agile – Behinderung und Politik Ausgabe 3-08 Schwerpunkt: Die wahren Experten zur IV-Zusatzfinanzierung herausgegeben von Behinderung und Politik 3/08 INHALTSVERZEICHNIS EDITORIAL Eine schwierige Kampagne steht uns bevor ............................................................... 3 SCHWERPUNKT IV-Zusatzfinanzierung – Mit Erfahrung überzeugen ................................................... 4 Von Eva Aeschimann FTIA (Federazione Ticinese Integrazione Handicap) ................................................. 5 Von Lorenzo Giacolini SGMK (Schweizerische Gesellschaft für Muskelkranke) ............................................ 7 Von Francisca Boenders SGB (Schweizerischer Gehörlosenbund) ................................................................... 9 Von Stéphane Faustinelli APhS (Die Angst- und Panikhilfe Schweiz)............................................................... 11 Von Marco Todesco visoparents schweiz, Eltern blinder, seh- und mehrfachbehinderter Kinder ............. 13 Von Marlis Plozza SOZIALPOLITIK Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 15 Von Ursula Schaffner Motoren des Monitoring 5. IVG-Revision kommen auf Touren ................................. 20 Von Ursula Schaffner Einführung Assistenzentschädigung in der nächsten Runde .................................... 20 Von Ursula Schaffner GLEICHSTELLUNG Kampagne zum Jubiläum des BehiG 2009 .............................................................. 22 Von Eva Aeschimann Antidiskriminierungsrecht im Erwerbsleben: Vergleich Schweiz - EU....................... 23 Von Tarek Naguib VERKEHR Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 26 BILDUNG Kursprogramm 2008 ................................................................................................. 27 Von Catherine Corbaz BEHINDERTENSZENE 3. Dezember 2008: «Assistenz, ein Recht für alle!» ................................................ 28 MEDIEN Workfare ................................................................................................................... 29 Für Sie gelesen von Bettina Gruber Peter Lundt und … - seine Fälle ............................................................................... 32 Für Sie gehört von Bettina Gruber IMPRESSUM ............................................................................................................ 34 2 Behinderung und Politik 3/08 EDITORIAL Eine schwierige Kampagne steht uns bevor An der Sommersession konnte sich das Eidgenössische Parlament endlich auf eine Lösung für die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung einigen. Dies ist ein – zwar noch immer ungenügender - Schritt hin zur Konsolidierung dieses Sozialwerks. AGILE begrüsst den Entscheid, obwohl die vorgeschlagene Mehrwertsteuererhöhung um 0,4 Prozent nicht ideal ist. Diese Erhöhung ist nicht nur gering und befristet, wie AGILE während der Parlamentsdebatten betonte, sondern auch insofern ungerecht, als die schwächsten Bevölkerungsgruppen am stärksten getroffen werden! Aus meiner Sicht wäre deshalb eine Erhöhung der Lohnabgaben sozialer gewesen. Die IV-Zusatzfinanzierung wird im nächsten Frühling Volk und Ständen zur Zustimmung vorgelegt, da sie einer Verfassungsänderung bedarf. Wie bei jedem Kompromiss, der erst nach zähem Ringen erzielt wird und deshalb für alle Seiten wenig zufriedenstellend ist, wird die Kampagne nicht einfach sein. AGILE hofft deshalb auf ein starkes Engagement der Parteien, da die Menschen mit Behinderung und die chronisch kranken Personen deren Solidarität brauchen. Am 1. Juli wurde ein Verein zur Koordination der Abstimmungskampagne gegründet, geleitet von Organisationen aus dem Behindertenwesen. Urs Dettling von Pro Infirmis präsidiert den Verein, welcher bereits 17 Mitglieder zählt, darunter die wichtigsten Institutionen des Landes. Es sind auch Organisationen vertreten, die sich bei der Kampagne gegen die 5. IV-Revision äusserst zurückhaltend gezeigt hatten. Die Organisationen werden ihre Mitglieder davon überzeugen müssen, sich in der Kampagne zu engagieren, da es niemals einfach ist, eine Steuererhöhung in einer Volksabstimmung durchzubringen. Noch schwieriger wird es im Fall der Finanzierung einer Institution, die in den letzten Jahren als zu lasch betitelt wurde. AGILE appelliert an seine Mitglieder, sich für die Vorlage einzusetzen. Wird die Vorlage in der Volksabstimmung angenommen, so wird es möglich, die Rechte und Interessen von Menschen mit Behinderung stärker anzuerkennen. Wie soll dies erreicht werden? Neben einer Einleitung zur Abstimmungsvorlage in dieser Nummer von «agile – Behinderung und Politik» nehmen einige unserer Mitgliedsorganisationen Stellung zu Fragen der «agile»-Redaktion bezüglich IV-Zusatzfinanzierung. Die Antworten weiterer Mitglieder werden auf unserer Webseite und in einem speziellen Newsletter während der Abstimmungskampagne publiziert. Die Mobilisierung der Basis der Selbsthilfe ist die Stärke von AGILE. Darin besteht auch die Hauptaufgabe, die wir uns im Rahmen dieser Kampagne gestellt haben. Damit wir gemeinsam zum Erfolg gelangen! Roger Cosandey, Co-Präsident von AGILE Übersetzung: Susanne Alpiger 3 Behinderung und Politik 3/08 SCHWERPUNKT IV-Zusatzfinanzierung – Mit Erfahrung überzeugen Eva Aeschimann, Bereichsleiterin Öffentlichkeitsarbeit, AGILE Im ersten Halbjahr 2009 stimmt das Schweizer Volk über die IV-Zusatzfinanzierung ab. Dieser Urnengang ist für Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke von grosser Bedeutung. Nicht zuletzt geht es um die Sicherung der Invalidenversicherung als Volksversicherung. AGILE als Dachverband von über 40 Behindertenorganisationen engagiert sich mit allen Mitteln für die Annahme dieser Vorlage. Gemeinsam mit den Mitgliedorganisationen will AGILE den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern vor Augen führen, was für die Betroffenen von der Annahme dieser Abstimmung abhängt. In dieser Ausgabe von «agile – Behinderung und Politik» zeigen Mitglied-Organisationen aus allen Sprachregionen, welche Bedeutung die Invalidenversicherung als Volksversicherung für einzelne Menschen hat. IV finanziell sichern Nach langem Ringen, Rechnen und Rappenspalten haben sich National- und Ständerat im Sommer doch noch für die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung ausgesprochen. Die Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben damit ein Versprechen gegenüber Menschen mit Behinderung eingelöst, das sie bei der Debatte der Revision abgegeben haben: die finanzielle Sicherung der IV. Mittels Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent während (magischen?) sieben Jahren wird ein erster Schritt zur Sicherung ermöglicht. Zudem wird die IV aus der AHV mit der Bildung eines eigenen Fonds ausgegliedert. Die mit der Vorlage verbundene Mehrwertsteuer-Erhöhung reisst wohl niemanden aus den Socken. Denn, wer zahlt schon gerne mehr Steuern? Ausser vielleicht, er oder sie erkennt, für welchen sinnvollen Zweck und wie zielgerichtet diese Steuergelder eingesetzt werden. Die Mehrwertsteuer-Erhöhung für die IV sichert deren bisherigen Wert für Menschen mit Behinderung. Dies gilt es, den Stimmberechtigten aufzuzeigen. Am glaubwürdigsten vermitteln diese Botschaft die Erfahrenen, die Betroffenen selbst, Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke. Denn noch immer glauben zu viele Menschen in unserem Land, die Leistungen der IV könnten weiter abgebaut werden. Bedeutung der IV und ihrer Leistungen für Menschen mit Behinderung Die Basis von AGILE, also ihre Mitgliedorganisationen haben sich in den letzten Wochen mit Fragen zur IV als Sozialversicherung auseinandergesetzt. Als ExpertInnen in eigener Sache und damit glaubwürdig und authentisch. Eine Auswahl der Antworten zu Fragen von «agile – Behinderung und Politik» finden Sie hier: 4 Behinderung und Politik 3/08 Zum Beispiel: FTIA (Federazione Ticinese Integrazione Handicap) Kontakt: Lorenzo Giacolini, Geschäftsführer, Federazione Ticinese Integrazione Andicap FTIA, E-Mail: [email protected] Kurzportrait der Organisation: Die FTIA ist eine Selbsthilfe-Organisation mit 1'200 Mitgliedern. Dabei handelt es sich um Menschen mit einer körperlichen, Sinnes-, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer chronischen Krankheit. Die Hauptziele der FTIA sind: Förderung der Integration in die Gesellschaft vor allem von Menschen mit einer Körperbehinderung, dies durch die Bekämpfung von Marginalisierung. Förderung gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die die Integration unterstützen. Schaffung von Arbeitsplätzen und Berufsausbildungsplätzen und eines Angebots an Dienstleistungen, sowie die Förderung von Aktivitäten im Bereich Sport. Die FTIA agiert zudem als treibende Kraft und Gesprächspartnerin bei Behörden, wenn es um Fragen in Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung geht. agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören? Für mich ist klar, was die Invalidenversicherung ist, auch wenn meines Erachtens ein Laie üblicherweise denkt, die IV sei ein Synonym für Rente. agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der FTIA? Darauf habe ich keine Antwort, da die FTIA noch nie eine derartige Umfrage unter ihren Mitgliedern durchgeführt hat. agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder? Ohne sichere Daten liefern zu können, beanspruchen FTIA-Mitglieder wahrscheinlich alle Leistungen der IV, von jenen für die Schul- und Berufsbildung bis hin zu den medizinischen