„Unser tägliches Brot gib uns heute“ (Mt.6,11) Predigt 15.2.15 in Rorbas „Euer Vater weiss, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet!“ (Mt. 6,8 – darauf folgt unmittelbar das Vaterunser) Unter dieser Zusage Jesu, unter diesem Vorzeichen steht das Vaterunser. Mich hat das nochmals neu verblüfft. Denn das heisst doch: Gott hat es nicht nötig, dass wir beten. Wir müssen Gott nicht durch unser Gebet dazu bringen, dass er uns mit dem versorgt, was wir brauchen. Luther kommentiert die vierte Vaterunser-Bitte in seinem Kleinen Katechismus so: Unser täglich Brot gib uns heute. Was ist das? Gott gibt täglich Brot auch wohl ohn(e) unser(e) Bitte allen bösen Menschen; aber wir bitten in diesem Gebet, daß er(s) uns erkennen lasse und wir mit Danksagung empfangen unser täglich Brot. Was heißt denn täglich Brot? Alles, was zur Leib(e)s Nahrung und Notdurft gehört, (wie) Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und treue Oberherr(e)n, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen." Offenbar macht das Vaterunser (und vielleicht überhaupt jedes Gebet!) etwas mit uns, nicht mit Gott. Damit ein Gebet in mir etwas verändern kann, muss ich mich zuerst den Widerständen stellen, die es in mir auslöst. Ich habe die Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ in den letzten Wochen mit mir herumgetragen und bin dabei auf vier Widerstände gestossen, die ich heute mit Ihnen näher anschauen und zumindest ansatzweise überwinden möchte. Ich bin sicher, im eigenen Nachdenken entdecken Sie noch mehr. Hier also meine eigenen vier Widerstände: 1. Wenn ich bete: „Unser tägliches Brot gib uns heute“, dann habe ich das Gefühl, Gott nehme mich an die „kurze Leine“. Ich hätte Gottes Versorgung lieber etwas längerfristig, als nur gerade für einen Tag aufs Mal! 2. Ich erlebe Gottes Versorgung nicht immer so, wie ich mir das vorgestellt habe: es gibt auch in meinem Alltag immer wieder irritierende Zwischenfälle, es läuft nicht alles rund. Was bedeutet darin die Bitte um unser tägliches Brot? Auch wenn ich Gott in meine täglichen Bedürfnisse bewusst mit einbeziehe, er ist und bleibt kein „Automaten“-Gott, der auf Knopfdruck (oder eben auf ein bestimmtes Gebet hin) meine Wünsche erfüllt. 3. Die Bitte beginnt mit dem Wort „Unser“. Unser tägliches Brot, nicht mein Brot. Da, wo es um die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen geht, tragen wir auch eine Verantwortung füreinander. Wenn ich daran denke, meldet sich bei mir immer sofort das schlechte Gewissen. Sie haben es vielleicht auch gelesen oder gehört: Neuere Studien haben ergeben, dass die Menge der Lebensmittelabfälle unserer Industrienationen zweimal ausreichen würde, um die Hungernden dieser Welt zu ernähren. Aber das Entsetzen darüber und mein schlechtes Gewissen bringt mich nicht weiter – es lähmt mich. Wie beten wir diese Vaterunser-Bitte so, dass sie uns im Blick auf die weltweiten Versorgungsprobleme inspiriert und nicht lähmt? 4. Die Bitte um das für uns täglich Notwendige kommt nicht an erster Stelle im Unser Vater. Zuerst kommt: DEIN Name/Reich/Wille. Das ist normalerweise nicht unsere Prioritätenreihenfolge. Unsere Bedürfnisse und die Nöte der Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung sind oft unser erstes und manchmal auch einziges Anliegen, wenn wir beten. Zu 1. Zuerst ein paar Gedankenanstösse zur täglichen Versorgung und zur „kurzen Leine“: Ich glaube, dass uns diese Vaterunser-Bitte hineinführen will in das ständige Gespräch mit Gott in unserem Alltag. „Glaube am Montag“ war der Name einer noch nicht lange zurückliegenden Initiative