung genau des oder der AN, die auf eben diesen Arbeitsplätzen beschäftigt sind. Der ArbG ist vielmehr verpflichtet, unter all den AN, die auf vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigt sind, im Wege der Sozialauswahl denjenigen oder diejenigen zu ermitteln, dem bzw. denen die Kündigung am ehesten zugemutet werden kann. Bei der Auswahl hat der ArbG die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des AN zu berücksichtigen und ggf. nach den Vorgaben einer Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVerfG (siehe auch §§ 1 II Satz 2 Nr.1a, IV KSchG) - zu gewichten (unten § 31). b) Fälle einer betriebsbedingten Kündigung, die nicht auf die Beseitigung eines Arbeitskräfteüberhangs gerichtet sind, liegen in der Änderungskündigung zur Entgeltkürzung wegen wirtschaftlicher Existenzgefährdung des Betriebs, ferner in der Kündigung eines AN, für dessen Einstellung der Betriebsrat die Zustimmung nach § 99 II BetrVG verweigert hat sowie ggf. in der Druckkündigung (dazu oben III. 1. i.)). 2. Zur Geeignetheit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe oben unter II. 3. b). 3. Zur Erforderlichkeit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3. c) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG. Darüber hinaus kommt als der betriebsbedingten Kündigung spezifisch vorrangige Maßnahme der Abbau von Überstunden und Leiharbeit, bei hohem Arbeitskräfteüberhang auch die Einführung von Kurzarbeit in Betracht, obwohl diese Maßnahme ausschließlich der vorübergehenden Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit zu dienen bestimmt ist. 4. Zur Angemessenheit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe oben unter II. 3. d). Kann der ArbG nur einen Teil der AN, die betriebsbedingt gekündigt werden sollen, auf freien Stellen weiterbeschäftigen, hat er zum Zwecke ihrer Besetzung analog § 1 III KSchG eine Sozialauswahl durchzuführen (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 253). © Professor Dr. Hunscha 226 Dezember 2015 VI. Die Prüfungsschritte Um annähernd sicherzustellen, dass die Kündigung eines AN vom Arbeitsgericht nicht mangels sozialer Rechtfertigung für rechtsunwirksam erklärt wird, müssen vor Ausspruch der Kündigung folgende Fragen geklärt werden: 1. Liegt ein im Sinne des § 1 II KSchG legitimer, als solcher geeigneter personen-, verhaltens- oder betriebsbedingter Kündigungsgrund wirklich vor? 2. Berechtigten die im Kündigungszeitpunkt obwaltenden Verhältnisse bei objektiver Betrachtung zu der negativen Prognose, a) dass der Störungstatbestand nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt (= die Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses geeignete Mittel), b) dass dem ArbG vor Ablauf der Kündigungsfrist nicht ein milderes Mittel als das der Kündigung zur Verfügung steht, den Störungstatbestand zu beseitigen (= die Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Mittel), c) dass der Störungstatbestand nicht innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne nach dem Ablauf der Kündigungsfrist ohne die Kündigung entfällt oder dem ArbG in diesem Zeitraum ein milderes Mittel zur Beseitigung des Störungstatbestandes nicht verfügbar sein wird (= die Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses angemessene Mittel)? 3. Gibt es in den Fällen der personen- oder verhaltensbedingten Kündigung aufgrund einer sozialen Interessenabwägung zwischen dem ArbG und dem AN Gründe, aufgrund derer dem ArbG zuzumuten ist, die eingetretene Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen als das gegenüber dem Arbeitsplatzverlust des AN kleinere Übel hinzunehmen (= ist die Kündigung das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses angemessene Mittel)? 4. Hat in dem Fall einer betriebsbedingten Kündigung statt einer allgemeinen Interessenabwägung zwischen dem ArbG und dem AN eine korrekte Sozialauswahl unter den kündigungsbedrohten AN nach Maßgabe von § 1 III, IV KSchG stattgefunden? © Professor Dr. Hunscha 227 Dezember 2015 § 31 Die Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung I. Die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG Nachdem feststeht, dass aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung ein Arbeitskräfteüberhang besteht, geht es bei der Sozialauswahl darum, zu ermitteln, welchem/welchen konkreten AN es am ehesten zugemutet werden kann, betriebsbedingt gekündigt zu werden. Hierbei bedarf es zum einen der Feststellung, welche AN in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, und zum anderen der Ermittlung und Gewichtung ihrer Sozialdaten. Hierzu haben Gesetzgebung und Rechtsprechung eine Reihe von Kriterien festgelegt. 1. Von der Sozialauswahl ausgenommen sind AN, deren ordentliche Kündigung durch Gesetz ausgeschlossen ist. Befristet beschäftigte AN fallen nur dann in die Sozialauswahl, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung einzelvertraglich oder durch Tarifvertrag vereinbart ist (§ 15 III TzBfG). Nach h.M. sollen auch AN, deren ordentliche Kündigung durch Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag ausgeschlossen ist, nicht in die Sozialauswahl einbezogen sein. Der hierin liegende Verstoß gegen die zwingende Auswahlanordnung des § 1 III KSchG lässt sich allerdings nicht mit dem Günstigkeitsprinzip rechtfertigen. Zwar stellt er den unkündbaren AN günstiger, als er bei Anwendung des § 1 III KSchG stünde, doch belastet seine Herausnahme aus der gesetzlichen Verteilungsregelung zugleich den Rest der kündigungsbetroffenen AN. 2. Die Sozialauswahl erstreckt sich auf alle AN des Betriebs, auch wenn der Arbeitskräfteüberhang nur in einer von mehreren Abteilungen dieses Betriebs auftritt. Maßgebend ist der oben § 30 I. dargestellte Betriebsbegriff. AN in anderen Betrieben desselben Unternehmens werden in die Sozialauswahl nicht einbezogen. 3. Die Sozialauswahl ergreift aber nur diejenigen AN des kündigungsbedrohten Betriebes, die auf dergestalt vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigt sind, dass der AN, dessen Arbeitsplatz wegfällt, auf einen dieser Arbeitsplätze aufgrund arbeitgeberseitiger Weisung (und nicht erst im Wege einer Änderungskündigung) versetzt werden könnte und der Versetzte nach Fähigkeit und Qualifikation in der Lage wäre, die Tätigkeit des anderen AN zu übernehmen. Es handelt sich um eine horizontale Vergleichbarkeit auf derselben Hierarchieebene, sofern nicht der Arbeitsvertrag ausdrücklich andere Einsatzmöglichkeiten vorsieht. AN mit einem weiten Einsatzbereich können sich im Fall einer betriebsbedingten Kündigung auf einen entsprechenden weiten Kreis von in die Sozialauswahl einzubeziehender AN berufen. Ist ein AN nur für eine ganz bestimmte Aufgabe eingestellt worden, die wegfällt, kommt es mangels vergleichbarer Arbeitsplätze zu gar keiner Sozialauswahl. 3. § 1 III 1 KSchG enthält eine abschließende Aufzählung von vier Sozialdaten, die der ArbG bei seiner Auswahl berücksichtigen muss: Er hat die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung der vergleichbaren AN des Betriebes zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen. Andere positive oder negative Kriterien dürfen keine Rolle spielen, wie etwa der Mitverdienst des Ehegatten oder anderer Familienangehöriger, die Vermögensverhältnisse des AN, seine Berufsaussichten, personen- und verhaltensbedingte Gründe oder Leistungsgesichtspunkte außerhalb von § 1 III 2 KSchG. © Professor Dr. Hunscha 228 Dezember 2015 Übrigens: Die in § 1 III 1 KSchG vorgesehene Berücksichtigung des Lebensalters als Sozialdatum stellt zwar eine an das Alter anknüpfende unterschiedliche Behandlung dar, ist jedoch nach § 10 S. 1, 2 AGG gerechtfertigt (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361). Mangels eines allgemein verbindlichen Maßstabs für die Gewichtung der vorgeschriebenen Sozialdaten besitzt der ArbG einen Beurteilungsspielraum, den er nur dann verletzt, wenn er einen dieser Gesichtspunkte überhaupt nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, so dass seine Entscheidung als nicht mehr vertretbar bezeichnet werden muss. Um Transparenz zu schaffen, bedient sich der ArbG häufig eines eigenen Punkteschemas. Zum Beispiel 3 Punkte pro Jahr der Betriebszugehörigkeit, 1 Punkt pro Lebensjahr, 10 Punkte pro unterhaltspflichtige Personen, 5 Punkte bei einem Behinderungsgrad von 50 und 1 weiterer Punkt für weitere 10 Gradeinheiten. Nach § 1 III 1 HS. 2 KSchG hat der ArbG dem AN auf dessen Verlangen die Gründe anzugeben, die zur getroffenen Sozialauswahl geführt haben. Aus § 242 BGB folgt, dass die Auskunft wie im Fall des § 626 II 3 BGB unverzüglich und schriftlich zu erteilen ist. Kommt der ArbG diesem Verlangen nicht oder nur unzureichend nach, ist der AN von der ihn nach § 1 III 3 KSchG treffenden Darlegungs- und Beweislast befreit. Außerdem könnte der ArbG dem AN nach § 280 I BGB wegen nutzlos aufgewendeter Prozesskosten schadensersatzpflichtig werden. 4. Nach § 1 III 2 KSchG darf der ArbG bestimmte AN von der Sozialauswahl ausnehmen. Dabei geht es zum einen um Leistungsträger, auf die der ArbG im betrieblichen Interesse in besonderem Maße angewiesen ist. Zum anderen geht es um die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur in Gestalt eines gesunden Altersaufbaues der Belegschaft, der gerade bei Massenentlassungen (§§ 17 ff. KSchG) erheblich verzerrt werden kann. 5. Nach § 1 IV KSchG kann in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG festgelegt werden, wie die vier sozialen Gesichtspunkte des § 1 III 1 KSchG im Verhältnis zueinander zu bewerten sind. Auch hier wird meist mit Punkteschemata gearbeitet. Die vereinbarten Festlegungen können vom Arbeitsgericht nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Das setzt aber voraus, dass sie jegliche Ausgewogenheit vermissen lassen. Verstößt die Kündigung des ArbG gegen eine Richtlinie nach § 95 BetrVG, hebt § 1 II 2 Nr.1a KSchG hervor, dass sie ohne weiteres rechtsunwirksam ist. 6. Kommt es bei Kündigungen aufgrund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG dazu, dass die AN, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen ArbG und Betriebsrat nach § 112 I 1 BetrVG namentlich benannt werden, so wird nach § 1 V KSchG vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 II KSchG bedingt ist. Die darin vorgenommene Sozialauswahl der AN kann wie im Fall des § 1 IV KSchG nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden, was dann voraussetzt, dass sie jegliche Ausgewogenheit vermissen lässt. Da der individuelle Kündigungsschutz der betroffenen AN dadurch in starkem Maße beeinträchtigt wird, verweigert der Betriebsrat häufig seine Mitwirkung an der Aufstellung solcher Namenslisten, es sei denn, dass der ArbG in dem auf der Grundlage des Interessenausgleichs abzuschließenden Sozialplan großzügige Abfindungen zusagt. © Professor Dr. Hunscha 229 Dezember 2015 § 32 Der Abfindungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung Mit der in § 1a KSchG getroffenen Regelung will der Gesetzgeber eine leichtere Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei betrieblicher Kündigung erreichen. Sofern der ArbG in der Kündigungserklärung darauf hinweist, dass die Kündigung auf dringende betriebliche Erfordernissen gestützt ist und der AN bei Verstreichenlassen der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG die in § 1a II KSchG vorgesehene Abfindung beanspruchen kann, steht dem AN, der keine Kündigungsschutzklage erhoben hat, mit dem Ablauf der Kündigungsfrist ein Abfindungsanspruch in Höhe eines halben Monatsverdienstes für jedes Beschäftigungsjahr im Sinne des § 1a II 3 KSchG zu. Bei der Berechnung des Monatsverdienstes ist entsprechend § 10 III KSchG vom Bruttoarbeitsentgelt einschließlich aller Zulagen und einem Zwölftel evtl. zu beanspruchender Gratifikationen, wie Weihnachtsund Urlaubsgeld, auszugehen. Überstundenvergütungen bleiben außer Betracht. Eine Anrechnung auf das Arbeitslosengeld nach § 158 SGB III entfällt, wenn der ArbG die nach Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag geltende Kündigungsfrist eingehalten hat. Der gegenüber einem Aufhebungsvertrag entscheidende Vorteil der Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 1a KSchG liegt darin, dass es für den AN nicht zu einer Sperrzeit nach § 159 I 2 Nr. 1 SGB III kommt; denn die bloße Hinnahme einer Kündigung ist kein versicherungswidriges Verhalten. © Professor Dr. Hunscha 230 Dezember 2015 § 33 Die außerordentlicher Kündigung nach § 626 BGB I. Die gesetzliche Grundlage Nach § 626 I BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, „wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zum vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.“ Wie oben (unter § 28 IV. 1.) betont, geht es auch an dieser Stelle mit Blick auf den Schutz des AN vor einer Kündigung, die den von Rechtslehre und Rechtsprechung konkretisierten gesetzlichen Anforderungen nicht genügt, nur um die Kündigung durch den ArbG. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den AN wird unter § 41 behandelt. II. Das zweistufige Prüfungsverfahren 1. Um die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung fassbar zu machen, ist es geboten, wie bei der ordentlichen Kündigung nach Maßgabe von § 1 II KSchG so auch hier ein zweistufiges Prüfungsverfahren anzuwenden, bei dem die Prüfung der Legitimität des Kündigungsgrundes von der Prüfung der Legitimität der Kündigung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips getrennt wird (oben § 30 II. 2.). Allerdings nötigt die besondere Struktur des § 626 I BGB zu Abweichungen von dem für die ordentliche Kündigung dargestellten Schema. Das zeigt sich unter anderem darin, dass in die Prüfung der Erforderlichkeit der Kündigung bereits Elemente der Angemessenheit der Kündigung einfließen können (nachfolgend unter IV. 3.). 2. Nach dem zweistufigen Prüfungsverfahren ist zunächst einmal festzustellen, ob ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles und die Abwägung der Interessen beider Vertragsteile überhaupt ein „wichtiger Grund an sich“ als legitimer Anlass dafür vorliegt, die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses als im Grundsatz geeignetes Mittel zur Beseitigung der eingetretenen Störung in Erwägung zu ziehen. § 626 I BGB definiert den (als solchen geeigneten) wichtigen Grund mit dem Vorliegen von „Tatsachen…, auf Grund derer dem Kündigenden…die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zum vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.“ Damit bezieht das Gesetz das für die Abwägung entscheidende Element der Zumutbarkeit bereits in die Definition des wichtigen Grundes ein. Um aus diesem Tatbestand den „an sich geeigneten wichtigen Grund“ als den anlassgebenden Ausgangspunkt für eine außerordentliche Kündigung als gesonderten Gesichtspunkt herausarbeiten zu können, ist es geboten, den wichtigen Grund als einen Störfall zu begreifen, der das Arbeitsverhältnis bei objektiver, vom Einzelfall losgelöster Betrachtung so schwer belastet, dass der Gesetzgeber dem ArbG zum Schutz der betrieblichen Interessen die Möglichkeit eröffnet, die Störung durch die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen. 3. Ob aber der konkrete ArbG in der konkreten Situation von dieser Möglichkeit auch wirklich Gebrauch machen darf, ist damit noch nicht gesagt. Von Extremfällen © Professor Dr. Hunscha 231 Dezember 2015 abgesehen, gibt es keine absoluten, unbedingten Kündigungsgründe. Jeder Fall liegt anders. Mit den Worten des § 626 I BGB kommt es mithin darauf an, ob „dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann“. Aus der hiernach geforderten Zumutbarkeitsprüfung folgt die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips. Danach muss sich die Kündigung als das sowohl geeignete als auch erforderliche und darüber hinaus angemessene Mittel erweisen, die im Kündigungsgrund liegende Störung des Arbeitsverhältnisses mit sofortiger Wirkung zu beseitigen. Seine Anwendung kann dazu führen, dass die besonderen Umstände des Einzelfalles und die Abwägung der Interessen beider Vertragsteile eine weniger gravierende Reaktion des ArbG gebieten. III. Der an sich geeignete wichtige Grund im Einzelnen 1. Zur weiteren Konkretisierung des wichtigen Grundes ist es nützlich, in Anlehnung an § 1 II KSchG nach dem Bereich zu unterscheiden, dem der Kündigungsgrund entstammt (Krause, § 12 Rn.12). Hierbei wird deutlich, dass ein personenbedingter oder betriebsbedingter Grund selten von solchem Gewicht ist, statt einer ordentlichen eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. In der Praxis kommt eine außerordentliche Kündigung aus personenoder betriebsbedingtem Grund zumeist nur dann in Betracht, wenn die ordentliche Kündigung kollektiv- oder arbeitsvertraglich ausgeschlossen ist, gelegentlich auch schon dann, wenn über den Zeitrahmen des § 622 II BGB deutlich hinausgehende Kündigungsfristen gelten oder eine entsprechend lange Vertragsdauer vereinbart worden ist. Die außerordentliche Kündigung darf allerdings nicht zu einem Instrument werden, die Vereinbarungen über den Ausschluss der ordentlichen Kündigung, über die Kündigungsfrist oder die Vertragsdauer ohne weiteres zu unterlaufen. An die Beurteilung des wichtigen Grundes ist darum in diesen Fällen ein besonders strenger Maßstab anzulegen. 2. Den Schwerpunkt der außerordentlichen Kündigung bilden verhaltensbedingte Kündigungsgründe. Dabei geht es um schwerwiegende, im Regelfall schuldhafte Pflichtverletzungen in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung. entweder im Leistungsbereich der §§ 611, 241 I BGB als Folge der Verletzung der Arbeitspflicht oder im Verhaltensbereich des § 241 II BGB als Folge der Verletzung der betrieblichen Ordnung, die nicht nur zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, sondern auch und gerade zu einer nachhaltigen Erschütterung des persönlichen Vertrauens zwischen ArbG und AN geführt hat. a) Typische Beispiele sind die Nichterfüllung der Arbeitspflicht in Gestalt z.B. des eigenmächtigen Urlaubsantritts, der eigenmächtigen Urlaubsüberschreitung, der Androhung einer Krankmeldung, um z.B. eine Urlaubsverlängerung zu erreichen; der beharrlichen Arbeitsverweigerung, der fortgesetzten Missachtung von Weisungen, des Verstoßes gegen ein Wettbewerbsverbot sowie die Schlechterfüllung von Verhaltenspflichten, z.B. durch Mobbing, sexuelle Belästigung, körperliche Auseinandersetzungen, politische Hetze, Kundgabe ausländerfeindlicher Parolen, insbesondere strafbares Handeln, wie grobe Beleidigung (Werturteil) des ArbG, seiner Vertreter oder von Arbeitskollegen, ferner üble Nachrede (Behauptung einer ehrenrührigen Tatsache, die nicht erweislich wahr ist) oder Verleumdung (Behauptung einer unwahren ehrenrührigen Tatsache wider besseres Wissen), Missbrauch von Einrichtungen der Anwesenheitskontrolle, © Professor Dr. Hunscha 232 Dezember 2015 Vortäuschen von Krankheit, Anstellungsbetrug, Spesenbetrug, Annahme von Schmiergeld (auch wenn keine „Gegenleistung“ erbracht wird), Diebstahl oder Unterschlagung im Betrieb, Veruntreuung von Betriebsvermögen, Verrat von Geschäftsgeheimnissen. b) Eine vom AN gegen den ArbG sowie Vorgesetzte oder Mitarbeiter erstattete Anzeige bei einer Behörde („Whistleblowing“ = „Verpfeifen“) ist ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung bei wissentlich oder leichtfertig falschen Angaben oder dann, wenn sie als eine unverhältnismäßige Reaktion des Anzeigenden zu qualifizieren ist, etwa wegen seiner zweifelhaften Motivation oder weil die Möglichkeit innerbetrieblicher Abhilfe besteht. Nach dem Urteil des EGMR v. 21.7.2011 – 28274/08 – in NZA 2011, 1269, der stark auf das Recht der Meinungsfreiheit abstellt, soll es neben der einwandfreien Motivation des Hinweisgebers vor allem darauf ankommen, (1) ob der AN nach sorgfältiger Prüfung, ob seine Information zutreffend und zuverlässig ist, sie mindestens guten Glaubens für wahr hält, (2) dass die Weitergabe der Information im öffentlichen Interesse liegt und (3) kein diskreteres Mittel zur Verfügung steht, gegen den angeprangerten Misstand vorzugehen. Das Einschalten von Informationsmedien ist dem AN aber grundsätzlich nicht gestattet. Die Druckkündigung (oben § 30 III. 1 i) und vor allem die Verdachtskündigung (oben § 30 IV. 1.) können auch als außerordentliche Kündigung in Betracht kommen. IV. Die Verhältnismäßigkeit der Kündigung 1. Liegt ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB Kündigungszeitpunkt objektiv vor, kommt die fristlose Kündigung als ein im Grundsatz geeignetes Mittel zur Beseitigung der im Kündigungsgrund zum Ausdruck kommenden Störung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. Da die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis sofort beendet, wird dem Kündigenden an dieser Stelle anders als bei einer fristgemäßen Kündigung keine Prognose auf das Ende der Kündigungsfrist abverlangt. Eine ausnahmsweise gewährte Auslauffrist ist hierbei ohne Bedeutung. Hat ein wichtiger Grund allerdings in Wahrheit nicht bestanden, ist die fristlose Kündigung rechtsunwirksam. Zur Umdeutung einer unwirksamen fristlosen Kündigung in eine wirksame fristgemäße siehe nachfolgend unter V. 2. Auf die Frage, ob die außerordentliche Kündigung das erforderliche Mittel ist, die Störung des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen, ist zu prüfen, ob dem ArbG ein gleichermaßen wirksames, aber milderes Mittel verfügbar ist. Dabei bringt es die Struktur des § 626 I BGB mit sich, dass die Gesichtspunkte der Erforderlichkeit mit denen der Angemessenheit der Kündigung in Gestalt einer Interessenabwägung (nachfolgend unter 3.) häufig überschneiden. Wie der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung (oben § 30 IV. 3.), muss auch der verhaltensbedingten außerordentlichen Kündigung im Regelfall eine erfolglose Abmahnung vorausgegangen sein. Für die Kündigung aus wichtigem Grund folgt dies schon aus § 314 II BGB. Einer Abmahnung bedarf es nur dann nicht, wenn bei objektiver Betrachtung das Vertrauensverhältnis zwischen ArbG und AN durch die Schwere der Pflichtverletzung als dauerhaft zerstört anzusehen ist oder die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass trotz einer Abmahnung ein künftig vertragsgemäßes Verhalten des AN nicht zu erwarten ist. