Word: 196 KB

Werbung
agile – Behinderung und Politik
Ausgabe 3-08
Schwerpunkt:
Die wahren Experten zur IV-Zusatzfinanzierung
herausgegeben von
Behinderung und Politik 3/08
INHALTSVERZEICHNIS
EDITORIAL
Eine schwierige Kampagne steht uns bevor ............................................................... 3
SCHWERPUNKT
IV-Zusatzfinanzierung – Mit Erfahrung überzeugen ................................................... 4
Von Eva Aeschimann
FTIA (Federazione Ticinese Integrazione Handicap) ................................................. 5
Von Lorenzo Giacolini
SGMK (Schweizerische Gesellschaft für Muskelkranke) ............................................ 7
Von Francisca Boenders
SGB (Schweizerischer Gehörlosenbund) ................................................................... 9
Von Stéphane Faustinelli
APhS (Die Angst- und Panikhilfe Schweiz)............................................................... 11
Von Marco Todesco
visoparents schweiz, Eltern blinder, seh- und mehrfachbehinderter Kinder ............. 13
Von Marlis Plozza
SOZIALPOLITIK
Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 15
Von Ursula Schaffner
Motoren des Monitoring 5. IVG-Revision kommen auf Touren ................................. 20
Von Ursula Schaffner
Einführung Assistenzentschädigung in der nächsten Runde .................................... 20
Von Ursula Schaffner
GLEICHSTELLUNG
Kampagne zum Jubiläum des BehiG 2009 .............................................................. 22
Von Eva Aeschimann
Antidiskriminierungsrecht im Erwerbsleben: Vergleich Schweiz - EU....................... 23
Von Tarek Naguib
VERKEHR
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 26
BILDUNG
Kursprogramm 2008 ................................................................................................. 27
Von Catherine Corbaz
BEHINDERTENSZENE
3. Dezember 2008: «Assistenz, ein Recht für alle!» ................................................ 28
MEDIEN
Workfare ................................................................................................................... 29
Für Sie gelesen von Bettina Gruber
Peter Lundt und … - seine Fälle ............................................................................... 32
Für Sie gehört von Bettina Gruber
IMPRESSUM ............................................................................................................ 34
2
Behinderung und Politik 3/08
EDITORIAL
Eine schwierige Kampagne steht uns bevor
An der Sommersession konnte sich das Eidgenössische Parlament endlich auf eine
Lösung für die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung einigen. Dies ist ein –
zwar noch immer ungenügender - Schritt hin zur Konsolidierung dieses Sozialwerks.
AGILE begrüsst den Entscheid, obwohl die vorgeschlagene Mehrwertsteuererhöhung
um 0,4 Prozent nicht ideal ist. Diese Erhöhung ist nicht nur gering und befristet, wie
AGILE während der Parlamentsdebatten betonte, sondern auch insofern ungerecht,
als die schwächsten Bevölkerungsgruppen am stärksten getroffen werden! Aus meiner Sicht wäre deshalb eine Erhöhung der Lohnabgaben sozialer gewesen.
Die IV-Zusatzfinanzierung wird im nächsten Frühling Volk und Ständen zur Zustimmung vorgelegt, da sie einer Verfassungsänderung bedarf. Wie bei jedem Kompromiss, der erst nach zähem Ringen erzielt wird und deshalb für alle Seiten wenig zufriedenstellend ist, wird die Kampagne nicht einfach sein. AGILE hofft deshalb auf ein
starkes Engagement der Parteien, da die Menschen mit Behinderung und die chronisch kranken Personen deren Solidarität brauchen.
Am 1. Juli wurde ein Verein zur Koordination der Abstimmungskampagne gegründet,
geleitet von Organisationen aus dem Behindertenwesen. Urs Dettling von Pro Infirmis präsidiert den Verein, welcher bereits 17 Mitglieder zählt, darunter die wichtigsten Institutionen des Landes. Es sind auch Organisationen vertreten, die sich bei der
Kampagne gegen die 5. IV-Revision äusserst zurückhaltend gezeigt hatten.
Die Organisationen werden ihre Mitglieder davon überzeugen müssen, sich in der
Kampagne zu engagieren, da es niemals einfach ist, eine Steuererhöhung in einer
Volksabstimmung durchzubringen. Noch schwieriger wird es im Fall der Finanzierung
einer Institution, die in den letzten Jahren als zu lasch betitelt wurde. AGILE appelliert an seine Mitglieder, sich für die Vorlage einzusetzen. Wird die Vorlage in der
Volksabstimmung angenommen, so wird es möglich, die Rechte und Interessen von
Menschen mit Behinderung stärker anzuerkennen.
Wie soll dies erreicht werden? Neben einer Einleitung zur Abstimmungsvorlage in
dieser Nummer von «agile – Behinderung und Politik» nehmen einige unserer Mitgliedsorganisationen Stellung zu Fragen der «agile»-Redaktion bezüglich IV-Zusatzfinanzierung. Die Antworten weiterer Mitglieder werden auf unserer Webseite und in
einem speziellen Newsletter während der Abstimmungskampagne publiziert. Die
Mobilisierung der Basis der Selbsthilfe ist die Stärke von AGILE. Darin besteht auch
die Hauptaufgabe, die wir uns im Rahmen dieser Kampagne gestellt haben. Damit
wir gemeinsam zum Erfolg gelangen!
Roger Cosandey, Co-Präsident von AGILE
Übersetzung: Susanne Alpiger
3
Behinderung und Politik 3/08
SCHWERPUNKT
IV-Zusatzfinanzierung – Mit Erfahrung überzeugen
Eva Aeschimann, Bereichsleiterin Öffentlichkeitsarbeit, AGILE
Im ersten Halbjahr 2009 stimmt das Schweizer Volk über die IV-Zusatzfinanzierung
ab. Dieser Urnengang ist für Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke von
grosser Bedeutung. Nicht zuletzt geht es um die Sicherung der Invalidenversicherung als Volksversicherung. AGILE als Dachverband von über 40 Behindertenorganisationen engagiert sich mit allen Mitteln für die Annahme dieser Vorlage. Gemeinsam mit den Mitgliedorganisationen will AGILE den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern vor Augen führen, was für die Betroffenen von der Annahme dieser Abstimmung abhängt.
In dieser Ausgabe von «agile – Behinderung und Politik» zeigen Mitglied-Organisationen aus allen Sprachregionen, welche Bedeutung die Invalidenversicherung als
Volksversicherung für einzelne Menschen hat.
IV finanziell sichern
Nach langem Ringen, Rechnen und Rappenspalten haben sich National- und Ständerat im Sommer doch noch für die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung
ausgesprochen. Die Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben
damit ein Versprechen gegenüber Menschen mit Behinderung eingelöst, das sie bei
der Debatte der Revision abgegeben haben: die finanzielle Sicherung der IV. Mittels
Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent während (magischen?) sieben Jahren
wird ein erster Schritt zur Sicherung ermöglicht. Zudem wird die IV aus der AHV mit
der Bildung eines eigenen Fonds ausgegliedert.
Die mit der Vorlage verbundene Mehrwertsteuer-Erhöhung reisst wohl niemanden
aus den Socken. Denn, wer zahlt schon gerne mehr Steuern? Ausser vielleicht, er
oder sie erkennt, für welchen sinnvollen Zweck und wie zielgerichtet diese Steuergelder eingesetzt werden. Die Mehrwertsteuer-Erhöhung für die IV sichert deren bisherigen Wert für Menschen mit Behinderung. Dies gilt es, den Stimmberechtigten
aufzuzeigen. Am glaubwürdigsten vermitteln diese Botschaft die Erfahrenen, die Betroffenen selbst, Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke. Denn noch immer glauben zu viele Menschen in unserem Land, die Leistungen der IV könnten
weiter abgebaut werden.
Bedeutung der IV und ihrer Leistungen für Menschen mit Behinderung
Die Basis von AGILE, also ihre Mitgliedorganisationen haben sich in den letzten Wochen mit Fragen zur IV als Sozialversicherung auseinandergesetzt. Als ExpertInnen
in eigener Sache und damit glaubwürdig und authentisch. Eine Auswahl der Antworten zu Fragen von «agile – Behinderung und Politik» finden Sie hier:
4
Behinderung und Politik 3/08
Zum Beispiel: FTIA (Federazione Ticinese Integrazione Handicap)
Kontakt: Lorenzo Giacolini, Geschäftsführer, Federazione Ticinese Integrazione Andicap FTIA, E-Mail: [email protected]
Kurzportrait der Organisation:
Die FTIA ist eine Selbsthilfe-Organisation mit 1'200 Mitgliedern. Dabei handelt es
sich um Menschen mit einer körperlichen, Sinnes-, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer chronischen Krankheit.
Die Hauptziele der FTIA sind:
Förderung der Integration in die Gesellschaft vor allem von Menschen mit einer Körperbehinderung, dies durch die Bekämpfung von Marginalisierung.
Förderung gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen,
die die Integration unterstützen.
Schaffung von Arbeitsplätzen und Berufsausbildungsplätzen und eines Angebots an
Dienstleistungen, sowie die Förderung von Aktivitäten im Bereich Sport.
Die FTIA agiert zudem als treibende Kraft und Gesprächspartnerin bei Behörden,
wenn es um Fragen in Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung geht.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Für mich ist klar, was die Invalidenversicherung ist, auch wenn meines Erachtens ein
Laie üblicherweise denkt, die IV sei ein Synonym für Rente.
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der FTIA?
Darauf habe ich keine Antwort, da die FTIA noch nie eine derartige Umfrage unter
ihren Mitgliedern durchgeführt hat.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
Ohne sichere Daten liefern zu können, beanspruchen FTIA-Mitglieder wahrscheinlich
alle Leistungen der IV, von jenen für die Schul- und Berufsbildung bis hin zu den medizinischen und finanziellen. Zudem beanspruchen sie Kollektivleistungen, da sie
direkt oder indirekt von den Dienstleistungen der FTIA profitieren, die ja teilweise von
IV-Beiträgen finanziert werden (Art. 74).
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen,
entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
Sicherlich nicht, auch wenn in den Rechnungen der IV die Renten bei weitem den
grössten Anteil der Ausgaben ausmachen.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz
genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Im Allgemeinen hatte die IV schon immer einen schlechten Ruf. Das hat damit zu
tun, dass bis vor ein paar Jahren praktisch sämtliche Gesuche um Leistungen bewilligt wurden. Bis vor einem Jahrzehnt war eine Ablehnung einer Rente kein Thema.
