MEIN JUNGES IDIOTISCHES HERZ Anja Hilling wurde 1975 in Lingen an der Ems geboren. Aufgewachsen in München, begann sie ein Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in München. Sie beendete ihr Studium 2003 an der Freien Universität Berlin. Anschließend absolvierte sie den Studiengang Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste, an der sie von 2002 bis 2006 studierte. Hier entstand auch ihr erstes Theaterstück Sterne, mit dem sie zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2003 eingeladen und dort mit dem Preis der Dresdner Bank für junge Dramatik ausgezeichnet wurde. Im Sommer 2003 nahm Anja Hilling an der "International Residency" am Royal Court Theatre in London teil. Ihr zweites Stück, Mein junges idiotisches Herz, wurde Anfang Oktober 2004 beim Wochenende junger Dramatik an den Münchner Kammerspielen vorgestellt, war dort in einer Werkstattinszenierung zu sehen und wurde im März 2005 am Theaterhaus Jena uraufgeführt. Das Stück wurde zu den Mülheimer Theatertagen 2005 eingeladen. Die österreichische Erstaufführung fand im Januar 2006 am Kosmos Theater, Wien, statt. Eine Hörspielfassung wurde vom Schweizer Radio DRS2 produziert (Erstsendung Februar 2006). Monsun, Anja Hillings drittes Stück, kam im September 2005 am Schauspielhaus Köln zur Uraufführung und war in einer weiteren Produktion an den Münchner Kammerspielen zu sehen. Im April 2007 wurde das Stück am Schauspielhaus Salzburg als österreichischer Erstaufführung gezeigt. Mit ihrem Werk Protection wurde sie zu den Autorentheatertagen 2005 am Thalia Theater Hamburg eingeladen, wo das Stück am 17. Juni in einer Werkstattinszenierung im Rahmen der "Langen Nacht der (zu entdeckenden) Autoren" in der Regie von Andreas Kriegenburg zu sehen war. Die Uraufführung fand im Oktober 2006 am Maxim Gorki Theater, Berlin statt. Eine Einladung der Autorin zu den Werkstatttagen 2005 am Burgtheater Wien folgte, wo sie ihr fünftes Theaterstück Bulbus fertig stellte, das dort auch im März 2006 uraufgeführt wurde. Bei der Kritikerumfrage von theater heute 2005 wurde Anja Hilling zur Nachwuchsautorin der Saison gekürt. Ihr sechstes Stück Engel wurde Ende September 2006 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Im September 2007 wurde ihr Stück Sinn, das Anja Hilling für eine Koproduktion zwischen der Comédie de St. Etienne und dem Thalia Theater Hamburg schrieb, in französischer und deutscher Sprache inszeniert. Im Oktober wurde Schwarzes Tier Traurigkeit, das als Auftragswerk für das Schauspiel Hannover entstand, dort in der Regie von Ingo Berk uraufgeführt. Am 02.04.08 kommt ihr neuestes Stück, ebenfalls ein Auftragswerk, Nostalgie 2175 am Thalia Theater in Hamburg zur Uraufführung. Gespräch mit Anja Hilling Ihr Titel spricht die Emotionen an und irritiert zugleich. Das ist die Übersetzung des Doris-Day-Songs "My young and foolish heart", der im Stück vorkommt. Zu Beginn hatte ich zwanzig verschiedene Titel. Welche gab es denn noch? Das ist geheim. Warum wählten Sie gerade diesen Stücktitel? Weil das Stück viel mit dem Herzen und dem Innenleben zu tun hat. Leben Sie im Mietshaus? Genau in solch einem alten. Fühlen Sie sich dort ebenso isoliert wie ihre Figuren? Ich finde es interessant, dass wir so eng nebeneinander wohnen, und doch so weit voneinander entfernt sind, viel weiter als Leute, die auf dem Land leben. Deren Häuser liegen mitunter 100 Meter auseinander, und dennoch wissen sie viel mehr voneinander als wir von unserem Nachbarn, den wir durch die Wand husten hören können. Aber ich habe keinen meiner Nachbarn im Stück verbraten. Ihre Figuren sind unglücklich, erzählen von Selbstmord, Arbeitslosigkeit, Vergewaltigung. Ist das Ihre Weltsicht? Sicher hat jeder Mensch seinen ganz eigenen schweren Sack zu tragen. Das Stück läuft nicht chronologisch ab, sondern mal rückwärts, mal wird aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Ein filmischer Zugriff. Ich kriege das oft zu hören. Mein neues Stück ist noch filmischer. Ich gehe ja auch viel lieber ins