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Einschätzungen tragfähig sind, kommen Erwägungen ins Spiel, die unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung eine Rolle spielen. Das wird z.B. im Urteil des BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09 – in NZA 2010, 1227 deutlich, wonach die Unterschlagung von zwei Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 € durch eine Kassiererin, die schon über 30 Jahre beanstandungslos beschäftigt ist, das Vertrauensverhältnis zu ihrem ArbG nicht so nachhaltig zerstören kann, dass er nicht erst einmal zum Mittel der Abmahnung greifen muss. Ist der AN wegen einer gleichartigen Pflichtverletzung innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens schon einmal abgemahnt worden, ist eine weitere Abmahnung allerdings entbehrlich. © Professor Dr. Hunscha 233 Dezember 2015 Ebenso kann trotz Erschütterung des persönlichen Vertrauens zwischen AN und ArbG eine Versetzung des AN im Wege einer Weisung des ArbG oder einer Änderungskündigung auf einen anderen freien Arbeitsplatz als ein gleichermaßen wirksames, aber milderes Mittel zur Beseitigung der eingetretenen Störung in Betracht kommen, wenn die Beeinträchtigung den Leistungsbereich des AN oder sein Verhalten gegenüber Mitarbeitern betrifft und dem ArbG im Wege der Interessenabwägung ein Einlenken zuzumuten ist. Liegt ein wichtiger Grund zur Kündigung wirklich vor und kommt eine Abmahnung oder eine Versetzung nicht in Betracht, kann eine ordentliche Kündigung kaum ein gleichermaßen wirksames Mittel zur Störungsbeseitigung sein. Allerdings kann es dem ArbG auf Grund einer Interessenabwägung (nachfolgend unter 3.) unter Umständen zugemutet werden, statt der außerordentlichen Kündigung eine ordentliche auszusprechen, etwa um den Ruf eines langjährigen Mitarbeiters zu schonen oder um einem älteren AN die Möglichkeit zu erhalten, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Im Übrigen steht es dem Kündigenden frei, die außerordentliche Kündigung mit einer Auslauffrist zu erklären. Er muss dann nur deutlich machen, dass er damit nicht auf sein Recht zur außerordentlichen Kündigung verzichtet. 3. Auf die Frage, ob die außerordentliche Kündigung das angemessene Mittel ist, die Störung des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen, ist zu prüfen, ob „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“, dem ArbG nicht doch zugemutet werden kann, auf die außerordentliche Kündigung zu verzichten. Hierbei kommt es auf eine umfassende Interessenabwägung unter Beachtung des Übermaßverbotes esichtspunkt der Erforderlichkeit der Kündigung eng verzahnt ist. a) Die Prüfung der Angemessenheit der außerordentlichen Kündigung verlangt zum einen den Blick über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus auf seine künftige Entwicklung. Dabei muss der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand bei objektiver Betrachtung die Prognose einer über seinen Anlass hinauswirkende Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses zulassen; im Fall des § 626 BGB eine Selbstverständlichkeit, weil nach dieser Vorschrift schon der Begriff des wichtigen Grundes Tatsachen fordert, „auf Grund derer dem Kündigenden eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist…nicht zugemutet werden kann“ (vorstehend unter II. 2.). b) Darüber hinaus ist zwischen dem ArbG und dem AN eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen Gründen durchzuführen, die es dem ArbG im Einzelfall gebieten kann, die eingetretene Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen als das gegenüber dem sofortigen Arbeitsplatzverlust des AN kleinere Übel hinzunehmen (oben § 30 II. 3. c (2)). Hauptsächlich können hier der bisherige Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses, die Bedeutung der verletzten Pflicht, das Ausmaß der eingetretenen Störung, der Grad des Verschuldens des AN, die Höhe des entstandenen Schadens und eine evtl. Mitschuld des ArbG als Gesichtspunkte herangezogen werden. Der ArbG wird demgegenüber die fristlose Kündigung oft als ein notwendiges Mittel zur Wahrung der innerbetrieblichen Disziplin verteidigen. Darüber hinaus sind hier Gründe maßgebend, wie die im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 III 1 KSchG vorgegebenen Daten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung. V. Die Kündigungserklärungsfrist Nach § 626 II BGB kann eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Wochen erklärt werden: maßgebend ist der Zugang beim AN. Für © Professor Dr. Hunscha 234 Dezember 2015 die Berechnung der Ausschlussfrist gelten die §§ 187 I BGB, 188 II Halbs. 1 BGB unter Beachtung von § 193 BGB. Bei wiederholten Vorfällen beginnt die Ausschlussfrist mit dem letzten Vorfall, der ein Glied in der Kette von Ereignissen bildet, die den Anlass für die außerordentliche Kündigung bilden (Küttner/Eisemann, Personalbuch 2010 Rn. 20). Die Kenntnis Dritter, insbesondere von Vorgesetzten des AN, muss der ArbG sich zurechnen lassen, wenn sie im Betrieb eine selbständige Stellung einnehmen und die Weitergabe der Informationen infolge von Organisationsmängeln verzögert wurde oder unterblieb (Krause § 12 Rn. 14). Der Lauf der Ausschlussfrist ist solange gehemmt, wie der Kündigungsberechtigte zur Aufklärung des Sachverhalts „nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinende Maßnahmen zügig durchführt“ (ErfK/Müller-Glöge § 626 BGB Rn. 210). Unter Umständen können zwei Monate sachlich veranlasst sein. Die bei einem mitbestimmten Betrieb nach § 102 I BetrVG vor Ausspruch der Kündigung erforderliche Anhörung des Betriebrates verkürzt die Ausschlussfrist faktisch um die dem Betriebsrat nach § 102 II 3 BetrVG zustehende Überlegungszeit von drei Tagen. VI. Die Umdeutung der außerordentlichen Kündigung Eine unwirksame außerordentliche Kündigung kann nach § 140 BGB in eine wirksame ordentliche Kündigung zum nächsten Kündigungstermin umgedeutet werden, sofern deren Voraussetzungen vorliegen. Erforderlich ist aber nicht nur, dass die Umdeutung dem mutmaßlichen Willen des Kündigenden entspricht, sondern dieser Wille dem Gekündigten auch erkennbar ist. Das dürfte allerdings regelmäßig der Fall sein. Muss zuvor der Betriebsrat angehört werden, ist eine nachträgliche Umdeutung nur möglich, wenn dieser der außerordentlichen Kündigung ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hatte; denn die Zustimmung zum Mehr schließt die Zustimmung zum Weniger ein. Eine Umdeutung ist nicht erforderlich, wenn der ArbG neben der außerordentlichen Kündigung vorsorglich zugleich ordentlich kündigt. Dann nämlich hat er zwei Kündigungen ausgesprochen, deren Wirksamkeit getrennt geprüft werden muss. Der AN muss seine Kündigungsschutzklage auch gegen beide Kündigungen richten (siehe unten § 36 III.). Besteht ein Betriebsrat, muss der ArbG ihm bei der Anhörung mitteilen, dass er neben der außerordentlichen Kündigung vorsorglich zugleich die ordentliche Kündigung erklären will; andernfalls bei Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung die ordentliche Kündigung nicht wirksam werden kann. VII. Schadensersatz bei fristloser Kündigung Nach § 828 II BGB hat diejenige Vertragspartei, die durch das vertragswidrige Verhalten der anderen Vertragspartei zur fristlosen Kündigung veranlasst wird, gegen die andere Vertragspartei Anspruch auf Ersatz des ihr durch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Schadens. Je nach Fallgestaltung kann der ArbG oder der AN Anspruchsberechtigter sein. Es handelt sich um den Sonderfall eines Schadensersatzanspruchs statt der Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB und setzt darum ein schuldhaftes Verhalten des Anspruchsgegners voraus. © Professor Dr. Hunscha 235 Dezember 2015 Die Vorschrift entspricht dem in § 314 IV BGB enthaltenen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass bei der Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, durch die Kündigung nicht ausgeschlossen wird. Zum Schaden des AN bei fristloser Eigenkündigung und seine Begrenzung siehe unten § 41 I Der Schaden des ArbG, der dem AN fristlos kündigen musste, erfasst nur solche Vermögensnachteile, die bei Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist (= bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten des ArbG) nicht entstanden wären, also den sog. Verfrühungsschaden. Das sind vor allem die Vermögensnachteile, die der ArbG durch einen infolge der vorzeitigen Vertragsbeendigung herbeigeführten Produktionsausfall oder in Gestalt der Mehrkosten erleidet, die er zur Vermeidung des Produktionsausfalls aufwenden muss (vgl. oben § 25 II. 3.). © Professor Dr. Hunscha 236 Dezember 2015 § 34 Der Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 138, 242 BGB I. Die Anwendbarkeit der §§ 138, 242 BGB Nach § 138 BGB ist eine Willenserklärung nichtig, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt. Und aus § 242 BGB wird abgeleitet, dass eine Willenserklärung nichtig ist, wenn sie wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben eine unzulässige Rechtsausübung darstellt. Da die Kündigung eine Willenserklärung ist, kann sie an diesen Bestimmungen scheitern. So ist es nur folgerichtig, wenn § 13 II KSchG ausdrücklich anerkennt, dass eine Kündigung sittenwidrig sein kann und für diesen Fall dem AN, nicht aber auch dem ArbG, den Auflösungsantrag nach § 9 KSchG ermöglicht und auch § 12 KSchG für anwendbar erklärt (unten § 39). § 13 III KSchG erfasst die treuwidrige Kündigung, allerdings ohne einen Auflösungsantrag zuzulassen. Wenn die Kündigung des AN schon daran scheitert, dass ihr die nach § 1 KSchG erforderliche soziale Rechtfertigung oder der nach § 626 BGB erforderliche wichtige Grund fehlt, besteht kein Bedürfnis danach, zu prüfen, ob zusätzliche Tatsachen vorliegen, die die Kündigung auch noch nach § 138 BGB oder § 242 BGB vernichten würden. II. Die Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 138 BGB von dem des § 242 BGB Die Abgrenzung kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Auf jeden Fall ist der Anwendungsbereich des § 138 BGB enger als der des § 242 BGB: Jede sittenwidrige Kündigung verstößt auch gegen Treu und Glauben, nicht aber umgekehrt. Die Annahme der Sittenwidrigkeit folgt aus Umständen, die dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden gröblich widersprechen, insbesondere wegen der verwerflichen Gesinnung des Kündigenden. Die Annahme der Treuwidrigkeit folgt vorwiegend aus einem widersprüchlichen Verhalten des Kündigenden oder der verletzenden Art und Weise der Kündigung. So ist Sittenwidrigkeit z.B. anzunehmen, wenn den kündigenden ArbG niedere Beweggründe treiben, wie etwa bei einer Kündigung als Reaktion auf die arbeitnehmerseitige Zurückweisung von Annäherungsversuchen oder des Ansinnens strafbarer Handlung, als Ausdruck von Mobbing oder wenn der ArbG durch die Kündigung eine Arbeitnehmerin dafür bestrafen will, dass ihr Ehemann gekündigt oder einen Geschäftsabschluss mit dem ArbG verweigert hat. Die Treuwidrigkeit betrifft vor allem Fälle, in denen der ArbG nach wenig zuvor aufwendiger Einwerbung des AN und/oder entgegenstehenden Versprechen bzw. Bekundungen plötzlich und unerwartet infolge bloßen Sinneswandels die Kündigung ausspricht und sich damit in Widerspruch zu seinem vertrauensbildenden Vorverhalten stellt. Hierunter fällt auch die Verdachtskündigung, ohne dem AN die Gelegenheit gegeben zu haben, den Verdacht auszuräumen. Treuwidrig ist darüber hinaus auch eine Kündigung unter entwürdigenden Umständen. © Professor Dr. Hunscha 237 Dezember 2015 III. Die besondere Bedeutung des § 242 BGB bei ordentlichen Kündigungen außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG Über die vorstehend aufgeführten Situationen hinaus kommt vor allem dem § 242 BGB besondere Bedeutung in den Fällen zu, in denen der AN gegenüber einer ordentlichen Kündigung keinen allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG genießt. Um den AN nicht völlig schutzlos zu stellen, verlangt die Rechtsprechung nämlich, dass der ArbG auch in dieser Situation ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme einhalten muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass dem ArbG in den Fällen der Nichtgeltung des KSchG nicht über den Umweg der Anwendung des § 242 BGB praktisch die im KSchG vorgegeben Maßstäbe der Sozialwidrigkeit auferlegt werden. Das würde vor allem dem in § 23 I KSchG verankerten Schutz des Kleinunternehmers vor finanzieller Überforderung zuwiderlaufen (unten § 30 I. am Ende). Unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB kommt es darum nur zu einer Prüfung der Frage, ob der AN die Kündigung billigerweise hinnehmen muss. Daraus folgt, dass die Kündigung nur nicht völlig willkürlich oder sachfremd sein darf, sondern auf einem nachvollziehbaren Grund beruhen muss, insbesondere wenn der ArbG eine Auswahl zwischen mehreren AN zu treffen hat. So muss die Auswahlentscheidung erkennen lassen, dass der ArbG soziale Belange des gekündigten und der vergleichbaren AN nicht völlig außer Acht gelassen hat. Kann er spezifisch eigene Interessen dafür ins Feld führen, warum er gerade den AN mit der längsten Betriebszugehörigkeit, dem höchsten Alter und den meisten Unterhaltspflichten entlässt, spricht wenig dafür, dass er bei seiner Entscheidung das nach Art. 20 I GG gebotene Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme außer Acht gelassen hat (BAG v. 21.2.2001 – 2 AZR 15/00 – in NZA 2001, 833). Außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG führen die Diskriminierungsverbote der §§ 1 bis 10 AGG zur Ausfüllung der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07 – in NZA 2009, 361). Siehe oben § 29 V. Im Unterschied zu § 1 III 4 KSchG trägt der AN für das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 138, 242 BGB die wenn auch abgestufte Beweislast. Danach muss der AN zunächst einmal die Umstände vortragen und ggf. beweisen, aus denen eine verwerfliche Gesinnung oder ein anstößiges Verhalten des ArbG erkennbar wird. Der ArbG darf diesen Tatsachenvortrag aber nicht einfach bestreiten, sondern muss sich dazu substantiiert erklären. D.h. er muss der Behauptung des AN „positive Gegenangaben gegenüberstellen, andernfalls die Annahme begründet ist, dass er dies unterlässt, weil er sonst lügen müsste“ (Stein-Jonas/Leipold, § 138 ZPO Rn. 36/37). Es trifft den ArbG also eine „sekundäre Behauptungslast“. © Professor Dr. Hunscha 238 Dezember 2015 § 35 Die Änderungskündigung des Arbeitsvertrages I. Bedeutung und Erscheinungsformen der Änderungskündigung 1. Der ArbG kann ein Interesse daran haben, die auf der Grundlage des Arbeitsvertrages geltenden Arbeitsbedingungen zu ändern. Die Veränderung kann die Art der Tätigkeit, den Einsatzort, aber auch die Lage und Länge der Arbeitszeit betreffen und ggf. zugleich zu einer Verringerung des Arbeitsentgelts führen. Mitunter ist der Abbau von Zusatzentgelten, gelegentlich auch die Kürzung des Monatslohns selbst der einzige Grund für die Änderungskündigung. Sofern die Maßnahme nicht von seinem Weisungsrecht (oben § 15 II.) oder arbeits- oder tarifvertraglichen Änderungsvorbehalten (oben § 16 III.) gedeckt ist und eine einvernehmliche Neuregelung des Arbeitsverhältnisses mit dem AN nicht zustande kommt, kann der ArbG versuchen, eine einseitige Änderung des Arbeitsvertrages im Wege seiner Ersetzung durch einen neuen Arbeitsvertrag mittels Änderungskündigung zu erreichen. Die Kündigung nur von Teilen des bisherigen Arbeitsvertrages ist nicht zulässig. 2. Im Fall der Änderungskündigung gibt der ArbG zwei Willenserklärungen ab. a) Erstens erklärt er dem AN die Kündigung des laufenden Arbeitsverhältnisses. Im Regelfall handelt es sich dabei um eine ordentliche Kündigung. Es kann allerdings auch eine außerordentliche Kündigung in Betracht kommen; so bei ordentlich nicht kündbaren AN, wie etwa Mitgliedern des Betriebsrates (§ 15 KSchG/§ 103 BetrVG) oder als milderes Mittel gegenüber einer außerordentlichen Beendigungskündigung (oben § 33 IV. 2.). In diesem Fall gilt § 2 KSchG analog (ErfK/Oetker § 2 KSchG Rn. 8). b) Zweitens verbindet der ArbG diese Kündigung mit dem Angebot, das Arbeitsverhältnis zu geänderten Arbeitsbedingungen fortzusetzen, die selbstredend genauso wenig gegen zwingende gesetzliche oder kollektivvertragliche Bestimmungen verstoßen dürfen, wie die bisherigen Arbeitsbedingungen. Der ArbG kann stattdessen auch erst das Änderungsangebot erklären und gleichzeitig die Kündigung (aufschiebend bedingt) für den Fall aussprechen, dass der AN das Änderungsangebot nicht oder nicht rechtzeitig annimmt. Beide Erklärungen bedürfen der nach § 623 BGB für eine Kündigung vorgesehenen Schriftform und sollten in ein und demselben Schriftstück erklärt werden, um den nach § 2 KSchG erforderlichen „Zusammenhang“ des Änderungsangebots mit der Kündigung deutlich zu machen. II. Reaktionsmöglichkeiten des AN 1. Annahme des Änderungsangebots Der AN kann das Änderungsangebot des ArbG annehmen und zu den geänderten Arbeitsbedingungen weiter arbeiten. War das Angebot unbefristet, bestimmt sich die Annahmefrist nach § 147 II BGB. War das Angebot befristet, gilt als Mindestfrist die DreiWochen-Frist analog § 2 S. 2 KSchG. © Professor Dr. Hunscha 239 Dezember 2015 2. Ablehnung des Änderungsangebots und Erhebung der Kündigungsschutzklage Der AN kann das Änderungsangebot des ArbG ablehnen bzw. innerhalb der jeweils maßgebenden Frist einfach nicht annehmen und gegen die Kündigung die Kündigungsschutzklage erheben. Gewinnt der AN den Kündigungsschutzprozess, bleibt es bei den ursprünglichen Arbeitsbedingungen. Verliert der AN den Kündigungsschutzprozess, ist das Arbeitsverhältnis beendet. Zu beachten ist hierbei, dass bei einer ordentlichen Änderungskündigung im Rahmen der Prüfung ihrer sozialen Rechtfertigung der Kündigungsschutzklage auch das vom AN abgelehnte Änderungsangebot des ArbG in Betracht gezogen werden kann. Erweist es sich seinerseits als sozial gerechtfertigt, kann dies dazu führen, dass die Beendigungskündigung allein deswegen als sozial gerechtfertigt angesehen wird und der AN den Prozess verliert. 3. Annahme des Änderungsangebots unter Vorbehalt und Erhebung der Änderungsschutzklage Um den AN davor zu bewahren, das Änderungsangebot nur deswegen annehmen zu müssen, damit er dem Risiko entgeht, bei Ablehnung des Angebots die Kündigungsschutzklage und dadurch seinen Arbeitsplatz zu verlieren, gibt § 2 KSchG ihm das Recht, ► das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt anzunehmen, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nach Maßgabe von § 1 II 1 bis 3, III 1 und 2 KSchG nicht sozial ungerechtfertigt ist ► und dies oder andere Unwirksamkeitsgründe, bei deren Vorliegen es auf die soziale Rechtfertigung gar nicht mehr ankommt durch die Änderungsschutzklage nach § 4 S. 2 KSchG gerichtlich feststellen zu lassen. Nach § 23 I 2 KSchG gelten die §§ 4 bis 7 KSchG auch für AN, für die mangels entsprechender Beschäftigtenzahl kein allgemeiner Kündigungsschutz nach Maßgabe des KSchG gilt. Diese AN genießen nicht den Schutz des § 1 KSchG, müssen aber alle anderen Unwirksamkeitsgründe gleichfalls in der Form und der Frist des § 4 KSchG geltend machen. Da § 4 KSchG in seinem Abs. 1 Satz 2 auch die Änderungsschutzklage erfasst, spricht vieles dafür, diesen AN in entsprechenden Anwendung des § 2 KSchG auch die Möglichkeit der Annahme eines Änderungsangebots unter Vorbehalt und nach § 4 I 2 KSchG der Erhebung der Änderungsschutzklage zu geben. Mangels Anwendbarkeit des § 1 KSchG ist das Änderungsangebot dann aber nicht nach seiner sozialen Rechtfertigung zu beurteilen, sondern danach, ob der AN die Änderung der Arbeitsbedingungen billigerweise hinnehmen muss. Vor diesem Hintergrund ist es dann auch geboten, die AN, die nur mangels Erfüllung der Wartefrist des § 1 I 1 KSchG noch keinen allgemeinen Kündigungsschutz genießen, in die Regelung der §§ 2, 4 I 2 KSchG einzubeziehen (KR-Rost, § 2 KSchG Rn 7a bis c). Nach h.M. gilt dies ebenso für die außerordentliche Änderungskündigung (vorstehend unter I. 2. a). III. Die Wirksamkeit der Änderungskündigung 1. Die Änderungskündigung soll zwar das Arbeitsverhältnis nicht beenden, ist der Sache nach aber dennoch eine Kündigung. Darum gelten für sie die gleichen rechtsgeschäftlichen Wirksamkeitserfordernisse wie für eine Beendigungskündigung. Siehe oben § 28 IV. 2). Insbesondere muss auch sie in einem mitbestimmten Betrieb vor ihrem Ausspruch das Anhörungsverfahren nach § 102 I, II BetrVG durchlaufen haben. Im Fall einer außerordentlichen Änderungskündigung ist die Ausschlussfrist des § 626 II BGB zu beachten (oben § 33 V.). © Professor Dr. Hunscha 240 Dezember 2015 Soll die Änderungskündigung eine Versetzung des AN ermöglichen, ist in einem mitbestimmten Betrieb der Betriebsrat nicht nur nach § 102 BetrVG zur beabsichtigten Kündigung anzuhören, sondern auch gemäß § 99 I BetrVG (unter Beachtung von § 95 III BetrVG) zu der gleichzeitig beabsichtigten Versetzung. Verweigert der Betriebrat seine Zustimmung zur Versetzung und wird sie nicht nach § 99 IV BetrVG durch das Arbeitsgericht ersetzt, braucht der AN nach Ablauf der Änderungskündigungsfrist den neuen Arbeitsplatz trotz Vorbehaltsannahme nicht einzunehmen (BAG v. 30.9.1993 – 2 AZR 283/93 – in NZA 94, 615). 2. Der Änderungskündigung dürfen ferner keine sondergesetzlichen Kündigungsverbote entgegenstehen (oben § 29 II.). 