Ein Parallel-Beispiel sind die Kollektivleistungen: Bis 1995 wurde jeder korrekt einge5
Behinderung und Politik 3/08
reichte Antrag auf finanzielle Unterstützung bewilligt. Und zwar gemäss den damaligen Kriterien; sei dies im Bereich von Dienstleistungen oder im Bereich Institutionen.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie
im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
Die Halbierung der Renten-Zahl als Folge tatsächlicher Berufsintegration von Personen, die damit keine Rente mehr benötigen.
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja
zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen?
Wenn sich jemand für das Thema interessiert, dann wird er oder sie auch alles dafür
tun, um andere von einem Ja für die IV zu überzeugen. Die Zusatzfinanzierung ist
die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass man auch in der Zukunft weiterhin
IV-Leistungen erhält.
Ein zweites Argument ist für jene gedacht, die derzeit keine IV-Leistung beziehen.
Falls es nicht gelingt, die IV-Finanzierung langfristig sicher zu stellen, dann gibt es für
die Zukunft keine Garantie mehr dafür, dass man bei Bedarf die vom Gesetz vorgesehenen IV-Leistungen überhaupt noch erhält.
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die
Mitglieder Ihrer Organisation?
Die Folge einer fehlenden langfristigen Finanzierung ist die Reduktion der IV-Leistungen, insbesondere der Renten. Die Kosten, die sich daraus ergeben, würden sich
auf andere Sozialversicherungen verschieben (Ergänzungsleistungen und öffentliche
Hilfe).
Viele FTIA-Mitglieder haben eine geistige Behinderung, für die sich das Problem
nicht als schwerwiegend erweist: Sie werden tiefere Renten erhalten, aber der Staat
wird dies mit Ergänzungs- oder Zusatzleistungen kompensieren müssen. Dies erlaubt ihnen wiederum, Taggeld an die Institutionen zu zahlen. Oder, wenn sie daheim
leben, für die Unterstützung zu Hause. Mitglieder mit einer durch Krankheit verursachten körperlichen Behinderung (insbesondere chronische oder langfristige Krankheiten) oder jene mit einer psychischen Behinderung könnten auf mehr Probleme
stossen, da sie theoretisch für arbeitsfähig erklärt würden, jedoch ohne reale Aussicht, auch einen Arbeitsplatz zu finden. Hat eine betroffene Person Familie, dann
würden die wirtschaftlichen Probleme spürbar zu nehmen.
Übersetzung: Corinne Pellegrino
6
Behinderung und Politik 3/08
Zum Beispiel: SGMK (Schweizerische Gesellschaft für Muskelkranke)
Kontakt: Francisca Boenders, Sozialarbeiterin FH,
E-Mail: [email protected]
Kurzporträt der Organisation:
Die Gesellschaft für Muskelkranke ist eine gemeinnützige Organisation, die die Interessen und Anliegen von Menschen mit einer Muskelkrankheit vertritt. Mitglieder der
Gesellschaft für Muskelkranke sind Betroffene und ihre Angehörigen, Fachpersonen
sowie Personen, die die Ziele der Gesellschaft für Muskelkranke unterstützen.
Die Gesellschaft für Muskelkranke strebt eine Zukunft an, in der alle Menschen mit
einer Muskelkrankheit bestmöglich leben können – selbstbestimmt und gleichgestellt.
Die Gesellschaft für Muskelkranke setzt sich mit Blick auf diese Zukunft überall dort
ein, wo die Bedürfnisse von Menschen mit einer Muskelkrankheit und die ihrer Angehörigen anderswo nicht oder ungenügend abgedeckt sind.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
 Eine Versicherung, welche sehr viel Energie und Ressourcen benötigt, damit die
Betroffenen zu den Leistungen kommen.
 Eine Versicherung, welche für Arbeitnehmer im Erwerbsalter ist. Falls eine Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall eintritt, soll sie das Existenzminimum
sichern und Betroffene beraten, damit diese eine angepasste andere Tätigkeit verrichten können. Eine Versicherung, welche Hilfsmittel zur Verfügung stellt, damit
der Arbeitsplatz erhalten bleiben kann, der Alltag einfacher zu bewältigen ist oder
eine Versicherung, welche präventiv wirken soll, damit der Arbeitsplatz erhalten
bleiben kann.
 IV Kürzungen
 Gerechtigkeitsanspruch
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der Gesellschaft für
Muskelkranke?
Unterstützung um ihren Alltag zu bewältigen, oft reichen die finanziellen Mittel der IV
nicht, um den Alltag zu bewältigen, die lebensnotwendigen Hilfsmittel zu finanzieren
oder die baulichen Massnahmen vorzunehmen. Es muss ein sehr grosses Wissen
vorhanden sein, um an die minimalen Leistungen zu gelangen.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
 Hilfsmittel
 Hilflosenentschädigung
 Renten
 Wenig berufliche Massnahmen
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen,
entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
7
Behinderung und Politik 3/08
Für unsere Mitglieder nicht. Hilfsmittel und bauliche Massnahmen sind ein grosses
Thema.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz
genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Es ist schwer, die einzelnen Schicksale abzuwägen und zu beurteilen. In den
Schlagzeilen werden nur immer die «Schwarzen Schafe» gezeigt.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie
im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
 Integration und Prävention
 Gerechtigkeit und Fairness
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja
zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen?
Wenn wir unser System beibehalten möchten, dass für die älteren Menschen und
kranken/behinderten Menschen in der Gesellschaft gesorgt wird, müssen wir dies
irgendwie bezahlen.
Werden die Leistungen der IV immer vermindert, wird dies die Gesellschaft mit Steuergeldern via Sozialhilfe bezahlen müssen. Dies ist ein Weg, den ich persönlich als
diskriminierend empfinde.
Wenn das Gesetz richtig angewendet wird, und die IV ihre Aufgabe mit dem entsprechenden Manpower richtig wahrnimmt und die IV glaubwürdiger wird, dann ist es gut
vertretbar, dass wir mehr Steuerprozente bezahlen.
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die
Mitglieder Ihrer Organisation?
 Muss mehr über private Organisationen finanziert werden
 Sozialhilfe wird mehr beansprucht
 Krankheitskosten wegen Spital – Pflegeheimaufenthalte werden teuerer
 Diskriminierung, weiter weg von der Selbstbestimmung und Gleichstellung
8
Behinderung und Politik 3/08
Zum Beispiel: SGB (Schweizerischer Gehörlosenbund)
Kontakt: Stéphane Faustinelli, Mitglied der Geschäftsleitung, 16, ave de Provence,
1007 Lausanne, E-Mail: [email protected]
Kurzporträt der Organisation:
Der SGB-FSS ist in drei Sprachregionen gegliedert:
 Deutschschweiz und Liechtenstein
 Romandie
 Italienischsprachige Schweiz
Der SGB-FSS setzt sich dafür ein, die Eigenständigkeit der Gehörlosen und Hörbehinderten in der Schweiz (und in Liechtenstein) zu gewährleisten, die Solidarität unter
Gehörlosen zu fördern und ihnen eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
zu ermöglichen.
 Er fordert gleiche Rechte und Chancen für Gehörlose und Hörbehinderte.
 Er setzt sich ein für ihre soziale, kulturelle und sprachliche Unabhängigkeit.
 Er sensibilisiert für die Probleme von Gehörlosen und Hörbehinderten, um ihre
Integration zu fördern.
 Er ist nicht gewinnorientiert.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Die Invalidenversicherung ist mit der Arbeitsunfähigkeit verknüpft, d.h. mit einer Arbeitsverhinderung wegen einer angeborenen oder auf einen Unfall zurückzuführenden Behinderung. Der Begriff «Invalidität» sollte durch den Begriff «mit Behinderung»
ersetzt werden.
agile. Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder des Schweizerischen Gehörlosenbunds?
Durch die IV wird die schulische, berufliche und soziale Bildung finanziell unterstützt,
weiter werden Mehrkosten kompensiert für den Kauf von Hilfsmitteln wie Lichtrufanlagen, Schreibtelefonen und andere Hilfsmittel (visuelle Rufanzeigen) sowie für Unterstützungsleistungen durch Menschen (Dolmetscher, Betreuung etc.).
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
Hilfsmittel, Gebärdendolmetscher, durch die Behinderung im Bereich der Ausbildung
entstehende Kosten, seltener Renten.
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen,
entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
Für die Gehörlosen ist die IV eher für Massnahmen für die berufliche Eingliederung
und für Hilfsmittel von Bedeutung. In der Regel wünschen Gehörlose keine IV-Rente,
fühlen sich aber «gezwungen», eine Rente zu beziehen, da sie keine Stelle finden.
9
Behinderung und Politik 3/08
Allerdings gibt es relativ wenig Gehörlose, die eine Rente erhalten, und in letzter Zeit
wurden viele Renten gestrichen oder reduziert.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz
genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Was die Hilfsmittel anbelangt, so sind die Leistungen der IV angemessen; für die
Bewältigung des Alltags der Gehörlosen sind sie unabdingbar. Wir sind nicht der
Meinung, dass es sich bei der IV um einen «Selbstbedienungsladen» handelt.
Hinsichtlich der Gebärdendolmetscher haben wir gegenwärtig ernstliche Probleme,
vor allem für die Dolmetscher als «Dienstleistungen Dritter» am Arbeitsplatz.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie
im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
Wir mögen diesen Begriff nicht. Auch bei der SVP gab es einen Schein-Invaliden!
Die IV müsste in Bezug auf die Ergebnisse, Statistiken und konkreten Fälle transparenter sein.
Es ist einfach, die «Schein-Invaliden» zu kritisieren. Die IV-Stellen müssten auch
Selbstkritik üben. Die IV ist zu bürokratisch, ihre Mitarbeitenden verstehen oft nichts
von Gehörlosen und Hörbehinderten. Die IV-Stellen selbst stellen keine Gehörlosen
ein, entscheiden aber über sie. Zu häufig treffen die IV-Stellen befremdliche und formalistische Entscheidungen für diese Menschen «mit Behinderung», anstatt eine
geeignete Lösung zur Vermeidung von Renten zu finden.
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja
zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen?
Bei einem «NEIN» droht die Gefahr, dass man wieder einen Schritt zurück macht,
d.h. einen Schritt in die Isolierung und die Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die
Verschlechterung der sozialen Integration, eine schlechte Qualität der Ausbildung.