und finanziellen. Zudem beanspruchen sie Kollektivleistungen, da sie direkt oder indirekt von den Dienstleistungen der FTIA profitieren, die ja teilweise von IV-Beiträgen finanziert werden (Art. 74). agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV? Sicherlich nicht, auch wenn in den Rechnungen der IV die Renten bei weitem den grössten Anteil der Ausgaben ausmachen. agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird? Im Allgemeinen hatte die IV schon immer einen schlechten Ruf. Das hat damit zu tun, dass bis vor ein paar Jahren praktisch sämtliche Gesuche um Leistungen bewilligt wurden. Bis vor einem Jahrzehnt war eine Ablehnung einer Rente kein Thema. Ein Parallel-Beispiel sind die Kollektivleistungen: Bis 1995 wurde jeder korrekt einge5 Behinderung und Politik 3/08 reichte Antrag auf finanzielle Unterstützung bewilligt. Und zwar gemäss den damaligen Kriterien; sei dies im Bereich von Dienstleistungen oder im Bereich Institutionen. agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören? Die Halbierung der Renten-Zahl als Folge tatsächlicher Berufsintegration von Personen, die damit keine Rente mehr benötigen. agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen? Wenn sich jemand für das Thema interessiert, dann wird er oder sie auch alles dafür tun, um andere von einem Ja für die IV zu überzeugen. Die Zusatzfinanzierung ist die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass man auch in der Zukunft weiterhin IV-Leistungen erhält. Ein zweites Argument ist für jene gedacht, die derzeit keine IV-Leistung beziehen. Falls es nicht gelingt, die IV-Finanzierung langfristig sicher zu stellen, dann gibt es für die Zukunft keine Garantie mehr dafür, dass man bei Bedarf die vom Gesetz vorgesehenen IV-Leistungen überhaupt noch erhält. agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation? Die Folge einer fehlenden langfristigen Finanzierung ist die Reduktion der IV-Leistungen, insbesondere der Renten. Die Kosten, die sich daraus ergeben, würden sich auf andere Sozialversicherungen verschieben (Ergänzungsleistungen und öffentliche Hilfe). Viele FTIA-Mitglieder haben eine geistige Behinderung, für die sich das Problem nicht als schwerwiegend erweist: Sie werden tiefere Renten erhalten, aber der Staat wird dies mit Ergänzungs- oder Zusatzleistungen kompensieren müssen. Dies erlaubt ihnen wiederum, Taggeld an die Institutionen zu zahlen. Oder, wenn sie daheim leben, für die Unterstützung zu Hause. Mitglieder mit einer durch Krankheit verursachten körperlichen Behinderung (insbesondere chronische oder langfristige Krankheiten) oder jene mit einer psychischen Behinderung könnten auf mehr Probleme stossen, da sie theoretisch für arbeitsfähig erklärt würden, jedoch ohne reale Aussicht, auch einen Arbeitsplatz zu finden. Hat eine betroffene Person Familie, dann würden die wirtschaftlichen Probleme spürbar zu nehmen. Übersetzung: Corinne Pellegrino 6 Behinderung und Politik 3/08 Zum Beispiel: SGMK (Schweizerische Gesellschaft für Muskelkranke) Kontakt: Francisca Boenders, Sozialarbeiterin FH, E-Mail: [email protected] Kurzporträt der Organisation: Die Gesellschaft für Muskelkranke ist eine gemeinnützige Organisation, die die Interessen und Anliegen von Menschen mit einer Muskelkrankheit vertritt. Mitglieder der Gesellschaft für Muskelkranke sind Betroffene und ihre Angehörigen, Fachpersonen sowie Personen, die die Ziele der Gesellschaft für Muskelkranke unterstützen. Die Gesellschaft für Muskelkranke strebt eine Zukunft an, in der alle Menschen mit einer Muskelkrankheit bestmöglich leben können – selbstbestimmt und gleichgestellt. Die Gesellschaft für Muskelkranke setzt sich mit Blick auf diese Zukunft überall dort ein, wo die Bedürfnisse von Menschen mit einer Muskelkrankheit und die ihrer Angehörigen anderswo nicht oder ungenügend abgedeckt sind. agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören? Eine Versicherung, welche sehr viel Energie und Ressourcen benötigt, damit die Betroffenen zu den Leistungen kommen. Eine Versicherung, welche für Arbeitnehmer im Erwerbsalter ist. Falls eine Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall eintritt, soll sie das Existenzminimum sichern und Betroffene beraten, damit diese eine angepasste andere Tätigkeit verrichten können. Eine Versicherung, welche Hilfsmittel zur Verfügung stellt, damit der Arbeitsplatz erhalten bleiben kann, der Alltag einfacher zu bewältigen ist oder eine Versicherung, welche präventiv wirken soll, damit der Arbeitsplatz erhalten bleiben kann. IV Kürzungen Gerechtigkeitsanspruch agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der Gesellschaft für Muskelkranke? Unterstützung um ihren Alltag zu bewältigen, oft reichen die finanziellen Mittel der IV nicht, um den Alltag zu bewältigen, die lebensnotwendigen Hilfsmittel zu finanzieren oder die baulichen Massnahmen vorzunehmen. Es muss ein sehr grosses Wissen vorhanden sein, um an die minimalen Leistungen zu gelangen. agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder? Hilfsmittel Hilflosenentschädigung Renten Wenig berufliche Massnahmen agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV? 7 Behinderung und Politik 3/08 Für unsere Mitglieder nicht. Hilfsmittel und bauliche Massnahmen sind ein grosses Thema. agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird? Es ist schwer, die einzelnen Schicksale abzuwägen und zu beurteilen. In den Schlagzeilen werden nur immer die «Schwarzen Schafe» gezeigt. agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören? Integration und Prävention Gerechtigkeit und Fairness agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen? Wenn wir unser System beibehalten möchten, dass für die älteren Menschen und kranken/behinderten Menschen in der Gesellschaft gesorgt wird, müssen wir dies irgendwie bezahlen. Werden die Leistungen der IV immer vermindert, wird dies die Gesellschaft mit Steuergeldern via Sozialhilfe bezahlen müssen. Dies ist ein Weg, den ich persönlich als diskriminierend empfinde. Wenn das Gesetz richtig angewendet wird, und die IV ihre Aufgabe mit dem entsprechenden Manpower richtig wahrnimmt und die IV glaubwürdiger wird, dann ist es gut vertretbar, dass wir mehr Steuerprozente bezahlen. agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation? Muss mehr über private Organisationen finanziert werden Sozialhilfe wird mehr beansprucht Krankheitskosten wegen Spital – Pflegeheimaufenthalte werden teuerer Diskriminierung, weiter weg von der Selbstbestimmung und Gleichstellung 8 Behinderung und Politik 3/08 Zum Beispiel: SGB (Schweizerischer Gehörlosenbund) Kontakt: Stéphane Faustinelli, Mitglied der Geschäftsleitung, 16, ave de Provence, 1007 Lausanne, E-Mail: [email protected] Kurzporträt der Organisation: Der SGB-FSS ist in drei Sprachregionen gegliedert: Deutschschweiz und Liechtenstein Romandie Italienischsprachige Schweiz Der SGB-FSS setzt sich dafür ein, die Eigenständigkeit der Gehörlosen und Hörbehinderten in der Schweiz (und in Liechtenstein) zu gewährleisten, die Solidarität unter Gehörlosen zu fördern und ihnen eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Er fordert gleiche Rechte und Chancen für Gehörlose und Hörbehinderte. Er setzt sich ein für ihre soziale, kulturelle und sprachliche Unabhängigkeit. Er sensibilisiert für die Probleme von Gehörlosen und Hörbehinderten, um ihre Integration zu fördern. Er ist nicht gewinnorientiert. agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören? Die Invalidenversicherung ist mit der Arbeitsunfähigkeit verknüpft, d.h. mit einer Arbeitsverhinderung wegen einer angeborenen oder auf einen Unfall zurückzuführenden Behinderung. Der Begriff «Invalidität» sollte durch den Begriff «mit Behinderung» ersetzt werden. agile. Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder des Schweizerischen Gehörlosenbunds? Durch die IV wird die schulische, berufliche und soziale Bildung finanziell unterstützt, weiter werden Mehrkosten kompensiert für den Kauf von Hilfsmitteln wie Lichtrufanlagen, Schreibtelefonen und andere Hilfsmittel (visuelle Rufanzeigen) sowie für Unterstützungsleistungen durch Menschen (Dolmetscher, Betreuung etc.). agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder? Hilfsmittel, Gebärdendolmetscher, durch die Behinderung im Bereich der Ausbildung entstehende Kosten, seltener Renten. agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV? Für die Gehörlosen ist die IV eher für Massnahmen für die berufliche Eingliederung und für Hilfsmittel von Bedeutung. In der Regel wünschen Gehörlose keine IV-Rente, fühlen sich aber «gezwungen», eine Rente zu beziehen, da sie keine Stelle finden. 