3. Bei der ordentlichen Änderungskündigung kommt es im Grundsatz zu den gleichen Prüfungsschritten wie bei der ordentlichen Beendigungskündigung (oben § 30 II. 2. bis 4.), jedoch mit folgenden Abweichungen: ► Anders als bei der Kündigungsschutzklage nach § 1 KSchG kommt es bei der Änderungsschutzklage zu einem anderen Prüfungsgegenstand: Nach § 2 Satz 1 KSchG wird nicht die soziale Rechtfertigung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern die soziale Rechtfertigung des Ansinnens des ArbG auf Änderung der Arbeitsbedingungen überprüft (Zöllner/Loritz/Hergenröder a.a.O. § 24 X. 1.). Dementsprechend ist die Änderungsschutzklage nach § 4 Satz 2 KSchG auf die Feststellung gerichtet, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt (oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam) ist. In dem Änderungsschutzprozess geht es mithin „nur um Inhalts-, nicht aber um Bestandsschutz“ (Lieb/Jacobs a.a.O. Rn. 398). ► Mit der Änderung des Prüfungsgegentandes ist nach h.M. zugleich eine Änderung des Prüfungsmaßstabs verbunden: An die soziale Rechtfertigung des Ansinnens des ArbG auf Änderung der Arbeitsbedingungen werden weniger strenge Anforderungen gestellt als an die soziale Rechtfertigung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der bloße Inhaltsschutz des Arbeitsverhältnisses soll nicht so weit gehen müssen, wie der Bestandsschutz (Lieb/Jacobs a.a.O. Rn. 399). a) Bei der Prüfung der sozialen Rechtfertigung der Änderungskündigung geht es darum zunächst um die Frage, ob ein legitimer Grund für das Ansinnen des ArbG auf Änderung der Arbeitsbedingungen des AN vorliegt. Es kommt also darauf an, ob Gründe in der Person oder im Verhalten des AN oder dringende betriebliche Erfordernisse einer Weiterbeschäftigung des AN zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen. Ein personenbedingter Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen kommt hauptsächlich in den Fällen in Betracht, in denen der AN aufgrund nachlassender Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage ist, den Anforderungen seines bisherigen Arbeitsplatzes zu genügen, er aber auf einem anderen freien Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann. Das gleiche gilt, wenn der AN eine Allergie gegen bestimmte Stoffe entwickelt, mit denen er auf seinem Arbeitsplatz in Berührung kommt: Weiterbeschäftigung einer an Wollallergie leidenden Näherin als Küchenhilfe. Ein verhaltensbedingter Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen kann z. B. in der Versetzung eines AN in einen anderen Betriebsteil liegen, wenn dadurch ein Ende der den Betriebsfrieden störenden Streitereien unter Arbeitskollegen herbeigeführt werden soll. Betriebsbedingte Gründe bilden die Mehrzahl der Fälle einer Änderung der Arbeitsbedingungen. Dabei geht es häufig um Veränderungen im Arbeitsbereich als Folge einer Umstrukturierung des Betriebs. Es kommt aber auch vor, dass ohne jede Veränderung im Arbeitsbereich eine reine Entgeltkürzung herbeigeführt werden soll, um der schlechten wirtschaftlichen Lage des Betriebs zu begegnen. © Professor Dr. Hunscha 241 Dezember 2015 b) Besteht ein legitimer Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen, müssen die vom ArbG angebotenen Bedingungen sich als das sowohl geeignete als auch erforderliche und darüber hinaus angemessene Mittel erweisen, die Störung zu beseitigen, die den Betrieb bei einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen belasten. Die Geeignetheit der vom ArbG im Wege der Änderungskündigung angebotenen Arbeitsbedingungen muss z.B. verneint werden, wenn sie wegen der Verletzung von Bestimmungen auf der Ebene des Gesetzes oder eines Kollektivvertrags unwirksam sind. Erforderlich sind die angebotenen Änderungen nur dann, wenn sie sich nicht weiter vom Inhalt des bisherigen Arbeitsverhältnisses entfernen, als es zur Erreichung des angestrebten Ziels unbedingt notwendig ist. So kann z. B. eine betriebsbedingte Änderungskündigung zwecks reiner Entgeltkürzung nur dann erforderlich sein, wenn anderenfalls der Abbau von Arbeitsplätzen oder gar die Stilllegung des gesamten Betriebs unvermeidlich ist. An der Erforderlichkeit einer verhaltensbedingten Änderungskündigung mit dem Angebot der Versetzung fehlt es, wenn ihr keine Abmahnung vorausgegangen ist. Bei Beurteilung der Angemessenheit muss eine Interessenabwägung durchgeführt werden. Im Falle der betriebsbedingten Änderungskündigung muss es stattdessen zu einer Sozialauswahl nach Maßgabe des § 1 III KSchG kommen, sofern Auswahlmöglichkeiten bestehen. 4. Beachte: Wie vorstehend unter II. 3 am Ende hervorgehoben, gilt für die ordentliche Änderungskündigung von AN, die keinen allgemeinen Kündigungsschutz nach § 1 KSchG genießen sowie bei außerordentlichen Änderungskündigungen stattdessen das Erfordernis der Zumutbarkeit des Änderungsangebots. Bei einer betriebsbedingten Änderungskündigung kommt es in diesen Fällen auch nicht zu einer Sozialauswahl. 5. Die außerordentliche Änderungskündigung bedarf nach § 626 I BGB eines wichtigen Grundes. Ein solcher liegt nur vor, wenn die sofortige Änderung der Arbeitsbedingungen unabweisbar notwendig und dem AN zumutbar ist. © Professor Dr. Hunscha 242 Dezember 2015 § 36 Der Schutz des Arbeitnehmers bei Massenentlassungen I. Der Tatbestand der Massenentlassung Nach § 17 I KSchG liegt der Tatbestand einer Massenentlassung vor, wenn der ArbG innerhalb von 30 Kalendertagen Entlassungen auf Grund von ordentlichen Kündigungen (§ 17 IV KSchG) vornimmt, von denen ● in Betrieben mit i.d.R 21 bis 59 AN mehr als 5 AN, ● in Betrieben mit i.d.R 60 bis 499 AN 10 v.H. der regelmäßig beschäftigten AN oder aber mehr als 25 AN, ● in Betrieben mit mindestens 500 AN mindestens 30 AN betroffen sind. Teilzeitbeschäftigte Ein unternehmerisches Konzept, das etappenweise Entlassungen in jeweils nicht meldepflichtigem Umfang vorsieht, in Summe aber die vorstehenden Mengenangaben erreicht, gilt unabhängig von der 30-TageFrist als einheitliche Maßnahme. Nach § 17 I 2 KSchG stehen den ordentlichen Kündigungen andere Beendigungsformen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom ArbG veranlasst werden, wie z.B. eine Änderungskündigung (wegen ihres ungewissen Ausgangs), der vorübergehende Wechsel des AN in eine Transfergesellschaft, die einer Kündigung zuvorkommende Aufhebung oder Eigenkündigung des Arbeitsverhältnisses. Nach § 17 IV KSchG bleibt das Recht zur fristlosen Kündigung hingegen unberührt. II. Möglichkeiten eines Arbeitnehmerschutzes Aus der Tatsache, dass der ArbG nach § 17 I/II KSchG verpflichtet ist, die beabsichtigten Entlassungen zuvor der Agentur für Arbeit anzuzeigen und im Falle eines mitbestimmten Betrieb noch zuvor mit dem Betriebsrat ein Konsultationsverfahren über die geplanten Entlassungen durchzuführen, folgt für den AN ein nicht unerheblicher Schutz vor drohenden Nachteilen. Hinzu kommt, dass Massenentlassungen hauptsächlich bei einer Betriebsänderung ausgesprochen werden, so dass dem AN eines mitbestimmten Betriebes die Einschaltung des Betriebsrats nach Maßgabe der §§ 111 ff. BetrVG zugute kommt. 1. Beabsichtigt der ArbG, Massenentlassungen i.S.d. §§ 17 ff. KSchG durchzuführen, verlangt § 17 I KSchG von ihm, diese Absicht der Agentur für Arbeit anzuzeigen, „bevor er…die AN…entlässt.“ Das ist missverständlich ausgedrückt, weil unter einer Entlassung die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach erfolgter Kündigung verstanden werden kann. Da die Arbeitsagentur durch die Anzeige aber in die Lage versetzt werden soll, die entlassenen AN anderweitig zu vermitteln, bedarf sie eines deutlich längeren Zeitvorlaufs. Schon deswegen ist es geboten, unter einer „Entlassung“ den Ausspruch der Kündigung zu verstehen; also zu verlangen, dass der ArbG die Anzeige vor dem Ausspruch der Kündigung erstattet. © Professor Dr. Hunscha 243 Dezember 2015 Diese Deutung ist erst recht zwingend, wenn man berücksichtigt, dass es nach § 17 II KSchG in mitbestimmten Betrieben erforderlich ist, dass ArbG und Betriebsrat in einem Konsultationsverfahren auf der Grundlage der dem ArbG nach Nr. 1 bis 6 vorgeschriebenen Angaben die Möglichkeiten haben sollen, zu beraten, ob und wie Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern sind. Nach § 17 III KSchG hat der ArbG seiner Anzeige an die Agentur für Arbeit das dem Betriebsrat zur Verfügung gestellte Informationsmaterial sowie eine Stellungnahme des Betriebsrats über die Konsultation beizufügen. Hieraus folgt, dass nicht nur die Anzeige, sondern auch die Konsultation noch vor dem Ausspruch der zur Entlassung der AN führenden Kündigungen erfolgt sein müssen. „Entlassung“ i.S.d. §§ 17 ff KSchG ist darum die (mit ihrem Zugang beim AN wirksam werdende) Kündigung. (So jetzt auch BAG v. 23.3.2006 - 2 AZR 343/05 - in NZA 2006, 971). Schon durch die mit der Anzeige einsetzende begrenzte Entlassungssperre des § 18 KSchG, die nach § 19 KSchG mit Kurzarbeit verbunden sein kann, erfährt der gekündigte AN eine gewisse Entlastung, weil sie die Entlassung hinauszögert. Darüber hinaus bietet ihm das Konsultationsverfahren die Chance, u.U. nicht gekündigt zu werden. Es kommt hinzu, dass die Kündigungen nach § 134 BGB unwirksam sind, wenn der ArbG die Anzeige der Massenentlassung ganz unterlässt oder der Agentur für Arbeit erst nach dem Ausspruch der Kündigungen zukommen lässt oder ihr die nach § 17 II 1 Nr. 1. bis 5 KSchG vorgeschriebenen Angaben oder die Stellungnahme des Betriebsrates über die Konsultationen (ggf. nach § 17 III 3 KSchG entbehrlich) nicht beifügt. Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung ist die vor Ausspruch der Kündigung durchgeführte Konsultation des Betriebsrates auch dann, wenn schon Sozialplanverhandlungen stattgefunden hatten (BAG v. 21.3.2013 - 2 AZR 60/12 – in ArbRB 2013, 266). Für die Wirksamkeit der Konsultation kommt es darauf an, dass die Betriebsparteien auch wirklich zu einer ernsthaften Beratung zusammengefunden haben und nicht bloß eine Anhörung des Betriebsrates stattgefunden hat. Neben den Schutzwirkungen der §§ 17 ff. KSchG bleibt dem AN selbstverständlich der sonstige besondere Kündigungsschutz (oben § 29 II.) sowie der allgemeine Kündigungsschutz insbesondere der §§ 1 ff. KSchG erhalten. 2. Die nach §§ 17 ff. KSchG eröffneten Möglichkeiten des Arbeitnehmerschutzes werden durch Vorschriften der §§ 111 ff. BetrVG wirkungsvoll ergänzt. Nach § 111 BetrVG hat der ArbG in Unternehmen mit i.d.R. mehr als 20 wahlberechtigten AN „den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft…zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten.“ Ziel der Beratungen ist der Abschluss eines Interessenausgleichs (a) und eines Sozialplans (b). a) ArbG und Betriebsrat es haben zu versuchen, einen Interessenausgleich in Gestalt einer Vereinbarung (§ 112 I 1 BetrVG) darüber herbeizuführen, ob überhaupt und wenn ja, wann und wie die Betriebsänderung durchgeführt wird. Im Gegensatz zum Sozialplan (§112 IV BetrVG) kann der Betriebsrat einen Interessenausgleich gegen den Willen des ArbG nicht erzwingen, da die Entscheidung über das Ob einer Betriebsänderung als ein Akt der Unternehmensorganisation allein beim ArbG liegt. Kommt es allerdings zum Abschluss eines Interessenausgleichs und weicht der ArbG von ihm zum Nachteil von ANn ohne zwingenden Grund ab, kann ihn nach § 113 Be- © Professor Dr. Hunscha 244 Dezember 2015 trVG eine Verpflichtung zum Nachteilsausgleich treffen. Das gleiche gilt, der ArbG eine die AN benachteiligende Betriebsänderung durchführt, ohne einen Interessenausgleich versucht zu haben. b) Nach Maßgabe der §§ 112, 112a BetrVG kann der Betriebsrat eine Einigung mit dem ArbG über den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den ANn infolge der geplanten Betriebsänderung entstehen (Sozialplan), nach § 112 II bis V BetrVG über das Einigungsstellenverfahren erzwingen (oben § 6 II.), 3) Beabsichtigt der ArbG, nach § 17 I KSchG anzeigepflichtige Massenentlassungen vorzunehmen, bedarf es trotz stattgefundener Sozialplanverhandlungen auch der Durchführung des nach § 17 II KSchG erforderlichen Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat, anderenfalls die Kündigungen unwirksam sind. (BAG v. 13.12.2012 - 6 AZR 5/12 - in ArbR 2013, 262). Beide Verfahren sind nicht deckungsgleich. © Professor Dr. Hunscha 245 Dezember 2015 § 37 Die Verwirklichung des Kündigungsschutzes durch Klageerhebung I. Die Klageerhebung innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG Seinen Kündigungsschutz muss der AN im Wege der Klage gegen den ArbG vor dem Arbeitsgericht durchzusetzen versuchen. Unter der Voraussetzung, dass dem AN eine schriftliche Kündigung zugegangen ist, die er für rechtsunwirksam erachtet, muss der AN nach § 4 Satz 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach deren Zugang Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch die (genau zu bezeichnende) Kündigung nicht aufgelöst ist oder dass die im Wege der Änderungskündigung ausgesprochene Änderung der Arbeitsbedingungen unwirksam ist. Andernfalls gilt die Kündigung nach § 7 KSchG als von Anfang an wirksam (nachfolgend unter II.). Obwohl § 4 eine Vorschrift des KSchG ist, das die ordentliche Kündigung behandelt, gelten nach § 13 I 2 KSchG die §§ 4 Satz 1 bis 7 KSchG auch für die außerordentliche Kündigung. Auch wenn dem AN eine außerordentliche Kündigung nach Ablauf der Erklärungsfrist des § 626 II 1 BGB zugeht, muss er sie innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG mit der Kündigungsschutzklage angreifen. Ebenso muss der Verstoß gegen das Kündigungsverbot des § 15 III TzBfG innerhalb der DreiWochen-Frist des § 4 KSchG geltend gemacht werden. Sofern die Kündigung der Zustimmung einer Behörde bedarf, wie z.B. in den Fällen der §§ 9 III MuSchG, 85, 91 SGB IX, läuft die Drei-Wochen-Frist nach § 4 S. 4 KSchG erst ab der Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an den AN. Sonderregeln gelten nach § 10 ArbPlSchG für freiwillige Wehrübungen. Nach § 24 IV KSchG gilt eine Sonderreglung ferner für AN der Schifffahrt und des Luftverkehrs. Die Drei-Wochen-Frist gilt nicht, wenn der AN den Mangel der Schriftform rügen will, z.B. weil der ArbG entgegen § 623 BGB in elektronischer Form gekündigt oder § 126 I BGB missachtet hat (eigenhändige Namensunterschrift des Ausstellers der Urkunde!); denn § 4 S.1 KSchG spricht ausdrücklich von der Klage „innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung“. Die DreiWochen-Frist kann darum erst recht nicht gelten, wenn dem AN die Kündigung nicht zugegangen ist. Die Drei-Wochen-Frist gilt nicht, wenn der AN lediglich die Einhaltung der Kündigungsfrist geltend macht, um vom ArbG wegen verfrüht vollzogener Entlassung Annahmeverzugslohn zu verlangen. Die Drei-Wochen-Frist gilt nicht für eine Klage des AN, mit der er sich gegen eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus einem anderen Grund als dem der Kündigung wehrt, z.B. gegen einer Anfechtung des Arbeitsvertrages oder gegen einen Aufhebungsvertrag, die er für unwirksam hält. Will der AN allerdings geltend machen, dass die Befristung des Arbeitsvertrages unwirksam ist, muss er die entsprechende Drei-Wochen-Frist des § 17 TzBfG einhalten. © Professor Dr. Hunscha 246 Dezember 2015 II. Das Versäumen der Drei-Wochen-Frist Nach § 7 KSchG gilt die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam, wenn der AN ihre Unwirksamkeit nicht nach § 4 S. 1 KSchG, ggf. nach §§ 5 und 6 KSchG rechtzeitig geltend gemacht hat. Wer ohne Verschulden die dreiwöchige Klagefrist des § 4 KSchG versäumt hat, kann nach § 5 KSchG die Zulassung der verspäteten Klage beantragen. An ihre Begründung werden strenge Anforderungen gestellt. Den AN entschuldigen nicht schwebende Vergleichsverhandlungen mit dem ArbG oder fehlerhafte Auskünfte über die Klagefrist etwa durch Betriebsratsmitglieder, Bekannte oder einen unwissenden Rechtsanwalt. Im Fall des Krankenhausaufenthalts des AN trifft ihn keine Schuld, wenn eine häusliche Vertretung wirklich unmöglich ist. Ein fehlender Nachsendeantrag bei urlaubsbedingter Abwesenheit des AN begründet kein Verschulden des AN. Nach § 5 III KSchG ist der Zulassungsantrag nur innerhalb von 2 Wochen nach Behebung des Hemmnisses zulässig. Nach Ablauf von 6 Monaten, gerechnet vom Ende der versäumten Frist, kann der Antrag nicht mehr gestellt werden. Nach § 5 II KSchG ist der Zulassungsantrag mit der Klageerhebung zu verbinden. Mittel der Glaubhaftmachung der die nachträgliche Zulassung begründenden Tatsachen sind alle prozessualen Beweismittel: Der Beweis durch Urkunden, wie z.B. Flugscheine, Hotelrechnungen, die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers, aber auch der Beweis durch Zeugen, durch Sachverständige und durch Augenschein. III. Die Klageerhebung bei mehreren Kündigungen Erhält der AN von seinem ArbG mehrere Kündigungen, muss er jede von Ihnen innerhalb der Dreiwochenfrist auch dann angreifen, auch wenn es sich um Wiederholungskündigungen aus demselben Anlass handelt! Sofern dem AN eine Wiederholungskündigung in der Zeit des wegen der ersten Kündigung bereits laufenden Gerichtsverfahrens zugeht, muss er gegen sie jedoch dann nicht gesondert vorgehen, wenn er neben dem Klageantrag nach § 4 S. 1 KSchG auf Unwirksamkeit der Kündigung zugleich einen allgemeinen Feststellungsantrag nach § 256 ZPO auf Fortbestehen des Arbeitsverhältnis gestellt hat. Das allerdings gilt nicht mehr gegenüber einer erst nach Schluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung des laufenden Gerichtsverfahrens zugegangenen Wiederholungskündigung. Auch eine dem AN nach seinem rechtskräftigen Obsiegen zugehende Wiederholungskündigung muss er innerhalb der Dreiwochenfrist angreifen. Dass er die neue Klage gewinnt, ist sicher, wenn ihr ein Sachverhalt zugrunde liegt, der schon in dem vorangegangenen Gerichtsverfahren zu seinen Gunsten entschieden wurde. Keinesfalls darf er jedoch deswegen die Klageerhebung unterlassen; denn die Rechtskraft des vorangegangenen Urteils erstreckt sich nicht auf die Urteilsgründe, sondern ganz formal nur auf die unter dem damaligen Datum ausgesprochene Kündigung; jetzt aber liegt eine Kündigung vor, die ein neues Datum trägt. © Professor Dr. Hunscha 247 Dezember 2015 § 38 Der Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers I. Die Weiterbeschäftigung während des Laufs der Kündigungsfrist Der ordentlich gekündigte AN ist während des Laufs der Kündigungsfrist grundsätzlich weiterhin zu beschäftigen, weil das Arbeitsverhältnis erst mit dem Ablauf der Kündigungsfrist endet. Solange der Arbeitsvertrag besteht, hat der AN auch das Recht, vom ArbG vertragsgemäße Beschäftigung zu fordern (oben § 3 III. 3. (1). Eine Freistellung von der Arbeit während der Kündigungsfrist kommt nur in Betracht, wenn beide Seiten damit einverstanden sind oder ein besonderes schutzwürdiges Interesse des ArbG an der Nichtbeschäftigung vorliegt, das den Anspruch des AN auf vertragsgemäße Beschäftigung deutlich überwiegt. Die Freistellung durch den ArbG unterliegt nicht der Mitbestimmung durch den Betriebsrat. Nach § 615 S.1 BGB besteht der Vergütungsanspruch des AN fort. Typische Anlässe für eine Freistellung durch den ArbG sind z.B. der Ausspruch einer ordentlichen (fristgemäßen) verhaltensbedingten Kündigung, berechtigte Bedenken wegen des Verrats von Betriebsgeheimnissen, die drohende Gefahr von Wettbewerbsverstößen oder des missbräuchlichen Umgangs mit IT-Sytemen und -daten oder die erhebliche Störung des Betriebsfriedens. Eine ähnliche Interessenlage kann in dem Fall bestehen, in dem der ArbG eine außerordentliche (fristlose) Kündigung beabsichtigt, vor deren Ausspruch er z.B. noch den BR anhören muss (Küttner/Kreitner, Personalbuch 2010, Freistellung von der Arbeit, Rn 20). II. Der gesetzliche Weiterbeschäftigungsanspruch Nach § 102 V 1 BetrVG muss der ArbG den AN nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits bei unveränderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigen, wenn der Betriebsrat nach gemäß § 102 I BetrVG ordnungsgemäßer Anhörung durch den ArbG (oben § 28 III. 2. e) der Kündigung nach § 102 III BetrVG frist- und ordnungsgemäß widersprochen hat, Die Widerspruchsfrist beträgt nach § 102 II 1 BetrVG eine Woche. Ordnungsgemäß ist der Widerspruch nur, wenn er, in Schriftform verfasst, auf einem nach § 33 BetrVG wirksamen Beschluss beruht, sich einem der in § 102 III Nr.1 bis 5 BetrVG genannten Widerspruchsgründe zuordnen lässt und dem ArbG erkennbar gemacht wird, auf welche konkreten Umständen der Betriebsrat sich hierbei stützt. Die Widerspruchsgründe zielen auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung: Der Widerspruchsgrund der Nr.1 bezieht sich auf § 1 III KSchG, die Widerspruchsgründe der Nrn.2 bis 5 entsprechen den Argumenten in § 1 II 2/3 KSchG. Praxishinweis: Die Ordnungsgemäßheit des Widerspruchs des Betriebsrates zu bestreiten, ist eine oft erfolgreiche Einwendung des Rechtsanwalts des ArbG gegen den Weiterbeschäftigungsanspruch des AN. Umgekehrt greift der Anwalt des AN gerne die Ordnungsgemäßheit der nach § 102 I BetrVG erfoderlichen Anhörung des Betriebsrates durch den ArbG an (oben § 28 IV. 3.). der ArbG dem AN trotzdem eine ordentliche Kündigung erklärt hat, Nach § 102 IV BetrVG hat der ArbG in diesem Fall dem AN mit der Kündigung eine Abschrift der Stellungnahme des Betriebsrates zuzuleiten. © Professor Dr. Hunscha 248 Dezember 2015 der AN Kündigungsschutzklage nach dem KSchG erhoben hat Auf den AN muss das KSchG Anwendung finden. Wenngleich nach § 1 I BetrVG „in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind“ schon Betriebsräte gewählt werden können, kommt es in der Praxis zur Bildung eines Betriebsrates doch erst bei einer erheblich größeren Belegschaft. Da das KSchG bereits ab 11 vollzeitbeschäftigten AN anwendbar ist (oben § 30 I.), gilt in allen mitbestimmten Betrieben damit zugleich das KSchG. Davon gehen auch die Vorschriften des § 102 III, V BetrVG über das Widerspruchsrecht des Betriebsrates und den daraus folgenden Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten AN aus. Die Kündigungsschutzklage muss innerhalb der Frist des § 4 KSchG erhoben worden sein und sich zumindest auch auf die Sozialwidrigkeit im Sinne des § 1 II KSchG stützen. und der AN vom ArbG die Weiterbeschäftigung verlangt. Der AN muss seine Arbeitskraft dem ArbG spätestens am ersten Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist in Person anbieten und seine Weiterbeschäftigung verlangen, damit keine Beschäftigungslücke entsteht (BAG vom 11.5.2000 - 2 AZR 54/99 - in NZA 2000, 1055). Die weiterhin notwendige gerichtliche Geltendmachung des Weiterbeschäftigungsanspruchs erfolgt neben der Kündigungsschutzklage durch Klage auf Weiterbeschäftigung nach § 102 V 1 BetrVG, seltener durch Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Sinn und Zweck dieser Vorschrift erschließen sich aus folgenden Überlegungen. Nach dem Ablauf der Kündigungsfrist ist das Arbeitsverhältnis aufgelöst und der AN beschäftigungslos geworden. Erhebt der AN Kündigungsschutzklage, ist dieser Akt allein noch nicht Grund genug dafür, eine Änderung der Rechtlage zu bewirken; denn es besteht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits Ungewissheit über seinen Ausgang. Verliert der AN die Klage, bleibt die Rechtslage so, wie sie ist. Gewinnt der AN die Klage, wird im Urteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst wurde. Daraus folgt, dass der AN nach § 615 S.1 BGB (Annahmeunwilligkeit des ArbG) nunmehr den ihm seit der Entlassung vorenthaltenen Lohn nachgezahlt erhält und er seine Tätigkeit wieder aufnehmen kann. Da der AN während der Prozessdauer nicht beschäftigt war, besteht für ihn aber die Gefahr, den Anschluss verloren zu haben und die Notwendigkeit, sich erneut einarbeiten zu müssen. Das kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten, insbesondere wenn der Rechtsstreit lange gedauert hat. Diese Probleme will § 102 V 1 BetrVG (aber nur) einer bestimmten Kategorie von AN ersparen. Nur der ordentlich gekündigte AN, der unter das KSchG fällt und einem mitbestimmten Betrieb angehört, kann bei Erhebung einer Kündigungsschutzklage, die mindestens auch auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung gestützt sein muss, von seinem ArbG die Weiterbeschäftigung verlangen, sofern der Betriebsrat der Kündigung frist- und ordnungsgemäß widersprochen hat. Unabhängig davon, dass die Kündigung wenigstens zunächst einmal bis zur endgültigen Entscheidung des Rechtsstreits wirksam ist, besteht das ursprüngliche Arbeitsverhältnis dann für die Dauer des Prozesses mit unverändertem Inhalt fort, und würde erst durch eine rechtskräftige Abweisung der Kündigungsschutzklage beendet sein. Aus den in § 102 V Nr.1 bis 3 BetrVG aufgeführten Gründen hat der ArbG allerdings die Möglichkeit, im Wege der einstweiligen Verfügung zu erreichen, dass das Arbeitsgericht ihn von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung entbindet. © Professor Dr. Hunscha 249 Dezember 2015 III. Der allgemeine Weiterbeschäftigungsanspruch In der Erkenntnis, dass die beschränkte Anwendbarkeit des gesetzlichen Weiterbeschäftigungsanspruchs Fälle unberücksichtigt lässt, in denen eine Weiterbeschäftigung des AN nach Ablauf der Kündigungsfrist gleichfalls geboten erscheint, haben Rechtslehre und Rechtsprechung den sog. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch entwickelt, für den §§ 611 BGB i.V.m § 242 BGB Anspruchsgrundlage sein soll. Nach dem Beschluss des Großen Senats des BAG v. 27.2.1985 – GS 1/84 – in NJW 1985, 2968 ff. muss das im Grundsatz schutzwerte Interesse des ArbG an der Nichtbeschäftigung des gekündigten AN während der Dauer des vom AN durch Erhebung einer Kündigungsschutzklage eingeleiteten Gerichtsverfahrens dann zurücktreten wenn entweder die Kündigung offensichtlich unwirksam ist, z.B. wegen fehlender Schriftform nach § 623 BGB, wegen unterbliebener oder nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates im Fall des § 102 I BetrVG oder fehlender behördlicher Zustimmung in den Fällen der §§ 85, 91 SGB IX oder des § 9 III MuSchG, oder wenn der AN ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil erster oder zweiter Instanz erstritten hat, das wegen der Weiterführung des Prozesses zwar noch nicht rechtskräftig ist, die Rechtsposition des AN aber jedenfalls vorläufig stärkt. Der gekündigte AN kann in diesen Fällen vom ArbG unabhängig von den engen Voraussetzungen des § 102 V 1 BetrVG also auch wenn kein Betriebsrat besteht oder weil der Betriebsrat der Kündigung nicht oder nicht ordnungsgemäß widersprochen hat, ferner bei Nichtgeltung des KSchG oder bei einer außerordentlichen Kündigung im Fall offensichtlich unbegründeter Kündigung spätestens mit Erhebung der Kündigungsschutzklage oder gleich nach Erlass des dem AN mindestens vorläufig günstigen Urteils Weiterbeschäftigung verlangen und diesen Anspruch zusätzlich durch Klage auf Weiterbeschäftigung geltend machen. Auch in diesen Fällen muss dem ArbG allerdings zugestanden werden, im Wege einer einstweiligen Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des AN während des Rechtsstreits entbunden zu werden, wenn dies durch dringende betriebliche Interessen geboten erscheint. Sofern ArbG und AN unter den vorstehend aufgeführten Voraussetzungen nicht freiwillig übereinkommen, das bisherige Arbeitsverhältnis befristet oder auflösend bedingt bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiterzuführen sondern der ArbG den AN nur zur Vermeidung drohender Vollstreckungsmaßnahmen aus dem vorläufig vollstreckbaren Urteil auf Weiterbeschäftigung erster oder zweiter Instanz gezwungenermaßen weiterbeschäftigt, würde ein Prozessverlust des AN in der letzten Instanz zu einer Rückabwicklung des Beschäftigungsverhältnisses nach Maßgabe der Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung gemäß §§ 812 ff. BGB führen. Infolgedessen dürfte der AN Bezahlung nur für die von ihm tatsächlich geleistete Arbeit in Höhe des Wertersatzes nach § 818 II BGB beanspruchen bzw. behalten können. IV. Kein Weiterbeschäftigungsanspruch für leitende Angestellte § 31 II SprAuG kennt keinen Weiterbeschäftigungsanspruch für leitende Angestellte bei „Bedenken“ des Sprecherausschusses gegen eine ordentliche Kündigung. Es gibt für leitende Angestellte auch keinen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch. © Professor Dr. Hunscha 250 Dezember 2015 § 39 Das Nachschieben von Kündigungsgründen I. Die Wirksamkeit einer ordentlichen wie außerordentlichen Kündigung hängt grundsätzlich nicht davon ab, dass der ArbG dem AN den Grund mitteilt, der ihn zur Kündigung veranlasst hat. Eine Ausnahme hiervon gilt nach § 22 III BBiG sowie im Fall des § 9 III 2 MuSchG. Darüber hinaus kann ein Begründungszwang durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag vereinbart sein. Hat der AN gegen den ArbG die Kündigungsschutzklage erhoben, muss der ArbG nun aber seine Kündigung rechtfertigen. Hierbei kann es dadurch zu einem „Nachschieben von Kündigungsgründen“ kommen, dass der ArbG seine Kündigung über die ursprünglich anlassgebenden Umstände hinaus auf weitere Gründe stützen will. II. Gegenüber diesem Bestreben sind zum Schutz des AN nachfolgende Einschränkungen geboten. 1. Kein Nachschieben von Gründen aus der Zeit nach der Kündigung. Da die Kündigung in dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem sie dem AN zugeht, kann der ArbG nur solche Gründe nachschieben, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits vorgelegen haben. Will er wegen späterer Ereignisse kündigen, muss er eine neue Kündigung aussprechen. 2. Nachschieben von Gründen aus der Zeit vor der Kündigung. a) Wenn kein Betriebsrat besteht, kann der ArbG Gründe, die bis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits vorgelegen haben, uneingeschränkt nachschieben. Ohne Rücksicht auf die Ausschlussfrist des § 626 II BGB gilt das auch bei einer außerordentlichen Kündigung, denn wer innerhalb der Ausschlussfrist schon außerordentlich gekündigt ist, bedarf dieses Schutzes nicht ein weiteres Mal. b) Besteht ein Betriebsrat, der vor jeder Kündigung angehört werden muss, ist zu unterscheiden (1) Waren auch die neuen Gründe dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung bereits mitgeteilt, vom ArbG aber zunächst nicht verwendet worden, ist ihr Nachschieben zulässig. (2) Waren die neuen Gründe dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung nicht mitgeteilt worden, obwohl der ArbG sie bereits kannte, ist deren Nachschieben unzulässig. (3) Waren die neuen Gründe dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung nicht mitgeteilt worden, weil sie der ArbG sie noch nicht kannte, ist deren Nachschieben erst nach Anhörung des Betriebsrat zulässig. © Professor Dr. Hunscha 251 Dezember 2015 § 40 Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung nach § 9 und § 13 KSchG sowie im Wege des § 12 KSchG I. Der Auflösungsantrag des AN nach § 9 KSchG Wenn dem AN, der den Kündigungsschutzprozess wegen sozial ungerechtfertigter ordentlicher Kündigung gewinnt, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, hat das Arbeitsgericht nach § 9 KSchG auf Antrag des AN das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zu einer angemessenen Abfindung nach § 10 KSchG zu verurteilen. Nach § 9 I 3 KSchG kann der Antrag bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz gestellt werden. Unzumutbar ist dem AN die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, wenn die Besorgnis begründet ist, dass er nunmehr z.B. schikaniert werden wird. Voraussetzung ist weiterhin, dass die Parteien um die Wirksamkeit einer ordentlichen Beendigungskündigung streiten, die mindestens auch wegen fehlender sozialer Rechtfertigung im Sinne von § 1 KSchG rechtsunwirksam ist. Eine Kündigung, die nur aus anderen Gründen, z.B. mangels Schriftform oder wegen unterbliebener Anhörung des BR rechtsunwirksam ist, ermöglicht keine Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Eine Ausnahme bildet lediglich der in § 13 II KSchG genannte Fall der sittenwidrigen Kündigung. II. Der Auflösungsantrag des ArbG nach § 9 KSchG Wenn dem ArbG, der den Kündigungsschutzprozess wegen sozial ungerechtfertigter ordentlicher Kündigung verliert (nicht bei anderen oder zusätzlichen Unwirksamkeitsgründen!), die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, hat das Arbeitsgericht nach § 9 KSchG auf Antrag des ArbG das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zu einer angemessenen Abfindung nach § 10 KSchG zu verurteilen. An die Voraussetzung der Unzumutbarkeit sind aber strenge Anforderungen zu stellen. Sie kann z.B. in einer Beleidigung des ArbG durch den AN während des Prozesses oder in den ArbG herabwürdigenden Äußerungen des AN in der Öffentlichkeit begründet liegen. Eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit kann z.B. zu verneinen sein, wenn der AN infolge der Unterbrechung der Tätigkeit den Kontakt zum Betrieb und zu seiner Arbeit so sehr verloren hat, dass er seine Aufgaben selbst nach angemessener Einarbeitungszeit nicht mehr sachgerecht erledigen kann. Beachte: Nach § 14 II 2 KSchG kann der ArbG den Verbleib eines leitenden Angestellten, der zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von AN berechtigt ist, ohne weiteres verhindern, weil er den Abfindungsantrag ohne Begründung stellen darf. III. Der Auflösungsantrag des AN nach § 13 I und II KSchG Wenn dem AN, der den Kündigungsschutzprozess wegen unbegründeter außerordentlicher Kündigung gewinnt, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, hat das Gericht nach § 13 I KSchG auf seinen Antrag hin das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zu einer angemessenen Abfindung entsprechend § 10 KSchG zu verurteileln. Das gleiche gilt nach § 13 II KSchG für den Fall, dass der AN den Kündigungsschutzprozess wegen Sittenwidrigkeit der Kündigung gewinnt. Dem ArbG steht in diesen Fällen kein dem § 9 I 2 KSchG entsprechendes Antragsrecht zu. © Professor Dr. Hunscha 252 Dezember 2015 IV. Die Auflösung des alten Arbeitsverhältnisses nach § 12 KSchG War der AN im Kündigungsschutzprozess wegen sozial ungerechtfertigter ordentlicher Kündigung oder wegen unbegründeter außerordentlicher Kündigung erfolgreich, ist er aber in der Zwischenzeit ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen, gibt ihm § 12 KSchG ein außerordentliches Sonderkündigungsrecht gegenüber dem alten ArbG, da der AN zumindest bei Vollzeitbeschäftigung nicht beiden Herren dienen kann. Vom alten ArbG kann er den rückständigen Lohn gemäß § 615 BGB bis zum Tag der Arbeitsaufnahme beim neuen ArbG verlangen. Einen niedrigeren Verdienst im neuen Arbeitsverhältnis kann er nicht mit Ansprüchen gegenüber seinem alten ArbG ausgleichen. © Professor Dr. Hunscha 253 Dezember 2015 § 41 Die Kündigung durch den Arbeitnehmer I. Die Kündigungsmöglichkeiten Der ArbG genießt keinen Kündigungsschutz gegenüber einer ordentlichen Kündigung des AN. Der AN kann ihm nach § 622 BGB ohne Grund fristgemäß kündigen, ohne dass es auf die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ankommt. Der AN kann dem ArbG ferner nach § 626 BGB außerordentlich, d.h. fristlos kündigen, wenn dazu ein wichtiger Grund nach Maßgabe des Satzes 1 dieser Vorschrift vorliegt. Insoweit gelten die gleichen Maßstäbe wie für die Kündigung durch den ArbG zur Feststellung eines „an sich geeigneten wichtigen Grundes“ (oben § 33 III. sowie BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 894/07 – in NZA 2009, 840). Darüber hinaus gilt auch für eine durch den AN ausgesprochene Kündigung nach § 626 BGB, dass ihr im Regelfall eine erfolglose Abmahnung vorausgegangen sein muss, wie z.B. vor einer fristlosen Kündigung wegen erheblicher Lohnrückstände (BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 494/00 – in NZA 2003, 816), wegen Arbeit unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen (BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 296/06 – in NZA 2007, 1419), erheblicher Missachtung des Arbeitsschutzrechts oder einer falschen Verdächtigung des AN durch den ArbG. Nach § 628 II BGB ist der ArbG zum Ersatz des dem AN durch die fristlose Eigenkündigung entstehenden Schadens verpflichtet, wenn die Kündigung durch vertragswidriges Verhalten des ArbG veranlasst wird (vgl. oben § 33 VII.). Der Schaden des AN besteht in entgangener Vergütung einschließlich Nebenleistungen, mindestens bis zum Ablauf der Frist einer ordentlichen fiktiven Kündigung durch den ArbG, bei Anwendbarkeit des KSchG zusätzlich in einer Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes nach Maßgabe des § 13 I 3 und 5 KSchG (HWK/Sandmann, § 628 BGB Rn.63). II. Die Kündigungsfristen der ordentlichen Kündigung 1. In Ansehung der ordentlichen Kündigung durch den ArbG ist der AN typischerweise an einer möglichst langen Kündigungsfrist interessiert. Sie kann zum einen dazu führen, dass der ArbG sich weniger leicht zu einer Kündigung entschließt. Zum anderen erhält der AN dadurch im Fall der Kündigung mehr Zeit, sich eine neue Arbeitsstelle bei uneingeschränkter Lohnfortzahlung durch den ArbG zu suchen (§ 629 BGB). In Ansehung der Fristenlänge für eine ordentliche Eigenkündigung ist das Interesse des AN demgegenüber typischerweise auf eine möglichst kurze Frist gerichtet. Wenn der AN von sich aus kündigt, hat er sich regelmäßig eine neue und seiner Auffassung nach für ihn bessere Arbeitsstelle bei einem anderen ArbG bereits beschafft, die er so schnell wie möglich antreten möchte oder antreten muss. a) Das Gesetz kommt dem Interesse des AN insoweit entgegen, als die Grundkündigungsfrist nach § 622 I BGB für ihn wie für den ArbG vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats beträgt, sich für die Kündigung durch den ArbG aber nach § 622 II BGB mit zunehmender Beschäftigungsdauer auf bis zu sieben Monate verlängert (vertragliche Verlängerung nach § 622 V 3 BGB möglich). © Professor Dr. Hunscha 254 Dezember 2015 Zur Fristberechnung und den spätesten Zugangsdaten der Kündigung siehe oben § 28 IV. 4. Es gelten die rechtsgeschäftlichen Wirksamkeitserfordernisse der Schriftform, der Eindeutigkeit, des Zugangs und der Stellvertretung (oben § 28 IV. 2. (1) bis (4)). Eine Mitwirkung des Betriebsrates kommt nicht in Betracht. Auch genießt der ArbG keinen Kündigungsschutz. Kündigt der AN verspätet bzw. mit einer zu kurzen Kündigungsfrist, ist seine Willenserklärung in der Regel dahin auszulegen, dass sie das Arbeitsverhältnis zum zutreffenden späteren Zeitpunkt beenden soll (BAG v. 15.12 2005 – 2 AZR 148/05 – in NZA 2006, 791 Rn. 22 ff.). Problemen bei der Auslegung seiner Willenserklärung sollte der Kündigende dadurch begegnen, dass er die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses „fristgerecht zum…“ mit der Hinzufügung versieht, „hilfsweise zum nächstzulässigen Zeitpunkt“. b) § 622 III BGB enthält eine gesetzliche Verkürzung der Grundkündigungsfrist, die besagt, dass das Arbeitsverhältnis durch den ArbG wie den AN während einer vereinbarten Probezeit, längstens für die Dauer von 6 Monaten, mit einer Frist von 2 Wochen gekündigt werden kann (vertragliche Verlängerung nach § 622 V 3 BGB möglich). Ist die Probezeit nach § 14 I TzBfG befristet, kann es zu einer zwischenzeitlichen fristgemäßen Kündigung nur nach § 15 III TzBfG kommen. Dies entspricht auch § 620 BGB. Ist eine solche Kündigungsmöglichkeit nicht vorgesehen, kommt nur eine außerordentliche Kündigung unter den Voraussetzungen des § 626 BGB in Betracht. Bei einer längeren Probezeit gilt nach Ablauf der 6 Monate die Frist des § 622 I BGB. 2. Nach § 622 IV BGB können von den Vorschriften des § 622 I bis III BGB abweichende Regelungen durch Tarifvertrag vereinbarten werden. Es sind m.a.W. die Grundkündigungsfrist des § 622 I und II BGB sowie die Kündigungsfrist des § 622 III BGB während der vereinbarten Probezeit tarifoffen (tarifdispositives Gesetzesrecht). Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags gelten die abweichenden tarifvertraglichen Bestimmungen bei entsprechender Vereinbarung auch zwischen nicht tarifgebundenen ArbG und AN. Aber auch in diesem Fall ist § 622 VI BGB zu beachten, wonach für die Kündigung durch den AN keine längere Frist vereinbart werden darf, als für die Kündigung durch den ArbG (nachfolgend unter 4.). 3. Die Möglichkeit einer einzelvertraglichen Verkürzung der Kündigungsfrist des § 622 I BGB für ArbG wie AN beschränkt das Gesetz auf zwei für den AN hinnehmbare Fälle (beschränkt dispositives Gesetzesrecht): Nach § 622 V 1 BGB zum einen für den Fall einer kurzfristigen Aushilfstätigkeit, zum anderen in einem Kleinunternehmen mit in der Regel nicht mehr als 20 Vollzeit-AN ausschließlich Auszubildender, in diesem Fall durch die Beseitigung der festen Kündigungstermine. 4. Das Gesetz stellt in § 622 V 3 BGB klar, dass die Kündigungsfristen der § 622 I bis III BGB für ArbG wie AN einzelvertraglich verlängert werden können. Zum Schutz des AN vor einer Beeinträchtigung seines Kündigungsinteresses ist dann aber in § 622 VI BGB bestimmt, dass für die Eigenkündigung des AN keine längere Frist vereinbart werden darf, als für die Kündigung durch den ArbG; wohl aber wäre eine umgekehrte Vereinbarung zulässig. Diese Regelung enthält eine Aufforderung zur Fristenparität. In den Fällen, in denen bei einzelvertraglicher Vereinbarung einer längeren Frist für die Kündigung durch den AN der ArbG dem AN kündigt, ist nach dem Urteil des BAG v. 2.6.2005 – 2 AZR 296/04 – in NZA 2005, 1176 dem Grundsatz der Gleichheit der Kündigungsfris- © Professor Dr. Hunscha 255 Dezember 2015 ten dadurch Rechnung zu tragen, dass die längere Frist für den AN auch für den ArbG gilt. Die Frage, ob nach dem Schutzzweck des § 622 VI BGB etwas anderes gilt, wenn der AN sein Arbeitsverhältnis kündigt, lässt das BAG a.a.O. ausdrücklich dahingestellt sein. Und dies mit gutem Grund! Wenn nämlich eine für die Kündigung durch den AN zu Unrecht vereinbarte längere Kündigungsfrist nicht nur für die Kündigung durch den ArbG, sondern auch für die Eigenkündigung des AN gelten würde, läge darin ein Verstoß gegen § 622 VI BGB, der die Vereinbarung einer längeren Frist für die Kündigung durch den AN gerade ausdrücklich verbietet („darf keine längere Frist vereinbart werden“). Durch eine Angleichung beider Fristen „nach oben“ wird das Gebot der Fristenparität zwar formal erfüllt, das Verbot des § 622 VI BGB jedoch durchkreuzt. Die Heranziehung des § 89 II 2 HGB missachtet das Schutzbedürfnis des AN. Es muss vor allem berücksichtigt werden, dass sich der AN einer gegen § 622 VI BGB verstoßenden arbeitsvertraglichen Vereinbarung gar nicht widersetzen kann, da der Inhalt des Arbeitsvertrags durch den ArbG vorformuliert wird (oben § 4 II.). Wenn der ArbG für die Eigenkündigung des AN auf eine lange Frist Wert legt, kann er dem Verbot des § 622 VI BGB nur dadurch begegnen, dass er auch seine Kündigung von vorn herein einer gleich langen Frist unterwirft. Tut er das nicht, darf seinem verbotswidrigen Handeln in Ansehung einer Eigenkündigung des AN nicht der gleiche Effekt zukommen, als wenn er rechtmäßig gehandelt hätte. Es ist eben ein Unterschied, ob der ArbG kündigt oder der AN. Eine dem Schutzzweck des § 622 VI BGB gerecht werdende Lösung fordert, dass sich in diesem Fall die Frist für die Kündigung durch den AN nach der gesetzlichen Regelung des § 622 VI BGB richtet, von der abgewichen wurde. Daraus folgt, dass die kürzere Frist für die Kündigung durch den ArbG auch für die Eigenkündigung des AN gilt (vgl. Küttner/Eisemann, Personalbuch 2013 Kündigungsfristen, Rn. 14). Die h.M. steht auf dem entgegengesetzten Standpunkt, wobei sie Entscheidung des BAG a.a.O. und den Schutzzweck des § 622 VI BGB verkennt (vgl. Staudinger/Peters (2012) § 622 Rn.55 bis 57) Sind für die Kündigung durch den AN weniger Kündigungstermine vereinbart als für eine Kündigung durch den ArbG, ist bei einer Eigenkündigung des AN wie vorstehend zu verfahren. Die ordentliche Kündigung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses kann einzelvertraglich oder in einem anwendbaren Tarifvertrag ausgeschlossen werden. Um den AN vor einer ihn u.U. belastenden Bindung an einen ArbG zu schützen, bestimmt § 15 IV TzBfG, der der inhaltsgleichen Vorschrift des § 624 BGB als die speziellere Norm vorgeht, dass ein Arbeitsverhältnis, das für die Lebenszeit des AN oder für länger als 5 Jahre eingegangen ist, (nur) vom AN nach Ablauf von 5 Jahren mit einer Frist von 6 Monaten gekündigt werden kann. Eine fristlose Kündigung nach Maßgabe des § 626 BGB ist hingegen jederzeit möglich § 622 VI BGB ist der allgemeine Grundsatz zu entnehmen, dass die ordentliche Kündigung durch den AN nicht faktisch erschwert werden darf. Deshalb sind einseitig zu Lasten des AN wirkende Kündigungshindernisse, wie die Vereinbarung z.B. einer Vertragsstrafe für den Fall der fristgemäßen Kündigung, der Verpflichtung zur Rückzahlung von Gratifikationen u.