Ein «JA» hingegen würde es ermöglichen, die finanzielle Unterstützung und die Lebensqualität der Menschen mit Behinderung zu erhalten.
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die
Mitglieder Ihrer Organisation?
Die Verschuldung der IV würde wachsen, die Leistungen wären reduziert, so dass
die Gehörlosen und Hörbehinderten einen kleineren Anspruch oder überhaupt keinen
Anspruch beispielsweise auf Gebärdendolmetscher mehr hätten. Sie könnten keine
Ausbildungen mehr absolvieren und nicht mehr in Berufen arbeiten, in denen sie
manchmal einen Dolmetscher benötigen. Das würde zu schlecht ausgebildeten Hörbehinderten und chronisch Arbeitslosen führen.
Übersetzung: Susanne Alpiger
10
Behinderung und Politik 3/08
Zum Beispiel: APhS (Die Angst- und Panikhilfe Schweiz)
Kontakt: Marco Todesco, Präsident APhS
E-Mail: [email protected]
Kurzporträt der Organisation:
Der Verein APhS ist eine Selbsthilfeorganisation mit rund 300 Mitgliedern. Er vertritt
die Interessen von Patienten, die an einer Angststörung leiden und bietet:
 Hilfe
 Beratung
 Informationen
 Möglichkeit zur Diskussion zwischen Patienten /Angehörigen /Fachleuten
Der Leidensdruck ist oft enorm. Viele ziehen sich zurück, verlieren ihre Arbeit und
geraten in finanzielle Nöte, aus denen sie sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien
können. Ziel ist Enttabuisierung und Entstigmatisierung. Durch rechtzeitige kompetente Hilfe/Information kann geholfen werden; Staat und Krankenkassen können
Kosten einsparen.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Mehrheitlich Ärger, Frustration, Willkür. Auch Abhängigkeit, Angst. Eine Versicherung, die eigentlich den Auftrag hat, psychisch und körperlich Behinderte in jeglicher
Form zu unterstützen, welche nicht mehr in der Lage sind ihren Lebensunterhalt
selbständig zu erarbeiten.
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der Angst- und Panikhilfe Schweiz?
Für einige therapieresistente Patienten, die einzige Möglichkeit, also Lebensunterhalt, Leben.
Inkompetentes Beamtenwesen mit grösstenteils Unverständnis für psychische Erkrankungen. Nach der 5. IV-Revision ist davon auszugehen, dass allgemein Menschen mit psychischen Leiden, insbesondere Betroffene mit Angststörungen und
Depressionen, auch weiterhin diskriminiert und missverstanden werden.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
Rente, Umschulungsmassnahmen
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen,
entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
Aus der Sicht unserer Mitglieder ja. Zurzeit sieht es wohl eher danach aus, als
müsste die IV auch ohne Mitwirkungspflicht der Arbeitgeber ausschliesslich zu einer
Eingliederungsversicherung mutieren.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz
genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
11
Behinderung und Politik 3/08
Politische Ansichten einzelner Parteien /-vertreter.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie
im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
Hilfe, Empowerment, Beratung, Unterstützung, Begleitung, Existenzsicherung, Einfühlungsvermögen.
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja
zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen?
Antwort: ???
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die
Mitglieder Ihrer Organisation?
Durch Verlagerung der Problematik auf ALV und Sozialfürsorge vermehrte psychische Belastung (insbes. für Angstpatienten, miserable Voraussetzung für eine Genesung). Verschlechterung der gesundheitlichen und Allgemeinsituation. Isolation,
Ausgrenzung. Befürchtung: Anstieg der Suizidalrate bei Angstpatienten.
12
Behinderung und Politik 3/08
Zum Beispiel: visoparents schweiz, Eltern blinder, seh- und mehrfachbehinderter Kinder
Kontakt: Marlis Plozza, Buchhaltung
E-Mail: [email protected]
Kurzporträt der Organisation:
visoparents schweiz ist der Elternverein blinder, seh- und mehrfachbehinderter Kinder.
Wir beraten die Eltern, damit ihr behindertes Kind die bestmögliche Förderung erhält.
Wir bieten selbst Früherziehung und Low Vision-Abklärungen an, führen ein Kinderhaus und eine Tagesschule. Auch die Unterstützung der Eltern ist uns wichtig. Neben Informationen, Kontakthilfe zu Behörden, Schulen und Spitälern, bieten wir verschiedene Entlastungsmöglichkeiten an.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Defizit, Sparmassnahmen, überteuerte Hilfsmittel, Rechtsstreitigkeiten.
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder von visoparents
schweiz?
Finanzielle Unterstützung für die Pflege und Förderung ihrer behinderten Kinder.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
Als direkte IV-Leistungen beziehen die Eltern Hilflosenentschädigung und Pflegebeiträge, Kosten für medizinische und pädagogisch-therapeutische Massnahmen und
Hilfsmittel.
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen,
entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
Für unsere Mitglieder steht noch nicht die Rente im Vordergrund (siehe Frage zuvor).
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz
genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Es kommt vor, dass die genau festgelegten Bedingungen vorgetäuscht werden. Wie
überall hört man nur von diesen negativen Einzelfällen. Zudem gibt es Behinderungen, die nicht leicht ersichtlich sind und einen Aussenstehenden nicht verstehen lassen, dass eine IV-Rente notwendig ist. Bessere Kontrollen könnten das Vertrauen
der Bevölkerung in die IV verbessern.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie
im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
Leider kann ich keinen ebenso prägnanten Gegenbegriff prägen. Es wäre schön,
wenn man von gerechten Renten reden würde.
13
Behinderung und Politik 3/08
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja
zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die zu Urne legen?
Eine Behinderung kann uns alle treffen. Neben der schwer verkraftbaren Behinderung mit wenig finanziellen Mitteln auskommen zu müssen, ist keine schöne Aussicht
und heute schon Wirklichkeit. Ohne Zusatzfinanzierung müsste die IV noch mehr
sparen und dies ginge sicher zu Lasten der Behinderten.
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die
Mitglieder Ihrer Organisation?
Weniger finanzielle Mittel bedeuten immer mehr Eigenbelastung. Viele unserer Eltern
sind heute schon überlastet mit der Sorge um/für ihre behinderten Kinder. Sie könnten sich weniger Entlastung leisten und wenn die IV bei den Bewilligungen für Therapien und Hilfsmittel spart, schadet dies direkt den Kindern.
14
Behinderung und Politik 3/08
SOZIALPOLITIK
Sozialpolitische Rundschau
Von Ursula Schaffner
Sommerzeit, Zeit für Jahresberichte und Statistiken der Institutionen des Sozialstaates Schweiz. In den letzten Wochen sind zum Beispiel die Jahresberichte 2007 des
AHV-Ausgleichsfonds, der Ombudsstelle der sozialen Krankenversicherung, der
Ombudsstelle der Suva, die Statistik der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV 2007
aber auch die gesamtschweizerischen Ergebnisse der Sozialhilfestatistik 2006 erschienen. Die Berichte geben Einblick in die vielfältige schweizerische Soziallandschaft. Erstmals ist zudem der Jahresbericht des Bundesrates, in seiner Rolle als
Aufsichtsorgan über die Sozialversicherungen, in einer neuen Form erschienen.
Der Bericht enthält Daten zu allen Versicherungszweigen, von der AHV über die IV
bis zu den Ergänzungsleistungen, der beruflichen Vorsorge, der Krankenversicherung, der Unfallsversicherung, der Militärversicherung, der Erwerbsersatzordnung,
der Arbeitslosenversicherung bis hin zu den Familienzulagen. Somit wird ein Gesamtblick auf alle Sozialversicherungszweige möglich. Und es können Querbezüge
hergestellt werden, wenn auch noch nicht für alle Zweige Daten aus dem Jahr 2007
erhältlich waren. Die Geschäftsprüfungskommissionen des National- und Ständerats
hatten einen solchen Bericht bereits mehrmals gefordert, um die Unterlagen für eine
strategische Gesamtplanung der Sozialversicherung zur Verfügung zu haben. Diese
Unterlagen sind jetzt vorhanden und eine langfristige Gesamtplanung kann an die
Hand genommen werden. Es ist dies eine ehrgeizige und äusserst komplexe Aufgabe, die sich angesichts der demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in der Schweiz anzupacken lohnt.
Invalidenversicherung
Ist die IV zu spendierfreudig? Davon geht offenbar Avenir Suisse aus, der DenkTank, der sich gerne als Labor für die Entwicklung erfolgsversprechender neuer
Ideen sieht. Die Vizedirektorin dieses Gefässes hat im Juni gefordert, alle IV-Renten
müssten einer gründlichen Revision unterzogen werden. Es sei nur gerecht, wenn
Menschen, die vor zehn, zwanzig und mehr Jahren eine Rente bekommen hätten,
heute nochmals unter die Lupe genommen und ebenso streng beurteilt würden wie
heutige Antragstellende. Sie seien schliesslich der Grund für die heutige hohe Verschuldung der IV. Eine neue Idee ist das nicht, ebenso wenig eine erfolgsversprechende. Mit ihrem Vorschlag wiederholt Avenir Suisse lediglich eine bereits von der
SVP bekannte Forderung. Und ebenso wie die SVP unterschiebt Avenir Suisse damit
der IV den Vorwurf, sie sei in grossem Stil Betrügern auf den Leim gekrochen. Der
Direktor des BSV hat Avenir Suisse zu Recht entgegengehalten, die Entwicklung der
heutigen Finanzlage der IV sei etwas komplizierter, als dass man sie mit der Streichung von x-tausenden von Renten korrigieren könne. Ein solches Vorgehen widerspräche zudem Grundprinzipien unserer Rechtsordnung wie etwa der Rechtssicherheit. Ganz zu schweigen vom Heer der Personen, die angestellt werden müssten,
15
Behinderung und Politik 3/08
um all die Revisionen durchzuführen. Es würde Avenir Suisse gut anstehen, getreu
ihrem Namen à venir – was noch kommen wird – Ideen auszubrüten, wie Arbeitsbedingungen in Zukunft zu gestalten sind, damit nicht immer mehr Menschen an ihnen
erkranken. Weiter gelte es zu überlegen, welche Unterstützung Arbeitgebende brauchen, um erkrankte Menschen weiterhin im Arbeitsprozess zu behalten.
Im letzten Jahr hat im Kanton Zürich die Zahl der IV-Verfahren vor dem Sozialversicherungsgericht um 32 Prozent zugenommen. Dies, obwohl das Verfahren heute
etwas kostet. Die Erfolgsaussichten, eine Beschwerde gegen einen Entscheid der IVStelle zu führen, liegen immerhin bei 40 Prozent!