von Christen, wo es darum ging, dass unsere Gottesbeziehung sich auswirkt auf unseren Alltag. Wenn ich mitten in meinen Alltagsproblemen Gott darum bitte, dass er mich mit dem versorgt, was ich gerade brauche, dann bekomme ich Augen dafür, dass er das tatsächlich auch tut! Dann beginne ich mit seiner Hilfe zu rechnen und habe so auch viel mehr Möglichkeiten, sie zu erfahren. Dann bin ich offen für das, was er mir schenken will. Bezüglich leiblicher Nahrung sind wir in unseren Breitengraden zwar überversorgt, aber wir brauchen vielleicht anderes sehr dringend: Innere Gelassenheit, Erholungsinseln im Tag, Geduld, kreative Lösungen für herausfordernde Berufsoder Familiensituationen. Mit dieser Vaterunserbitte vergewissere und erinnere ich mich, dass Gott DA ist, mit mir, FÜR mich in all diesen Situationen, dass er mein Vater ist und mich liebt. Dadurch, dass ich diese Bitte jeden Tag neu an ihn richte, wächst meine Alltagsbeziehung zu IHM, mein Vertrauen, auch meine Dankbarkeit (vgl. Luther). Ein Detail: Der Tag beginnt in der jüdischen Tradition mit dem Sonnenuntergang des Vorabends. Die tägliche Versorgung beginnt also am Vorabend, mit dem Feierabend und damit, dass wir zuerst einmal ruhen, nichts tun, uns Gott überlassen und IHN für uns sorgen lassen im Schlaf. Auch das eine tägliche Erinnerung daran, dass wir nicht für uns selbst sorgen müssen. Dass uns Gott seine Versorgung in Tagesrationen zuteilt, hat auf den zweiten Blick auch etwas sehr Entlastendes – vor allem in Situationen, die mich als Ganzes überfordern (z.B. eine Krankheit, ein Verlust oder ein Unfall, der mein ganzes Leben durcheinander bringt). Vielleicht haben Sie das selbst schon erfahren: man kann unmögliche, eigentlich weit über die eigene Kraft gehende Situationen bewältigen, wenn man einfach immer nur einen Tag aufs Mal in den Blick nimmt und mit Gott zusammen durch diesen einen Tag hindurchgeht. Aber sobald man die ganze Situation in den Blick zu nehmen und zu lösen versucht, wird man von Sorgen und Ängsten angefallen wie von einem Rudel hungriger Wölfe. Zu 2. Damit sind wir schon mitten in der zweiten Irritation in dieser Vaterunser-Bitte: Dass uns Gott täglich versorgt, bedeutet nicht, dass das Leben immer unseren Vorstellungen und Wünschen entspricht. Auch in unserem Leben als Christen läuft nicht immer alles rund! Und oft haben wir keine Erklärung dafür. Ein befreundetes Pfarrehepaar bekam im vergangenen Frühling ihr drittes Kind. Wenige Tage nach der Geburt dieses Jungen stellte sich heraus, dass er eine seltene Form von Leukämie hatte. In diesem Schock und in den chaotischen Umständen, die diesem Schock folgten, erlebte diese Familie immer wieder die tägliche Versorgung Gottes: Menschen, die spontan ihre anderen Kinder hüteten, Menschen, die mit ihnen ins Kinderspital fuhren, als ihr Auto eine flache Batterie hatte, Nachbarn, die ihnen etwas zu Essen vorbeibrachten, die im Haushalt halfen, usw. Das Büblein ist inzwischen (ohne Chemotherapie!) gesund und stabil, aber jede Nachkontrolle ist wieder eine neue Herausforderung an ihr Vertrauen. In all diesen grossen und kleinen Hilfestellungen ist die grosse Frage, warum sie überhaupt so etwas durchmachen mussten, nach wie vor unbeantwortet. Diese Spannung können wir nicht auflösen: Dass Gott uns im Kleinen versorgt, manchmal bis ins Detail – und dass wir trotzdem vor grösseren Schwierigkeiten nicht verschont bleiben. Aber mitten IN diesen Schwierigkeiten hilft uns diese Vaterunser-Bitte, unseren Blick auch auf das Gute zu richten, auf die Hilfe, auf die Sterne am Nachthimmel. Die dritte Irritation: Unser