ä. Sondervergütungen oder des Verfalls einer vom AN gestellten Kaution nach § 307 I i.V.m. § 307 II Nr.1 BGB unwirksam. © Professor Dr. Hunscha 256 Dezember 2015 II. Die Kündigung vor Arbeitsaufnahme Aus einem nach § 626 BGB wichtigen Grund kann der AN den Arbeitsvertrag schon vor Arbeitsantritt mit sofortiger Wirkung fristlos kündigen. Spricht der AN eine ordentliche Kündigung schon vor Arbeitsantritt aus, beginnt der Lauf seiner Kündigungsfrist im Zweifel (= wenn nicht deutliche Hinweise dagegen sprechen) mit dem Zugang der Kündigung beim ArbG und nicht erst mit dem Tag des vereinbarten Arbeitsantritts. Liegen Fehlzeiten innerhalb der Kündigungsfrist des nicht angetretenen Arbeitsverhältnisses, können für diesen Zeitraum die den (fiktiven) Lohn des nicht erschienenen AN übersteigenden Mehrkosten für eine Aushilfskraft als Schadensersatz statt der Leistung gemäß §§ 280 I, III, 283 BGB in Betracht kommen (sog. Verfrühungsschaden). Wurde der Ausfall der Arbeitskraft durch Mitarbeiter aufgefangen, wird der Arbeitgeber einen entsprechenden „normativer Schaden“ ersetzt verlangt können. Ein Anspruch des ArbG auf Ersatz der erneut anfallenden Inseratsund Vorstellungskosten besteht nicht; denn diese Kosten wären dem ArbG auch dann entstanden, wenn der AN nach Arbeitsantritt gekündigt hätte (= rechtmäßiges Alternativverhalten). Für den Fall einer Kündigung vor Arbeitsantritt enthält der Arbeitsvertrag nicht selten eine Vertragsstrafeklausel. Dazu Näheres oben § 25 III. 1. © Professor Dr. Hunscha 257 Dezember 2015 § 42 Der Betriebsübergang nach § 613a BGB (wird z.Zt. überarbeitet) I. Die den Betriebsübergang kennzeichnenden Kriterien 1. Überträgt der ArbG die Vermögensgegenstände, die seinen Betrieb oder einen Betriebteil ausmachen, auf einen anderen Unternehmer, etwa im Wege der Veräußerung oder der Verpachtung, entzieht er seinen AN ganz oder teilweise die Beschäftigungsgrundlage. Dem AN, der mangels Betriebssubstanz nicht mehr mit Arbeit versorgt werden kann, würde die betriebsbedingte Kündigung drohen. Könnte der Erwerber der Betriebsmittel frei entscheiden, ob er überhaupt und wenn ja, welche der beschäftigungslos gewordenen AN des früheren Betriebsinhabers er bei sich einstellt, und dies u.U. auch noch zu schlechteren Arbeitsbedingungen, wäre die Möglichkeit eröffnet, durch Übertragung der Betriebsmittel auf eine eigens zu diesem Zweck gegründete GmbH unter Umgehung des Kündigungsschutzes die Personalkosten zu senken. Angesichts solcher Szenarien fühlte sich der Gesetzgeber aufgerufen, eine Regelung zu schaffen, die die Belange der AN schützt, ohne den Erwerber von Betriebsmitteln mehr als unbedingt nötig mit ungewollten Personalkosten zu belasten. So kam es im Jahre 1972 zur Einfügung des § 613a in das BGB, der auf Grund einer Reihe von späteren EG-RL mehrfach geändert und ergänzt wurde. 2. Unter der Voraussetzung, dass „ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über(geht)“, bestimmt § 613a BGB, dass der neue Inhaber „in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein(tritt)“. Es handelt sich dabei um einen Vertragsübergang kraft Gesetzes, ähnlich der Anordnung des § 566 BGB, wonach die Veräußerung von Wohnraum an einen Dritten „nicht die Miete bricht“. Eine mit ihren europarechtlichen Vorgaben konforme Anwendung des § 613a BGB erfordert den Rückgriff auf die aus der RL 77/187/EWG weiterentwickelten Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG des Rates und die Heranziehung der hierzu ergangenen Vorabentscheidungen des EuGH (zur Vorabentscheidung des EuGH siehe oben § 3 IV.). Vor dem Hintergrund, dass die wirtschaftliche Entwicklung zu Änderungen in den Unternehmensstrukturen führt, „die sich unter anderem aus dem Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung ergeben“ (Abs. 2 der Erwägungsgründe der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG), ist es ein Anliegen des Rates der EU, die vom Inhaberwechsel betroffenen AN vor Rechtsnachteilen zu schützen. Dabei geht es in erster Linie darum, zu verhindern, dass die AN wegen des damit bei ihrem bisherigen ArbG eintretenden Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit ihre Arbeitsplätze verlieren. In zweiter Linie soll der Gefahr einer Verschlechterung der Arbeitsvertrags-Bedingungen der unter dem neuen Inhaber tätigen AN begegnet werden. Angesicht der Vielfalt denkbarer Umstrukturierungsmaßnahmen steht die Frage im Mittelpunkt, unter welchen Voraussetzungen darin ein Betriebsübergang liegt, der den Fortbestand der zum bisherigen Betriebsinhaber bestehenden Arbeitsverhältnisse in der Person des neuen Betriebsinhabers gebietet. Es ist m.a.W. zu entscheiden, was an Substanz eines Betriebes oder Betriebsteils auf den Erwerber übergehen muss, damit von einem Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des § 613a BGB gesprochen werden kann mit der Rechtsfolge, dass die Arbeitsverhältnisse der im Betrieb oder Betriebsteil Beschäftigten auf den Erwerber als neuen ArbG übergehen. © Professor Dr. Hunscha 258 Dezember 2015 3. Nach Maßgabe von Art. 1 (1) b) der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG gilt als Betriebsübergang ► „der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit“. Dabei ist der Unterschied zwischen dem Betrieb als Ganzem und einem Betriebsteil rein quantitativ zu verstehen. Beim Betrieb wird die Gesamtorganisation übertragen, beim Betriebsteil eine Teilorganisation, mit welcher der Betriebsinhaber innerhalb des betrieblichen Gesamtzwecks bestimmte Teilzwecke verfolgte. Das ist leicht gesagt, doch kann gerade die Feststellung, ob die Übertragung eines Betriebsteils vorliegt, Schwierigkeiten bereiten. Voraussetzung für einen die Anwendung des § 613a BGB auslösenden Übergang eines Betriebsteils ist zum einen das Bestehen einer organisatorisch abgrenzbaren wirtschaftlichen Einheit schon beim Veräußerer (BAG v. 13.10 2011 – 8 AZR 455/10 – in NZA 2011, VIII). Die weitere Aussage, es müsse „der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit“ vorliegen, hat sich bei der Übertragung gerade eines Betriebsteils indessen als problematisch erwiesen. Versteht man sie nämlich in dem Sinne, dass der übertragene Betriebsteil seine organisatorische Selbständigkeit bewahren müsse, wäre dies nicht mehr der Fall, wenn der Übernehmer den erworbenen Betriebsteil auflöst und in seine eigene Struktur eingliedert. Nach dem Urteil des EuGH v. 12.2.2009 (Vorabentscheidung; dazu oben § 3 IV.) in NZA 2009, 251 kann einer allein auf das Kriterium der organisatorischen Selbständigkeit abstellenden Auffassung von der Identität der wirtschaftlichen Einheit angesichts des mit der RL verfolgten AN-Schutzes nicht gefolgt werden. Von einem Betriebsübergang soll vielmehr auch dann auszugehen sein, wenn der übertragene Betriebsteil „seine organisatorische Selbständigkeit nicht bewahrt, sofern die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird, die es dem Erwerber erlaubt, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen“ (EuGH a.a.O. Rn. 53). Es kommt also darauf an, ob die übernommenen Ressourcen in ihrer funktionellen Verknüpfung auch dem Übernehmer einen der Situation beim Veräußerer vergleichbaren wirtschaftlichen Nutzen bringen. Deutlicher ausgedrückt: „Wer sich durch Übernahme sächlicher, immaterieller oder personeller Mittel in ein gemachtes Bett legt, soll als Betriebsübernehmer haften“ (ErfK/Preis § 613a BGB Rn. 5). 4. Bei der Prüfung der Frage, ob eine wirtschaftliche Einheit auf den Erwerber übergegangen ist, sind sämtliche den Vorgang kennzeichnenden Tatsachen zu bewerten. Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich das BAG angeschlossen hat (vgl. BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04 – in NZA 2006, 723b ff.; BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05 – Rn. 20 in NZA 2006, 1101 ff.) sind hierbei als Teilaspekte einer Gesamtbetrachtung vor allem nachfolgend aufgeführte, sich teilweise überschneidende sieben Kriterien in die Prüfung einzubeziehen, denen je nach Art und Weise der im fraglichen Bereich ausgeübten Aktivitäten unterschiedliches Gewicht zukommt. Dabei macht der EuGH deutlich, dass ein Betriebsübergang nicht allein von der Übertragung materieller und immaterieller Betriebsmittel abhängt, sondern bei der Anwendung des § 613a BGB entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG auch der Übernahme von Personal ein erheblicher Stellenwert zukommt. Nur darum wurde des möglich, auch Dienstleistungsbetriebe auf den Gebieten z.B. der Gebäudereinigung, der Bewachung und des Kundendienstes, die über so gut wie keine materiellen und immateriellen Betriebsmittel verfügen, der Anwendung des § 613a BGB zugänglich zu machen. © Professor Dr. Hunscha 259 Dezember 2015 (1) Die Art des Unternehmens bzw. Betriebes oder Betriebsteils Ein Betrieb ist als eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen, in der unter Einsatz personeller, materieller und immaterieller Mittel eine marktfähige Leistung erbracht wird. Welche Betriebsmittel übergehen müssen, um den Tatbestand des Betriebsübergangs zu erfüllen, hängt maßgeblich von der Art des Unternehmens ab. Dabei kommt es entscheidend darauf an, wo der „Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs“ liegt (BAG v. 13.12.2007 in NZA 2008, 1021 Erf/K 613a Rn. 12). Das produzierende Gewerbe ist überwiegend durch materielle Betriebsmittel geprägt, wie z.B. Gebäude, Produktionsanlagen, Maschinen, Werkzeuge, Einzelteile, Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate und Transportgeräte. In zweiter Linie sind immaterielle Betriebsmittel von Bedeutung, wie vor allem Patente, Lizenzen, Marken, Know-how, Goodwill und spezielle Computerprogramme. Dem Personal allein kommt hier, auch bei besonderer Qualifikation und speziellem Wissen, eine prägende Rolle bei der Prüfung, ob ein Betriebsübergang vorliegt, nicht zu. Erf/K Rn. 12 Im Handels- und Dienstleistungsgewerbe, dessen Betriebsvermögen im Wesentlichen aus Rechtsbeziehungen besteht, kommt den immateriellen Betriebsmitteln eine prägende Rolle zu, zu denen außer den im vorigen Absatz schon genannten Wertgegenständen dieser Art auch Konzessionen, Kundenstamm, Dienstleistungsverträge und Lieferbeziehungen gehören. Hinzu kommen u.U. solche Merkmale, wie Geschäftsräume und Geschäftslage, das Warenangebot und die Verkaufsorganisation. Erf/K 13 In bestimmten Dienstleistungsbereichen, wie etwa dem der Gebäudereinigung, dem eines Call-Centers, des Caterings, einer Privatschule oder im Bewachungsgewerbe kommt es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft an. Hier kann eine Gesamtheit von AN in ihrer Verbindung zu gemeinsamer Tätigkeit eine wirtschaftliche Einheit bilden, die ihre Identität dadurch bewahrt, dass der Erwerber zur Weiterführung dieser Tätigkeit einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt, das der Veräußerer bei sich eingesetzt hatte. Auf diese Weise kann eine wirtschaftliche Einheit auch ohne wesentliche materielle oder immaterielle Betriebsmittel zustande kommen und als „Arbeitssubstrat“ auf einen anderen Inhaber übergehen mit der Folge, dass er nach § 613a BGB der neue ArbG auch des Restes der Belegschaft geworden ist. Erf/K 13. (2) Der Übergang materieller Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter Der Übergang dieser Aktiva ist ein wesentliches Indiz für die Annahme eines Betriebsübergangs, der zur Anwendung des § 613a BGB führen kann. Ein Übergang materieller Betriebsmittel setzt nicht voraus, dass sie dem Übernehmer zu Eigentum übertragen oder sonst wie zur „eigenwirtschaftlichen Nutzung“ überlassen werden. Es reicht vielmehr aus, dass sie ihm genauso wie dem bisherigen Betriebsinhaber z.B. aufgrund eines Miet- oder Pachtvertrages zur Verfügung stehen. Nutzt z.B. der neue Auftragnehmer für die Fluggast- und Gepäckkontrolle die Räume, technischen Einrichtungen und Kontrollgeräte des Auftraggebers (= Flughafenbetreiber), die zuvor dem bisherigen Auftragnehmer zur Durchführung des Auftrags zur Verfügung standen, so sind die materiellen Betriebsmittel auf ihn übergegangen. „Ihr Einsatz macht den eigentlichen Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs aus“ (BAG a.a.O. II. 2.b) aa)), so dass von einer übergangsfähigen wirtschaftlichen Einheit auszugehen ist. Der Erwerb einer © Professor Dr. Hunscha 260 Dezember 2015 einzelnen Maschine, eines Kfz oder einer „nackten“ Immobilie hingegen kann regelmäßig nicht als Übergang eines Betriebsteils angesehen werden. (3) Der Übergang immaterieller Betriebsmittel Zum Begriff der immateriellen Betriebsmittel siehe schon oben unter a). Sie können im Einzelfall den Wert der materiellen Betriebsmittel deutlich übersteigen, so z.B. das Know-how und der Goodwill. Die Übertragung von gewerblichen Schutzrechten und Lizenzen ist stets ein Indiz für einen Betriebsübergang. Ihre Nichtübernahme spricht gegen einen Betriebsübergang. Das Know-how wird im Wesentlichen durch die AN verkörpert, so dass dieses Kriterium in die Gewichtung der Übernahme von Teilen der Belegschaft einfließt (ErfK/Preis § 613a BGB Rn. 23 und nachfolgend d). (4) Die Übernahme von Arbeitnehmern Zum Betriebsbegriff im Sinne des § 613a BGB zählen nach der Rechtsprechung des EuGH auch die AN des Betriebes. Auch sie können als wirtschaftliche Einheit übernommen werden, und zwar unabhängig von etwaigen materiellen oder immateriellen Betriebsmitteln. Insbesondere im Dienstleistungsbereich ist die Übernahme eines nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils der Belegschaft ein gewichtiges Indiz für die Annahme eines Betriebsübergangs. Im Bereich einfacher Tätigkeiten, wie etwa der Reinigung oder Bewachung, dürfte eine Übernahme von mehr als zwei Drittel der bisher Beschäftigten für eine Betriebsübernahme sprechen. Bei qualifizierten oder spezialisierten Tätigkeiten, wie etwa der Lehrtätigkeit auf einer Privatschule, dürfte der Schwellenwert bei etwa der Hälfte des Personals liegen. Bei einem „Edelrestaurant“ könnte u.U. die Übernahme des einen Chefkochs ausreichen (BAG vom 11.9.1997 in NZA 1998, 31, 33). So gesehen können Betriebsmittel auch in Personen „verkörpert“ sein, zumal wenn ohne deren Spezialkenntnisse eine Fortführung des Betriebs kaum möglich ist (ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 41). Fraglich ist, ob bei der Übernahme von Personal auch Arbeitsorganisation und Betriebsmethoden des bisherigen ArbG beibehalten werden müssen. Haben die übernommenen AN mit dem Übernehmer dieselben Aufgaben unter im Wesentlichen gleichen Bedingungen zu erledigen, besteht kein Zweifel am Übergang einer „ihre Identität bewahrenden wirtschaftliche Einheit“ mit der Folge, dass auch die Arbeitsverhältnisse der nicht übernommenen AN, die bisher zu dieser Einheit gehörten, auf den Übernehmer übergegangen sind. Verfolgt der Übernehmer mit dem übernommenen Personal hingegen von Anbeginn im Rahmen einer grundlegend anderen Betriebsorganisation einen grundlegend andersartigen Betriebszweck, entstehen Probleme. Nach dem Urteil des EuGH in seinem Urteil vom 12. 2 2009 in NJW 2009, 2029 ff. soll es im Einzelfall darauf ankommen, ob trotz des Verlustes der organisatorischen Selbständigkeit der übernommenen Einheit „die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird“, die „es dem Erwerber erlaubt diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.“ Im Falle der Übernahme von AN als dem wesentlichen Produktionsfaktor im Betrieb ihres bisherigen ArbG wird es demzufolge darauf ankommen, ob sie dem Erwerber in ihrem Zusammenwirken einen ihrem bisherigen Arbeitsertrag vergleichbaren wirtschaftlichen Nutzen vermitteln (siehe oben unter 3.). © Professor Dr. Hunscha 261 Dezember 2015 (5) Die Übernahme der Kundschaft Das Merkmal der Übernahme oder Nichtübernahme der Kundschaft hat unterschiedliches Gewicht je nach Art des Betriebes, dessen Übergang in Frage steht. Geht es um einen Produktionsbetrieb, kommt der Fortsetzung der Kundenbeziehungen neben dem Übergang der materiellen und immateriellen Betriebsmittel nur geringe Bedeutung zu und ist als alleiniges Merkmal bedeutungslos. Hingegen bildet der Eintritt des Bewerbers in die Kundenbeziehung des bisherigen Betriebsinhabers ein ausschlaggebendes Indiz für die Annahme eines Betriebsübergangs bei Dienstleistungsunternehmen, wie z.B. im Gaststättengewerbe, im Handel, bei einer Werbeagentur oder freiberuflichen Praxis eines Steuerberaters, Wirtschaftsprüfers, Rechtsanwalts, Notars oder Arztes. Voraussetzung dafür ist, dass der bisherige Betriebsinhaber seinem Nachfolger Zugang zum Kreis seiner Kunden, Auftraggeber, Lieferanten, Mandanten oder Patienten gewährt, regelmäßig in Gestalt der Übertragung der Kundenkartei, der wesentlichen Mandatsakten, der Vertriebsberechtigung für ein bestimmtes Gebiet u.ä. Dabei ist wesentlich, ob der Übernehmer nach wie vor denselben Kundenkreis anspricht. Dienstleistungstätigkeiten, wie z.B. Reinigung und Bewachung, bilden eine „ihre Identität bewahrende wirtschaftliche Einheit“ oft gerade dadurch, dass sie vom Übernehmer für einen bestimmten Auftraggeber schon des bisherigen Betriebsinhabers in Ansehung bestimmter Objekte, die schon der bisherige Betriebsinhaber betreut hat, weitergeführt werden. Besonders deutlich wird dieses Merkmal z.B. bei der Fluggast- und Gepäckkontrolle auf einem bestimmten Flughafen. Setzt der Übernehmer dazu auch noch den Hauptteil der Belegschaft des bisherigen Betriebsinhabers ein, ergibt sich aus der Kombination beider Merkmale ein sicheres Indiz für einen Betriebsübergang. (6) Die Ähnlichkeit der Tätigkeit vor und nach der Übernahme Die Tatsache allein, dass der Nachfolger die Tätigkeit seines Vorgängers fortführt, ist solange ohne Bedeutung, wie dies nicht mit Betriebsmitteln und/oder Personal geschieht, das der Nachfolger von seinem Vorgänger übernommen hat. Der bloße Umstand, dass die vom bisherigen und dem neuen Unternehmer erbrachten Leistungen gleichartig sind, ist kein Fall eines Betriebsübergangs: So wenn A die Wartung seiner Maschinen zunächst selbst und dann durch B als Auftragnehmer betreiben lässt, oder erst der Auftragnehmer B und dann der Auftragnehmer C die Maschinen des A wartet. In diesen Fällen handelt es sich um eine bloße Funktionsnachfolge (unten 4.). Bei Produktionsbetrieben ist die Ähnlichkeit der Tätigkeit des neuen Betriebsinhabers regelmäßig durch die Art der materiellen Betriebsmittel, die er übernimmt, vorgeprägt. Im Dienstleistungsbereich wird die Feststellung einer signifikanten Ähnlichkeit der Tätigkeit des übernommenen Personals vor und nach der Übernahme vor allem davon abhängen, ob und inwieweit Betriebsmethoden und Arbeitsorganisation wenigstens zunächst einmal gleich bleiben bzw. die Tätigkeit auf der Grundlage eines ähnlichen Konzepts erfolgt und sich an den gleichen Kundenkreis wendet (ErfK/Preis, § 613a BGB Rn. 33). Nach dem Urteil des EuGH vom 12. 2. 2009 in NJW 2009, 2029 ff. soll wenigstens „die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten“ werden, die „es dem Erwerber erlaubt diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.“ (siehe vorstehend unter d). In dem Fall, dass ein Kommunalunternehmen, welches Krankenhäuser betreibt, eine Service-GmbH gründet, die alle Reinigungskräfte dieser Krankenhäuser zu schlechteren Arbeitsbedingungen über- © Professor Dr. Hunscha 262 Dezember 2015 nimmt und sie im Wege der AN-Überlassung an das Kommunalunternehmen (zurück)verleiht, wo sie die gleiche Tätigkeit verrichten wie bisher, hat das BAG mit Entscheidung vom 21.5.2008 in NZA 2009, 291 den mit den AN auf Anraten des Kommunalunternehmens abgeschlossenen Aufhebungsvertrag wegen Umgehung des § 613a BGB für rechtsunwirksam erklärt. Für die Feststellung der Ähnlichkeit der Tätigkeit vor und nach der Übernahme des Personals als Indiz für den „Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit“ stellt das BAG auf die Gleichartigkeit des tatsächlichen Einsatzes der übernommenen AN ab. Der unterschiedliche Betriebszweck einerseits des Kommunalunternehmens (Krankenhausbetrieb) und andererseits der Service-GmbH (AN-Verleih) fiel nach dem BAG vor allem deswegen nicht ins Gewicht, weil die Zurverfügungstellung von Personal an das Kommunalunternehmen (oder dessen Tochterunternehmen) der ausschließliche Gegenstand des Unternehmens der Service-GmbH war (unten § 40 I.2.). (7) Die Dauer der Unterbrechung der Geschäftstätigkeit Für die Annahme eines Betriebsübergangs ist wesentlich, dass der Erwerber den übernommenen Betrieb oder Betriebsteil tatsächlich fortführt. Eine Unterbrechung der Betriebstätigkeit vor dem Eintritt des Erwerbers ist solange unschädlich, wie die wirtschaftliche Einheit dadurch noch nicht untergegangen ist, sondern vom Markt nach wie vor als solche wahrgenommen wird und ihren bisherigen Nutzwert nun dem Erwerber vermittelt. Es kommt – wie immer – auf den Einzelfall unter Berücksichtigung der Art des Unternehmens an. So führt z.B. bei einem Saisonbetrieb die jahreszeitlich bedingte Schließung dann nicht zu einem Identitätsverlust, wenn er zu Beginn der nächsten Saison wieder öffnet. Modefachgeschäfte und Gaststättenbetriebe hingegen verlieren bei längerer Schließung in der Regel ihre Kundschaft und damit ihre ursprüngliche Identität. Der Erwerber muss eine neue Identität auf seine Weise aufbauen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Stilllegung eines Betriebes einen Betriebsübergang ausschließt. Hat der bisherige Betriebsinhaber seine wirtschaftliche Tätigkeit in der Absicht eingestellt, den Betriebszweck auf Dauer, mindestens aber für eine wirtschaftlich erhebliche Zeit nicht mehr zu verfolgen, und ist die Betriebsorganisation deswegen tatsächlich aufgelöst, kommt ein Betriebsübergang nicht mehr in Betracht (Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 2008, § 21 III 2 c). 