Die Ergänzungsleistungs-Statistik 2007 zeigt einmal mehr, für wie viele Personen die
IV-Rente zur Deckung der Existenzkosten nicht reicht. Jeder dritte, jede dritte IVRentnerIn braucht nämlich Ergänzungsleistungen (zum Vergleich: bei den AHVRentnerInnen ist es etwa jede achte Person). Personen, die im Heim wohnen, brauchen zudem deutlich mehr EL als jene, die zu Hause wohnen. Nämlich rund 2,6 Mal
mehr. (Alle Angaben sind unter www.el.bsv.admin.ch elektronisch abrufbar.)
AHV
Seit bald zehn Jahren wird an der 11. AHV-Revision herumgebastelt. Eine von allen
Parteien und Verbänden getragene Lösung ist nach wie vor nicht in Sicht. Die Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre, einer der sehr umstrittenen
Punkte der Vorlage, wird jetzt eventuell fallen gelassen. In der sozialpolitischen
Kommission des Ständerates (SGK-SR) sollen entsprechende Diskussionen stattgefunden haben.
Im Ständerat hatte, wie schon im Nationalrat, die Initiative für ein flexibles Rentenalter des schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) keine Chance. Der SGB will
mit seiner Initiative allen Personen mit einem maximalen jährlichen Einkommen von
120 000 Franken ab 62 Jahren eine ungekürzte volle AHV-Rente ermöglichen. Beide
Kammern lehnen die Initiative ab. Sie würde gemäss Berechnungen des Bundesrates zusätzlich 780 Millionen bis 1,3 Milliarden Franken kosten.
Derweil kommt die Generation der Babyboomer langsam ins Rentenalter. Ab 2010
wird es deutlich mehr 65-Jährige als 20-Jährige geben. Noch 1980 war das Verhältnis von 20- zu 65-Jährigen zwei zu eins.
Eine Nationalfondsstudie vom letzten Jahr weist nach, dass die über 50-Jährigen
immer mehr erben. Das heisst, die Generation, die in der Regel existenziell bereits
abgesichert ist, bekommt zusätzliches Vermögen. Noch 1980 erhielten in der
Schweiz die unter 50-Jährigen fast die Hälfte des vererbten Vermögens. Im Jahr
2000 waren es noch 37 Prozent und im Jahr 2020 werden es nur noch 20 Prozent
sein. An einer Tagung des «Netzwerks Generationenbeziehungen» im Mai wurde
über Anreize diskutiert, wie Erbvorbezüge oder Vererbung an nicht eigene, jüngere
Personen erleichtert werden könnte. Das Thema scheint allerdings heikel zu sein.
Die Diskussionsteilnehmenden waren sich einig, solange sich die Anreize auf freiwillige Begünstigungen beschränkten. Sobald man sich ans gesetzlich Eingemachte
heranwagte, wie etwa das Pflichtteilsrecht, gingen die Meinungen stark auseinander.
16
Behinderung und Politik 3/08
Berufliche Eingliederung
Bekanntlich haben Menschen mit niedriger beruflicher Qualifikation ein höheres Risiko, arbeitslos, krank oder gar ganz erwerbsunfähig zu werden. Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Basel hat nun kürzlich Fallstudien durchgeführt, die der Frage nachgehen, welche Auswirkungen die Globalisierung auf Menschen mit unterschiedlichen Ausbildungen hat. Die Fallstudien zeigen, dass gut qualifizierte Personen, die ihren Job im Zusammenhang mit der Globalisierung verloren
haben, nachher häufig eine vergleichbare oder sogar besser bezahlte Stelle finden.
Dagegen hat sich die Situation der nicht- oder nur angelernten Arbeitskräfte in den
letzten 16 Jahren deutlich verschlechtert. Diese Entwicklung drückt sich weniger in
niedrigen Löhnen aus als vor allem in einer deutlich höheren und längeren Arbeitslosigkeit von schlecht qualifizierten Menschen gegenüber jenen mit guter beruflicher
Ausbildung. Die Autorin der Studie meint deshalb, es sei entscheidend, diese Menschen möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Deshalb sollte
das Sozialversicherungsnetz beispielsweise keine falschen Anreize bieten – sprich:
Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe sollten nicht zu
lange und nicht zu hoch sein. Andererseits müssten den Arbeitslosen gute Weiterbildungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. – Das tönt plausibel und ist auch bereits
bekannt, nämlich aus der Sparte Invalidenversicherung. Weiter fällt bei der Lektüre
der Studie auf, dass Arbeitgebende einmal mehr fehlen. Ob Langzeitarbeitslose eine
Stelle finden, hängt also offensichtlich nur von ihrem eigenen Willen ab. Allenfalls
können staatliche Stellen wie RAV sie dabei unterstützen. Die Resultate der Studie
sind unter
http://www.wwz.unibas.ch/aei/deutsch/Publikationen/MaterialienPub/Wyss(2008)_W
WZ.pdf zu finden.
Keine falschen finanziellen Anreize und gute Weiterbildungsmöglichkeiten empfiehlt
auch das BSV in der eben erschienen Studie «Flexicurity: Bedeutung für die
Schweiz». Die Studie geht der Frage nach, ob und wie Menschen in flexiblen Arbeitsverhältnissen sozial abgesichert sind. Zu Deutsch heisst das: Wie kommen
Menschen mit kurzen, immer wieder wechselnden Arbeitsverhältnissen, die überdies
oft nur Teilzeitanstellungen sind, zu einem Existenz sichernden Lohn? Und wie
kommen sie zu Weiterbildung und zu einer gesicherten Altersvorsorge? Neben den
eben erwähnten Rezepten wird vorgeschlagen, dass die verschiedenen Zweige der
sozialen Sicherheit vermehrt zusammenarbeiten sollten. Laut der Studie schliessen
sich in der Schweiz flexible Arbeitsverhältnisse und soziale Sicherheit nicht aus. Die
Schweiz sei vielmehr ein gutes Beispiel dafür, dass diese beiden Anliegen gut verbunden werden könnten. Bei der zweiten Säule seien zwar noch gewisse Verbesserungen vorzunehmen. Der Bundesrat hat denn auch erste entsprechende Änderungen an die Hand genommen (siehe agile 2/08, in derselben Rubrik unter BVG). Wie
sich sogenannt flexible Menschen heute weiterbilden können, und in welcher Form
die verschiedenen Sozialversicherungszweige zusammenarbeiten sollen, bleibt dann
allerdings sehr vage. http://www.newsservice.admin.ch/NSBSubscriber/message/de/18905
BVG
Während im Parlament noch über die Senkung des gesetzlichen Mindestumwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge diskutiert wird, haben bereits viele Pensi17
Behinderung und Politik 3/08
onskassen ihre Praxis gegen unten angepasst. Das heisst, zahlreiche Pensionskassen bezahlen ihren RentnerInnen heute eine tiefere Rente, als sie gesetzlich vorgesehen ist. Der Gesetzgeber hinkt somit der Realität um einige Jahre hinterher. Festzuhalten ist, dass die Kassen, welche die gesetzlichen Minimalvorschriften unterschreiten, in der Regel paritätisch von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden verwaltet werden.
Auch ein anderer Trend ist zu beobachten: Immer mehr Kassen haben statt des
Leistungs- das Beitragsprimat eingeführt. Das heisst, die Höhe der Altersrente richtet
sich nach den einbezahlten Beträgen und nicht (mehr) nach einer theoretisch festgelegten Grösse. Das Beitragsprimat ist für die Betriebe finanziell weniger risikoreich
und zudem auf den verstärkten flexibilisierten Arbeitsmarkt ausgerichtet. Die Rechnung zahlen Arbeitnehmende mit künftig tieferen Renten.
KVG
In der Berichtsperiode war die Abstimmung über den neuen Krankenkassenartikel
das wichtigste Geschäft. Der vorgeschlagene Verfassungsartikel wurde deutlich mit
fast 70 Prozent abgelehnt. Die ÄrztInnen werten den Abstimmungserfolg als Zeichen
dafür, dass Frau und Herr SchweizerIn auch in Zukunft ihren Arzt oder ihre Ärztin frei
wählen können wollen. Einem völlig freien Wettbewerb geben allerdings auch die
ÄrztInnen zur Zeit geringe Chancen. Ob der bis Ende 2009 geltende Zulassungsstopp für junge ÄrztInnen weiter gehen soll, ist noch offen.
ÄrztInnen und Kantone haben der ständerätlichen SGK einen Vorschlag für die Lösung des Problems vorgelegt: Der Ärztestopp soll per Ende 2009 aufgehoben werden und die Kantone sollen die Kompetenz bekommen, bei drohender Über- oder
Unterversorgung Limiten oder Anreize für neue Arztpraxen zu setzen. Die SGK-SR
ist auf den Vorschlag allerdings gar nicht erst eingetreten. Sie will ihrerseits den Versicherten in Zukunft die Wahl zwischen zwei Modellen ermöglichen: Das bisherige
mit freier Arztwahl. Beim zweiten Modell könnten die Leistungserbringer und die Versicherer ihre Verträge frei gestalten können; das heisst, die Arztwahl könnte beschränkt werden. Die SGK-SR hat das Departement Couchepin beauftragt, konkret
ein solches duales Modell auszuarbeiten.
Pflegefinanzierung
Nun ist auch die Neuorientierung der Pflegefinanzierung unter Dach und Fach. Dreieinhalb Jahre Parlamentsarbeit stecken darin. Viel Erfreuliches aus Sicht der Behinderten gibt es nicht. Nach einem Spitalaufenthalt werden nur noch zwei Wochen
Akut- und Übergangspflege bezahlt. Die Krankenversicherungen beteiligen sich mit
55 Prozent daran, die Kantone übernehmen den Rest. Sobald jemand länger auf
Pflege angewiesen ist, wird er oder sie empfindlich zur Kasse gebeten. Die Krankenversicherungen müssen dann nämlich nur noch einen Beitrag an die Kosten leisten.
Dieser Beitrag wird vom Bundesrat festgesetzt. Die Pflegebeiträge der Krankenkassen dürfen aber die heutigen Pflegeausgaben der Versicherungen nicht übersteigen.