9 Behinderung und Politik 3/08 Allerdings gibt es relativ wenig Gehörlose, die eine Rente erhalten, und in letzter Zeit wurden viele Renten gestrichen oder reduziert. agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird? Was die Hilfsmittel anbelangt, so sind die Leistungen der IV angemessen; für die Bewältigung des Alltags der Gehörlosen sind sie unabdingbar. Wir sind nicht der Meinung, dass es sich bei der IV um einen «Selbstbedienungsladen» handelt. Hinsichtlich der Gebärdendolmetscher haben wir gegenwärtig ernstliche Probleme, vor allem für die Dolmetscher als «Dienstleistungen Dritter» am Arbeitsplatz. agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören? Wir mögen diesen Begriff nicht. Auch bei der SVP gab es einen Schein-Invaliden! Die IV müsste in Bezug auf die Ergebnisse, Statistiken und konkreten Fälle transparenter sein. Es ist einfach, die «Schein-Invaliden» zu kritisieren. Die IV-Stellen müssten auch Selbstkritik üben. Die IV ist zu bürokratisch, ihre Mitarbeitenden verstehen oft nichts von Gehörlosen und Hörbehinderten. Die IV-Stellen selbst stellen keine Gehörlosen ein, entscheiden aber über sie. Zu häufig treffen die IV-Stellen befremdliche und formalistische Entscheidungen für diese Menschen «mit Behinderung», anstatt eine geeignete Lösung zur Vermeidung von Renten zu finden. agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen? Bei einem «NEIN» droht die Gefahr, dass man wieder einen Schritt zurück macht, d.h. einen Schritt in die Isolierung und die Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die Verschlechterung der sozialen Integration, eine schlechte Qualität der Ausbildung. Ein «JA» hingegen würde es ermöglichen, die finanzielle Unterstützung und die Lebensqualität der Menschen mit Behinderung zu erhalten. agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation? Die Verschuldung der IV würde wachsen, die Leistungen wären reduziert, so dass die Gehörlosen und Hörbehinderten einen kleineren Anspruch oder überhaupt keinen Anspruch beispielsweise auf Gebärdendolmetscher mehr hätten. Sie könnten keine Ausbildungen mehr absolvieren und nicht mehr in Berufen arbeiten, in denen sie manchmal einen Dolmetscher benötigen. Das würde zu schlecht ausgebildeten Hörbehinderten und chronisch Arbeitslosen führen. Übersetzung: Susanne Alpiger 10 Behinderung und Politik 3/08 Zum Beispiel: APhS (Die Angst- und Panikhilfe Schweiz) Kontakt: Marco Todesco, Präsident APhS E-Mail: [email protected] Kurzporträt der Organisation: Der Verein APhS ist eine Selbsthilfeorganisation mit rund 300 Mitgliedern. Er vertritt die Interessen von Patienten, die an einer Angststörung leiden und bietet: Hilfe Beratung Informationen Möglichkeit zur Diskussion zwischen Patienten /Angehörigen /Fachleuten Der Leidensdruck ist oft enorm. Viele ziehen sich zurück, verlieren ihre Arbeit und geraten in finanzielle Nöte, aus denen sie sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien können. Ziel ist Enttabuisierung und Entstigmatisierung. Durch rechtzeitige kompetente Hilfe/Information kann geholfen werden; Staat und Krankenkassen können Kosten einsparen. agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören? Mehrheitlich Ärger, Frustration, Willkür. Auch Abhängigkeit, Angst. Eine Versicherung, die eigentlich den Auftrag hat, psychisch und körperlich Behinderte in jeglicher Form zu unterstützen, welche nicht mehr in der Lage sind ihren Lebensunterhalt selbständig zu erarbeiten. agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der Angst- und Panikhilfe Schweiz? Für einige therapieresistente Patienten, die einzige Möglichkeit, also Lebensunterhalt, Leben. Inkompetentes Beamtenwesen mit grösstenteils Unverständnis für psychische Erkrankungen. Nach der 5. IV-Revision ist davon auszugehen, dass allgemein Menschen mit psychischen Leiden, insbesondere Betroffene mit Angststörungen und Depressionen, auch weiterhin diskriminiert und missverstanden werden. agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder? Rente, Umschulungsmassnahmen agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV? Aus der Sicht unserer Mitglieder ja. Zurzeit sieht es wohl eher danach aus, als müsste die IV auch ohne Mitwirkungspflicht der Arbeitgeber ausschliesslich zu einer Eingliederungsversicherung mutieren. agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird? 11 Behinderung und Politik 3/08 Politische Ansichten einzelner Parteien /-vertreter. agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören? Hilfe, Empowerment, Beratung, Unterstützung, Begleitung, Existenzsicherung, Einfühlungsvermögen. agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen? Antwort: ??? agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation? Durch Verlagerung der Problematik auf ALV und Sozialfürsorge vermehrte psychische Belastung (insbes. für Angstpatienten, miserable Voraussetzung für eine Genesung). Verschlechterung der gesundheitlichen und Allgemeinsituation. Isolation, Ausgrenzung. Befürchtung: Anstieg der Suizidalrate bei Angstpatienten. 12 Behinderung und Politik 3/08 Zum Beispiel: visoparents schweiz, Eltern blinder, seh- und mehrfachbehinderter Kinder Kontakt: Marlis Plozza, Buchhaltung E-Mail: [email protected] Kurzporträt der Organisation: visoparents schweiz ist der Elternverein blinder, seh- und mehrfachbehinderter Kinder. Wir beraten die Eltern, damit ihr behindertes Kind die bestmögliche Förderung erhält. Wir bieten selbst Früherziehung und Low Vision-Abklärungen an, führen ein Kinderhaus und eine Tagesschule. Auch die Unterstützung der Eltern ist uns wichtig. Neben Informationen, Kontakthilfe zu Behörden, Schulen und Spitälern, bieten wir verschiedene Entlastungsmöglichkeiten an. agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören? Defizit, Sparmassnahmen, überteuerte Hilfsmittel, Rechtsstreitigkeiten. agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder von visoparents schweiz? Finanzielle Unterstützung für die Pflege und Förderung ihrer behinderten Kinder. agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder? Als direkte IV-Leistungen beziehen die Eltern Hilflosenentschädigung und Pflegebeiträge, Kosten für medizinische und pädagogisch-therapeutische Massnahmen und Hilfsmittel. agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV? Für unsere Mitglieder steht noch nicht die Rente im Vordergrund (siehe Frage zuvor). agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird? Es kommt vor, dass die genau festgelegten Bedingungen vorgetäuscht werden. Wie überall hört man nur von diesen negativen Einzelfällen. Zudem gibt es Behinderungen, die nicht leicht ersichtlich sind und einen Aussenstehenden nicht verstehen lassen, dass eine IV-Rente notwendig ist. Bessere Kontrollen könnten das Vertrauen der Bevölkerung in die IV verbessern. agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören? Leider kann ich keinen ebenso prägnanten Gegenbegriff prägen. Es wäre schön, wenn man von gerechten Renten reden würde. 13 Behinderung und Politik 3/08 agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen? Eine Behinderung kann uns alle treffen. Neben der schwer verkraftbaren Behinderung mit wenig finanziellen Mitteln auskommen zu müssen, ist keine schöne Aussicht und heute schon Wirklichkeit. Ohne Zusatzfinanzierung müsste die IV noch mehr sparen und dies ginge sicher zu Lasten der Behinderten. agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation? Weniger finanzielle Mittel bedeuten immer mehr Eigenbelastung. Viele unserer Eltern sind heute schon überlastet mit der Sorge um/für ihre behinderten Kinder. Sie könnten sich weniger Entlastung leisten und wenn die IV bei den Bewilligungen für Therapien und Hilfsmittel spart, schadet dies direkt den Kindern. 14 Behinderung und Politik 3/08 SOZIALPOLITIK Sozialpolitische Rundschau Von Ursula Schaffner Sommerzeit, Zeit für Jahresberichte und Statistiken der Institutionen des Sozialstaates Schweiz. In den letzten Wochen sind zum Beispiel die Jahresberichte 2007 des AHV-Ausgleichsfonds, der Ombudsstelle der sozialen Krankenversicherung, der Ombudsstelle der Suva, die Statistik der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV 2007 aber auch die gesamtschweizerischen Ergebnisse der Sozialhilfestatistik 2006 erschienen. Die Berichte geben Einblick in die vielfältige schweizerische Soziallandschaft. Erstmals ist zudem der Jahresbericht des Bundesrates, in seiner Rolle als Aufsichtsorgan über die Sozialversicherungen, in einer neuen Form erschienen. Der Bericht enthält Daten zu allen Versicherungszweigen, von der AHV über die IV bis zu den Ergänzungsleistungen, der beruflichen Vorsorge, der Krankenversicherung, der Unfallsversicherung, der Militärversicherung, der Erwerbsersatzordnung, der Arbeitslosenversicherung bis hin zu den Familienzulagen. Somit wird ein Gesamtblick auf alle Sozialversicherungszweige möglich. Und es können Querbezüge hergestellt werden, wenn auch noch nicht für alle Zweige Daten aus dem Jahr 2007 erhältlich waren. Die Geschäftsprüfungskommissionen des National- und Ständerats hatten einen solchen Bericht bereits mehrmals gefordert, um die Unterlagen für eine strategische Gesamtplanung der Sozialversicherung zur Verfügung zu haben. Diese Unterlagen sind jetzt vorhanden und eine langfristige Gesamtplanung kann an die Hand genommen werden. Es ist dies eine ehrgeizige und äusserst komplexe Aufgabe, die sich angesichts der demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in der Schweiz anzupacken lohnt. Invalidenversicherung Ist die IV zu spendierfreudig? Davon geht offenbar Avenir Suisse aus, der DenkTank, der sich gerne als Labor für die Entwicklung erfolgsversprechender neuer Ideen sieht. Die Vizedirektorin dieses Gefässes hat im Juni gefordert, alle IV-Renten müssten einer gründlichen Revision unterzogen werden. Es sei nur gerecht, wenn Menschen, die vor zehn, zwanzig und mehr Jahren eine Rente bekommen hätten, heute nochmals unter die Lupe genommen und ebenso streng beurteilt würden wie heutige Antragstellende. Sie seien schliesslich der Grund für die heutige hohe Verschuldung der IV. Eine neue Idee ist das nicht, ebenso wenig eine erfolgsversprechende. Mit ihrem Vorschlag wiederholt Avenir Suisse lediglich eine bereits von der SVP bekannte Forderung. Und ebenso wie die SVP unterschiebt Avenir Suisse damit der IV den