Rejoice 6. Januar 2013 1 Pfr. Bernhard Botschen Einsamkeit Einsamkeit und Alleinsein ist nicht das Gleiche. Viele Menschen schätzen es, wenn sie zwischendurch allein sein können. Man kann innerlich zur Ruhe kommen, fühlt sich gestärkt. Jesus hat dieses Alleinsein aktiv gesucht: „Am Morgen verliess Jesus lange vor Sonnenaufgang die Stadt und zog sich an eine abgelegene Stelle zurück. Dort betete er.“ (Mark. 1,35). Einsamkeit ist anders. Sie entsteht dort, wo man unfreiwillig alleine ist. Man fühlt sich isoliert, man hat zuwenig Kontakt mit anderen Menschen. Eine Umfrage aus dem Jahr 2003 zeigt, dass jeder dritte Schweizer Angst vor der Einsamkeit hat. Verschiedene Faktoren verstärken die Einsamkeit in unserem Land immer weiter. Das Bundesamt für Statistik liefert dafür Anhaltspunkte. Früher haben oft drei Generationen auf dem Bauernhof zusammen gelebt. Das war wohl auch nicht einfach. Aber einsam wurde da niemand. Vor 40 Jahren waren bereits 20 % der Haushalte 1-Personenhaushalte. Inzwischen haben wir im Kanton Zürich 40 % 1-Personen-Haushalte, Tendenz weiter steigend. Wenn man also in einem Hochhaus an 10 Türen klopft, lebt hinter 4 davon nur eine Person. Das betrifft nicht nur ältere Menschen. Man ist heute länger Single und heiratet später. Jede zweite Ehe wird wieder geschieden. Die Familienstrukturen sind wackeliger geworden. Dazu kommen andere Umstände, die das Alleinsein verstärken. Früher traf man sich beim Bäcker. In unseren Dörfern trifft man sich viel weniger, weil man alles mit dem Auto erledigt. Man geht in die hauseigene Garage und fährt los. Ich kenne viele Bewohner in meiner Strasse gar nicht. Natürlich ist es ein Vorrecht, dass ich zu Fuss zur Arbeit gehen kann. Aber damit bin ich praktisch alleine. Den meisten anderen Bewohnern unserer Strasse kann ich höchstens zuwinken, wenn sie im Auto vorbei fahren. Manchmal fühlen wir uns aber auch einsam, obwohl wir von Menschen umgeben sind. Das passiert an grossen Festen, wenn man niemanden hat, mit dem man sinnvoll reden kann. Da kann um einen herum ganz viel los sein, man fühlt sich allein. Einsamkeit gibt es in manchen Ehen. „Ich fühle mich alleine gelassen und einsam“, diese Aussagen würden auch viele verheiratete Menschen unterschreiben. „Niemand versteht mich, niemand trägt mich“, dieses Gefühl kann uns begleiten, auch wenn wir von Menschen umgeben sind. Wenn es heute um Einsamkeit geht, muss ich eines voraus schicken: Weil ich nicht in einer Einsamkeits-Situation lebe, gebe ich wenig allgemeine Tipps, wie man die Einsamkeit besiegt. Das können andere besser. Ich stelle heute die Frage: Was kann Gott, was kann eine Gemeinde beitragen, dass Menschen weniger einsam sind? 1. Das Alleinsein füllen Alleinsein ist etwas, das viele – gerade jüngere - Leute nicht mehr können. Immer muss etwas laufen. Nie darf Ruhe sein. Kaum ist ein Moment nicht gefüllt, nimmt man das Smartphone aus der Tasche und macht etwas damit. Dabei kann Alleinsein sehr wertvoll sein, wenn es gefüllt ist. Früher bin ich gerne alleine in die Berge gegangen. Ich habe es genossen, ganz alleine auf eine Hütte zu gehen, dort mit einem Bier in der Hand in der Sonne zu sitzen und am nächsten Tag alleine einen Gipfel zu besteigen. Das war ein gefülltes, reiches Alleinsein. Viele Menschen suchen ganz bewusst das Alleinsein. Das Pilgern, also schweigende Wandern, ist in Mode gekommen. Ohne zu reden, alleine mit sich und Gott zur Ruhe zu kommen, das tut dem modernen Menschen gut. Das Alleinsein wird gefüllt. Es wird zur Kraftquelle. Rejoice 6. Januar 2013 2 Pfr. Bernhard Botschen Im Alltag ist es Gott, der unser Alleinsein mit seiner Gegenwart füllen kann. Gott wünscht sich eine enge, vertraute, tiefe Freundschaft zu uns. Das spürt man, wenn man in den Psalmen liest: „Unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich.“ (Psalm 63,8). Man spürt in diesem Bild etwas vom Schutz, mit dem uns Gott umgeben möchte. David schreibt in Psalm 23 vom dunklen Tal und fügt an: „Du bist bei mir“. In jedem Moment der Einsamkeit können wir das Vertrauen von David teilen und zu Gott sagen: „Du bist bei mir!“ So schreibt auch Paulus in einem Brief von Witwen, „die niemanden mehr haben, die ihre ganze Hoffnung auf Gott setzen und Tag und Nacht zu ihm flehen und beten.“ (1.Tim.5,5). Die Beziehung zu Gott braucht das Alleinsein und kann das Alleinsein füllen. 2. Die zweite Familie Und doch ist das nicht alles. Die Beziehung zu Gott kann unser Bedürfnis nach Gemeinschaft nicht ganz abdecken. Keiner weiss das so gut wie Gott. Immerhin hat er uns so geschaffen. Und so steht schon auf den ersten Seiten der Bibel. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (1.Mose 2,18). Ohne Gemeinschaft mit anderen Menschen gehen wir kaputt, werden wir depressiv, es fehlt uns etwas. Zusätzlich zur Familie plant Gott deshalb noch ein anderes Gefäss, das für diese Gemeinschaft sorgen soll. Die christliche Gemeinde soll diese Rolle einnehmen. Als die Christen nach Pfingsten die erste Gemeinde bilden, heisst es: „Sie hielten in gegenseitiger Liebe zusammen. … Alle, die zum Glauben gekommen waren, bildeten eine enge Gemeinschaft. … Tag für Tag versammelten sie sich einmütig im Tempel, und in ihren Häusern hielten sie das Mahl des Herrn und assen gemeinsam.“ (Apostelg.2,42-47). Unsere fünf Aufträge, die wir als Grundlage unserer Gemeinde ansehen, enthalten deshalb das Stichwort „Miteinander leben.“ So eng will Jesus diese Gemeinschaft, dass er Familienbegriffe verwendet, um sie zu beschreiben: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!“ (Matth.12,48). Kirche ist auch eine grosse Organisation. Aber vor Ort zählt nur eines: Gelingt es dieser Kirchgemeinde zu einer Familie zu werden? Zu einer Familie, die zwar auch ihre Probleme hat, die aber trotzdem immer wieder der Ort ist, an dem echte Gemeinschaft erfahren werden kann? Eine Gemeinschaft, die in der Apostelgeschichte eine grosse Form kennt, wo man sich gemeinsam zum Gottesdienst trifft, und eine kleine Form, wo man sich in Häusern und Gruppen versammelt? Ist die Gemeinde ein Ort, an dem wir Liebe und Freundschaft finden können? Wenn in der Bibel immer wieder von Brüdern und Schwestern die Rede ist, muss ich an den Kontakt mit meinen Brüdern denken. Ich war nach Weihnachten ein paar Tage in Österreich und bin an einem Abend mit meinen beiden Brüdern ausgegangen. Es war eine grossartige Zeit. Wir haben uns nicht lange mit Oberflächlichkeiten aufgehalten, sondern gefragt: „Wie geht es dir wirklich? Wie geht es deiner Ehe? Was beschäftigt dich im Moment?“ Da haben wir uns in aller Liebe zugeredet, wenn wir das Gefühl hatten, jemand sollte an einem Ort noch etwas sorgsamer sein. Da haben wir Anteil aneinander genommen. Da hat jeder seinen Platz im Herzen der anderen. Natürlich bin ich nicht blauäugig. Nicht immer sind wir auf dem richtigen Weg. Christliche Gemeinden funktionieren nicht immer so, wie sie sollten. Aber wenn ich Jesus ernst nehme, kann ich kein anderes Ziel vor Augen malen. Eine Gemeinde ist dazu da, dass wir uns gegenseitig ermutigen, uns begleiten, uns trösten, uns zuhören, uns herausfordern. Wenn wir dieses Ziel verstehen, hat das zwei Konsequenzen: Erstens werden wir uns gerne vom Bild des einsamen Christen, der für sich alleine kämpft und glaubt, verabschieden. Rejoice 6. Januar 2013 3 Pfr. Bernhard Botschen Christsein ist