Auch in Zukunft ist keine Anpassung an die Teuerung vorgesehen. Wer Pflege
braucht, zahlt zusätzlich zum Selbstbehalt der Krankenkasse 20 Prozent der höchsten Pflegestufe selber. Nach heutigem Stand werden diese zusätzlichen Kosten bis
zu 7'100 Franken im Jahr betragen. Die restlichen Pflegekosten muss der Kanton
bezahlen. Damit soll gewährleistet werden, dass niemand wegen seiner Pflegebedürftigkeit zum Sozialhilfeempfänger oder zur Sozialhilfeempfängerin wird. Durchaus
18
Behinderung und Politik 3/08
positiv ist zu werten, dass stationäre Pflege im Heim und ambulante Pflege zuhause
zumindest von den Krankenversicherungen gleich behandelt werden müssen. Deren
Beiträge an die Spitex oder ein Pflegeheim richten sich nach dem Pflegebedarf und
nicht nach dem Ort der Dienstleistungserbringung. Allerdings kann Pflege zuhause,
die nicht von der Spitex erbracht wird, immer noch nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden. Viele Menschen mit Behinderung, mit dem Ziel der Wahlfreiheit
und eines selbstbestimmten Lebens, hoffen deshalb immer noch auf einen kostendeckenden Assistenzzuschuss.
Vermischtes
Kinder von psychisch Kranken
Eine Untersuchung im Rahmen des NFP 51 («Integration und Ausschluss») zeigt,
dass Kinder von psychisch kranken Menschen häufig zu kurz kommen. Sie werden
nicht genügend über die Krankheit von Mutter oder Vater informiert und können somit auffälliges Verhalten nicht einordnen und verstehen. In mehr als der Hälfte der
betroffenen Familien ist die Krankheit ein Tabu. Zwei Drittel der angehörigen Kinder
sprechen ausserhalb der Familie nicht über die Krankheit der Eltern und bekommen
dadurch selber keine Unterstützung. Die betroffenen Kinder bleiben oft verwirrt und
isoliert zurück. Kinder bräuchten vermehrt altersgerechte Information, Beratung und
Begleitung, wird deshalb von den AutorInnen gefolgert (www.nfp51.ch).
Sozialhilfe
Im Jahr 2006 ist die Zahl der Personen in der Schweiz, die Sozialhilfe bezogen haben, fast gleich hoch gewesen wie im Jahr zuvor. Es waren rund 3,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Kinder, junge Erwachsene und Alleinerziehende haben weiterhin
das grösste Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu werden. Für Menschen zwischen
56 und 64 Jahren ist das Risiko, Sozialhilfebezügerin zu werden, im Berichtsjahr
deutlich gestiegen.
Unfallversicherung
Die SUVA hat letztes Jahr gut gewirtschaftet und kann deshalb ihre Prämiensätze
um rund sieben Prozent senken. Sie möchte ihre bisher im industriellen Sektor bestehende Monopolstellung gerne auf weitere Branchen wie die Landwirtschaft, den
Detailhandel und das Gesundheitswesen ausdehnen. Gerne möchte sie zudem ins
Zusatzversicherungs- und Vermögensverwaltungsgeschäft einsteigen. Die anstehende UVG-Revision sieht allerdings vor, dass der Spielraum der privaten Versicherer vergrössert werden soll.
Quellen (berücksichtigt von 29. April bis 19. August 2008): NZZ, Tagesanzeiger, Der
Bund, Le Temps, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen und
Statistik.
19
Behinderung und Politik 3/08
Motoren des Monitoring 5. IVG-Revision kommen auf Touren
Von Ursula Schaffner
Mitte Jahr haben in allen Landesteilen gut zehn Organisationen der BehindertenSelbsthilfe und ihre Beratungsstellen plangemäss mit dem Monitoring 5. IVG-Revision begonnen. Fast alle grossen Verbände der Selbsthilfe machen mit. Sie haben
ihre Sektionen und BeraterInnen über das Vorhaben informiert und sie mit den nötigen Dokumenten versorgt. Rund fünfzehn weitere Organisationen brauchen noch
formelle Entscheide ihrer Vorstände für ein Mitmachen. Sie haben ihre Bereitschaft
für eine Zusammenarbeit jedoch klar bekundet (siehe auch die Website von AGILE
mit Dokumenten und Meldestellen: http://www.agile.ch/t3/agile/index.php?id=1424)
Es wird nun einige Zeit dauern, bis erste Beobachtungen zusammen getragen sind
und ausgewertet werden können. Ende Jahr wird die Arbeitsgruppe Monitoring
Selbsthilfe 5. IVG-Revision eine erste Bilanz ziehen und das weitere Vorgehen besprechen.
Notwendigkeit Monitoring Selbsthilfe?
Mitarbeitende von AGILE sind übrigens verschiedentlich darauf angesprochen worden, ob es dieses Monitoring tatsächlich brauche. Das BSV habe doch bestätigt,
dass die Umsetzung der Fünften systematisch beobachtet und begleitet werde.
AGILE findet dennoch, dass auch die Selbsthilfe die Umsetzung dieser Revision beobachten und ihre Beobachtungen dokumentieren muss. Es fällt nämlich auf, dass
sowohl das BSV wie auch die einzelnen IV-Stellen seit anfangs 2008 in den Medien
sehr präsent sind und fast ausschliesslich Positives berichten. Zum Beispiel über die
grosse Anzahl von Früherfassungsmeldungen oder über den Rückgang von NeurentnerInnen. Das ist schön. Was allerdings mit diesen Menschen geschieht, darüber
ist in der Öffentlichkeit kaum etwas zu hören. Hier setzt das Monitoring der Selbsthilfe beispielsweise an.
Einführung Assistenzentschädigung in der nächsten Runde
Von Ursula Schaffner
Eigentlich war allgemein erwartet worden, dass der Bundesrat noch vor den Sommerferien einen Grundsatzentscheid zur künftigen Assistenzentschädigung fällen
würde. Die Landesregierung wurde dann aber durch andere Ereignisse in Atem
gehalten.
In Zukunft ein Assistenzzuschlag für wenige?
Vom BSV liegt ein Vorschlag vor, wie die Assistenzentschädigung in Zukunft aussehen könnte. Es ist eine stark abgespeckte Variante des noch bis Ende 2009 laufenden Pilotversuchs Assistenzbudget. Der Vorschlag orientiert sich weniger an den
20
Behinderung und Politik 3/08
Bedürfnissen der Assistenznehmenden als vielmehr an den politischen Gegebenheiten. Das BSV hat also vor allem aufs Geld geschaut.
Die wichtigsten Eckpunkte des BSV-Vorschlags lauten: In Zukunft können BezügerInnen einer Hilflosenentschädigung (HE) einen finanziellen Zustupf bekommen, den
Assistenzzuschlag. Mit diesem Zuschlag können Kosten für belegbare Assistenzleistungen bezahlt werden. Die Bereiche, die für eine Vergütung anerkannt werden,
sind: alltägliche Lebensverrichtungen, Grundpflege, Haushalt, Beruf, Freizeit und
Bildung. Diese Leistungen müssen von Personen erbracht werden, welche bei den
Assistenznehmenden angestellt sind. Die Assistenznehmenden müssen zudem volljährig sein und dürfen nicht in einem Heim leben. Die Leistungen von Angehörigen
dürfen nicht mit dem Zuschlag bezahlt werden.
Der neue Assistenzzuschlag darf die IV unter dem Strich nichts kosten. Das heisst in
Wirtschaftsdeutsch: Er muss kostenneutral eingeführt werden. Deshalb sollen sich
Assistenznehmende mit ihrem Einkommen und Vermögen an den Kosten beteiligen.
Weiter soll die Hilflosenentschädigung für HeimbewohnerInnen um die Hälfte gekürzt
werden. Zudem sollen in weiteren Bereichen der IV Einsparungen vorgenommen
werden. Wo und in welcher Höhe dies geschehen soll, ist noch nicht bekannt.
Der jetzt vorliegende Entwurf würde die Assistenzentschädigung nur für eine relativ
kleine Gruppe von vor allem volljährigen körperbehinderten Personen bis zum AHVAlter ermöglichen. Ob eine derartige Einschränkung allerdings auf grosse Zustimmung stösst, bleibt abzuwarten.
Bundesrat stellt Weichen
Der Bundesrat hat am 3. September die Vorschläge des BSV diskutiert. Und er hat
dem Departement Couchepin den Auftrag erteilt, auf eben dieser Grundlage einen
konkreten Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Damit hat er die Weichen so gestellt,
dass eine künftige Assistenzentschädigung nur für wenige Personen zugänglich sein
soll.
21
Behinderung und Politik 3/08
GLEICHSTELLUNG
Kampagne zum Jubiläum des BehiG 2009
Eva Aeschimann, Sekretärin Gleichstellungsrat
Nächstes Jahr wird das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG fünfjährig. Beim
ersten Treffen im Sommer bei AGILE in Bern hat die Arbeitsgruppe «Kampagne
2009» mit VertreterInnen der DOK, der Fachstelle Egalité Handicap und des Gleichstellungsrates die geplante nationale Kampagne eingefädelt.
Chancen und Benachteiligungen aufzeigen
Die Kampagne, finanziert von der DOK, soll zum einen bestehende Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung in Schule und Bildung aufzeigen. Zum anderen
soll sie das BehiG bekannt machen, das bei Benachteiligungen von Behinderten zum
Zuge kommt. Angeregt von der DOK hatten Mitglieder der Fachstelle Egalité Handicap und des Gleichstellungsrats bereits Ende 2007 einen ersten Vorschlag für eine
nationale Kampagne entworfen. Anschliessend erarbeiteten VertreterInnen der DOK,
der Fachstelle und des Gleichstellungsrats in Workshops die thematische Ausrichtung der Kampagne: Bildung/Schule.
Eine erste Kampagnenskizze ist im Frühsommer vom DOK-Plenum verabschiedet
worden. Ebenso die Finanzierung des Projekts. Die «Kampagne 2009» soll gelungene Beispiele von Bildungswegen von Menschen mit Behinderung zeigen, aber
auch Beispiele von Diskriminierung, fehlendem Zugang zu Ausbildungen, fehlenden
Berufswahlmöglichkeiten und anderes.
Wirkung auswerten und bewerten
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
(EBGB) verfasst bis Anfang 2009 eine Evaluation der bisherigen Anwendung und
Wirkung des BehiG. Diese wird anschliessend vom Bundesrat in einem öffentlich
zugänglichen Bericht kommentiert. Die Behindertenorganisationen haben die Möglichkeit, beim Verfassen der Evaluation mitzuwirken.