Vorwurf, sie sei in grossem Stil Betrügern auf den Leim gekrochen. Der Direktor des BSV hat Avenir Suisse zu Recht entgegengehalten, die Entwicklung der heutigen Finanzlage der IV sei etwas komplizierter, als dass man sie mit der Streichung von x-tausenden von Renten korrigieren könne. Ein solches Vorgehen widerspräche zudem Grundprinzipien unserer Rechtsordnung wie etwa der Rechtssicherheit. Ganz zu schweigen vom Heer der Personen, die angestellt werden müssten, 15 Behinderung und Politik 3/08 um all die Revisionen durchzuführen. Es würde Avenir Suisse gut anstehen, getreu ihrem Namen à venir – was noch kommen wird – Ideen auszubrüten, wie Arbeitsbedingungen in Zukunft zu gestalten sind, damit nicht immer mehr Menschen an ihnen erkranken. Weiter gelte es zu überlegen, welche Unterstützung Arbeitgebende brauchen, um erkrankte Menschen weiterhin im Arbeitsprozess zu behalten. Im letzten Jahr hat im Kanton Zürich die Zahl der IV-Verfahren vor dem Sozialversicherungsgericht um 32 Prozent zugenommen. Dies, obwohl das Verfahren heute etwas kostet. Die Erfolgsaussichten, eine Beschwerde gegen einen Entscheid der IVStelle zu führen, liegen immerhin bei 40 Prozent! Die Ergänzungsleistungs-Statistik 2007 zeigt einmal mehr, für wie viele Personen die IV-Rente zur Deckung der Existenzkosten nicht reicht. Jeder dritte, jede dritte IVRentnerIn braucht nämlich Ergänzungsleistungen (zum Vergleich: bei den AHVRentnerInnen ist es etwa jede achte Person). Personen, die im Heim wohnen, brauchen zudem deutlich mehr EL als jene, die zu Hause wohnen. Nämlich rund 2,6 Mal mehr. (Alle Angaben sind unter www.el.bsv.admin.ch elektronisch abrufbar.) AHV Seit bald zehn Jahren wird an der 11. AHV-Revision herumgebastelt. Eine von allen Parteien und Verbänden getragene Lösung ist nach wie vor nicht in Sicht. Die Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre, einer der sehr umstrittenen Punkte der Vorlage, wird jetzt eventuell fallen gelassen. In der sozialpolitischen Kommission des Ständerates (SGK-SR) sollen entsprechende Diskussionen stattgefunden haben. Im Ständerat hatte, wie schon im Nationalrat, die Initiative für ein flexibles Rentenalter des schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) keine Chance. Der SGB will mit seiner Initiative allen Personen mit einem maximalen jährlichen Einkommen von 120 000 Franken ab 62 Jahren eine ungekürzte volle AHV-Rente ermöglichen. Beide Kammern lehnen die Initiative ab. Sie würde gemäss Berechnungen des Bundesrates zusätzlich 780 Millionen bis 1,3 Milliarden Franken kosten. Derweil kommt die Generation der Babyboomer langsam ins Rentenalter. Ab 2010 wird es deutlich mehr 65-Jährige als 20-Jährige geben. Noch 1980 war das Verhältnis von 20- zu 65-Jährigen zwei zu eins. Eine Nationalfondsstudie vom letzten Jahr weist nach, dass die über 50-Jährigen immer mehr erben. Das heisst, die Generation, die in der Regel existenziell bereits abgesichert ist, bekommt zusätzliches Vermögen. Noch 1980 erhielten in der Schweiz die unter 50-Jährigen fast die Hälfte des vererbten Vermögens. Im Jahr 2000 waren es noch 37 Prozent und im Jahr 2020 werden es nur noch 20 Prozent sein. An einer Tagung des «Netzwerks Generationenbeziehungen» im Mai wurde über Anreize diskutiert, wie Erbvorbezüge oder Vererbung an nicht eigene, jüngere Personen erleichtert werden könnte. Das Thema scheint allerdings heikel zu sein. Die Diskussionsteilnehmenden waren sich einig, solange sich die Anreize auf freiwillige Begünstigungen beschränkten. Sobald man sich ans gesetzlich Eingemachte heranwagte, wie etwa das Pflichtteilsrecht, gingen die Meinungen stark auseinander. 16 Behinderung und Politik 3/08 Berufliche Eingliederung Bekanntlich haben Menschen mit niedriger beruflicher Qualifikation ein höheres Risiko, arbeitslos, krank oder gar ganz erwerbsunfähig zu werden. Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Basel hat nun kürzlich Fallstudien durchgeführt, die der Frage nachgehen, welche Auswirkungen die Globalisierung auf Menschen mit unterschiedlichen Ausbildungen hat. Die Fallstudien zeigen, dass gut qualifizierte Personen, die ihren Job im Zusammenhang mit der Globalisierung verloren haben, nachher häufig eine vergleichbare oder sogar besser bezahlte Stelle finden. Dagegen hat sich die Situation der nicht- oder nur angelernten Arbeitskräfte in den letzten 16 Jahren deutlich verschlechtert. Diese Entwicklung drückt sich weniger in niedrigen Löhnen aus als vor allem in einer deutlich höheren und längeren Arbeitslosigkeit von schlecht qualifizierten Menschen gegenüber jenen mit guter beruflicher Ausbildung. Die Autorin der Studie meint deshalb, es sei entscheidend, diese Menschen möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Deshalb sollte das Sozialversicherungsnetz beispielsweise keine falschen Anreize bieten – sprich: Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe sollten nicht zu lange und nicht zu hoch sein. Andererseits müssten den Arbeitslosen gute Weiterbildungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. – Das tönt plausibel und ist auch bereits bekannt, nämlich aus der Sparte Invalidenversicherung. Weiter fällt bei der Lektüre der Studie auf, dass Arbeitgebende einmal mehr fehlen. Ob Langzeitarbeitslose eine Stelle finden, hängt also offensichtlich nur von ihrem eigenen Willen ab. Allenfalls können staatliche Stellen wie RAV sie dabei unterstützen. Die Resultate der Studie sind unter http://www.wwz.unibas.ch/aei/deutsch/Publikationen/MaterialienPub/Wyss(2008)_W WZ.pdf zu finden. Keine falschen finanziellen Anreize und gute Weiterbildungsmöglichkeiten empfiehlt auch das BSV in der eben erschienen Studie «Flexicurity: Bedeutung für die Schweiz». Die Studie geht der Frage nach, ob und wie Menschen in flexiblen Arbeitsverhältnissen sozial abgesichert sind. Zu Deutsch heisst das: Wie kommen Menschen mit kurzen, immer wieder wechselnden Arbeitsverhältnissen, die überdies oft nur Teilzeitanstellungen sind, zu einem Existenz sichernden Lohn? Und wie kommen sie zu Weiterbildung und zu einer gesicherten Altersvorsorge? Neben den eben erwähnten Rezepten wird vorgeschlagen, dass die verschiedenen Zweige der sozialen Sicherheit vermehrt zusammenarbeiten sollten. Laut der Studie schliessen sich in der Schweiz flexible Arbeitsverhältnisse und soziale Sicherheit nicht aus. Die Schweiz sei vielmehr ein gutes Beispiel dafür, dass diese beiden Anliegen gut verbunden werden könnten. Bei der zweiten Säule seien zwar noch gewisse Verbesserungen vorzunehmen. Der Bundesrat hat denn auch erste entsprechende Änderungen an die Hand genommen (siehe agile 2/08, in derselben Rubrik unter BVG). Wie sich sogenannt flexible Menschen heute weiterbilden können, und in welcher Form die verschiedenen Sozialversicherungszweige zusammenarbeiten sollen, bleibt dann allerdings sehr vage. http://www.newsservice.admin.ch/NSBSubscriber/message/de/18905 BVG Während im Parlament noch über die Senkung des gesetzlichen Mindestumwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge diskutiert wird, haben bereits viele Pensi17 Behinderung und Politik 3/08 onskassen ihre Praxis gegen unten angepasst. Das heisst, zahlreiche Pensionskassen bezahlen ihren RentnerInnen heute eine tiefere Rente, als sie gesetzlich vorgesehen ist. Der Gesetzgeber hinkt somit der Realität um einige Jahre hinterher. Festzuhalten ist, dass die Kassen, welche die gesetzlichen Minimalvorschriften unterschreiten, in der Regel paritätisch von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden verwaltet werden. Auch ein anderer Trend ist zu beobachten: Immer mehr Kassen haben statt des Leistungs- das Beitragsprimat eingeführt. Das heisst, die Höhe der Altersrente richtet sich nach den einbezahlten Beträgen und nicht (mehr) nach einer theoretisch festgelegten Grösse. Das Beitragsprimat ist für die Betriebe finanziell weniger risikoreich und zudem auf den verstärkten flexibilisierten Arbeitsmarkt ausgerichtet. Die Rechnung zahlen Arbeitnehmende mit künftig tieferen Renten. KVG In der Berichtsperiode war die Abstimmung über den neuen Krankenkassenartikel das wichtigste Geschäft. Der vorgeschlagene Verfassungsartikel wurde deutlich mit fast 70 Prozent abgelehnt. Die ÄrztInnen werten den Abstimmungserfolg als Zeichen dafür, dass Frau und Herr SchweizerIn auch in Zukunft ihren Arzt oder ihre Ärztin frei wählen können wollen. Einem völlig freien Wettbewerb geben allerdings auch die ÄrztInnen zur Zeit geringe Chancen. Ob der bis Ende 2009 geltende Zulassungsstopp für junge ÄrztInnen weiter gehen soll, ist noch offen. ÄrztInnen und Kantone haben der ständerätlichen SGK einen Vorschlag für die Lösung des Problems vorgelegt: Der Ärztestopp soll per Ende 2009 aufgehoben werden und die Kantone sollen die Kompetenz bekommen, bei drohender Über- oder Unterversorgung Limiten oder Anreize für neue Arztpraxen zu setzen. Die SGK-SR ist auf den Vorschlag allerdings gar nicht erst eingetreten. Sie will ihrerseits den Versicherten in Zukunft die Wahl zwischen zwei Modellen ermöglichen: Das bisherige mit freier Arztwahl. Beim zweiten Modell könnten die Leistungserbringer und die Versicherer ihre Verträge frei gestalten können; das heisst, die Arztwahl könnte beschränkt werden. Die SGK-SR hat das Departement Couchepin beauftragt, konkret ein solches duales Modell auszuarbeiten. Pflegefinanzierung Nun ist auch die Neuorientierung der Pflegefinanzierung unter Dach und Fach. Dreieinhalb Jahre Parlamentsarbeit stecken darin. Viel Erfreuliches aus Sicht der Behinderten