tägliches Brot, nicht mein tägliches Brot. Wie können wir diese Vaterunserbitte so beten, dass wir nicht gelähmt werden durch das Ausmass der globalen Probleme und durch unser schlechtes Gewissen? Wir lösen das Verteilungsproblem in unserer Welt nicht allein mit einer persönlichen Herzensveränderung. Es braucht auch kreative Lösungsansätze und Veränderungen in unseren Strukturen. Aber gleichzeitig bin ich überzeugt: Die besten Strukturen und Ideen nützen nichts, wenn sich im Innern von einzelnen Menschen nichts verändert. Wenn wir uns im Alltag mehr und mehr als von unserem himmlischen Vater Beschenkte und Versorgte wahrnehmen, befreit uns das von inneren Zwängen: vom Zwang, uns über unseren materiellen Reichtum zu definieren, vom Zwang, Unnötiges zu kaufen, um seelische Löcher zu stopfen, von Gier, von der Angst, zu kurz zu kommen, - alles Gründe dafür, warum diese weltweiten Mechanismen immer noch in Gang sind. Um aus unserer Lähmung herauszukommen, können wir mit dem Teilen einfach einmal da anfangen, wo es am naheliegendsten ist: „Unser“ tägliches Brot: bezieht sich zunächst einmal auf diejenigen, die gerade jetzt neben mir stehen und sitzen und dieses Gebet heute zusammen mit mir beten. Wo kann ich heute ein Teil dessen sein, was ein anderer, eine andere gerade braucht, die mit mir hier in diesem Gottesdienst ist? 4. Und schliesslich noch zur vierten Irritation: Die Bitte um das tägliche Brot steht nicht am Anfang des Unservaters. Gottes Name, DEIN Name/ Reich/ Wille steht VOR meinen, vor unseren alltäglichen Bedürfnissen. Das ist auch befreiend! Gott möchte unser Leben, auch unsere kleinen Alltagssorgen in einen grösseren Zusammenhang hineinstellen. Wir alle brauchen eine Vision, eine Sicht für unser Leben, die über uns hinausreicht. Dann halten wir auch ungestillte Bedürfnisse, Unbequemes, „Queres“, kleine und grosse Widerstände viel eher aus! In diesem grösseren Zusammenhang von Gottes Reich und von der Erziehung, die er uns angedeihen lässt, damit wir für dieses Reich tauglich werden, machen die vorhin erwähnten Irritationen dann vielleicht eben doch wieder einen Sinn! Wir alle kennen die Enge eines Menschenlebens, das sich nur noch um die eigenen kleinen Bedürfnisse und Wehwehchen dreht. Ganz besonders deutlich wird das im Leben von älteren Menschen. Aber auch junge Menschen gehen verloren, wenn sie nicht für etwas Grösseres leben, sich an etwas Grösseres verschenken können als an ihr kleines Ego! Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe – rücken unsere persönlichen Bedürfnisse ins richtige Licht, in die richtige Grössenordnung. Und Jesus sagt es in diesem Zusammenhang gleich mehrfach: Ihr werdet nicht zu kurz kommen! Euer Vater im Himmel weiss doch, dass ihr das alles braucht. Wenn ihr Sein Reich zuerst sucht, dann wird er für eure Bedürfnisse sorgen – und zwar weit über ein knauseriges Existenzminimum hinaus! „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ hat Jesus aus dem Alten Testament zitiert, „sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ Und einmal hat er gesagt, es sei seine Speise, es nähre ihn, den Willen seines Vaters im Himmel zu tun. Wenn wir jetzt dann gemeinsam Abendmahl feiern, dann will ER uns auf beiden Ebenen nähren. Wir dürfen ihm unsere kleinen Alltagssorgen und –bitten hinhalten. Wir können ihn aber auch bitten um ein Wort, um einen Auftrag, um eine Perspektive für unser Leben. Ich lade Sie ein, während des Zwischenspiels der Orgel, das wir jetzt dann hören werden, auch mit Ihren inneren Ohren empfänglich zu sein für das, was Gott Ihnen zeigen oder sagen möchte. Amen