Die Fachstelle Egalité Handicap wiederum erarbeitet im Auftrag der DOK einen Auswertungsbericht, an dem Menschen mit Behinderung mitwirken. Dieser Bericht wird
dem Bundesrat gleichzeitig wie jener des EBGB vorgelegt. Beide Berichte machen
auf das Thema Gleichstellung aufmerksam und sensibilisieren dafür. Dies ist bitter
nötig. Steht doch die nach wie vor mangelhafte Gleichstellung von Menschen mit
Behinderung seit längerem im Schatten der IV-Debatten.
Organisieren und planen
Beim Treffen im Sommer haben die VertreterInnen von DOK, der Fachstelle und des
Gleichstellungsrats auch organisatorische Entscheide gefällt. So befasst sich ein Teil
des Teams mit der Projekteingabe beim EBGB. Im Spätherbst startet die Arbeitsgruppe die Planung von konkreten Inhalten und Massnahmen der Jubiläums-Kam22
Behinderung und Politik 3/08
pagne, begleitet von einer Person mit Kampagnen-Erfahrung, welche zur Zeit noch
gesucht wird.
Antidiskriminierungsrecht im Erwerbsleben: Vergleich Schweiz - EU
Tarek Naguib, lic. iur., Mitarbeiter der Fachstelle Égalité Handicap
Kürzlich publizierte das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen
mit Behinderungen (EBGB) eine Literaturanalyse der bestehenden rechtlichen
Massnahmen zur Förderung der Integration von Menschen mit Behinderung in den
Arbeitsmarkt (abrufbar unter: http://www.edi.admin.ch/ebgb/index.html?lang=de). Die
Studie bestätigt, dass wir im Vergleich zur Europäischen Union (EU) noch weit von
einem wirksamen Antidiskriminierungsrecht entfernt sind.
EU Antidiskriminierungsrecht
Auf der Basis des Artikels 13 des Vertrags der Europäischen Gemeinschaft hatte die
EU die Richtlinie 2000/78 erlassen. Dies zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens
für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (kurz: Beschäftigungsrahmenrichtlinie). Die Richtlinie verpflichtete die EU-Staaten, bis spätestens 2. Dezember 2003 Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen zur Bekämpfung von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf wegen Religion oder
Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung (Artikel 1). Konkret
ist Diskriminierung in folgenden Bereichen zu verbieten:

Zugang zu allen Formen der Berufsbildung, der beruflichen Weiterbildung und
Umschulung,

Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, einschliesslich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen,

Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschliesslich der
Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts,

Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisation oder einem Berufsverband.
Mittlerweile haben alle EU Staaten entsprechende Gesetze erlassen. Zusätzlich zum
Diskriminierungsverbot (Gleichbehandlungsgrundsatz) mussten sie auch Massnahmen zur Erleichterung der Durchsetzung treffen.
So müssen die Staaten Rechtsbehelfe vorsehen, mit denen die Diskriminierungsopfer ihre Ansprüche über den Gerichts- und/oder Verwaltungsweg einklagen können
(Artikel 9).
Um den Diskriminierungsnachweis zu vereinfachen, hatten die Länder in ihren Gesetzen eine so genannte Beweislasterleichterung zu verankern. Diese sieht vor, dass
immer dann, wenn eine Diskriminierung vor der zuständigen Gerichts- oder Verwaltungsbehörde glaubhaft gemacht wird, die beklagte Person zu beweisen hat, dass
23
Behinderung und Politik 3/08
keine Verletzung vorliegt (Artikel 10). Die Beweislasterleichterung soll selbstverständlich nicht dazu dienen, die Arbeitgebenden zu schikanieren, sondern den
Nachweis einer tatsächlichen Diskriminierung zu erleichtern.
Auch müssen die staatlichen Bestimmungen wirksame, verhältnismässige und abschreckende Sanktionen ermöglichen (Artikel 17), die die zuständigen Gerichts- und
Verwaltungsbehörde aussprechen können. (Rückwirkend gerichtete) Sanktionen
können beispielsweise die Wiedergutmachung etwa durch Entschädigungen von
materiellen Schäden (Schadenersatz) oder immateriellen Schäden (Genugtuung)
auslösen. Sie können aber auch etwa das Rückgängigmachen einer bestehenden
Diskriminierung bedeuten (z.B. durch Nichtigerklären einer diskriminierenden Kündigung). Auf die Zukunft ausgerichtet können Sanktionen als administrative Präventionsmassnahmen ausgestaltet sein (wie z.B. die Pflicht Sensibilisierungskurse zu
besuchen). Die Staaten haben in der Ausgestaltung der Sanktionen einen gewissen
Spielraum.
Schliesslich müssen die EU Mitglieder gemäss Artikel 11 erforderliche Massnahmen
treffen, um die Arbeitnehmenden vor Entlassung oder anderen Benachteiligungen
durch die Arbeitgebenden zu schützen, die als Reaktion auf eine Beschwerde oder
auf die Einleitung eines Verfahrens zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erfolgen (Rachekündigung).
Aus Sicht der Behindertengleichstellung verdient der Artikel 5 der Richtlinie besonderes Augenmerk. Um nämlich die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
auch für Menschen mit Behinderung sicher zu stellen, haben die Arbeitgebenden so
genannte «angemessene Vorkehrungen» zu treffen. Das bedeutet, dass der/die ArbeitgeberIn die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Massnahmen ergreifen muss, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die
Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und
Weiterbildungsmassnahmen überhaupt zu ermöglichen. Es sei denn, diese Massnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismässig belasten. Diese Belastung ist
verhältnismässig, wenn sie durch geltende Massnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des EU-Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird (z.B. durch Zahlungen einer Sozialversicherung), oder wenn das Interesse der behinderten Person die
Interessen der Arbeitgebenden überwiegt. Was dies konkret heisst, muss der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften noch beurteilen. Momentan gibt es leider keine Praxis.
Trotzdem soll an dieser Stelle das eher abstrakte juristische Konzept der «angemessenen Vorkehrungen» am Beispiel Grossbritanniens verdeutlicht werden. Der bereits
seit 1996 – also vor der EU Beschäftigungsrahmenrichtlinie – in Kraft stehende Disability Discrimination Act (DDA) verpflichtet britische Arbeitgebende zu «reasonable
adjustments» (angemessenen Anpassungen), sofern dies zumutbar ist. Unter diese
«angemessenen Anpassungen» fallen zum Beispiel Anpassungen der Räumlichkeiten, Übertragung von Tätigkeiten auf andere Personen (wenn die behinderte Person
diese nicht ausüben kann), Änderung der Arbeitszeit, Schulung, Erwerb von oder
Anpassen von Arbeitsgeräten, Einsatz von Lesegerät oder Übersetzer. Um die Kosten der «angemessenen Anpassungen» decken zu können, haben britische Arbeitgeber an und für sich einen Anspruch auf unbegrenzte Unterstützungsleistungen.
24
Behinderung und Politik 3/08
Rechtslage in der Schweiz
In der Schweiz ist die Rechtslage bei Diskriminierung im Erwerbsleben noch weitgehend ungeklärt. Im Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) ist der Schutz von
Menschen mit Behinderung nicht geregelt, mit Ausnahme von gerichtlich nicht durchsetzbaren weichen Regelungen im Anstellungsverhältnis beim Bund. Zwar greifen
bei öffentlich-rechtlichen Anstellungen zahlreiche Bestimmungen in den verschiedensten Personalerlassen. Dies gilt für die meisten Kantone und Gemeinden sowie
den Bund insbesondere für den Schutz vor Mobbing und vor einer Kündigungsdiskriminierung. Grundlage dafür ist das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot
und zwar in allen Bereichen (Zugang, Bedingungen, Ausbildung, Kündigung, etc.).
Unterstützend wird vereinzelt auch auf die Regelungen im Obligationenrecht und im
Zivilgesetzbuch hingewiesen. Das Obligationenrecht ist zudem für privatrechtliche
Arbeitsverhältnisse bedeutend, insbesondere die Bestimmungen zum Persönlichkeitsschutz sowie der Grundsatz von Treu und Glauben.
Diese rechtlichen Bestimmungen gehen jedoch nicht so weit wie die rechtlichen Vorgaben in der EU. Vor allem gibt es kaum Möglichkeiten, angemessene Vorkehrungen
einzuklagen (insbesondere im privaten Arbeitsverhältnis). Ausser es geht um Vorkehrungen im Gesundheitsbereich. Zudem ist die Diskriminierung nirgends ausdrücklich verankert, mit Ausnahme des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots. Es muss umständlich (und möglichst kreativ) auf allgemeine Rechtsgrundsätze
oder den Persönlichkeitsschutz zugegriffen werden, damit diese als Diskriminierungsschutz wirken können. Eine grosse Unsicherheit bleibt, wie weit der Diskriminierungsschutz geht, wo Diskriminierung verboten ist. Dies ist wohl auch der Grund,
weshalb es an Praxis fehlt, und dies darf nicht unterschätzt werden. Schliesslich fehlt
es an den im EU-Raum bewährten Instrumenten zur Verbesserung der Durchsetzung des Rechts (insbesondere einer gesetzlich verankerten Beweislasterleichterung, allenfalls auch eines Verbandsbeschwerderechts). Weiter sind die Sanktionen
häufig nicht wirksam und abschreckend genug.
Doch ganz so prekär, wie die Schilderungen den Anschein erwecken, ist die Lage
trotzdem nicht. Anhand von vier kleinen Beispielen soll aufgezeigt werden, dass
Menschen mit Behinderung auch in der Schweiz vor krassen Formen von Benachteiligungen geschützt sind. Ganz ohne Diskriminierungsverbot.

Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz (Artikel 27 und folgende, ZGB) und das
Strafrecht (Ehrverletzung, Artikel 177) bieten Schutz vor ehrverletzenden Äusserungen.

Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz verbietet die Arbeitsstellenverweigerungen, einzig oder überwiegend, weil behinderte Menschen unerwünscht sind oder
als störend empfunden werden, ohne dass hiefür ein sachlicher Grund angebracht werden kann.

Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht (Art. 328 OR) schreibt dem Arbeitgebenden
vor, während des Arbeitsverhältnisses die Persönlichkeit zu schützen. Er ist verpflichtet, ihm zumutbare Massnahmen zum Schutz von Gesundheit und persönlicher Integrität zu treffen. Auch dort, wo es um angemessene Vorkehrungen im
Gesundheitsbereich geht, z.B. beim Schutz vor gefährlichen Maschinen für einen
blinden Mitarbeiter, könnte dieser fruchtbar gemacht werden.