ein Mannschaftssport. Wir werden also mit Freude in einer Gemeinde mitleben und uns dort eingliedern. Zweitens werden wir anderen Menschen – aus Liebe zu ihnen – bereitwillig Raum in dieser Gemeinschaft anbieten. Diese Gemeinschaft ist etwas, das viele Menschen suchen. Eine liebevolle Gemeinschaft braucht und verdient jeder Mensch. Eigentlich sollte es nirgends so leicht sein, Anschluss zu finden, wie in einer christlichen Gemeinde. Natürlich passiert das nicht automatisch. Deshalb folgen in einem letzten Punkt noch ein paar Hinweise, wie die Gemeinde im Kampf gegen Einsamkeit ganz konkret zur Hilfe werden kann. 3. Damit Gemeinschaft gelingt Erster Hinweis: Wenn man wirklich einsam ist, fällt es einem oft auch schwer, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Es fällt nicht allen leicht, andere Leute anzurufen, um mit ihnen etwas abzumachen. Gerade der Besuch von Gottesdiensten kann am Anfang unangenehm sein, weil man noch nicht so viele Leute kennt. Die grösste Hilfe bei diesem Punkt sind regelmässige Gruppen: Ob es das Jassen ist oder das Rückenturnen, ob es ein Hauskreis oder eine Gebetsgruppe ist – wenn man sich schwer damit tut, auf andere Menschen zu zugehen, sind Gruppen, die sich regelmässig treffen, die einfachste Hilfe. Hier muss man nicht jede Woche neu aktiv werden. Man muss nicht immer wieder zum Telefon greifen, sondern hat automatisch regelmässigen Kontakt mit anderen. Noch ein Tipp für die, die schon fest in so einer Gruppe verankert sind: Man erleichtert anderen das Überwinden der Hemmschwelle, wenn man sich vorher mit anderen trifft und gemeinsam in diese Gruppe kommt. Zweiter Hinweis: Am schnellsten entsteht der Kontakt dort, wo man sich aktiv engagiert. Ich habe das das erste Mal erlebt, als ich als junger Erwachsener in das Team unserer Jugendgruppe eingestiegen bin. Wir haben miteinander geplant, gebetet, diskutiert, geträumt und gearbeitet. Wir haben viele Stunden miteinander verbracht – immer mit dem Ziel, eine gute Jugendgruppe zu gestalten. Aber als Nebeneffekt haben wir sehr enge Freundschaften zueinander aufgebaut. Teams sollen auch Freundschaften pflegen. Wenn der Bazar vorbereitet wird, setzt man sich zwischendurch zusammen und trinkt in der Pause einen Kaffee miteinander. Wenn man gemeinsam die Kirchenzeitung faltet, vergeht die Zeit mit Gesprächen. Wenn sich die Turngruppe trifft, sitzt sie nachher im Treffpunkt beim Kaffee. Das Frauenfrühstücksteam gestaltet seine Sitzungen kulinarisch sehr liebevoll. Die Hauskreise essen oft noch gemeinsam einen Kuchen oder trinken eine Flasche Wein, wenn man mit dem inhaltlichen Teil fertig ist. Sich aktiv zu engagieren hat den schönen Nebeneffekt, dass man leichter in eine Gemeinschaft hineinfindet. Dritter Hinweis: Dieser äussere Rahmen ist ein wichtiger erster Schritt. Aber ich habe ja erwähnt, dass man sich sogar in einer Ehe oder mitten in einer Gruppe einsam fühlen kann. Den Todesstoss bekommt die Einsamkeit durch den Mut zur Offenheit. Es braucht im Zusammensein mit Menschen den Mut, etwas von sich zu zeigen: Nicht nur meine Verletzungen und Sorgen, sondern alles, was mich beschäftigt, meine Hobbys, meine Träume usw. Das braucht zwar Mut und wir müssen uns manchmal dazu überwinden. Aber unser Bedürfnis nach Gemeinschaft wird nur in echten und tiefen Beziehungen wirklich ganz gedeckt. Wir sind von Gott nicht dazu geschaffen, alleine zu sein. Wir brauchen andere Menschen, wir brauchen Freundschaft und Liebe. All das möchte Gott uns schenken: In der Beziehung zu ihm, aber auch in der Gemeinschaft seiner Kinder. Die Gemeinde ist ein Geschenk an uns, das wir aber immer wieder neu auspacken und entdecken müssen. AMEN.