Kino als ins Theater. Warum schreiben Sie fürs Theater und nicht für den Film? Es gibt selten Stücke und Inszenierungen, die ich toll finde. Für mich ist es eine Herausforderung, etwas zu schreiben, was ich selbst gern sehen würde. Das Theater in Berlin ist so auf Provokation aus, was mir auf die Nerven geht, Volksbühne und so. Da werden dann Spiegeleier auf der Bühne gebraten. Und du musst drin sitzen und das riechen. Irgendwie bewegen mich Filme mehr. Die meisten Menschen gehen doch auch lieber ins Kino. Am Theater mag ich die sprachliche Freiheit. So wie ich ein Stück schreibe, könnte es kein Drehbuch sein. Dafür ist die Sprache zu artifiziell. Wie entwickelten Sie die verschachtelte Dramaturgie? Karin Schlüters Geschichte war als erste da. Sie will sich umbringen, weil sie unter Kontaktlosigkeit leidet. Dann tauchten die andere Figuren auf, und ich fand es interessant, auch in ihre Köpfe hineinzuschauen. Wie sie die Begegnungen empfinden, und was sie für einen Tag hatten. Das war am Anfang nicht geplant. Es sollte ein Stück übers Glück werden. Wie das Glück hereinbricht, und wie radikal das sein kann. Meine Figuren fühlen sich wohler, wenn sie leiden. Es fällt ihnen schwer, schöne Begebenheiten zu akzeptieren, etwa wenn ihnen jemand eine Mohnschnecke mitbringt. Gespräch: Ulrike Merkel Anja Hilling über ihr Stück, das am Theaterhaus Jena uraufgeführt wurde, 28.02.2005 Erzählen „Erzählen im Alltag und literarisches Erzählen, beide, sind Erzählen. Alltägliches Erzählen, besonders in der Weite seiner Erstreckung, in den Formen, die sich am stärksten von literarischen Anforderungen entfernen, ist dem Alltag oft nicht nur als Tätigkeit verpflichtet, sondern auch in seinen Inhalten. Das macht Alltagserzählungen häufig trivial. Ihre Themen, die Begebenheiten, die sie enthalten, sind unerhört oft nur, sofern Weltkenntnis fehlt, wenn die Erfahrungen in die Enge jener alltäglichen Monotonie eingeschlossen sind. Erzählen ist als sprachliches Handeln integriert in die sonstigen Handlungsbezüge des Einzelnen in der Gesellschaft. Es ist eines der prominentesten Mittel, mit denen der Transfer von Erfahrung bewältigt werden kann. Erzählen ist eine Tätigkeit, die, vom partikularen Erlebniswissen bis hin zu komplexen, aber als Geschichte geradezu sinnlich wahrgenommenen Ereignissen und Zusammenhängen, Erfahrung kommunikativ vermittelt. Erzählen überwindet Isolation und konstituiert gemeinsame Teilhabe an Diskurswissen, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Praxis realisiert wird. Das alltägliche Erzählen, als alltägliche Tätigkeit der alltäglich Handelnden, ist ein Potential, das aus der Passivierung herausführt. Gelingt dies, so verhilft es Menschen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten zur Veränderung einzusetzen.“ Konrad Ehlich Privat Als privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem „etwas“ kontrollieren kann. Und der Schutz des Privaten bedeutet dann, dass es ein Schutz ist vor unerwünschtem Zutritt anderer. Denn warum wollen wir nicht belauscht oder beobachtet werden, ob allein mit Freunden? Warum möchten wir gerne „ein Zimmer für uns allein“ haben? Warum wollen wir es gerne selbst in der Hand haben, was Kollegen über unser Privatleben wissen? Weil all dies unsere Autonomie verletzen würde. Um sich authentisch die Frage stellen zu können, wer man ist, wie man leben möchte, sind offenbar Rückzugsmöglichkeiten von den Blicken der anderen notwendig. Beate Rössler Lamm-Gulasch Zubereitung: Fleisch in 2 bis 3 cm große Stücke, Zwiebeln und Knoblauchzehen in feine, Möhren und Sellerie in kleine Würfel schneiden. Butterschmalz erhitzen, Zwiebeln und Knoblauch darin anbraten. Möhren und Sellerie hinzufügen und ebenfalls anbraten. Fleisch, Rosmarin und Lorbeerblatt untermischen und wenden, bis das Fleisch grau ist. Brühe und Wein angießen und Gulasch 60 Minuten schmoren. Tomatenmark einrühren, mit Salz und Pfeffer abschmecken und kurz durchziehen lassen. Lorbeerblatt entfernen. Mit Petersilie bestreut servieren. Als