25
Behinderung und Politik 3/08

Der Kündigungsschutz (Artikel 336 OR) erklärt eine Kündigung wegen einer
Eigenschaft, die dem Arbeitnehmenden kraft seiner Persönlichkeit zusteht (z.B.
eine Behinderung) als missbräuchlich, es sei denn, die Behinderung steht in einem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis (insbesondere der Ausübung der
Stelle) oder beeinträchtigt wesentlich die Zusammenarbeit im Betrieb (Absatz 1
Buchstabe a).
Fazit
Insgesamt ist der rechtliche Schutz vor Diskriminierung im Erwerbsleben in der
Schweiz im Vergleich zur EU schwach ausgestaltet. Diskriminierung ist mit Ausnahme von Artikel 8 Absatz 2 BV nicht ausdrücklich verboten. Die anderen Regelungen, die für den Diskriminierungsschutz in Frage kommen, sind in verschiedenen
Gesetzen verstreut. Zudem fehlt es an griffigen Durchsetzungsmechanismen.
VERKEHR
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr
Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre
Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich
behindertengerechter öffentlicher Verkehr.
BöV-Nachrichten
26
Behinderung und Politik 3/08
BILDUNG
Von Catherine Corbaz
Kursprogramm 2008
Unser nächster Kurs findet am 30. Oktober 2008 in Bern statt unter dem Titel:
«Gleichstellungsrecht – Teil 2: Entwicklungen auf internationalem Gebiet: Die
UNO-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung»
Die UNO hat eine neue Konvention verabschiedet, welche ausschliesslich den
Rechten von Menschen mit Behinderung gewidmet ist, Was beinhaltet diese Konvention und wie können wir ihre Ratifizierung durch die Schweiz unterstützen?
Leitung: Caroline Hess-Klein, Égalité Handicap, Fachstelle der DOK
Anmeldeschluss: 15. September 2008
Detailprogramm
Alle weiteren Angaben zu Kursen und Seminaren von AGILE finden Sie in unserer
Zeitschrift, im Newsletter oder auch auf unserer Internet-Seite.
27
Behinderung und Politik 3/08
BEHINDERTENSZENE
3. Dezember 2008:
«Assistenz, ein Recht für alle!»
CM/ Assistenz ist für Menschen mit Behinderung ein wesentlicher Faktor für ein
selbstbestimmtes Leben. In allen Alltagsbereichen müssen diese Menschen selbst
bestimmen können, wer ihnen wie hilft (siehe agile 2/08). Der vom Bund unterstützte
Pilotversuch «Assistenzbudget» hat gezeigt, dass mit dieser Lösung die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung verbessert werden
können.
In diesem Jahr trifft der Bundesrat die erforderlichen Vorkehrungen, um die Assistenz
im Gesetz zu verankern. Im Rahmen des Internationalen Tags der Menschen mit
Behinderung, der jedes Jahr am 3. Dezember begangen wird, wurde 2008 das
Thema Assistenz gewählt. Der Tag bietet die Möglichkeit, die politisch Verantwortlichen und die breite Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer gesamthaften Lösung
zu überzeugen, damit schliesslich alle Menschen mit Behinderung ein Recht auf Assistenz haben.
Für die Selbsthilfeorganisationen war und bleibt die Selbstbestimmung aller Menschen mit Behinderung ein zentrales Anliegen. Deshalb wird der 3. Dezember in diesem Jahr Gelegenheit bieten, die Sektionen und die Basis zu veranlassen, in ihren
Regionen einen Vortrag, eine Diskussion, eine Sensibilisierungsaktion, die Verteilung
von Flugblättern, einen Stand oder eine Aufführung zu organisieren und mit den regionalen Medien Kontakt aufzunehmen.
Nach dem Ende der UNO-Weltdekade der Menschen mit Behinderung (1983-1992)
erklärte die UNO-Generalversammlung 1992 den 3. Dezember zum Internationalen
Tag der Menschen mit Behinderung. 1993 wurde dieser Tag in der Schweiz erstmals
begangen. Er steht unter der Federführung der Dachorganisationenkonferenz der
privaten Behindertenhilfe (DOK). Jedes Jahr finden rund um den 3. Dezember in den
verschiedenen Landesteilen Veranstaltungen statt.
Weitere Informationen zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung und
zu den in der Schweiz durchgeführten Veranstaltungen finden Sie auf der Website
www.3dezember.ch. Damit dieses Internetportal ein möglichst vollständiges
Informationsangebot enthält und sowohl den Medienschaffenden als auch den betroffenen Personengruppen umfassende Informationen bietet, bitten wir Sie, alle geplanten Veranstaltungen bei der folgenden Adresse zu melden: Pro Infirmis, Stefanie
Huber, Feldeggstrasse 71, Postfach 1332, 8032 Zürich, Tel. 044 388 26 54, Fax 044
388 26 00, E-Mail: [email protected].
Übersetzung: Susanne Alpiger
28
Behinderung und Politik 3/08
MEDIEN
Workfare
für Sie gelesen von Bettina Gruber
Integration in die Arbeitswelt ist eine wichtige Forderung von Behinderten und ihren
Organisationen, Eingliederung vor Rente das hochgesteckte Ziel der IV. Dass Erwerbsarbeit einen wichtigen und wertvollen Bestandteil des Lebens darstellt, würden
wohl die meisten bejahen. Sozialleistungsempfänger nicht nur finanziell zu unterstützen, sondern sie zur Arbeitswelt hinzuführen, wäre folglich ein löbliches Unterfangen
- so der Gedanke, der jenen Massnahmenpaketen zugrunde liegt, die unter dem
Stichwort Workfare zusammengefasst werden. Wie sieht aber die Realität aus?
Workfare ist eine Wortschöpfung, die sich aus Arbeit (work) und Wohlfahrt (wellfare)
zusammensetzt. Gemeint sind damit Sozialleistungen für Erwerbslose, die an Eingliederungsmassnahmen in die Arbeitswelt gekoppelt sind, ein Modell der Sozialpolitik, das in den 1980er Jahren zuerst in den USA und Grossbritannien Fuss fasste.
Mit Begriffen wie 1-Euro-Jobs oder 1000-Franken-Jobs hat diese auch Eingang in
den deutschen Sprachraum gefunden. Kurt Wyss möchte darum mit seinem Buch
einen kritischen Beitrag liefern zu einer Politik, die sich auf breiter Front durchsetzt.
Nach einer Einführung zur Entstehung des Begriffs Workfare und dem Stand der
Forschung dazu stellt der Autor die Schwerpunkte von Workfare in den verschiedenen ideologischen Ausrichtungen anhand ihrer massgeblichen Vertreter vor.
Die neokonservative Sichtweise hat den Begriff der «Armutsfalle» geprägt. Es wird
behauptet, dass mit Sozialleistungen zugunsten Benachteiligter diese nicht sinnvoll
unterstützt werden, sondern durch die Leistungen in eine Abhängigkeit geführt werden. Diese erziehe sie geradezu zur Passivität und Amoralität. Da die LeistungsbezügerInnen nicht motiviert seien, an dieser Situation etwas zu ändern, müssten sie
durch Streichung von Sozialleistungen auf den rechten Weg gebracht werden. Wyss
bezieht sich dabei auf Schriften von Charles Murray, der sich am moralischen Standard der us-amerikanischen 1950er Jahre orientiert, um seine These des Niedergangs in den folgenden Jahrzehnten aufgrund verfehlter Sozialpolitik darzustellen. In
diese Ecke gehören übrigens auch heutige Argumentationen, die von Arbeitsscheuen und Scheininvaliden sprechen und die Streichung oder Kürzung von Sozialleistungen fordern, um die Menschen auf den moralischen Weg zurückzuzwingen.
Eine neoliberale Sichtweise – hier vertreten durch Lawrence M. Mead – setzt bei der
Überzeugung an, dass frei vergebene Sozialleistungen zum einen die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft untergraben würden, zum andern die einzelnen Menschen an
der Entwicklung zur Eigenständigkeit und Eigenverantwortung hinderten. Mead will
darum nicht Sozialleistungen ersatzlos streichen, sondern sie an Bedingungen
knüpfen. Um die Eigenständigkeit zu fördern, sei es legitim, LeistungsempfängerInnen mit (Zwangs-)Massnahmen in die Arbeitswelt zu integrieren.
Einen dritten Argumentationsstrang findet Wyss bei den Vertretern von New Labour.
Mit ihrem Vordenker Anthony Giddens starten sie ihre Argumentation bei der Globalisierung und erkennen in der steigenden Arbeitslosigkeit einen Mangel an Anpas29
Behinderung und Politik 3/08
sung an diese neue Situation. Rezepte, wie sie die alte Linke vertritt, nämlich mit
staatlichen Lenkungen die Probleme in den Griff bekommen zu wollen, seien überholt. Der richtige Ansatz bestehe darum in der Förderung der Menschen und ihrer
Befähigung, im globalisierten Markt zu bestehen. Dies geschieht durch Bildungsmassnahmen und Anreizsysteme.
Soweit, zugegebenermassen stark verkürzt, die Darstellung der drei ideologischen
Ausrichtungen. Bei Wyss können Sie das etwas detaillierter nachlesen. Der Autor
stellt zudem klar, dass die Argumentationen meist nicht in Reinkultur auftreten, wie
oben beschrieben, sondern dass in der Begründung einer Politik, die sich an Konzepten des Workfare orientiert, die Argumente meist in Mischform zu finden sind. Er
bemängelt übrigens, dass im Alltag oft nur im Detail über die konkrete Ausgestaltung
der geeigneten Massnahmen gestritten wird, die dahinter liegenden Grundprämissen
aber nicht in Frage gestellt werden.
Und nun wird es wirklich interessant, wir kommen zur Praxis. In der praktischen Umsetzung lässt sich schliesslich feststellen, was von einer Politik des Workfare zu halten ist. Zuerst zeigt sich, dass viele Länder heute eine solche Ausrichtung ihrer Arbeitslosenpolitik kennen, nur wenige allerdings die Wirksamkeit der eingesetzten Instrumente überprüfen. Studien zu den «Leavern», also jenen Menschen, die aus den
Arbeitslosenkassen ausgeschieden sind, sind dünn gesät. Die Studien würden aufzeigen, wo diese Menschen wirklich gelandet sind.