gibt es nicht. Nach einem Spitalaufenthalt werden nur noch zwei Wochen Akut- und Übergangspflege bezahlt. Die Krankenversicherungen beteiligen sich mit 55 Prozent daran, die Kantone übernehmen den Rest. Sobald jemand länger auf Pflege angewiesen ist, wird er oder sie empfindlich zur Kasse gebeten. Die Krankenversicherungen müssen dann nämlich nur noch einen Beitrag an die Kosten leisten. Dieser Beitrag wird vom Bundesrat festgesetzt. Die Pflegebeiträge der Krankenkassen dürfen aber die heutigen Pflegeausgaben der Versicherungen nicht übersteigen. Auch in Zukunft ist keine Anpassung an die Teuerung vorgesehen. Wer Pflege braucht, zahlt zusätzlich zum Selbstbehalt der Krankenkasse 20 Prozent der höchsten Pflegestufe selber. Nach heutigem Stand werden diese zusätzlichen Kosten bis zu 7'100 Franken im Jahr betragen. Die restlichen Pflegekosten muss der Kanton bezahlen. Damit soll gewährleistet werden, dass niemand wegen seiner Pflegebedürftigkeit zum Sozialhilfeempfänger oder zur Sozialhilfeempfängerin wird. Durchaus 18 Behinderung und Politik 3/08 positiv ist zu werten, dass stationäre Pflege im Heim und ambulante Pflege zuhause zumindest von den Krankenversicherungen gleich behandelt werden müssen. Deren Beiträge an die Spitex oder ein Pflegeheim richten sich nach dem Pflegebedarf und nicht nach dem Ort der Dienstleistungserbringung. Allerdings kann Pflege zuhause, die nicht von der Spitex erbracht wird, immer noch nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden. Viele Menschen mit Behinderung, mit dem Ziel der Wahlfreiheit und eines selbstbestimmten Lebens, hoffen deshalb immer noch auf einen kostendeckenden Assistenzzuschuss. Vermischtes Kinder von psychisch Kranken Eine Untersuchung im Rahmen des NFP 51 («Integration und Ausschluss») zeigt, dass Kinder von psychisch kranken Menschen häufig zu kurz kommen. Sie werden nicht genügend über die Krankheit von Mutter oder Vater informiert und können somit auffälliges Verhalten nicht einordnen und verstehen. In mehr als der Hälfte der betroffenen Familien ist die Krankheit ein Tabu. Zwei Drittel der angehörigen Kinder sprechen ausserhalb der Familie nicht über die Krankheit der Eltern und bekommen dadurch selber keine Unterstützung. Die betroffenen Kinder bleiben oft verwirrt und isoliert zurück. Kinder bräuchten vermehrt altersgerechte Information, Beratung und Begleitung, wird deshalb von den AutorInnen gefolgert (www.nfp51.ch). Sozialhilfe Im Jahr 2006 ist die Zahl der Personen in der Schweiz, die Sozialhilfe bezogen haben, fast gleich hoch gewesen wie im Jahr zuvor. Es waren rund 3,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Kinder, junge Erwachsene und Alleinerziehende haben weiterhin das grösste Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu werden. Für Menschen zwischen 56 und 64 Jahren ist das Risiko, Sozialhilfebezügerin zu werden, im Berichtsjahr deutlich gestiegen. Unfallversicherung Die SUVA hat letztes Jahr gut gewirtschaftet und kann deshalb ihre Prämiensätze um rund sieben Prozent senken. Sie möchte ihre bisher im industriellen Sektor bestehende Monopolstellung gerne auf weitere Branchen wie die Landwirtschaft, den Detailhandel und das Gesundheitswesen ausdehnen. Gerne möchte sie zudem ins Zusatzversicherungs- und Vermögensverwaltungsgeschäft einsteigen. Die anstehende UVG-Revision sieht allerdings vor, dass der Spielraum der privaten Versicherer vergrössert werden soll. Quellen (berücksichtigt von 29. April bis 19. August 2008): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le Temps, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen und Statistik. 19 Behinderung und Politik 3/08 Motoren des Monitoring 5. IVG-Revision kommen auf Touren Von Ursula Schaffner Mitte Jahr haben in allen Landesteilen gut zehn Organisationen der BehindertenSelbsthilfe und ihre Beratungsstellen plangemäss mit dem Monitoring 5. IVG-Revision begonnen. Fast alle grossen Verbände der Selbsthilfe machen mit. Sie haben ihre Sektionen und BeraterInnen über das Vorhaben informiert und sie mit den nötigen Dokumenten versorgt. Rund fünfzehn weitere Organisationen brauchen noch formelle Entscheide ihrer Vorstände für ein Mitmachen. Sie haben ihre Bereitschaft für eine Zusammenarbeit jedoch klar bekundet (siehe auch die Website von AGILE mit Dokumenten und Meldestellen: http://www.agile.ch/t3/agile/index.php?id=1424) Es wird nun einige Zeit dauern, bis erste Beobachtungen zusammen getragen sind und ausgewertet werden können. Ende Jahr wird die Arbeitsgruppe Monitoring Selbsthilfe 5. IVG-Revision eine erste Bilanz ziehen und das weitere Vorgehen besprechen. Notwendigkeit Monitoring Selbsthilfe? Mitarbeitende von AGILE sind übrigens verschiedentlich darauf angesprochen worden, ob es dieses Monitoring tatsächlich brauche. Das BSV habe doch bestätigt, dass die Umsetzung der Fünften systematisch beobachtet und begleitet werde. AGILE findet dennoch, dass auch die Selbsthilfe die Umsetzung dieser Revision beobachten und ihre Beobachtungen dokumentieren muss. Es fällt nämlich auf, dass sowohl das BSV wie auch die einzelnen IV-Stellen seit anfangs 2008 in den Medien sehr präsent sind und fast ausschliesslich Positives berichten. Zum Beispiel über die grosse Anzahl von Früherfassungsmeldungen oder über den Rückgang von NeurentnerInnen. Das ist schön. Was allerdings mit diesen Menschen geschieht, darüber ist in der Öffentlichkeit kaum etwas zu hören. Hier setzt das Monitoring der Selbsthilfe beispielsweise an. Einführung Assistenzentschädigung in der nächsten Runde Von Ursula Schaffner Eigentlich war allgemein erwartet worden, dass der Bundesrat noch vor den Sommerferien einen Grundsatzentscheid zur künftigen Assistenzentschädigung fällen würde. Die Landesregierung wurde dann aber durch andere Ereignisse in Atem gehalten. In Zukunft ein Assistenzzuschlag für wenige? Vom BSV liegt ein Vorschlag vor, wie die Assistenzentschädigung in Zukunft aussehen könnte. Es ist eine stark abgespeckte Variante des noch bis Ende 2009 laufenden Pilotversuchs Assistenzbudget. Der Vorschlag orientiert sich weniger an den 20 Behinderung und Politik 3/08 Bedürfnissen der Assistenznehmenden als vielmehr an den politischen Gegebenheiten. Das BSV hat also vor allem aufs Geld geschaut. Die wichtigsten Eckpunkte des BSV-Vorschlags lauten: In Zukunft können BezügerInnen einer Hilflosenentschädigung (HE) einen finanziellen Zustupf bekommen, den Assistenzzuschlag. Mit diesem Zuschlag können Kosten für belegbare Assistenzleistungen bezahlt werden. Die Bereiche, die für eine Vergütung anerkannt werden, sind: alltägliche Lebensverrichtungen, Grundpflege, Haushalt, Beruf, Freizeit und Bildung. Diese Leistungen müssen von Personen erbracht werden, welche bei den Assistenznehmenden angestellt sind. Die Assistenznehmenden müssen zudem volljährig sein und dürfen nicht in einem Heim leben. Die Leistungen von Angehörigen dürfen nicht mit dem Zuschlag bezahlt werden. Der neue Assistenzzuschlag darf die IV unter dem Strich nichts kosten. Das heisst in Wirtschaftsdeutsch: Er muss kostenneutral eingeführt werden. Deshalb sollen sich Assistenznehmende mit ihrem Einkommen und Vermögen an den Kosten beteiligen. Weiter soll die Hilflosenentschädigung für HeimbewohnerInnen um die Hälfte gekürzt werden. Zudem sollen in weiteren Bereichen der IV Einsparungen vorgenommen werden. Wo und in welcher Höhe dies geschehen soll, ist noch nicht bekannt. Der jetzt vorliegende Entwurf würde die Assistenzentschädigung nur für eine relativ kleine Gruppe von vor allem volljährigen körperbehinderten Personen bis zum AHVAlter ermöglichen. Ob eine derartige Einschränkung allerdings auf grosse Zustimmung stösst, bleibt abzuwarten. Bundesrat stellt Weichen Der Bundesrat hat am 3. September die Vorschläge des BSV diskutiert. Und er hat dem Departement Couchepin den Auftrag erteilt, auf eben dieser Grundlage einen konkreten Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Damit hat er die Weichen so gestellt, dass eine künftige Assistenzentschädigung nur für wenige Personen zugänglich sein soll. 21 Behinderung und Politik 3/08 GLEICHSTELLUNG Kampagne zum Jubiläum des BehiG 2009 Eva Aeschimann, Sekretärin Gleichstellungsrat Nächstes Jahr wird das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG fünfjährig. Beim ersten Treffen im Sommer bei AGILE in Bern hat die Arbeitsgruppe «Kampagne 2009» mit VertreterInnen der DOK, der Fachstelle Egalité Handicap und des Gleichstellungsrates die geplante nationale Kampagne eingefädelt. Chancen und Benachteiligungen aufzeigen Die Kampagne, finanziert von der DOK, soll zum einen bestehende Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung in Schule und Bildung aufzeigen. Zum anderen soll sie das BehiG bekannt machen, das bei Benachteiligungen von Behinderten zum Zuge kommt. Angeregt von der DOK hatten Mitglieder der Fachstelle Egalité Handicap und des Gleichstellungsrats bereits Ende 2007 einen ersten Vorschlag für eine nationale Kampagne entworfen. Anschliessend erarbeiteten VertreterInnen der DOK, der Fachstelle und des Gleichstellungsrats in Workshops die thematische Ausrichtung der Kampagne: Bildung/Schule. Eine erste Kampagnenskizze ist im Frühsommer vom DOK-Plenum verabschiedet worden. Ebenso die Finanzierung des Projekts. Die «Kampagne 2009» soll gelungene Beispiele von Bildungswegen von Menschen mit Behinderung zeigen, aber auch Beispiele von Diskriminierung, fehlendem Zugang zu Ausbildungen, fehlenden Berufswahlmöglichkeiten und anderes. Wirkung auswerten und