5. Die bloße Funktionsnachfolge Die bloße Funktionsnachfolge, bei der keine Ressourcen übergehen, sondern der Betriebsinhaber einem anderen Betriebsinhaber den Auftrag erteilt, eine betriebliche Aufgabe wahrzunehmen, ist kein Betriebsübergang. Dabei sind folgende Varianten denkbar: Das klassische Qutsourcing in Gestalt der Fremdvergabe von betrieblichen Aufgaben in der Weise, dass A in seinem Betrieb bisher selbst wahrgenommene Arbeiten erstmals einem B zur Durchführung vergibt, der sie unter Einsatz seiner bei ihm bereits vorhandenen eigenen personellen, materiellen und/oder immateriellen Mittel erfüllt; Die Auftragsnachfolge, bei der A dem B übertragene Aufgaben entzieht und einem C zur eigenständigen Durchführung überträgt; © Professor Dr. Hunscha 263 Dezember 2015 Die Auftragsübernahme, bei der C in die von A dem B übertragenen Aufgaben mit dem Einverständnis von A und B eintritt und sie statt B eigenständig weiterführt. Die Auftragsrücknahme, bei der A dem B vergebene Aufgaben entzieht und sie in seinem Betrieb wieder selbst wahrnimmt. In all diesen Fällen kann es allerdings dann zu einem Betriebsübergang kommen, wenn der neue Akteur zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben materielle oder immaterielle Betriebsmittel des bisherigen Akteurs und/oder einen wesentlichen Teil des von diesem mit der Durchführung dieser Aufgaben bisher betrauten Personals übernimmt und einsetzt. Ein gängiges Beispiel hierfür bildet auch das Qutsourcing in Gestalt eines Management-Buy-Out, bei dem das Management eines Betriebsteils diesen im Wege eines Asset Deals erwirbt und nunmehr selbständig betreibt; etwa den Logistik-Bereich eines Unternehmens. II. Der Übergang des Betriebs oder Betriebsteils auf einen neuen Inhaber Der Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils i.S.d. § 613a I 1 BGB setzt einen Wechsel der Rechtspersönlichkeit des Betriebsinhabers voraus. Der neue Betriebsinhaber wird im Regelfall Eigentümer der ihm übertragenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel werden. Das muss es aber nicht so sein. Es reicht z.B. aus, dass er einen Betrieb als Pächter übernimmt und im eigenen Namen weiterführt, wie dies häufig bei einer Gaststätte der Fall ist, die der Eigentümer als Verpächter einem Pächter zur Führung überlässt. Entscheidend für den Inhaberwechsel ist also nicht zwingend die Vollrechtsübertragung der Gegenstände des Betriebsvermögens, sondern der Wechsel der tatsächlichen Organisations- und Leitungsmacht von einer Rechtspersönlichkeit auf eine andere. III. Der Übergang durch Rechtsgeschäft Nach § 613a I 1 BGB führt nur ein rechtsgeschäftlicher, d.h. einverständlich durch Vertrag herbeigeführter Übergang zum Eintritt des Erwerbers in die bestehenden Arbeitsverhältnisse. Daran fehlt es, wenn der Betriebsübergang kraft Gesetzes oder sonstigen Hoheitsaktes, z.B. durch Privatisierung eines öffentlichen Rechträgers, stattfindet. Bei einer Gesamtrechtsnachfolge durch Erbfall, einerlei, ob sie kraft Gesetzes oder auf Grund eines Testaments eintritt, bedarf es der Anwendung des § 613a BGB schon deswegen nicht, weil die Arbeitsverhältnisse nach § 1922 BGB auf den/die Erben übergehen. In den Fällen einer Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung auf Grund des UmwG verweist dessen § 324 ausdrücklich auf die Anwendbarkeit des § 613a I und IV bis V BGB. Der Übergang wird regelmäßig durch die Übertragung von Gegenständen des Betriebsvermögens und/oder der Übernahme von Teilen der Belegschaft des bisherigen Betriebes auf der Grundlage eines Kauf-, Schenkungs-, Miet- oder Pachtvertrages herbeigeführt. Entscheidend aber ist, wie schon unter vorstehend II. hervorgehoben, die tatsächliche Übernahme der Organisations- und Leitungsmacht, so dass es noch nicht einmal auf die Rechtswirksamkeit der vorgenannten Schuldverträge und © Professor Dr. Hunscha 264 Dezember 2015 der auf die Übertragung der verschiedenen Betriebsmittel gerichteten Einzelgeschäfte ankommen soll (Krause a.a.O. § 16 II. 3. am Ende). IV. Die Rechtsfolgen des Betriebsübergangs 1. Der Übergang der Arbeitsverhältnisse Nach § 613a I 1 BGB besteht die Rechtsfolge des Betriebsübergangs in erster Linie darin, dass der neue Betriebsinhaber „in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein(tritt)“. Es handelt sich um einen Vertragsübergang kraft Gesetzes. Eine Einwilligung der betroffenen AN in diesen Wechsel des Arbeitgebers ist nicht erforderlich. Allerdings kann der AN nach § 613a VI BGB dem Übergang des Arbeitsverhältnisses widersprechen (dazu nachfolgend unter 2.). Im Fall der Übertragung nur eines Betriebsteils oder eines von mehreren Betrieben kann es mitunter strittig werden, welche AN von dem Vertragsübergang betroffen sind. Um Manipulationen zu unterbinden, bedarf es einer Zuordnung der AN nach objektiven Kriterien. Hiernach kommt es entscheidend darauf an, in welche Einheit der AN organisatorisch eingegliedert ist. 2. Die Unterrichtung der Arbeitnehmer und ihr Widerspruchsrecht a) Nach § 613a V BGB hat der bisherige Arbeitgeber oder der neue Inhaber die von einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer vor dem Übergang in Textform (§ 126a BGB) umfassend zu unterrichten, damit sie eine ausreichende Wissensgrundlage für die Ausübung oder Nichtausübung des ihnen nach Abs. 6 eingeräumten Widerspruchsrecht erhalten. Nach den gesetzlichen Vorgaben umfasst die Unterrichtungspflicht 1. den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Übergangs, 2. den Grund für den Übergang, 3. die rechtlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die AN und 4. die hinsichtlich der AN in Aussicht genommenen Maßnahmen. Einzelheiten zum Umfang der Unterrichtungspflicht enthält das Urteil des BAG vom 14. 12. 2006 - 8 AZR 763/05 - in NZA 2007, 682 ff. Es betont nachdrücklich, dass nur eine ordnungsgemäße, also vollständige und zutreffende Unterrichtung die Widerspruchsfrist des § 613a VI BGB in Gang setzt. Sie wird häufig durch den Veräußerer vorgenommen, meistens jedoch gemeinsam mit dem Erwerber. In jedem Fall richtet sich der Inhalt der Unterrichtung nach dem Kenntnisstand beider zum Zeitpunkt der Unterrichtung. Beide sind für die Erfüllung der Unterrichtungspflicht darlegungs- und beweispflichtig. Entspricht die Unterrichtung formal den Anforderungen des § 613a V BGB, ist es Sache des AN, einen Mangel (im Rahmen einer sog. abgestuften Darlegungslast) näher darzulegen. Die Unterrichtungsverpflichteten müssen dem dann mit entsprechenden Darlegungen und Beweisantritten entgegentreten. Wie insbesondere die Verpflichtung, über „die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer“ zu unterrichten, deutlich macht, besteht für die Unterrichtungsverpflichteten ein hohes Maß an Unsicherheit darüber, ob sie im Streitfall den Vollständigkeitsanforderungen der Gerichte genügt haben. Auf jeden Fall müssen ihre Hinweise über die rechtlichen Folgen des Betriebsüber- © Professor Dr. Hunscha 265 Dezember 2015 gangs genau und fehlerfrei sein. Nach dem BAG a.a.O. genügt es nicht, dass die Belehrung wenigstens „im Kern richtig“ ist und lediglich eine „ausreichende“ Unterrichtung erfolgt. So kann es- wie in dem durch das Urteil des BAG a.a.O. entschiedenen Fall - dazu kommen, dass ein AN dem am 1.1.2004 stattgefundenen Übergang des Service-Bereichs (Wartung von Kundengeräten) eines Produktionsbetriebs, über den er als im Service-Bereich Beschäftigter am 2.12.2003 nicht ordnungsgemäß unterrichtet worden war, noch am 26.10.2004 widersprechen konnte mit der Folge, dass sein Arbeitsverhältnis nicht auf den Erwerber überging, sondern mit dem Veräußerer (Produktion) bestehen blieb. Das war für ihn ein besonderer Glücksfall, weil der Erwerber des Service-Bereichs Mitte 2004 in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet und alsbald insolvent wurde. Gut, dass sein Anwalt das Unterrichtungsschreiben vom 2.12 2003 auf Fehler untersucht hat und herausfand, dass die Erläuterung der in § 613a II 2 BGB getroffenen Regelung rechtsfehlerhaft war. Damit war das BAG der Notwendigkeit enthoben, zu der Streitfrage Stellung zu nehmen, ob auch die Verpflichtung bestanden hätte, über die finanzielle Lage des Erwerbers zu berichten. Den Einwand der Beklagten, dass der widersprechende AN sein Recht zur Ausübung des Widerspruchs infolge illoyal verspäteter Geltendmachung verwirkt habe, hat das BAG im vorliegenden Fall nicht gelten lassen. Nach dem Urteil des BAG vom 13. 7. 2006 - 8 AZR 382/05 - in NZA 2006, 1406 ff. zu Rn. 44 kann der nicht, nicht zutreffend oder unzureichend unterrichtete AN gegen den Veräußerer als seinen ehemaligen ArbG und/oder gegen den Erwerber als seinen neuen ArbG auch Ansprüche auf Eratz eines ihm durch den Informationsfehler entstandenen Schadens wegen Pflichtverletzung aus § 280 I BGB (gegen den Erwerber vor Betriebsübergang über §§ 311 II, 241 II BGB) geltend machen. b) Der AN hat zwar kein Recht, dem Betriebsübergang als solchem zu widersprechen, wohl aber dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses vom Veräußerer auf den Erwerber. Massenhafte Widersprüche in der (nachweisbaren) Absicht, den Betriebsübergang zu verhindern oder wesentlich zu erschweren, wären, weil rechtsmissbräuchlich, nach § 242 BGB unwirksam. Nach § 613a VI BGB ist der Widerspruch innerhalb eines Monats nach Zugang einer ordnungsgemäßen (siehe vorstehend unter a) Unterrichtung gegenüber dem bisherigen ArbG oder gegenüber dem neuen Inhaber schriftlich zu erklären. Dabei reicht es aus, dass der entsprechende rechtsgeschäftliche Wille des AN z.B. in einem arbeitsgerichtlichen Schriftsatz „einen andeutungsweisen Ausdruck gefunden hat“ (BAG a.a.O. Rn. 26 ff,.) Der Widerspruch bedarf keiner Begründung. Nach seiner Ausübung soll er vom AN nicht einseitig zurückgenommen werden können, sondern nur im Wege eines dreiseitigen Aufhebungsvertrages zwischen dem AN, dem bisherigen ArbG und dem neuen Betriebsinhaber. Ein wirksamer Widerspruch führt zum Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses mit dem bisherigen ArbG. Dafür dass ein erst nach dem Betriebsübergang ausgesprochener Widerspruch auf Zeitpunkt des Betriebsübergangs zurückwirken soll, lässt sich dem Gesetz nichts entnehmen. Eine derartige Konstruktion ist auch nicht geboten (Rieble in NZA 2004, 1 ff.). Das Risiko des widersprechenden AN besteht darin, dass der bisherige ArbG ihm betriebsbedingt kündigen kann, wenn er über keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit mehr verfügt. Das ist fraglos der Fall, wenn er nach der Veräußerung gar kein Unternehmen mehr betreibt. Das kann aber auch der Fall sein, wenn nur ein Betriebsteil oder einer von mehreren Betrieben veräußert wurde. Das Kündigungsverbot des § 613a IV 1 BGB steht nicht entgegen, da die Kündigung hier nicht unmittelbar „wegen © Professor Dr. Hunscha 266 Dezember 2015 des Betriebsübergangs“ erfolgt. Bei Geltung des KSchG kommt es in dem Betriebsteil, dem der widersprechende AN wieder angehört, nun allerdings zu einer Sozialauswahl unter Beteiligung des widersprechenden AN nach Maßgabe des § 1 III KSchG. Dadurch kann es dazu kommen, dass der Widersprechende einen vom Betriebsteilübergang nicht erfassten AN von seinem Arbeitsplatz verdrängt (BAG vom 31. 5. 2007 - AZR 276/06 – in NZA 2008, 33 ff.). 3. Die Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen Sind die Rechte und Pflichten, die nach § 613a I 1 BGB auf den neuen Inhaber des Betriebs oder Betriebsteils übergehen, durch Rechtsnormen eines (kraft Tarifbindung nach § 3 I TVG anwendbaren) Tarifvertrag oder durch einen Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie nach § 613a I 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem AN und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des AN geändert werden. Das gilt nach § 613a I 3 BGB allerdings nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen (kraft Tarifbindung nach § 3 I TVG anwendbaren) Tarifvertrag oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Diese Kollektivverträge verdrängen also die alten Bestimmungen. Es kommt auch nicht darauf an, ob die neuen Regeln besser oder schlechter als die alten sind; denn das Günstigkeitsprinzip gilt in diesem Fall nicht. Vor Ablauf der Jahresfrist des § 613a I 2 BGB können nach § 613a I 4 BGB die Rechte und Pflichten geändert werden, wenn der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung nicht mehr gilt oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen Tarifvertrags dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem AN vereinbart wird. Der Grundsatz des § 613a I 2 BGB und seine in den Sätzen 3 und 4 enthaltenen Ausnahmen haben die Bedeutung einer Auffangregelung für den Fall, dass nicht ein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung kollektivrechtlich fortgeführt wird. Gehört der Erwerber demselben ArbG-Verband an wie der Veräußerer, wirken die Normen eines Verbands-Tarifvertrags ohne weiteres fort. Das gleiche gilt in Ansehung von Betriebsvereinbarungen, sofern ein Betrieb als Ganzes übernommen wird und seine Identität beibehält (Krause § 16 Rn. 10). 4. Die Weiterhaftung des Betriebsveräußerers Nach § 613a II BGB haftet der bisherige ArbG neben dem neuen Inhaber als Gesamtschuldner für Verpflichtungen nach Abs. 1 Satz 1, soweit sie vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstanden sind und vor Ablauf von einem Jahr nach diesem Zeitpunkt fällig werden. Werden solche Verpflichtungen nach dem Zeitpunkt des Übergangs fällig, haftet der bisherige ArbG für sie jedoch nur in dem Umfang, der dem im Zeitpunkt des Übergangs abgelaufenen Teil ihres Bemessungszeitraums entspricht. Wer seinen Betrieb am 31.3.veräußert hat, haftet also für ein Viertel der für das Jahresende zugesagten Weihnachtsgratifikation als Gesamtschuldner neben dem Erwerber. Für drei Viertel haftet der Erwerber allein. Im Innenverhältnis zu einander können Veräußerer und Erwerber allerdings eine abweichende Regelung treffen. © Professor Dr. Hunscha 267 Dezember 2015 5. Das Kündigungsverbot durch den bisherigen ArbG wegen des Betriebsübergangs Nach § 613a IV 1 BGB ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines AN durch den bisherigen ArbG oder durch den neuen Inhaber „wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils“ unwirksam. Das ist nur dann der Fall, wenn der Betriebsübergang der ausschlaggebende Beweggrund für die Kündigung ist, etwa weil ein bestimmter AN dem Erwerber „zu teuer“ ist (Krause § 16 Rn. 12). Das Kündigungsverbot schützt nur die AN, die unmittelbar vom Betriebsübergang betroffen sind, nicht aber solche, die zurückbleiben oder deren Arbeitsverhältnis infolge ihres Widerspruchs mit dem bisherigen ArbG fortbesteht. Wie § 613a IV 2 BGB ausdrücklich klarstellt, bleibt das Recht des Veräußerers oder des Erwerbers zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen unberührt. Nach dem Urteil des BAG vom 20. 3. 2003 - 8 AZR 97/02 - in NZA 2003, 1027 ff. fallen hierunter auch Kündigungen des Veräußerers zur Umsetzung eines Erwerberkonzepts oder eines Sanierungsplanes, dessen Durchführung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat. Das gleiche gilt, wenn der Erwerber den übernommenen Betrieb umstrukturiert und dabei Arbeitsplätze abbaut (Krause a.a.O.). © Professor Dr. Hunscha 268 Dezember 2015 § 43 Die Arbeitnehmerüberlassung (wird z.Zt. überarbeitet) I. Vorbemerkung Die §§ 1 bis 3 und 4 bis 8 AÜG enthalten Sonderregeln bezüglich der gewerberechtliche Zulässigkeit der AN-Überlassung, insbesondere über die Erlaubnispflicht, die Erteilung und das Erlöschen der Erlaubnis, ihre Versagung, ihre Rücknahme oder ihren Widerruf sowie Anzeige- und Auskunfts- und Meldepflichten des Verleihers. § 3a AÜG und die Vorschriften der §§ 9 bis 14 AÜG enthalten die arbeitsrechtlichen Sonderregeln, so über die Festlegung einer Lohnuntergrenze (§ 3a AÜG), über die Rechtsfolgen unerlaubter AN-Überlassung (§§ 9 und 10 AÜG), über den arbeitsrechtlichen Schutz des Leih-AN (§§ 11, 13 bis 14) und über die Rechtsbeziehungen zwischen Verleiher und Entleiher (§ 12 AÜG). Die §§ 15 ff. betreffen das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie die Durchführung des AÜG durch die Bundesagentur für Arbeit und die Zusammenarbeit mit anderen Behörden. Man lasse sich nicht durch gelegentliche Wiederholungen irritieren, so z,B. im Fall einerseits des § 3 I Nr. 3 und andererseits der §§ 9 Nr. 2, 10 IV. Es sind dieselben tatbestandlichen Voraussetzungen, die zum einen zur gewerberechtliche Versagung der Erlaubnis zur AN-Überlassung führen und zum anderen die Unwirksamkeit bestimmter Vereinbarungen zwischen dem Verleiher und seinem Leih-AN nach sich ziehen. II. Überblick 1. Die erlaubnispflichtige Arbeitnehmerüberlassung Nach § 1 I 1 AÜG bedürfen ArbG, die als „Verleiher“ ihre AN als „Leih-AN“ „im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit“ Dritten als „Entleihern“ zur Arbeitsleistung überlassen, der Erlaubnis der Bundesagentur für Arbeit, die durch die Landesarbeitsämter (Regionaldirektionen) bzw. einzelnen Stützpunkt-Arbeitsämter (Agenturen für Arbeit) erteilt werden. Zum Schutze der Leih-AN unterliegt die Tätigkeit der Verleiher damit behördlicher Kontrolle. Die Verleiher müssen die AN-Überlassung nicht mehr mit Gewinnerzielungsabsicht betreiben, sondern nur noch „im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit“. Deswegen musste auf das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit ihrer Tätigkeit verzichtet werden. Damit unterliegen nunmehr auch konzerninterne Personalservicegesellschaften, die entlassene Stamm-AN als billigere Leih-AN zum Selbstkostenpreis zurückverleihen, der Erlaubnispflicht des § 1 I 1AÜG und damit der Kontrolle nach Maßgabe dieses Gesetzes (vgl. oben § 13 III. 3.). Der Leih-AN wird bei seinem ArbG mit dem Ziel eingestellt, ihn anderen Unternehmern zur Leistung von Arbeit in deren Betrieb zur Verfügung zu stellen. Nach § 1 I 2 AÜG gilt, dass die Überlassung nur „vorübergehend“, also nicht auf Dauer erfolgen soll. Man bezeichnet die Leiharbeit darum auch als „Zeitarbeit“. Es fehlt allerdings an einer zeitlichen Höchstgrenze der Überlassung. Bei einem offensichtlich nicht nur vorübergehenden Einsatz des Leih-AN sieht das Gesetz keine Sanktion vor. Es kommt insbesondere nicht in analoger Anwendung des § 10 I 1 AÜG zu einem © Professor Dr. Hunscha 269 Dezember 2015 Arbeitsverhältnis zwischen dem Leih-AN und dem Entleiher (BAG v. 10.12.2013 - 9 AZR 51/13 in ArbR 2014, 15). Allerdings kann der Betriebsrat des Entleihers dem Einsatz von Leih-AN auf Dauerarbeitsplätzen nach § 14 III AÜG, § 99 II Nr. 1 BetrVG wegen des Verstoßes gegen § 1 I 2 AÜG widersprechen. In diesem Fall sind auch die Voraussetzungen des § 100 BetrVG nicht gegeben (LAG Berlin-Brandenburg v. 9.1.2013 in ArbR 2013, 247). Der Betriebsrat des Entleihers könnte auch auf der Grundlage von § 99 II Nr. 3 BetrVG widersprechen. 2. Die Rechtsverhältnisse zwischen den Beteiligten In dem aus dem Verleiher, dem Leih-AN und dem Entleiher bestehenden DreiPersonen-Verhältnis sind drei verschiedene Rechtsbeziehungen zu unterscheiden. Zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN besteht das arbeitsrechtliche Grundverhältnis in Gestalt des Arbeitsvertrages. Der Verleiher ist der ArbG des Leih-AN. Den Verleiher treffen die üblichen ArbG-Pflichten einschließlich der in seinem Verantwortungsbereich liegenden Schutz- und Fürsorgepflichten. Ihn trifft vor allem die Pflicht zur Gewährung der Vergütung sowie der Entgeltfortzahlung aus allen in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen. Im Krankheitsfall muss der Leih-AN aber nicht nur den Verleiher, sondern auch den Entleiher über die Erkrankung unverzüglich unterrichten, weil er ja in dessen Betrieb tätig ist. Der Leih-AN ist der AN des Verleihers. Er schuldet ihm die Leistung von Arbeit im Betrieb des vom Verleiher bestimmten Entleihers. Da der Anspruch auf die Dienste nach § 613 S. 2 BGB aber nicht ohne weiteres übertragbar ist, bedarf der verleihende ArbG des Einverständnisses seines AN zur Überlassung an Dritte. Diese Erklärung kennzeichnet Zwischen dem Leih-AN und dem Entleiher besteht das sog. arbeitsrechtliche Erfüllungsverhältnis, wonach der Entleiher dem Leih-AN gegenüber gewisse ArbG-Funktionen ausübt. Auf der einen Seite steht dem Entleiher daher das Recht zu, die Arbeitsleistung, für deren Erfüllung ihm der Leih-AN vom Verleiher zur Verfügung gestellt wurde, unmittelbar vom Leih-AN einzufordern und entsprechende Weisungen zu erteilen. Auf der anderen Seite treffen den Entleiher in dem hierdurch umrissenen Verantwortungsbereich dann aber auch arbeitsrechtliche Schutz- und Fürsorgepflichten. Wie der Verleiher, so unterliegt auch der Entleiher nach § 6 II 2 AGG dem Benachteiligungsverbot des § 7 AGG (Einzelheiten nachfolgend unter III.). In dieser eigengearteten „Personalhoheit“ des Inhabers des Einsatzbetriebs liegt das entscheidende Kriterium der AN-Überlassung. Sofern der Fremdfirmeneinsatz eines AN nicht mehr von seinem Vertrags-ArbG, sondern von dem Inhaber des Einsatzbetriebs gesteuert wird, befindet sich der AN nämlich in einer Situation besonderer Schutzbedürftigkeit, die die Anwendung des AÜG mit seinem strengen Reglement herausfordert. Zwischen dem Verleiher und dem Entleiher besteht ein ANÜberlassungsvertrag. Bei ihm handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag eigener Art, der im BGB kein Vorbild hat. In dem Bestreben, ihn in die gesetzlich vorgesehene Vertragslandschaft begrifflich einzuordnen, wird er als Dienstverschaffungsvertrag bezeichnet. Nach ihm schuldet der Verleiher dem Entleiher die Überlassung seines AN zur Arbeitsleistung im Betrieb des Entleihers und der Entleiher dem Verleiher die Überlassungsvergütung, aus deren Mitteln der Verleiher dem Leih-AN den als ArbG geschuldeten Lohn zahlt (Einzelheiten nachfolgend unter IV.). © Professor Dr. Hunscha 270 Dezember 2015 Keine AN-Überlassung liegt vor, wenn ein ArbG seine AN als seine Erfüllungsgehilfen zur Erbringung einer eigenen Werkleistung im Betrieb des Auftraggebers einsetzt. Der Verdacht illegaler AN-Überlassung unter dem Deckmantel des Werkvertrags kann z.B. dadurch ausgeräumt werden, dass der ArbG nachweist, die Gewährleistung für das im Betrieb des Auftragsgebers erbrachte Werk zu tragen und über eine Betriebsorganisation zu verfügen, die ihn in den Stand setzt, mit eigenen Produkten an den Markt zu gehen (ErfK/Wank, § 1 AÜG Rn. 8 ff,). Ferner sind die Ausnahmebestimmungen des § 1 III AÜG zu beachten. 