Leistungskürzungen und -streichung, die den Druck auf die Erwerbslosen erhöhen
sollen, Arbeitspflicht in Beschäftigungsprogrammen und Supported Employment (Arbeitsbegleitung) sind die Instrumente einer Workfare-Politik. (Als Vorreiter einer konsequenten Umsetzung in den USA gilt der Staat Wisconsin.) Der Rückgang an
LeistungsbezügerInnen in Arbeitslosen- und Invalidenversicherung wird von ihren
Verfechtern als Beweis für die Richtigkeit der gewählten Massnahmen und Zeichen
des Erfolgs ins Feld geführt. (Kommt uns irgendwie auch bekannt vor!) Dabei werden
konjunkturelle Effekte und eben die Frage nach dem Verbleib der Ausgesteuerten
oder Abgelehnten geflissentlich ausgeblendet. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich
nämlich, dass viele Betroffene durch die Zwangsmassnahmen nicht wie erwartet ins
Erwerbsleben zurückgefunden haben, sondern in noch grösserer Armut gelandet
sind als zuvor mit Sozialleistungen. Zu belegen sind diese Entwicklungen beispielsweise anhand der Kundenzahlen von Suppenküchen und anderen privaten Initiativen
zur Unterstützung der Ärmsten.
Hier zeigt sich, dass die mangelnde Arbeitsintegration nicht auf die Motivationslage
der Betroffenen zurückzuführen ist, sondern in viel stärkerem Mass von der Bereitschaft der Arbeitgeber abhängt, z.B. Lernbehinderte in den eigenen Betrieb zu integrieren. Zum Teil torpedieren die Fördermassnahmen die angestrebte Integration geradezu, indem es für einen Arbeitgeber je nach Anreiz- und Beihilfensystem lukrativer ist, Menschen in Beschäftigungsprogrammen anzustellen, sie aber danach nicht
in ein reguläres Angestelltenverhältnis zu übernehmen, sondern durch den nächsten
begleiteten (und durch Beiträge der Sozialversicherungen subventionierten) Mitarbeiter zu ersetzen. So betrachtet bleibt vom Glanz des Workfare-Gedankens wahrlich nicht viel übrig.
Was hat all das nun mit jener Mehrheit zu tun, die brav ihrer Erwerbsarbeit nachgeht,
bzw. das Glück hat, in regulären Verhältnissen angestellt zu sein? Die Konzepte des
30
Behinderung und Politik 3/08
Workfare haben nicht nur die Erwerbslosen als Adressaten im Auge, sondern auch
die Erwerbstätigen, indem sie letzteren vorführen, was passieren würde, wenn sie
aus der Arbeitswelt ausschieden. Die Disziplinierung der Werktätigen ist ein nicht zu
unterschätzender Nebeneffekt - mittels Abschreckung können Arbeitsbedingungen
durchgesetzt werden, die eigentlich nicht akzeptabel wären.
Und um sich der unangenehmen Realität, dass eine Anstellung nicht nur von eigenem Fleiss und Motivation abhängen, nicht stellen zu müssen, werden alle, die keine
Erwerbsarbeit haben, als die Anderen ausgegrenzt und als Drückeberger und
Scheininvalide gebrandmarkt. Ist doch praktisch, oder?
Genauer hinschauen und sich eine eigene Meinung bilden; dazu lädt uns Kurt Wyss
in seinem gut verständlichen Buch ein. 160 Seiten, die helfen, aktuelles Geschehen
besser einzuordnen.
Angaben zum Buch: Kurt Wyss, Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des
globalisierten Kapitalismus, edition 8, 2007. ISBN 978-3-85990-125-4, Preis: 24.-- Fr.
www.edition8.ch
31
Behinderung und Politik 3/08
Peter Lundt und … - seine Fälle
für Sie gehört von Bettina Gruber
Peter Lundt ist Privatdetektiv. Seit Beginn der CD-Hörspielreihe, deren Hauptakteur
er ist, hat er acht Fälle gelöst. Peter Lundt ist blind.
Nach seinem Unfall im Dienst, der ihn das Augenlicht kostete, will der ehemalige
Hamburger Drogenermittler nicht untätig herumhocken und eröffnet ein Büro als Privatdetektiv. Per Annonce findet er eine Assistentin, deren Aufgabenfeld sich schnell
über persönliche Assistenz im Alltag ausweitet. Auch bei seinen Ermittlungen kommt
Lundt bald nicht mehr ohne Anna Schmidt aus. Er ist kein einfacher Arbeitgeber,
denn er will weder bemitleidet noch unterschätzt werden. Das macht ihn zuweilen
kratzbürstig und ungeduldig. Zum Glück ist Anna nicht auf den Mund gefallen und
lässt sich von Lundt nicht alles bieten. Das ergibt immer wieder liebevoll-zänkische
Dialoge.
«Peter Lundt und das Keuchen des Karpfens»: Im ersten Fall – 2004 erschienen –
schnüffeln Lundt und Schmidt in japanischen Diplomatenkreisen herum, um etwas
über den Verbleib verschwundener wertvoller Koi-Karpfen herauszufinden. Dabei
lernt Lundt übrigens die Nachtclub-Tänzerin Sally Vation kennen, von der er sich
enorm angezogen fühlt. Betreffend Kontakt zum anderen Geschlecht: Lundt geniesst
es, dass er den Frauen gefällt. Seine Freude daran, dieses Thema auszureizen, lässt
allerdings leichte Zweifel aufkommen, ob er sich wirklich (noch) als ganzer Mann
fühlt, wie er es so gerne unterstreicht. Mit Lundt klarzukommen, ist ohnehin nicht
einfach. Durch seine Blindheit will er sich nicht behindern lassen und gerät gerade
dadurch, dass er sich so schwer tut, Hilfe anzunehmen, schon mal in Bedrängnis.
Sein schwieriger Charakter und die Widersprüchlichkeiten in seiner Person machen
Lundt aber irgendwie liebenswert.
Im neuesten Fall, «Peter Lundt und die Stunden bis Helsinki», muss Lundt aufdecken, wie es kommt, dass auf einem Fährschiff seit einiger Zeit der Klabautermann
sein Unwesen treibt und dadurch die Besatzung vergrault. Sein grösstes Problem auf
der Überfahrt ist aber nicht die Auflösung des Falls, sondern seine Seekrankheit.
(Krimifans mit zartem Gemüt und nervösem Magen ist diese Hörspielepisode nicht
zu empfehlen, denn auch die Seekrankheit ist akustisch eindrücklich umgesetzt.
Mehr möchte ich dazu nicht sagen.)
«Peter Lundt und …» ist eine Krimireihe, und wie im Fernsehkrimi, so geht es auch
in diesen Hörgeschichten zuweilen ruppig zu. Oder auch erotisch. Unterhaltung für
Erwachsene eben, mit Ton statt Bild – also definitiv keine Gutenachtgeschichten für
Fünfjährige.
Was in unserem Zusammenhang speziell interessiert, ist natürlich die Frage, wie
dieser Detektiv als Blinder wirkt. Unterhaltsam ist, wie verschiedene Blindenhilfsmittel
in die Geschichten eingebaut sind. Wie im echten Leben auch schon beobachtet, so
konsultiert auch Lundt in seiner Nervosität zu allen unpassenden Momenten seine
sprechende Uhr. Und sein Farberkennungsgerät spielt auf dem Fährschiff eine Rolle.
32
Behinderung und Politik 3/08
Um Peter Lundt aus Profisicht beurteilen zu lassen, habe ich einige blinde Freunde
um ihre Meinung gebeten. Hier stellvertretend das kritische Urteil einer Betroffenen.
Zu Lundts erstem Fall meint sie: «Eigentlich finde ich es ganz witzig, vor allem einige
Dialoge. Endlich mal nicht die Mitleidschiene. Einiges ist ja ziemlich authentisch:
sprechende Uhr, Integrationsamt. Anderes ist albern, z. B. die Stockgeräusche. Mit
Blindentechniken hat das nichts zu tun. Außerdem finde ich, dass das Thema Blindheit vor allem in den Dialogen zu sehr ausgereizt wird. Spannend fand ich die erste
Folge schon. (Aber wahrscheinlich ist die erste Folge sowieso die beste. Das ist doch
bei solchen Serien ganz oft so.) Gut finde ich auch, dass die CD schon, wenn man
sie kauft, mit Punktschrift beschriftet ist. Allerdings sind auch da nicht alle Punkte
deutlich zu spüren, und es werden keine Vollschriftkürzungen verwendet. Im Großen
und Ganzen würde ich sagen: ganz nette Unterhaltung.»
Wie gesagt, unterdessen sind acht Peter-Lundt-Fälle erhältlich, und Folge neun
«Peter Lundt und die Tänze der Toten» ist für Februar 2009 angekündigt. LundtFans müssen sich also noch etwas gedulden. Wer bisher mit dem blinden Detektiv
noch keine Bekanntschaft gemacht hat, der kann dies unter www.hoerformat.de
nachholen, wo einige Hörproben aus den einzelnen CDs abgespielt werden können.
Die rund einstündigen Hörspiele von Verlag Hörformat sind zurzeit zum Preis von je
19.90 Fr. erhältlich. Diesen Herbst wechseln die Lundt-CDs allerdings den Vertriebskanal und sind laut Ankündigung ab Ende Oktober im Buch- und Plattenhandel in der
Reihe Lübbe Audio zu einem Preis von 13.90 Fr. zu haben.
Erschienen sind bisher:
Peter Lundt und das Keuchen des Karpfens, ISBN 978-3-980 9813-0-9
Peter Lundt und die Rache des Drachen ISBN 978-3-980 9813-1-6
Peter Lundt und der Kniefall der Königin ISBN 978-3-980 9813-2-3
Peter Lundt und das Wunder vom Weihnachtsmarkt ISBN 978-3-980 9813-3-0
Peter Lundt und das Eckige im Runden ISBN 978-3-980 9813-4-7
Peter Lundt und das Schweigen der Bienen ISBN 978-3-980 9813-5-4
Peter Lundt und die Jagd nach Peter Lundt ISBN 978-3-980 9813-6-1
Peter Lundt und die Stunden bis Helsinki ISBN 978-3-980 9813-7-8.
33
Behinderung und Politik 3/08
IMPRESSUM
agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form –
der «BÖV Nachrichten»)
Herausgeberin:
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
Effingerstrasse 55, 3008 Bern
Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35
Email: [email protected]
Redaktion:
Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe
Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe
Bettina Gruber Haberditz
Simone Leuenberger
Ursula Schaffner
Lektorat:
Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe)
Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe)
Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von
«agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche
gekennzeichnet.
Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht!
Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected]
34
Herunterladen