bewerten Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB) verfasst bis Anfang 2009 eine Evaluation der bisherigen Anwendung und Wirkung des BehiG. Diese wird anschliessend vom Bundesrat in einem öffentlich zugänglichen Bericht kommentiert. Die Behindertenorganisationen haben die Möglichkeit, beim Verfassen der Evaluation mitzuwirken. Die Fachstelle Egalité Handicap wiederum erarbeitet im Auftrag der DOK einen Auswertungsbericht, an dem Menschen mit Behinderung mitwirken. Dieser Bericht wird dem Bundesrat gleichzeitig wie jener des EBGB vorgelegt. Beide Berichte machen auf das Thema Gleichstellung aufmerksam und sensibilisieren dafür. Dies ist bitter nötig. Steht doch die nach wie vor mangelhafte Gleichstellung von Menschen mit Behinderung seit längerem im Schatten der IV-Debatten. Organisieren und planen Beim Treffen im Sommer haben die VertreterInnen von DOK, der Fachstelle und des Gleichstellungsrats auch organisatorische Entscheide gefällt. So befasst sich ein Teil des Teams mit der Projekteingabe beim EBGB. Im Spätherbst startet die Arbeitsgruppe die Planung von konkreten Inhalten und Massnahmen der Jubiläums-Kam22 Behinderung und Politik 3/08 pagne, begleitet von einer Person mit Kampagnen-Erfahrung, welche zur Zeit noch gesucht wird. Antidiskriminierungsrecht im Erwerbsleben: Vergleich Schweiz - EU Tarek Naguib, lic. iur., Mitarbeiter der Fachstelle Égalité Handicap Kürzlich publizierte das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) eine Literaturanalyse der bestehenden rechtlichen Massnahmen zur Förderung der Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt (abrufbar unter: http://www.edi.admin.ch/ebgb/index.html?lang=de). Die Studie bestätigt, dass wir im Vergleich zur Europäischen Union (EU) noch weit von einem wirksamen Antidiskriminierungsrecht entfernt sind. EU Antidiskriminierungsrecht Auf der Basis des Artikels 13 des Vertrags der Europäischen Gemeinschaft hatte die EU die Richtlinie 2000/78 erlassen. Dies zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (kurz: Beschäftigungsrahmenrichtlinie). Die Richtlinie verpflichtete die EU-Staaten, bis spätestens 2. Dezember 2003 Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen zur Bekämpfung von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf wegen Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung (Artikel 1). Konkret ist Diskriminierung in folgenden Bereichen zu verbieten: Zugang zu allen Formen der Berufsbildung, der beruflichen Weiterbildung und Umschulung, Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, einschliesslich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschliesslich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts, Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisation oder einem Berufsverband. Mittlerweile haben alle EU Staaten entsprechende Gesetze erlassen. Zusätzlich zum Diskriminierungsverbot (Gleichbehandlungsgrundsatz) mussten sie auch Massnahmen zur Erleichterung der Durchsetzung treffen. So müssen die Staaten Rechtsbehelfe vorsehen, mit denen die Diskriminierungsopfer ihre Ansprüche über den Gerichts- und/oder Verwaltungsweg einklagen können (Artikel 9). Um den Diskriminierungsnachweis zu vereinfachen, hatten die Länder in ihren Gesetzen eine so genannte Beweislasterleichterung zu verankern. Diese sieht vor, dass immer dann, wenn eine Diskriminierung vor der zuständigen Gerichts- oder Verwaltungsbehörde glaubhaft gemacht wird, die beklagte Person zu beweisen hat, dass 23 Behinderung und Politik 3/08 keine Verletzung vorliegt (Artikel 10). Die Beweislasterleichterung soll selbstverständlich nicht dazu dienen, die Arbeitgebenden zu schikanieren, sondern den Nachweis einer tatsächlichen Diskriminierung zu erleichtern. Auch müssen die staatlichen Bestimmungen wirksame, verhältnismässige und abschreckende Sanktionen ermöglichen (Artikel 17), die die zuständigen Gerichts- und Verwaltungsbehörde aussprechen können. (Rückwirkend gerichtete) Sanktionen können beispielsweise die Wiedergutmachung etwa durch Entschädigungen von materiellen Schäden (Schadenersatz) oder immateriellen Schäden (Genugtuung) auslösen. Sie können aber auch etwa das Rückgängigmachen einer bestehenden Diskriminierung bedeuten (z.B. durch Nichtigerklären einer diskriminierenden Kündigung). Auf die Zukunft ausgerichtet können Sanktionen als administrative Präventionsmassnahmen ausgestaltet sein (wie z.B. die Pflicht Sensibilisierungskurse zu besuchen). Die Staaten haben in der Ausgestaltung der Sanktionen einen gewissen Spielraum. Schliesslich müssen die EU Mitglieder gemäss Artikel 11 erforderliche Massnahmen treffen, um die Arbeitnehmenden vor Entlassung oder anderen Benachteiligungen durch die Arbeitgebenden zu schützen, die als Reaktion auf eine Beschwerde oder auf die Einleitung eines Verfahrens zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erfolgen (Rachekündigung). Aus Sicht der Behindertengleichstellung verdient der Artikel 5 der Richtlinie besonderes Augenmerk. Um nämlich die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auch für Menschen mit Behinderung sicher zu stellen, haben die Arbeitgebenden so genannte «angemessene Vorkehrungen» zu treffen. Das bedeutet, dass der/die ArbeitgeberIn die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Massnahmen ergreifen muss, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmassnahmen überhaupt zu ermöglichen. Es sei denn, diese Massnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismässig belasten. Diese Belastung ist verhältnismässig, wenn sie durch geltende Massnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des EU-Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird (z.B. durch Zahlungen einer Sozialversicherung), oder wenn das Interesse der behinderten Person die Interessen der Arbeitgebenden überwiegt. Was dies konkret heisst, muss der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften noch beurteilen. Momentan gibt es leider keine Praxis. Trotzdem soll an dieser Stelle das eher abstrakte juristische Konzept der «angemessenen Vorkehrungen» am Beispiel Grossbritanniens verdeutlicht werden. Der bereits seit 1996 – also vor der EU Beschäftigungsrahmenrichtlinie – in Kraft stehende Disability Discrimination Act (DDA) verpflichtet britische Arbeitgebende zu «reasonable adjustments» (angemessenen Anpassungen), sofern dies zumutbar ist. Unter diese «angemessenen Anpassungen» fallen zum Beispiel Anpassungen der Räumlichkeiten, Übertragung von Tätigkeiten auf andere Personen (wenn die behinderte Person diese nicht ausüben kann), Änderung der Arbeitszeit, Schulung, Erwerb von oder Anpassen von Arbeitsgeräten, Einsatz von Lesegerät oder Übersetzer. Um die Kosten der «angemessenen Anpassungen» decken zu können, haben britische Arbeitgeber an und für sich einen Anspruch auf unbegrenzte Unterstützungsleistungen. 24 Behinderung und Politik 3/08 Rechtslage in der Schweiz In der Schweiz ist die Rechtslage bei Diskriminierung im Erwerbsleben noch weitgehend ungeklärt. Im Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) ist der Schutz von Menschen mit Behinderung nicht geregelt, mit Ausnahme von gerichtlich nicht durchsetzbaren weichen Regelungen im Anstellungsverhältnis beim Bund. Zwar greifen bei öffentlich-rechtlichen Anstellungen zahlreiche Bestimmungen in den verschiedensten Personalerlassen. Dies gilt für die meisten Kantone und Gemeinden sowie den Bund insbesondere für den Schutz vor Mobbing und vor einer Kündigungsdiskriminierung. Grundlage dafür ist das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot und zwar in allen Bereichen (Zugang, Bedingungen, Ausbildung, Kündigung, etc.). Unterstützend wird vereinzelt auch auf die Regelungen im Obligationenrecht und im Zivilgesetzbuch hingewiesen. Das Obligationenrecht ist zudem für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse bedeutend, insbesondere die Bestimmungen zum Persönlichkeitsschutz sowie der Grundsatz von Treu und Glauben. Diese rechtlichen Bestimmungen gehen jedoch nicht so weit wie die rechtlichen Vorgaben in der EU. Vor allem gibt es kaum Möglichkeiten, angemessene Vorkehrungen einzuklagen (insbesondere im privaten Arbeitsverhältnis). Ausser es geht um Vorkehrungen im Gesundheitsbereich. Zudem ist die Diskriminierung nirgends ausdrücklich verankert, mit Ausnahme des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots. Es muss umständlich (und möglichst kreativ) auf allgemeine Rechtsgrundsätze oder den Persönlichkeitsschutz zugegriffen werden, damit diese als Diskriminierungsschutz wirken können. Eine grosse Unsicherheit bleibt, wie weit der Diskriminierungsschutz geht, wo Diskriminierung verboten ist. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb es an Praxis fehlt, und dies darf nicht unterschätzt werden. Schliesslich fehlt es an den im EU-Raum bewährten Instrumenten zur Verbesserung der Durchsetzung des Rechts (insbesondere einer gesetzlich verankerten Beweislasterleichterung, allenfalls auch eines Verbandsbeschwerderechts). Weiter sind die Sanktionen häufig nicht wirksam und abschreckend genug. Doch ganz so prekär, wie die Schilderungen den Anschein erwecken, ist die Lage trotzdem nicht. Anhand von vier kleinen Beispielen soll aufgezeigt werden, dass Menschen mit Behinderung auch in der Schweiz vor krassen Formen von Benachteiligungen geschützt sind. Ganz ohne Diskriminierungsverbot. Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz (Artikel 27 und folgende, ZGB) und das Strafrecht (Ehrverletzung, Artikel 177) bieten Schutz vor ehrverletzenden Äusserungen. Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz verbietet die Arbeitsstellenverweigerungen, einzig oder überwiegend, weil behinderte Menschen unerwünscht sind oder als störend empfunden werden, ohne dass hiefür ein sachlicher Grund angebracht werden kann. Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht (Art. 328 OR) schreibt dem Arbeitgebenden vor, während des Arbeitsverhältnisses die Persönlichkeit zu schützen. Er ist verpflichtet, ihm zumutbare Massnahmen zum Schutz von Gesundheit und persönlicher Integrität zu treffen. Auch dort, wo es um angemessene Vorkehrungen im Gesundheitsbereich geht, z.B. beim Schutz vor gefährlichen Maschinen für einen blinden Mitarbeiter, könnte dieser fruchtbar gemacht werden. 25 Behinderung und Politik 3/08 Der Kündigungsschutz (Artikel 336 OR) erklärt eine Kündigung wegen einer Eigenschaft, die dem Arbeitnehmenden kraft seiner Persönlichkeit zusteht (z.B. eine Behinderung) als missbräuchlich, es sei denn, die Behinderung steht in einem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis (insbesondere der Ausübung der Stelle) oder beeinträchtigt wesentlich die Zusammenarbeit im Betrieb (Absatz 1 Buchstabe a). Fazit Insgesamt ist der rechtliche Schutz vor Diskriminierung im Erwerbsleben in der Schweiz im Vergleich zur EU schwach ausgestaltet. Diskriminierung ist mit Ausnahme von Artikel 8 Absatz 2 BV nicht ausdrücklich verboten. Die anderen Regelungen, die für den Diskriminierungsschutz in Frage kommen, sind in verschiedenen Gesetzen verstreut. Zudem fehlt es an griffigen Durchsetzungsmechanismen. VERKEHR Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich behindertengerechter öffentlicher Verkehr. BöV-Nachrichten 26 Behinderung und Politik 3/08 BILDUNG Von Catherine Corbaz Kursprogramm 2008 Unser nächster Kurs findet am 30. Oktober 2008 in Bern statt unter dem Titel: «Gleichstellungsrecht – Teil 2: Entwicklungen auf internationalem Gebiet: Die UNO-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung» Die UNO hat eine neue Konvention verabschiedet, welche ausschliesslich den Rechten von Menschen mit Behinderung gewidmet ist, Was beinhaltet diese Konvention und wie können wir ihre Ratifizierung durch die Schweiz unterstützen? Leitung: Caroline Hess-Klein, Égalité Handicap, Fachstelle der DOK Anmeldeschluss: 15. September 2008 Detailprogramm Alle weiteren Angaben zu Kursen und Seminaren von AGILE finden Sie in unserer Zeitschrift, im Newsletter oder auch auf unserer Internet-Seite. 27 Behinderung und Politik 3/08 BEHINDERTENSZENE 3. Dezember 2008: «Assistenz, ein Recht für alle!» CM/ Assistenz ist für Menschen mit Behinderung ein wesentlicher Faktor für ein selbstbestimmtes Leben. In allen Alltagsbereichen müssen diese Menschen selbst bestimmen können, wer ihnen wie hilft (siehe agile 2/08). Der vom Bund unterstützte Pilotversuch «Assistenzbudget» hat gezeigt, dass mit dieser Lösung die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung verbessert werden können. In diesem Jahr trifft der Bundesrat die erforderlichen Vorkehrungen, um die Assistenz im Gesetz zu verankern. Im Rahmen des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung, der jedes Jahr am 3. Dezember begangen wird, wurde 2008 das Thema Assistenz gewählt. Der Tag bietet die Möglichkeit, die politisch Verantwortlichen und die breite Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer gesamthaften Lösung zu überzeugen, damit schliesslich alle Menschen mit Behinderung ein Recht auf Assistenz haben. Für die Selbsthilfeorganisationen war und bleibt die Selbstbestimmung aller Menschen mit Behinderung ein zentrales Anliegen. Deshalb wird der 3. Dezember in diesem Jahr Gelegenheit bieten, die Sektionen und die Basis zu veranlassen, in ihren Regionen einen Vortrag, eine Diskussion, eine Sensibilisierungsaktion, die Verteilung von Flugblättern, einen Stand oder eine Aufführung zu organisieren und mit den regionalen Medien Kontakt aufzunehmen. Nach dem Ende der UNO-Weltdekade der Menschen mit Behinderung (1983-1992) erklärte die UNO-Generalversammlung 1992 den 3. Dezember zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung. 1993 wurde dieser Tag in der Schweiz erstmals begangen. Er steht unter der Federführung der Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe (DOK). Jedes Jahr finden rund um den 3. Dezember in den verschiedenen Landesteilen Veranstaltungen statt. Weitere Informationen zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung und zu den in der Schweiz durchgeführten Veranstaltungen finden Sie auf der Website www.3dezember.ch. Damit dieses Internetportal ein möglichst vollständiges Informationsangebot enthält und sowohl den Medienschaffenden als auch den betroffenen Personengruppen umfassende Informationen bietet, bitten wir Sie, alle geplanten Veranstaltungen bei der folgenden Adresse zu melden: Pro Infirmis, Stefanie Huber, Feldeggstrasse 71, Postfach 1332, 8032 Zürich, Tel. 044 388 26 54, Fax 044 388 26 00, E-Mail: [email protected]. Übersetzung: Susanne Alpiger 28 Behinderung und Politik 3/08 MEDIEN Workfare für Sie gelesen von Bettina Gruber Integration in die Arbeitswelt ist eine wichtige Forderung von Behinderten und ihren Organisationen, Eingliederung vor Rente das hochgesteckte Ziel der IV. Dass Erwerbsarbeit einen wichtigen und wertvollen Bestandteil des Lebens darstellt, würden wohl die meisten bejahen. Sozialleistungsempfänger nicht nur finanziell zu unterstützen, sondern sie zur Arbeitswelt hinzuführen, wäre folglich ein löbliches Unterfangen - so der Gedanke, der jenen Massnahmenpaketen zugrunde liegt, die unter dem Stichwort Workfare zusammengefasst werden. Wie sieht aber die Realität aus? Workfare ist eine Wortschöpfung, die sich aus Arbeit (work) und Wohlfahrt (wellfare) zusammensetzt. Gemeint sind damit Sozialleistungen für Erwerbslose, die an Eingliederungsmassnahmen in die Arbeitswelt gekoppelt sind, ein Modell der Sozialpolitik, das in den 1980er Jahren zuerst in den USA und Grossbritannien Fuss fasste. Mit Begriffen wie 1-Euro-Jobs oder 1000-Franken-Jobs hat diese auch Eingang in den deutschen Sprachraum gefunden. Kurt Wyss möchte darum mit seinem Buch einen kritischen Beitrag liefern zu einer Politik, die sich auf breiter Front durchsetzt. Nach einer Einführung zur Entstehung des Begriffs Workfare und dem Stand der Forschung dazu stellt der Autor die Schwerpunkte von Workfare in den verschiedenen ideologischen Ausrichtungen anhand ihrer massgeblichen Vertreter vor. Die neokonservative Sichtweise hat den Begriff der «Armutsfalle» geprägt. Es wird behauptet, dass mit Sozialleistungen zugunsten Benachteiligter diese nicht sinnvoll unterstützt werden, sondern durch die Leistungen in eine Abhängigkeit geführt werden. Diese erziehe sie geradezu zur Passivität und Amoralität. Da die LeistungsbezügerInnen nicht motiviert seien, an dieser Situation etwas zu ändern, müssten sie durch Streichung von Sozialleistungen auf den rechten Weg gebracht werden. Wyss bezieht sich dabei auf Schriften von Charles Murray, der sich am moralischen Standard der us-amerikanischen 1950er Jahre orientiert, um seine These des Niedergangs in den folgenden Jahrzehnten aufgrund verfehlter Sozialpolitik darzustellen. In diese Ecke gehören übrigens auch heutige Argumentationen, die von Arbeitsscheuen und Scheininvaliden sprechen und die Streichung oder Kürzung von Sozialleistungen fordern, um die Menschen auf den moralischen Weg zurückzuzwingen. Eine neoliberale Sichtweise – hier vertreten durch Lawrence M. Mead – setzt bei der Überzeugung an, dass frei vergebene Sozialleistungen zum einen die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft untergraben würden, zum andern die einzelnen Menschen an der Entwicklung zur Eigenständigkeit und Eigenverantwortung hinderten. Mead will darum nicht Sozialleistungen ersatzlos streichen, sondern sie an Bedingungen knüpfen. Um die Eigenständigkeit zu fördern, sei es legitim, LeistungsempfängerInnen mit (Zwangs-)Massnahmen in die Arbeitswelt zu integrieren. Einen dritten Argumentationsstrang findet Wyss bei den Vertretern von New Labour. Mit ihrem Vordenker Anthony Giddens starten sie ihre Argumentation bei der Globalisierung und erkennen in der steigenden Arbeitslosigkeit einen Mangel an Anpas29 Behinderung und Politik 3/08 sung an diese neue Situation. Rezepte, wie sie die alte Linke vertritt, nämlich mit staatlichen Lenkungen die Probleme in den Griff bekommen zu wollen, seien überholt. Der richtige Ansatz bestehe darum in der Förderung der Menschen und ihrer Befähigung, im globalisierten Markt zu bestehen. Dies geschieht durch Bildungsmassnahmen und Anreizsysteme. Soweit, zugegebenermassen stark verkürzt, die Darstellung der drei ideologischen Ausrichtungen. Bei Wyss können Sie das etwas detaillierter nachlesen. Der Autor stellt zudem klar, dass die Argumentationen meist nicht in Reinkultur auftreten, wie oben beschrieben, sondern dass in der Begründung einer Politik, die sich an Konzepten des Workfare orientiert, die Argumente meist in Mischform zu finden sind. Er bemängelt übrigens, dass im Alltag oft nur im Detail über die konkrete Ausgestaltung der geeigneten Massnahmen gestritten wird, die dahinter liegenden Grundprämissen aber nicht in Frage gestellt werden. Und nun wird es wirklich interessant, wir kommen zur Praxis. In der praktischen Umsetzung lässt sich schliesslich feststellen, was von einer Politik des Workfare zu halten ist. Zuerst zeigt sich, dass viele Länder heute eine solche Ausrichtung ihrer Arbeitslosenpolitik kennen, nur wenige allerdings die Wirksamkeit der eingesetzten Instrumente überprüfen. Studien zu den «Leavern», also jenen Menschen, die aus den Arbeitslosenkassen ausgeschieden sind, sind dünn gesät. Die Studien würden aufzeigen, wo diese Menschen wirklich gelandet sind. Leistungskürzungen und -streichung, die den Druck auf die Erwerbslosen erhöhen sollen, Arbeitspflicht in Beschäftigungsprogrammen und Supported Employment (Arbeitsbegleitung) sind die Instrumente einer Workfare-Politik. (Als Vorreiter einer konsequenten Umsetzung in den USA gilt der Staat Wisconsin.) Der Rückgang an LeistungsbezügerInnen in Arbeitslosen- und Invalidenversicherung wird von ihren Verfechtern als Beweis für die Richtigkeit der gewählten Massnahmen und Zeichen des Erfolgs ins Feld geführt. (Kommt uns irgendwie auch bekannt vor!) Dabei werden konjunkturelle Effekte und eben die Frage nach dem Verbleib der Ausgesteuerten oder Abgelehnten geflissentlich ausgeblendet. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass viele Betroffene durch die Zwangsmassnahmen nicht wie erwartet ins Erwerbsleben zurückgefunden haben, sondern in noch grösserer Armut gelandet sind als zuvor mit Sozialleistungen. Zu belegen sind diese Entwicklungen beispielsweise anhand der Kundenzahlen von Suppenküchen und anderen privaten Initiativen zur Unterstützung der Ärmsten. Hier zeigt sich, dass die mangelnde Arbeitsintegration nicht auf die Motivationslage der Betroffenen zurückzuführen ist, sondern in viel stärkerem Mass von der Bereitschaft der Arbeitgeber abhängt, z.B. Lernbehinderte in den eigenen Betrieb zu integrieren. Zum Teil torpedieren die Fördermassnahmen die angestrebte Integration geradezu, indem es für einen Arbeitgeber je nach Anreiz- und Beihilfensystem lukrativer ist, Menschen in Beschäftigungsprogrammen anzustellen, sie aber danach nicht in ein reguläres Angestelltenverhältnis zu übernehmen, sondern durch den nächsten begleiteten (und durch Beiträge der Sozialversicherungen subventionierten) Mitarbeiter zu ersetzen. So betrachtet bleibt vom Glanz des Workfare-Gedankens wahrlich nicht viel übrig. Was hat all das nun mit jener Mehrheit zu tun, die brav ihrer Erwerbsarbeit nachgeht, bzw. das Glück hat, in regulären Verhältnissen angestellt zu sein? Die Konzepte des 30 Behinderung und Politik 3/08 Workfare haben nicht nur die Erwerbslosen als Adressaten im Auge, sondern auch die Erwerbstätigen, indem sie letzteren vorführen, was passieren würde, wenn sie aus der Arbeitswelt ausschieden. Die Disziplinierung der Werktätigen ist ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt - mittels Abschreckung können Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden, die eigentlich nicht akzeptabel wären. Und um sich der unangenehmen Realität, dass eine Anstellung nicht nur von eigenem Fleiss und Motivation abhängen, nicht stellen zu müssen, werden alle, die keine Erwerbsarbeit haben, als die Anderen ausgegrenzt und als Drückeberger und Scheininvalide gebrandmarkt. Ist doch praktisch, oder? Genauer hinschauen und sich eine eigene Meinung bilden; dazu lädt uns Kurt Wyss in seinem gut verständlichen Buch ein. 160 Seiten, die helfen, aktuelles Geschehen besser einzuordnen. Angaben zum Buch: Kurt Wyss, Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus, edition 8, 2007. ISBN 978-3-85990-125-4, Preis: 24.-- Fr. www.edition8.ch 31 Behinderung und Politik 3/08 Peter Lundt und … - seine Fälle für Sie gehört von Bettina Gruber Peter Lundt ist Privatdetektiv. Seit Beginn der CD-Hörspielreihe, deren Hauptakteur er ist, hat er acht Fälle gelöst. Peter Lundt ist blind. Nach seinem Unfall im Dienst, der ihn das Augenlicht kostete, will der ehemalige Hamburger Drogenermittler nicht untätig herumhocken und eröffnet ein Büro als Privatdetektiv. Per Annonce findet er eine Assistentin, deren Aufgabenfeld sich schnell über persönliche Assistenz im Alltag ausweitet. Auch bei seinen Ermittlungen kommt Lundt bald nicht mehr ohne Anna Schmidt aus. Er ist kein einfacher Arbeitgeber, denn er will weder bemitleidet noch unterschätzt werden. Das macht ihn zuweilen kratzbürstig und ungeduldig. Zum Glück ist Anna nicht auf den Mund gefallen und lässt sich von Lundt nicht alles bieten. Das ergibt immer wieder liebevoll-zänkische Dialoge. «Peter Lundt und das Keuchen des Karpfens»: Im ersten Fall – 2004 erschienen – schnüffeln Lundt und Schmidt in japanischen Diplomatenkreisen herum, um etwas über den Verbleib verschwundener wertvoller Koi-Karpfen herauszufinden. Dabei lernt Lundt übrigens die Nachtclub-Tänzerin Sally Vation kennen, von der er sich enorm angezogen fühlt. Betreffend Kontakt zum anderen Geschlecht: Lundt geniesst es, dass er den Frauen gefällt. Seine Freude daran, dieses Thema auszureizen, lässt allerdings leichte Zweifel aufkommen, ob er sich wirklich (noch) als ganzer Mann fühlt, wie er es so gerne unterstreicht. Mit Lundt klarzukommen, ist ohnehin nicht einfach. Durch seine Blindheit will er sich nicht behindern lassen und gerät gerade dadurch, dass er sich so schwer tut, Hilfe anzunehmen, schon mal in Bedrängnis. Sein schwieriger Charakter und die Widersprüchlichkeiten in seiner Person machen Lundt aber irgendwie liebenswert. Im neuesten Fall, «Peter Lundt und die Stunden bis Helsinki», muss Lundt aufdecken, wie es kommt, dass auf einem Fährschiff seit einiger Zeit der Klabautermann sein Unwesen treibt und dadurch die Besatzung vergrault. Sein grösstes Problem auf der Überfahrt ist aber nicht die Auflösung des Falls, sondern seine Seekrankheit. (Krimifans mit zartem Gemüt und nervösem Magen ist diese Hörspielepisode nicht zu empfehlen, denn auch die Seekrankheit ist akustisch eindrücklich umgesetzt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.) «Peter Lundt und …» ist eine Krimireihe, und wie im Fernsehkrimi, so geht es auch in diesen Hörgeschichten zuweilen ruppig zu. Oder auch erotisch. Unterhaltung für Erwachsene eben, mit Ton statt Bild – also definitiv keine Gutenachtgeschichten für Fünfjährige. Was in unserem Zusammenhang speziell interessiert, ist natürlich die Frage, wie dieser Detektiv als Blinder wirkt. Unterhaltsam ist, wie verschiedene Blindenhilfsmittel in die Geschichten eingebaut sind. Wie im echten Leben auch schon beobachtet, so konsultiert auch Lundt in seiner Nervosität zu allen unpassenden Momenten seine sprechende Uhr. Und sein Farberkennungsgerät spielt auf dem Fährschiff eine Rolle. 32 Behinderung und Politik 3/08 Um Peter Lundt aus Profisicht beurteilen zu lassen, habe ich einige blinde Freunde um ihre Meinung gebeten. Hier stellvertretend das kritische Urteil einer Betroffenen. Zu Lundts erstem Fall meint sie: «Eigentlich finde ich es ganz witzig, vor allem einige Dialoge. Endlich mal nicht die Mitleidschiene. Einiges ist ja ziemlich authentisch: sprechende Uhr, Integrationsamt. Anderes ist albern, z. B. die Stockgeräusche. Mit Blindentechniken hat das nichts zu tun. Außerdem finde ich, dass das Thema Blindheit vor allem in den Dialogen zu sehr ausgereizt wird. Spannend fand ich die erste Folge schon. (Aber wahrscheinlich ist die erste Folge sowieso die beste. Das ist doch bei solchen Serien ganz oft so.) Gut finde ich auch, dass die CD schon, wenn man sie kauft, mit Punktschrift beschriftet ist. Allerdings sind auch da nicht alle Punkte deutlich zu spüren, und es werden keine Vollschriftkürzungen verwendet. Im Großen und Ganzen würde ich sagen: ganz nette Unterhaltung.» Wie gesagt, unterdessen sind acht Peter-Lundt-Fälle erhältlich, und Folge neun «Peter Lundt und die Tänze der Toten» ist für Februar 2009 angekündigt. LundtFans müssen sich also noch etwas gedulden. Wer bisher mit dem blinden Detektiv noch keine Bekanntschaft gemacht hat, der kann dies unter www.hoerformat.de nachholen, wo einige Hörproben aus den einzelnen CDs abgespielt werden können. Die rund einstündigen Hörspiele von Verlag Hörformat sind zurzeit zum Preis von je 19.90 Fr. erhältlich. Diesen Herbst wechseln die Lundt-CDs allerdings den Vertriebskanal und sind laut Ankündigung ab Ende Oktober im Buch- und Plattenhandel in der Reihe Lübbe Audio zu einem Preis von 13.90 Fr. zu haben. Erschienen sind bisher: Peter Lundt und das Keuchen des Karpfens, ISBN 978-3-980 9813-0-9 Peter Lundt und die Rache des Drachen ISBN 978-3-980 9813-1-6 Peter Lundt und der Kniefall der Königin ISBN 978-3-980 9813-2-3 Peter Lundt und das Wunder vom Weihnachtsmarkt ISBN 978-3-980 9813-3-0 Peter Lundt und das Eckige im Runden ISBN 978-3-980 9813-4-7 Peter Lundt und das Schweigen der Bienen ISBN 978-3-980 9813-5-4 Peter Lundt und die Jagd nach Peter Lundt ISBN 978-3-980 9813-6-1 Peter Lundt und die Stunden bis Helsinki ISBN 978-3-980 9813-7-8. 33 Behinderung und Politik 3/08 IMPRESSUM agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form – der «BÖV Nachrichten») Herausgeberin: AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz Effingerstrasse 55, 3008 Bern Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35 Email: [email protected] Redaktion: Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe Bettina Gruber Haberditz Simone Leuenberger Ursula Schaffner Lektorat: Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe) Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe) Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von «agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche gekennzeichnet. Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht! Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected] 34