3. Das unternehmerische Konzept der Leiharbeit In Deutschland sind z.Zt. mehr als 900.000 Menschen, also bald 3 % aller AN als Leih-AN beschäftigt. Die Tendenz ist bislang steigend. Die Attraktivität der Leiharbeit beruht entscheidend darauf, dass für den Entleiher der Einsatz von Leih-AN zur Erbringung bestimmter Tätigkeiten in bestimmten Bereichen seines Unternehmens gegen Zahlung einer Überlassungsvergütung (einschließlich 19 % Umsatzsteuer!) insgesamt vorteilhafter ist, als die Beschäftigung eigener AN. Der Vorteil der Leiharbeit für den Entleiher liegt vor allem darin, dass er die entliehenen Arbeitskräfte ganz nach Bedarf einsetzen kann und nicht durch die Risiken belastet ist, die sich in Ansehung eigener AN ergeben können, insbesondere auf Grund der durch das Befristungs- und Kündigungsrecht entstehenden Probleme und Kosten. Darüber hinaus treffen ihn keine direkten und indirekten Personalzusatzkosten (oben § 16 II. 5.). In diesem Zusammenhang ist ferner die Tatsache von Bedeutung, dass die Leih-AN bei der Ermittlung des Schwellenwertes der §§ 1 und 9 BetrVG für die Errichtung und Größe des Betriebsrates im Entleiherbetrieb auf jeden Fall dann nicht mitzählen, wenn sie nicht auf Langzeitarbeitsplätzen zum Einsatz kommen. Für den Verleiher ist entscheidend, dass er aus der Überlassungsvergütung die Personal- und Sachkosten seines Unternehmens einschließlich der Personalkosten seiner Leih-AN bezahlen kann und darüber hinaus Gewinn erzielt. Das Risiko von Einnahmeausfällen auf Grund verleihfreier Zeiten muss er durch professionelle Handhabung des Verleihgeschäfts, vor allem durch die Herstellung fester Beziehungen zu potentiellen Entleihern sowie die Einwerbung geeigneter Leih-AN und ihre möglichst lückenlose Unterbringung bei den Entleihern zu vermeiden suchen. Das finanzielle Risiko des Verleihers ist umso geringer, je mehr der zwischen ihm und dem und dem Leih-AN vereinbarte Lohn den Lohn vergleichbarer AN des Entleihers unterschreitet. Im Interesse der Attraktivität der Leiharbeit für Arbeitsuchende sowie zum Schutze des Leih-AN vor finanzieller Ausbeutung und der AN des Entleihers vor einer ihren Arbeitsplatz gefährdenden Billigkonkurrenz muss dem Leih-AN allerdings ein angemessener, nach Leistungsmerkmalen gestaffelter Mindestlohn gewährt werden, so dass sich der Einsatz von Leih-AN eigentlich nur für Betriebe mit mittlerem und hohem Entgeltniveau lohnt: Leiharbeit kann nicht dazu dienen, die Entgelte des Niedriglohnsektors noch zu unterbieten. Für Arbeitssuchende bedeutet Leiharbeit die Aussicht auf einen Arbeitsplatz, dessen Bezahlung mit einem angemessenen Mindestlohn beginnt verbunden mit der Chance, ggf. in den AN-Stamm des Entleihers zu wechseln. Um diese Möglichkeit zu fördern, sind nach § 9 Nr. 3 und 4 AÜG Vereinbarungen, die es dem Entleiher © Professor Dr. Hunscha 271 Dezember 2015 oder dem Leih-AN untersagen, einen Arbeitsplatzwechsel des Leih-AN zum Entleiher herbeizuführen, unwirksam. Stattdessen darf der Verleiher mit dem Entleiher für den Fall des Wechsels eine Vermittlungsvergütung vereinbaren. Vereinbarungen, nach denen der Leih-AN eine Vermittlungsvergütung an den Verleiher zu zahlen hat, sind nach § 9 Nr. 5 AÜG unwirksam. Nach § 13a AÜG trifft den Entleiher die Pflicht, den Leih-AN (mindestens im Wege allgemeiner Bekanntgabe) über Arbeitsplätze, die bei ihm besetzt werden sollen, zu informieren. II. Einzelheiten im Rechtsverhältnis zwischen dem Verleiher und dem LeihAN 1. In Ansehung der AN-Pflichten des Leih-AN gilt, dass sie während der Verleihzeit dergestalt aufgespalten sind, als neben dem Verleiher auch der Entleiher berechtigt ist, vom Leih-AN ihre Erfüllung einzufordern und Pflichtverletzungen zu verfolgen. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN ist als ein Vertrag zugunsten Dritter i.S.v. § 328 BGB zu begreifen, insoweit die zwischen ihnen vereinbarte Hauptleistungspflicht des Leih-AN darin besteht, die Arbeitsleistung dem durch den jeweiligen Überlassungsvertrag konkretisierten Entleiher (als dem außerhalb des Arbeitsvertrages stehenden Dritten) gegenüber zu erbringen. Auf dieser Rechtsgrundlage erwirbt der Entleiher unmittelbar das Recht, vom Leih-AN die Arbeitsleistung zu fordern und ihm entsprechende Weisungen zu erteilen, ohne sein Arbeitsgeber zu sein. Obwohl der Entleiher nicht in die Rechtsstellung eines Vertragspartners des Leih-AN einrückt, wird man doch davon ausgehen müssen, dass in einer solchen Rechtsbeziehung auch ihm das Recht zustehen muss, vom Leih-AN Schadensersatz statt der Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB zu verlangen, wenn er durch schuldhafte Nichtleistung, z.B. durch unerlaubtes Fernbleiben von der Arbeit, einen Schaden erleidet. Ebenso kann der Entleiher bei Schädigung durch eine schuldhafte Schlechtleistung den Leih-AN nicht nur aus §§ 823 ff. BGB, sondern auch aus § 280 I BGB auf Schadensersatz (neben der Leistung) in Anspruch nehmen; freilich unter Beachtung der Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs (siehe dazu oben § 27). Ist es der Verleiher, der durch schuldhafte Nicht- oder Schlechtleistung des Leih-AN einen Schaden erleidet, so haftet der Leih-AN ihm als seinem ArbG ohne weiteres aus §§ 280 I, III, 283 BGB, aus § 280 I BGB oder aus §§ 823 ff. BGB unter Beachtung der genannten Einschränkung. Schädigt der Leih-AN bei seiner Arbeit im Betrieb des Entleihers einen außenstehenden Dritten, der den Leih-AN aus § 823 ff. BGB auf Schadensersatz in Anspruch nimmt, besteht der dem Leih-AN nach den Grundätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs zustehende Freistellungsanspruch nicht gegenüber dem Verleiher, sondern gegenüber dem Entleiher. Erleidet der Leih-AN beim Verleiher oder Entleiher einen Körperschaden, gilt § 104 SGB VII. Für Sachschäden des Leih-AN haftet je nach Tatort der Verleiher oder der Entleiher in entsprechender Anwendung des § 670 BGB. Der zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN abgeschlossene Arbeitsvertrag grenzt die Tätigkeit ein, für deren Ausführung der Leih-AN eingesetzt wird. Für die Lage der Arbeitszeit kann mit Blick auf die unterschiedlichen Verhältnisse bei den jeweiligen Entleihern nur ein Rahmen vorgegeben werden. Die Verpflichtung des Leih-AN zur Leistung von Mehrarbeit nach Weisung des Entleihers setzt voraus, dass der Leiharbeitsvertrag dies zulässt und der AN-Überlassungsvertrag den Entleiher dazu ermächtigt. Auch deren Vergütung erfolgt durch den Verleiher, dem der Entleiher das hierfür zusätzlich vereinbarte Überlassungsgeld schuldet. © Professor Dr. Hunscha 272 Dezember 2015 Leiharbeit ist auch als Teilzeitarbeit möglich. Vielfach wird zwischen Verleiher und Leih-AN Arbeit auf Abruf vereinbart. 2. Das Arbeitsentgelt des Leiharbeitnehmers In Ansehung des Arbeitsentgelts, das der Leih-AN vom Verleiher beanspruchen kann, gibt es im AÜG zahlreiche Vorschriften, von denen einige verwirrende Wiederholungen enthalten. a) Der neu eingefügte § 3a AÜG enthält Grundlegendes über die Festsetzung einer Lohnuntergrenze einheitlich für Verleihzeiten und verleihfreie Zeiten. Hiernach können Gewerkschaften und ArbG-Vereinigungen, die zumindest auch für ihre jeweiligen in der AN-Überlassung tätigen Mitglieder zuständig sind und bundesweit tarifliche Mindeststundenentgelte im Bereich der AN-Überlassung miteinander vereinbart haben, dem BMAS gemeinsam vorschlagen, diese für die Laufzeit des Tarifvertrages als einheitliche Lohnuntergrenze in eine Rechtsverordnung für alle in ihren Geltungsbereich fallenden ArbG sowie Leih-AN zu übernehmen. Dabei können die Mindeststundenentgelte nach dem jeweiligen Beschäftigungsort differenzieren. Es handelt sich um ein Verfahren, das dem des § 7 AEntG gleichkommt (oben § 5 III. 2 Da die Lohnuntergrenze auch für verleihfreie Zeiten gilt, hat die Vorschrift des § 11 IV 2 AÜG, wonach das Recht des Leih-AN auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers (§ 615 Satz 1 BGB) nicht durch Vertrag (gänzlich) aufgehoben oder (nur auf bestimmte Fälle) beschränkt werden kann, nur noch insoweit Bedeutung, als es an einer entsprechenden Rechtsverodnung fehlt. In diesem Fall folgt die Pflicht des Verleihers zur Vergütung des Leih-AN aus der uneingeschränkten Anwendung des § 615 BGB. Der Verleiher trägt also in jedem Fall das Beschäftigungsrisiko des LeihAN! Demgemäß bestimmt § 11 I 2 Nr. 2 AÜG, dass in die Niederschrift der Arbeitsvertragsbedingungen zusätzlich zu den in § 2 I NachwG geforderten Angaben auch Angaben über die Vergütung des Leih-AN für Zeiten enthalten muss, in denen er nicht verliehen ist. Über die Höhe der Vergütung (beim Fehlen einer durch Rechtsverordnung verbindlichen Lohnuntergrenze) wird allerdings nichts gesagt. Unter Beachtung der nach § 138 BGB gezogenen Grenzen, dürfte eine Entgeltvereinbarung knapp über der Grenze der Sittenwidrigkeit (oben § 11 II. am Ende) zulässig sein. Der Entgelt-Tarifvertrag zwischen dem DGB und dem Bundesverband Zeitarbeit (BZA) sieht mit Wirkung vom 1. 11. 2011 eine Lohnuntergrenze von 7,89 (West) und 7,01 (Ost) vor, die in die erste Rechtsverordnung dieser Art übernommen werden wird. b) In Vollzug des durch die LeiharbeitsRL 2008/104/EG vorgegeben Benachteiligungsverbots, enthalten die Vorschriften der §§ 9 Nr. 2 und 10 IV AÜG (siehe auch § 3 I Nr. 3 AÜG, der sich auf die Versagung der Erlaubnis bezieht) die Regel, dass der Verleiher verpflichtet ist, dem Leih-AN (nur) für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren AN des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Man spricht neudeutsch vom Grundsatz des equal pay and equal treatment. § 3 I Nr. 3 AÜG bestimmt, dass ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot die Erlaubnisbehörde, nach § 17 AÜG die Bundesagentur für Arbeit, zur Versagung der Erlaubnis zur AN-Überlassung oder ihrer Verlängerung berechtigt. § 9 Nr. 2 AÜG bestimmt, dass eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, die gegen das Benachteiligungsverbot verstößt, unwirksam ist. Durch § 10 IV 4 AÜG werden die Rechtsfolgen der nach § 9 Nr. 2 eintretenden Unwirksamkeit eines Arbeitsvertrages geregelt. © Professor Dr. Hunscha 273 Dezember 2015 Das Benachteiligungsverbot bestimmt den Inhalt der wesentlichen Arbeitsbedingungen eines zwischen Verleihern und Leih-AN abgeschlossenen Arbeitsvertrages. Das betrifft vor allem die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt einschließlich evtl. Sonderzuwendungen. Verletzt der Verleiher das Benachteiligungsverbot, kann der Leih-AN von ihm nach § 10 IV 4 AÜG Gleichstellung verlangen. Da von dem Benachteiligungsverbot des § 3 I Nr. 3 Satz 1 AÜG (ebenso § 9 Nr. 2 Halbs. 1 AÜG) allerdings gemäß dem jeweils nachfolgenden Satz bzw. Halbsatz der genannten Vorschriften durch einen Tarifvertrag abgewichen werden kann (nachfolgend unter c), findet das Benachteiligungsverbot in der Praxis kaum Anwendung. Die aufgrund des Benachteiligungsverbots maßgebenden Arbeitsbedingungen des Entleihers kommen dem Leih-AN in der Zeit der Überlassung an den betreffenden Entleiher zugute. Mit jedem neuen Entleiher kommen wieder andere Arbeitsbedingungen zur Anwendung. Nicht geregelt ist die Frage, welche Arbeitsbedingungen in verleihfreien Zeiten gelten sollen. Keinesfalls folgt aus § 11 IV 2 AÜG, dass dem Leih-AN nach Beendigung einer Überlassung der aus dieser Tätigkeit bezogene Lohn für die Zeit bis zur nächsten Überlassung fortzuzahlen ist. Denn diese Bestimmung soll nur klarstellen, dass dem AN für die Zeit, in der er nicht verliehen ist, eine gewisse Geldleistung nicht vorenthalten werden darf. Unter Beachtung der nach § 138 BGB gezogenen Grenzen dürfte eine Entgeltvereinbarung knapp über der Grenze der Sittenwidrigkeit zulässig sein. Gilt eine nach § 3a AÜG durch Rechtsverordnung festgelegte Lohnuntergrenze, ist diese maßgebend. c) Nach § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG (siehe auch § 3 I Nr. 3 Satz 2 AÜG, der sich auf die Versagung der Erlaubnis bezieht) kann von dem Benachteiligungsverbot durch einen Tarifvertrag abgewichen werden (tarifdispositives Gesetzesrecht), soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a II AÜG festgesetzte Lohnuntergrenze unterschreitet und dann § 10 IV 3 AÜG gilt (equal pay). Während die Regelung des § 3 I Nr. 3 Satz 1 (ebenso § 9 Nr. 2 Halbs. 1; vorstehend unter b) dem Leih-AN in Verleihzeiten das Optimum bietet, geht es hier darum, durch einen Tarifvertrag nach unten abweichen zu können durch die Festlegung eines einheitlichen Lohnes, der unter dem vom Benachteiligungsverbot geforderten Standard des „equal pay“ liegt, aber auch für verleihfreie Zeiten gilt. Um den Leih-AN nun aber vor Niedriglohn-Tarifverträgen mit kleinen fragwürdigen BranchenGewerkschaften zu schützen, hat der Gesetzgeber die in § 3a AÜG enthaltene Regelung über eine Lohnuntergrenze geschaffen. Sofern es an der für die Geltung des Tarifvertrages unerlässlichen beiderseitigen Tarifgebundenheit (§ 4 I TVG) fehlt, eröffnet § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG die Möglichkeit, dass „im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren.“ Vom Grundsatz der Gleichbehandlung kann also auch durch Bezugnahme auf einen Tarifvertrag abgewichen werden, aber nur dann, wenn auf den für den Betrieb des Verleihers geltenden Tarifvertrag im Ganzen verwiesen wird. Besondere Bedeutung kommt der Vorschrift des § 9 Nr. 2 Halbs. 4 AÜG zu, wonach eine abweichende tarifliche Regelung nicht gilt für Leih-AN, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem ArbG, der mit dem Entleiher einen Konzern i.S.d. § 18 AktG bildet, ausgeschieden sind. Diese Vorschrift richtet sich gegen den „Drehtüreffekt“ und soll verhindern, dass fest angestellte AN trotz fortbestehenden Beschäftigungsbedarfs gekündigt und in ein Verleihunternehmen gedrängt werden, das sie ihrem bisherigen ArbG zum Einsatz auf ihrem vormaligen Arbeitsplatz (zurück) verleiht, allerdings zu deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen: Sale and lease back von AN! (Drogeriemarkt Schlecker und andere). Der Rückverleih erfolg- © Professor Dr. Hunscha 274 Dezember 2015 te in vielen Fällen über ein mit dem Entleihunternehmen verbundenes oder von einer Konzernobergesellschaft abhängiges konzerninternes Verleihunternehmen. 3. In allen Fällen hat der Leih-AN nach § 13b AÜG Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen oder –diensten des Entleihers zu den gleichen Bedingungen wie vergleichbare AN des Entleihers, insbesondere zu Kinderbetreuungseinrichtungen, Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmitteln. 4. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN kann im Grundsatz befristet abgeschlossen werden, doch wird eine sachgrundlose Befristung wegen des Vorbeschäftigungsverbotes des § 14 II 2 TzBfG nicht praktikabel sein (oben § 13 III. 2./3.). Allerdings kann nach § 14 II 3 TzBfG die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung durch einen Tarifvertrag abweichend festgelegt werden (tarifdispositives Gesetzesrecht), aber gewiss nicht das Gebot der Nahtlosigkeit der Anschlussbefristung oder gar das Vorbeschäftigungsverbot aufgehoben oder gelockert werden. Eine Sachgrundbefristung kann nach § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG in Betracht kommen, wenn man akzeptiert, dass der vorübergehende, ggf. zeitlich befristete Beschäftigungsbedarf beim Entleiher auch beim Verleiher gleichsam mittelbar einen nur vorübergehenden betrieblichen Bedarf an der Arbeitsleistung des Leih-AN sachlich begründet. Ansonsten müsste an einen in § 14 I TzBfG nicht aufgeführter weiterern Sachgrund („insbesondere“) speziell für Leiharbeitsverträge gedacht werden. 5. Da der Leih-AN von dem Verleiher auch in verleihfreien Zeiten Lohn beanspruchen kann, ist der Verleiher im eigenen Interesse gehalten, seine Leih-AN möglichst lückenlos bei den ihm zur Verfügung stehenden Entleihern unterzubringen. Gelingt ihm dies nicht, ist manch einer von ihnen versucht, den Leih-AN ohne Lohnzahlung einfach „freizustellen“ und ihm auch im Krankheitsfall keine Entgeltfortzahlung zu gewähren. Nicht selten stellt der Verleiher den Leih-AN unter Missachtung des Vorbeschäftigungsverbots für jeden einzelnen Fall einer Überlassung immer wieder nur (sachgrundlos) befristet ein oder kündigt ihm am Ende der jeweiligen Überlassungszeit. Verbreitet ist auch die Vorgehensweise, vom Leih-AN die Unterzeichnung eines meist undatierten Aufhebungsvertrages oder einer undatierten arbeitnehmerseitigen Kündigung schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages zu verlangen sowie die Vereinbarung von unbezahltem „Urlaub“ für die verleihfreie Zeit zu treffen (vgl. Schüren in Schüren/Hamann, AÜG, Einl. Rn. 240). In vielen Fällen ist die Hoffnung der Verleiher nicht unberechtigt, dass der Leih-AN derlei Rechtsverstöße klaglos hinnimmt, nicht zuletzt aus dem Grunde, demnächst wieder beschäftigt zu werden. 6. Das Leiharbeitsverhältnis kann vom Verleiher und vom Leih-AN durch ordentliche oder außerordentliche Kündigung beendet werden. Der Entleiher hingegen kann den Leih-AN nicht entlassen. Für die ordentliche Kündigung gelten die Fristen des § 622 BGB, seiner Tarifdisposivität (§ 622 IV BGB) zufolge jedoch mit nicht unerheblichen Abweichungen. So gilt nach dem MantelTarifvertrag zur Leiharbeit zwischen dem BZA und DGB-Gewerkschaften vom 22. 7. 2005 der Arbeitsvertrag bei unentschuldigtem Nichterscheinen am ersten Arbeitstag als nicht zustande gekommen und ist während der ersten drei Monaten der auf sechs Monate festgelegten Probezeit mit einer Frist von nur einer Woche kündbar, die bei Neueinstellungen während der ersten zwei Wochen des Beschäftigungsverhältnisses auf einen Tag verkürzt werden kann.. Als Neueinstellungen gelten Arbeitsverhältnisse mit AN, die mindestens drei Monate lang nicht in einem Arbeitsverhältnis zum ArbG gestanden haben. © Professor Dr. Hunscha 275 Dezember 2015 Arbeitet der Leih-AN für den gleichen Verleiher, der mehr als 10 AN beschäftigt, ununterbrochen mehr als 6 Monate lang, genießt er Kündigungsschutz nach Maßgabe des KSchG. Die Kündigung bedarf dann nach § 1 KSchG einer besonderen sozialen Rechtfertigung. Besteht beim Verleiher ein Betriebsrat, muss dieser gemäß § 102 I BetrVG vor jeder Kündigung angehört werden. Häufigster Fall der personenbedingte Kündigung ist die krankheitsbedingte Kündigung. Da der Verleiher gegenüber dem Entleiher aufgrund des Überlassungsvertrages verpflichtet ist, bei Ausfall eines Leih-AN für dessen Ersatz zu sorgen, kommt er nicht umhin, sich mit einer Personalreserve für übliche Fehlzeiten auszustatten. Da es sich dabei um Ersatzkräfte handelt, die er zwar bezahlen muss, aber weder bei sich beschäftigen noch anderweitig verleihen kann, ist es für ihn wirtschaftlich jedoch nicht tragbar, diese Vorsorge auch für unzumutbar lange oder unzumutbar häufige Krankheitszeiten eines Leih-AN zu treffen. Deshalb muss in Verleihunternehmen eine krankheitsbedingte Kündigung schon dann möglich sein, wenn die Krankheit/en eines Leih-AN eine überdurchschnittliche Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse des Verleihers erwarten lässt (Schüren in Schüren/Hamann, AÜG, Einl. Rn. 273 ff.). Eine Kündigung des Leih-AN wegen Mängeln seiner Leistungsfähigkeit wird nur dann gerechtfertigt sein, wenn es dem Verleiher nicht gelingt, den Betreffenden AN bei Entleihern unterzubringen, die geringere oder andere Anforderungen stellen Eine verhaltensbedingte Kündigung kann mit Pflichtverletzungen sowohl gegenüber dem Verleiher wie auch gegenüber dem Entleiher begründet werden. Für die regelmäßig zuvor erforderliche Abmahnung des AN ist ausschließlich der Verleiher als ArbG zuständig. Eine betriebsbedingte Kündigung kommt dann in Betracht, wenn der Verleiher den Leih-AN nicht verleihen kann. Die nur kurzfristig fehlende Beschäftigungsmöglichkeit ist allerdings noch kein hinreichender Kündigungsgrund. Dem Verleiher dürfte es zuzumuten sein, den Leih-AN nach Beendigung einer Überlassung noch etwa 3 Monate unter Vertrag zu halten, ehe er ihm mangels Verleihmöglichkeit betriebsbedingt kündigen kann. Sind mehrere Leih-AN verleihfrei, Anschlussaufträge aber nur für einen Teil der in Betracht kommenden Leih-AN absehbar, muss der Verleiher nach Maßgabe des § 1 III KSchG eine Sozialauswahl treffen. Es ist allerdings zu beobachten, dass Leih-AN unzulässige betriebsbedingte Kündigungen häufig über sich ergehen lassen, weil die hoffen, bald wieder eingestellt zu werden. Der dem AN nach § 102 V BetrVG oder nach der Rechtsprechung zustehende Anspruch auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses ist für den Verleiher nur schwer erfüllbar, so dass er von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Leih-AN i.d.R. vom Gericht auf Antrag im Wege einstweiliger Verfügung entbunden werden wird. III. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Entleiher und dem Leih-AN: Das Beschäftigungsverhältnis 1. Durch den Arbeitsvertrag besteht ein Arbeitsverhältnis nur zwischen dem Verleiher und dem Leih-AN. Dennoch hat der Entleiher dem Leih-AN gegenüber bestimmte Arbeitgeberrechte und -pflichten, wie umgekehrt auch der Leih-AN be- © Professor Dr. Hunscha 276 Dezember 2015 stimmte Arbeitnehmerrechte und –pflichten gegenüber dem Entleiher hat. Vergleiche dazu schon oben II.1. Nach § 11 VI AÜG ist noch einmal hervorgehoben, dass auch der Entleiher dem Leih-AN gegenüber zur Einhaltung des Arbeitsschutzes verpflichtet ist. Erleidet der Leih-AN im Betrieb des Entleiher einen Arbeitsunfall, tritt unter Beachtung insbesondere von §§ 104, 105 SGB VII die gesetzliche Unfallversicherung des Entleihers gemäß den Bestimmungen des SGB VII ein. 2. Nach § 14 I AÜG sind Leih-AN auch während der Überlassungszeiten dem Betrieb des Verleihers betriebsverfassungsrechtlich zugeordnet. Im Entleihbetrieb sind sie nach § 14 II 1 AÜG nicht als AN-Vertreter wählbar, nach § 7 II BetrVG wohl aber wahlberechtigt. Während ihrer Tätigkeit im Entleihbetrieb stehen ihnen nach § 14 II 2 und 3 AÜG gewisse Betriebsverfassungsrechte zu. Bei der Ermittlung des Schwellenwertes der §§ 1 und 9 BetrVG für die Einrichtung und Größe des Betriebsrates im Entleihbetrieb zählen sie auf jeden Fall dann nicht mit, wenn sie nicht auf Langzeitarbeitsplätzen zum Einsatz kommen. 3. Nach § 14 III AÜG ist der Betriebsrat des Entleihbetriebs vor der Übernahme eines Leih-AN nach § 99 BetrVG zu hören. Er kann dem Einsatz von Leih-AN auf Dauerarbeitsplätzen nach § 99 II Nr. 1 BetrVG wegen des Verstoßes gegen § 1 I 2 AÜG (vorübergehende Überlassung) widersprechen. In diesem Fall sind auch die Voraussetzungen des § 100 BetrVG nicht gegeben (LAG Berlin-Brandenburg v. 9.1.2013 in ArbR 2013, 247). Darüber hinaus wäre denkbar, dass der Betriebsrat die Entleihe Auf der Grundlage des § 99 II Nr. 3 BetrVG mit der Begründung verweigert, der Entleiher wolle Stamm-AN langfristig durch Leih-AN ersetzen. 4. Nach § 11 V AÜG muss der Verleiher den Leih-AN darauf hinweisen, dass es ihm freisteht, ob er bei einem Entleiher, der unmittelbar bestreikt wird, als Streikbrecher arbeiten will. Keinesfalls aber darf er sich an den Streik aktiv beteiligen. 5. Für AN-Erfindungen und technische Verbesserungsvorschläge gilt nach § 11 VII AÜG der Entleiher als ArbG i.S.d. AN-ErfindungsG. IV. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Verleiher und dem Entleiher: Das Überlassungsverhältnis 1. Zum Inhalt des Arbeitnehmerüberlassungsvertrages sagt das AÜG kaum etwas. Nach § 12 AÜG bedarf der Vertrag der Schriftform und bestehen gewisse Hinweispflichten. 2. Der Verleiher schuldet dem Entleiher die Arbeitnehmerüberlassung, nicht aber die Arbeitsleistung selbst. Diese schuldet vielmehr der Leih-AN aufgrund des mit dem Verleiher geschlossenen Arbeitsvertrages, der als Vertrag zu Gunsten Dritter auch den Entleiher berechtigt, die Arbeitsleistung vom Leih-AN zu fordern, so als wäre er sein ArbG (siehe oben II. 1.). Weil der Verleiher dem Entleiher nicht die Arbeitsleistung selbst schuldet, ist der Leih-AN bei der Arbeit im Entleiherbetrieb auch nicht der Erfüllungsgehilfe des Verleihers. Deshalb muss der Verleiher für die Schlechtleistung des Leih-AN nicht nach § 278 BGB einstehen. Es besteht auch keine Haftung des Verleihers aus § 831 BGB. © Professor Dr. Hunscha 277 Dezember 2015 Der Verleiher ist dem Entleiher gegenüber verpflichtet, einen oder mehrere AN auszuwählen und zur Verfügung zu stellen. Dabei hat er dafür zu sorgen, dass dem Entleiher ein für die vorgesehene Arbeitsaufgabe geeigneter, d.h. leistungsbereiter und leistungsfähiger AN zur Verfügung steht. Trifft den Verleiher (oder seine Verwaltungskräfte) hierbei ein Auswahlverschulden, haftet er dem Entleiher für die schuldhafte Schlechterfüllung seiner Überlassungspflicht auf Schadensersatz nach §§ 280 I, 241 II BGB. Ansonsten trifft ihn ähnlich einem Gattungsschuldner das Risiko der vertraglich zugesagten Personalbeschaffung, wofür er nach § 276 I 1 BGB (strengere Haftung des Schuldners aus der Übernahme eines Beschaffungsrisikos) auch ohne Verschulden einzustehen hat. Schickt der Verleiher dem Entleiher keinen geeigneten AN, kommt er deshalb dem Entleiher gegenüber in Verzug und haftet auf Schadensersatz nach §§ 280 I, II, 286 BGB, ggf. nach §§ 280 I, III, 281 BGB, bei nicht nachholbarer Leistung nach §§ 280 I, III, 283 BGB. Erweist sich der AN als ungeeignet oder fällt er aus, z.B. infolge Krankheit, muss der Verleiher zur Vermeidung einer Schadensersatzhaftung Personalersatz stellen. Er sollte sich daher eine Personalreserve halten, zumindest den schnellen Zugriff auf neue AN sichern. 3. Als Hauptleistungspflicht schuldet der Entleiher dem Verleiher die Zahlung der Überlassungsvergütung. Eine dem Verleiher gegenüber bestehende Nebenpflicht des Entleihers kann er z.B. dadurch verletzen, dass er dem Leih-AN einen Körperschaden zufügt, der sich beim Verleiher in Gestalt der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auswirkt und bei einer die Zeit der Überlassung überschreitenden Einsatzunfähigkeit des Leih-AN dessen Weiterverwendung zum Nachteil des Verleihers verzögern. Hierin liegt dann ein nach §§ 280 I, 241 II BGB zum Schadensersatz verpflichtende Schlechterfüllung des Überlassungsvertrages. Der Leih-AN selbst ist im Fall eines im Entleiherbetrieb erlittenen Körperschadens als Versicherter des Entleihers nach Maßgabe des SGB VII geschützt. Kann der Entleiher den Leih-AN in der Überlassungszeit nicht beschäftigen, ist er von seiner Pflicht zur Zahlung der Überlassungsvergütung nicht befreit: Der Entleiher trägt das Verwendungsrisiko. 4. Der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag ist regelmäßig befristet, so dass er mit Fristablauf ohne weiteres endet. Die zusätzliche Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung ist regelmäßig nicht vorgesehen. Eine außerordentliche Kündigung ist nach § 314 BGB, ein Rücktritt nach § 323 BGB bei Verzug oder Schlechtleistung möglich. © Professor Dr. Hunscha 278 Dezember 2015 § 44 Ausschlussfristen/Verfallfristen I. Die Vorschriften der §§ 194 bis 218 BGB über die Verjährung von Ansprüchen gelten – von einigen nicht passenden Regelungen abgesehen – auch für Ansprüche des AN gegen den ArbG und umgekehrt aus dem Arbeitsverhältnis. Gestützt auf § 202 I BGB, der – unglücklich formuliert– zum Ausdruck bringen soll, dass diese Vorschriften – außer bei Haftung wegen vorsätzlichen Tuns – durch Vereinbarung zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner abdingbar sind (= dispositives Gesetzesrecht), enthalten die meisten Tarifverträge, aber auch viele Arbeitsverträge, kaum jedoch Betriebsvereinbarungen, in der Regel Bestimmungen, die die gesetzliche Verjährungsfrist der §§ 195, 199 BGB durch eine sehr viel kürzere Ausschlussfrist verdrängen. Die Praxis begnügt sich also nicht nur damit, die Frist zu verkürzen, sondern setzt an die Stelle der Verjährungsfrist eine Ausschlussfrist. Das bedeutet, dass bei Fristablauf nicht die §§ 214, 215 BGB gelten, sondern der verfristete Anspruch schlicht untergegangen ist. Darum spricht man insoweit auch von Verfallfristen. Der Fristwahrung dient die rechtzeitige schriftliche Aufforderung an den Schuldner, den näher bezeichneten Anspruch zu erfüllen; es genügen im Allgemeinen Fax oder E-Mail. Bei einer zweistufigen Ausschlussfrist muss der Anspruch innerhalb einer zweiten Frist auch eingeklagt werden. II. Da der Arbeitsvertrag als vertragliche Einheitsregelung der gerichtlichen Inhaltskontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB unterliegt, wird hiernach im Falle eines Rechtsstreits eine den AN unangemessen benachteiligende Ausschlussklauseln für unwirksam erklärt. Die von ihr betroffenen Ansprüche verjähren dann wieder gemäß dem gesetzlichen Verjährungsrecht. Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen unterliegen allerdings nicht dem AGB-Recht, da ihre gerichtliche Inhaltskontrolle mit dem Grundsatz der Tarifautonomie des Art 9 III GG nicht vereinbar wäre (§ 310 IV 1 BGB). Sollten trotz grundsätzlich gleichgewichtiger Verhandlungsmacht beider Seiten unangemessene Ausschlussklauseln in einen Kollektivvertrag gelangen, können sie aber mit gleicher Wirkung an der Verbotsvorschrift des § 138 BGB bzw. an der Missachtung der Gebote von Treu und Glauben des § 242 BGB scheitern. Auf der Grundlage der §§ 305 ff. BGB hat die Rechtsprechung für die Rechtswirksamkeit von Ausschlussfristen folgende Maßstäbe entwickelt. ► Die nach § 307 I 1 BGB zulässige Mindestdauer einer Ausschlussfrist beträgt 3 Monate. Eine kürzere Frist ist mit den wesentlichen Grundgedanken des gesetzlichen Verjährungsrechts, von dem abgewichen wird, nicht vereinbar, weil sie die Geltendmachung von Ansprüchen unzumutbar einschränkt (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04 – in NZA 2005, 1111 ff. Rn. 24 ff.; BAG v. 28.9.2005 – 5 AZR 52/05 – in NZA 2006, 149 ff.). Bei einer zweistufigen Ausschlussfrist, bei der der Anspruch innerhalb einer ersten Frist gegenüber dem Schuldner geltend gemacht und innerhalb einer zweiten Frist eingeklagt werden muss, beträgt die Mindestfrist jeweils 3 Monate. ► Eine einseitige Ausschlussklausel, die nur Ansprüche des AN gegen den ArbG erfasst, widerspricht einer ausgewogenen Vertragsgestaltung und benachteiligt den Vertragspartner des Klauselverwenders (das ist der ArbG) entgegen den © Professor Dr. Hunscha 279 Dezember 2015 Geboten von Treu und Glauben unangemessen i.S.d § 307 I 1 BGB (BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR. 545/04 – in NZA 2006, 324 ff. Rn. 27 ff.). ► Eine Ausschlussklauseln wird als überraschende Klausel nach § 305c I BGB dann nicht Vertragsinhalt, wenn sie im Arbeitsvertrag an unerwarteter Stelle versteckt ist (BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04 – in NZA 2006, 324 Rn.25). ► Wegen der weitreichenden Folgen einer Ausschlussklausel erfordert das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB regelmäßig den Hinweis darauf, welche Rechtsfolgen bei nicht fristgerechter Geltendmachung des Anspruchs eintreten. Mindestens muss der Begriff „Ausschlussfrist“ oder „Verfallfrist“ deutlich hervorgehoben werden (BAG v. 31.8.2005 a.a.O.). Darüber hinaus muss für den AN erkennbar sein, von welchem Zeitpunkt an die Ausschlussfrist zu laufen beginnt. Wird im Arbeitsvertrag allein auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgestellt, ist die Klausel nach 307 I 1 BGB wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgedanken in § 199 I Nr. 2 BGB unwirksam. Danach kommt es auf die Fälligkeit des Anspruchs unter Einbeziehung des Kenntnisstandes des Anspruchsinhabers (hier: des AN) „und subjektiver Zurechnungsgesichtspunkte“ (= Unkenntnis des AN infolge grober Fahrlässigkeit) an (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 511/05 – in NZA 2006, 394 ff. Rn. 14). ► Ansprüche aus vorsätzlichem Tun, deren gesetzliche Verjährung nach § 202 I BGB nicht abbedungen werden darf, sollten aus dem Anwendungsbereich der Ausschlussklausel ausdrücklich ausgenommen werden. Es droht sonst die Unwirksamkeit des ganzen Klausel wegen eines unzulässig miterfassten Falles nach dem Vorbild der Rechtsprechung zu pauschalen Freiwilligkeitsvorbehalten (oben § 4 II. 3. b). III. Beiderseitige Tarifgebundenheit vorausgesetzt, können nach § 4 IV 3 TVG Ausschluss- bzw. Verfallfristen für die Geltendmachung tarifvertraglicher Ansprüche nur im Tarifvertrag und nicht etwa im Arbeitsvertrag vereinbart werden.. Weist der ArbG entgegen § 2 I 2 Nr. 10 NachwG den AN nicht auf den anwendbaren Tarifvertrag hin und versäumt der AN eine dort vereinbarte Ausschlussfrist, kann der ArbG dem AN nach § 280 I BGB schadensersatzpflichtig sein. © Professor Dr. Hunscha 280 Dezember 2015 Ende In der Praxis werden in den Betrieben zunehmend Arbeitszeitkonten gebildet, auf denen die Überstunden mit ihrem Lohnwert gutgeschrieben werden. Oft werden auf diese Weise bis zu 300 Stunden angespart. Je nach Vereinbarung können es weniger, aber auch wesentlich mehr Stunden sein. Es gibt in diesem Bereich keine gesetzliche Regelung. Die Verwendung dieser Gutschriften dient zunehmend der Finanzierung von Arbeitsausfällen infolge von Umsatzeinbrüchen. Muss in einem Unternehmen unter der betriebsüblichen Arbeitszeit gearbeitet werden, erhalten die AN dennoch ihren vollen Arbeitslohn aus den gutgeschriebenen Überstunden. In vielen Unternehmen kann das Arbeitszeitkonto auch unter null fallen, wenn der ArbG die Vergütung dann als Vorschuss zahlt, der bei anziehender Konjunktur mit den dann wieder notwendig werdenden Überstunden verrechnet wird. Vor der Inanspruchnahme der Arbeitszeitkonten wegen Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit wird in den Betrieben regelmäßig zuerst einmal die Leiharbeit abgebaut. Als ergänzende Maßnahme bieten sich vom Urlaub abgebuchte Brückentage sowie die Einführung von Betriebsferien an. Nach Verbrauch der Mittel aus den Arbeitszeitkonten kommt es zur Anordnung von Kurzarbeit (siehe nachfolgend unter 2.). Als Maßnahme zur Überwindung wirtschaftlicher Flauten sind betriebsbedingte Kündigungen nur wenig geeignet, denn sie belasten den ArbG nicht nur durch Abfindungszahlungen, sondern auch durch die Tatsache, dass er bei einer Verbesserung der Wirtschaftslage neue Mitarbeiter genauso kostenträchtig anwerben und einarbeiten muss. Vor diesem Hintergrund muss erkannt werden, dass das Arbeitsrecht ein breites personalpolitisches Instrumentarium bietet, eine Rezession verhältnismäßig lange unter Beibehaltung seines eingearbeiteten Mitarbeiterstammes zu ertragen. I. Die individuelle und die kollektive Dimension des Arbeitsverhältnisses II. Die rechtliche Einordnung des Arbeitsverhältnisses III. Das Kriterium der Unselbständigkeit der Dienstleistung des Arbeitnehmers und seine soziale Schutzbedürftigkeit IV. Das arbeitsrechtliche Unternehmerrisiko V. Die Abgrenzung des Arbeitnehmers von anderen Beschäftigten VI. Erscheinungsformen des Arbeitsverhältnisses I. Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis und ihre Rechtsgrundlagen 1, Vertrag und Gesetz als Rechtsquellen 2. Das Richterrecht als gesetzesähnliche Rechtsquelle 3. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers als vertragsausfüllende Rechtsquelle 4. Gesamtzusage und Betriebliche Übung als vertragsergänzende Rechtsquellen 5. Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung als kollektivvertragliche Rechtsquellen II. Die Rangordnung der Rechtsquellen im Überblick I. Einfachgesetzliche Vorschriften II. Die Entstehung und Geltungskraft des Richterrechts III. Die Bedeutung des Grundgesetzes für das Arbeitsrecht 1. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit durch Art. 9 III GG 2. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte 3, Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz IV. Supranationales EU-Recht © Professor Dr. Hunscha I. 281 Dezember 2015 Der Arbeitsvertrag als privatautonomer Rechtsakt 1, Grenzen der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit 2. Insbesondere die richterliche Inhaltskontrolle des Arbeitsvertrages nach Maßgabe des AGB-Rechts II. Die Gesamtzusage III. Die Betriebliche Übung IV. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers I. Der Tarifvertrag als Mittel koalitionsgemäßer Betätigung II. Inhalt und Wirkungen des Tarifvertrages III. Der Arbeitskampf als Instrument der Tarifautonomie 1. Die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines Streiks 2. Die Abwehraussperrung durch die Arbeitgeberseite IV. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages gemäß § 5 TVG V. Die Geltungserstreckung tarifvertraglicher Normen nach Maßgabe des AEntG VI. Mitarbeiterentgelte durch Rechtsverordnung nach Maßgabe des MiArbG I. Die Wahl des Betriebsrates II. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates III. Die Rechtswirkungen der Betriebsvereinbarung IV. Einschränkungen des Geltungsbereichs der Betriebsverfassung V. Der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten I. Das Verhältnis des einfachen Gesetzesrechts zu nachrangigen Regelungen II. Das Verhältnis der Normen eines Tarifvertrages zu nachrangigen Regelungen 1. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 III Altn. 2 TVG 2. Tarifvertragliche Öffnungsklauseln nach § 4 III Altn. 1 TVG und § 77 III 2 BetrVG III. Einzelheiten zum Tarifvorbehalt und zum Tarifvorrang IV. Das Verhältnis der Normen einer Betriebsvereinbarung zu nachrangigen Regelungen V. Die Rangordnung aller Gestaltungsfaktoren I. Die Arbeitsgerichtsbarkeit II. Zwei Verfahrensarten 1. Das Beschlussverfahren 2. Das Urteilsverfahren I. Die Abschlussfreiheit des Arbeitgebers II. Vorbereitende Maßnahmen 1. Die innerbetriebliche Ausschreibung von Arbeitsplätzen nach § 93 BertVG 2. Die Verwendung von Personalfragebögen und die Aufstellung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze nach § 94 BetrVG 3. Die Aufstellung von Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG III. Das Erfordernis diskriminierungsfreier Ausschreibung IV. Informationsrechte des Arbeitgebers und seine Befugnis zur Anfechtung des Arbeitsvertrages bei Informationsdefiziten V. Vorvertragliche Aufklärungs- und Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers VI. Der Anspruch des Stellenbewerbers auf Ersatz der Vorstellungskosten VII. Rechtsfolgen bei Nichtantritt der Arbeit © Professor Dr. Hunscha 282 Dezember 2015 Hinweis: Vgl. die Problematik bei der Rückzahlung von Kosten, die der ArbG für die Ausbildung des AN aufgewendet hat. Gemäß § 12 II Nr. 1 BBiG unzulässig sind Rückzahlungsvereinbarungen mit Auszubildenden in Ansehung der Kosten der Berufsausbildung. Bei vom ArbG finanzierter Aus- und Fortbildung, die den „Marktwert“ des AN steigert, kann je nach Dauer, Qualität und Kosten der Bildungsmaßnahme eine u.U. nach Jahren degressiv gestaffelte Rückzahlungspflicht des AN vereinbart werden, wenn er den Betrieb vor Ablauf von 3 bis 5 Jahren verlässt. Nachfolgend unter II. 5.: § 308 Nr. 5 BGB: Durch Schweigen der AN auf einen dreimaligen nachträglichen Freiwilligkeitsvorbehalt des ArbG bezüglich einer Weihnachtsgratifikation entsteht keine gegenläufige Betriebliche Übung (BAG v.25.11.2009 - 10 AZR 779/08 - in NZA 2010, 283). Nachfolgend unter II. 3. sowie unten § 11 I. 2.: §§ 305b, 307 I BGB: Eine im Arbeitsvertrag enthaltene doppelte Schriftformklausel scheitert am Vorrang individuelle Vertragsabreden. Sie kann aber das Entstehen einer Betrieblichen Übung verhindern, wenn sie den Vorrang individueller Vertragsabreden nicht in Frage stellt (BAG v.20.5.2008 - 9 AZR 382/07 - in NZA 2008, 1233). Unten § 12 III. 2./3.: § 307 I 1, II Nr. 1 BGB: Die formularmäßige Festlegung von Arbeit auf Abruf über eine vertragliche Mindestarbeitszeit hinaus ist nur dann angemessen, wenn sie nicht mehr als 25 % der vereinbarten Arbeitszeit beträgt. Eine vereinbarte Höchstarbeitszeit darf um bis zu 20 % verringert werden (BAG v.7.12.2005 - 5 AZR 535/04 - in NZA 2006, 423). Unten § 15 II. 2. b) § 307 I 1, II Nr. 1 BGB; § 307 I 2 BGB: Eine arbeitsvertragliche Versetzungsklausel ist unangemessen, wenn sich der ArbG darin vorbehält, ohne den Ausspruch einer Änderungskündigung einseitig die vertraglich vereinbarte Tätigkeit unter Einbeziehung geringerwertiger Tätigkeiten zu Lasten des AN verändern zu können (BAG v.25. 8. 2010 - 10 AZR 275/09 - Rn. 26 ff. in NZA 2010, 1355 ff.). Bestimmt der ArbG durch die Versetzungsklausel hingegen lediglich den Umfang der vom AN geschuldeten Leistung, so entspricht dies der Regelung des § 106 GewO. Die nähere Bestimmung der Hauptleistung unterliegt nicht einer Inhaltskontrolle nach § 307 I 1 BGB, sondern ausschließlich der Transparenzkontrolle des § 307 I 2 BGB (BAG v.25.8.2010 a.a.O. Rn.21 ff.; BAG v.19.1.2011 - 10 AZR 738/09 - in NZA 2011, 631 ff. Rn.15 ff.). Unten § 16 II. 4. b (1): § 307 I 1, II. Nr. 1 BGB: Der formularmäßige Freiwilligkeitsvorbehalt in Ansehung einer monatlich zahlbaren Leistungszulage, die nicht ausdrücklich an besondere Voraussetzungen geknüpft ist, benachteiligt den AN unangemessen (BAG v.25.4.2007 - 5 AZR 627/06 - in NZA 2007, 853). Unten 3 16 II. 3. b): Eine in ABG enthaltene Stichtagsregelung, die die Gewährung einer Jahressonderzahlung auch für bereits erbrachte Arbeitsleistung vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses im Bezugsjahr oder zu einem späteres Zeitpunkt abhängig macht, verstößt gegen § 307 I 1 BGB (BAG v.18.1.2012 – 10 AZR 612/10 – in NZA 2012, 561; BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12 – in NZA 2014, 368). Unten § 16 III. 2.a): § 307 I 2 BGB: Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot liegt vor, wenn der ArbG sich in einem von ihm vorformulierten Arbeitsvertrag zunächst uneingeschränkt zu einer Bonuszahlung verpflichtet und im Widerspruch dazu in einer anschließenden Vertragsklausel einen Rechtsanspruch des AN auf eine Bonuszahlung durch Freiwilligkeitsvorbehalt ausschließt (BAG v.24.10.2007 - 10 AZR 825/06 - in NZA 2008, 40). Unten § 16 III. 2. b): §§ 307, 308 Nr. 4 BGB: Ein formularmäßiger Widerrufsvorbehalt des Inhalts, dass dem ArbG das Recht zustehen soll, „übertarifliche Lohnbestandteile jederzeit unbeschränkt zu widerrufen“ ist unwirksam (BAG v.12.1.2005 - 5 AZR 364/04 - in NZA 2005, 465). © Professor Dr. Hunscha 283 Dezember 2015 Die im Bereich des Individualarbeitsrechts entstehenden Auseinandersetzungen zwischen ArbG und AN bezeichnet § 2 I Nr. 3 ArbGG als bürgerliche Rechtsstreitigkeiten „aus dem Arbeitsverhältnis“ und fügt klarstellend hinzu, dass es dabei auch um den Rechtsstreit „über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses“, „aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und dessen Nachwirkungen“, „aus unerlaubten Handlungen, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis in Zusammenhang stehen“ und „über Arbeitspapiere“ geht. Häufiger Streitgegenstand sind Klagen des AN gegen den ArbG auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses wegen Unwirksamkeit der arbeitgeberseitigen Kündigung (§ 4 Satz 1 KSchG) oder wegen Unwirksamkeit der Befristung des Arbeitsverhältnisses (§ 17 Satz 1 TzBfG). In den Fällen, in denen der Kläger vom Gericht nicht die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung verlangt, sondern die Feststellung, dass zwischen ihm und dem Beklagten eine bestimmte Rechtslage besteht, spricht man nicht davon, dass er gegenüber dem Beklagten einen Anspruch geltend macht; denn nach § 194 I BGB ist der Anspruch auf eine Leistung des Anspruchsgegners („Tun oder Unterlassen“) gerichtet. Da die Feststellungsklagen aber in jedem Fall dem Zweck dienen, das Recht des AN auf seinen Arbeitsplatz dem ArbG gegenüber gerichtlich durchzusetzen, dürfte dem nichts entgegenstehen, in diesen Fällen von einem Anspruch zumindest im weiteren Sinne zu sprechen. Neben den genannten Feststellungsklagen kommt es vielfach auch zu Leistungsklagen des AN gegen den ArbG zur Durchsetzung von Ansprüchen (im engeren und eigentlichen Sinne) vor allem auf Vergütung, Schadensersatz, Aufwendungsersatz, Freistellung, Urlaub oder Zeugniserteilung sowie umgekehrt zu Leistungsklagen des ArbG gegen den AN zur Durchsetzung von Ansprüchen (im engeren und eigentlichen Sinne) auf Schadensersatz, Rückforderung von Zahlungen, Auskunft und Rechenschaft oder Herausgabe von Erlangtem (unten § 8 II. 2.). in denen der ArbG schon vor dem Ausspruch einer außerordentlichen oder bei Ausspruch der ordentlichen Kündigung den AN wegen Sicherheitsbedenken von der Arbeit einseitig freistellt und unter Verstoß gegen § 615 Satz 1 BGB nicht mehr entlohnt.