Beilage eignen sich Salzkartoffeln und grüne Bohnen. Zutaten: 600 g Lammschulter 200 g Karotten 100 g Sellerieknolle 400 g Zwiebeln 2 Knoblauchzehen 1/8 l Fleischbrühe 1/8 l trockener Rotwein 2 EL Tomatenmark 40 g Butterschmalz 1 TL zerriebener Rosmarin 1 Lorbeerblatt Salz, schwarzer Pfeffer 4 EL gehackte Petersilie Drei Bestimmungen d es Fragm ents: Die erste versteht das Fragment als Teil eines ganzen, dessen Vollständigkeit nicht in Frage steht. Insofern diese ohne Bruch von einem Term zum andern überzugehen erlaubt, sei’s deduktiv vom Ganzen zum Teil, sei’s induktiv vom Teil zum Ganzen, verliert das Fragment den Charakter des Fragmentum, das gerade durch sein Abgerissensein vom Ganzen ist, was es ist. Eine zweite Auffassung nimmt das fragment als Teil eines Ganzen, dem es in zeitlicher Hinsicht nicht mehr oder noch nicht angehört und für dessen Abwesenheit es in stückhafter Präsenz einsteht. Mit anderen Worten: das Fragment funktioniert hier als pars pro totot. Je nachdem, ob das Ganze als verloren oder noch nicht erreicht gedacht wird, erscheint es, unter archäologischer Perspektive, als Rest, Abfall, Schlacke, Krümel, Spur, Ruine, Memorandum oder, unter erkenntnisorientierter Perspektive, als Sprungbrett für die Phantasie, als Keim der Zukunft. Eine dritte Auffassung setzt den Bruch zwischen Fragment und Totalität absolut, insofern als letztere nicht (wieder)herzustellen ist. Hier ist das Fragment weder Moment eines Totalisierungsprozesses, noch Element eines wie immer zu denkenden Ganzen, noch eine Miniatur-Ganzheit wie etwa Sentenz, Aphorismus, Haiku. In solcher radikaler Abkoppelung, die den Fragmentbegriff selbst aufzulösen droht, hat das Fragment weder einen Bezug nach außen, noch auf sich selbst. Lucien Dällenbach, Christian L Hart Nibbrig Kleines S olo Einsam bist du sehr alleine. Aus der Wanduhr tropft die Zeit. Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. Träumst von Liebe. Glaubst an keine. Kennst das Leben. Weißt Bescheid. Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit. Wünsche gehen auf die Freite. Glück ist ein verhexter Ort. Kommt dir nahe. Weicht zur Seite. Sucht vor Suchenden das Weite. Ist nie hier. Ist immer dort. Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. Sehnsucht krallt sich in dein Kleid. Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit. Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren. Magst nicht bleiben, wer du bist. Liebe treibt die Welt zu Paaren. Wirst getrieben. Mußt erfahren, daß es nicht die Liebe ist ... Bist sogar im Kuß alleine. Aus der Wanduhr tropft die Zeit. Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine. Brauchtest Liebe. Findest keine. Träumst vom Glück. Und lebst im Leid. Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit. Erich Kästner Gesellschaftlicher Klimawandel - Von d er Rhet orik des Alleinseins zur Ei nsamk eitsrhet orik Im Oktober 2002 befasste sich single-generation.de zum ersten Mal mit dem Thema. Einsamkeit wurde - unabhängig von der Lebensform - als unerwünschter Zustand bezeichnet, der als "Diskrepanz zwischen gewünschten gegenüber tatsächlichen sozialen Bindungen" (Röhrle & Osterlow) beschrieben werden kann. Nun sind gleich mehrere Autoren angetreten, um dies scheinbar zu bestreiten. Ersetzt man den Begriff "Einsamkeit" einfach durch das Wort "Alleinsein", dann könnten diese Sätze von Ulf Porschardt aus der Ratgeberliteratur der End-70er bzw. der 80er Jahre stammen, wenn man einmal außer Acht lässt, dass man damals noch nicht googlen konnte. Der erste deutsche Ratgeber in dieser Tradition stammt von Jürgen vom Scheidt und hieß Singles - Alleinsein als Chance des Lebens (1979), der in der 2. Auflage einfach nur noch Alleinsein als Chance hieß. Ein klassischer Einsamkeitsratgeber heißt dagegen Einsamkeit überwinden. Im Mittelpunkt stehen die klassischen Probleme der unfreiwillig Einsamen: Kontaktschwierigkeiten und mangelndes Selbstwertgefühl. Einsamkeit überwinden ist jedoch nicht unbedingt gleichbedeutend damit das Alleinleben überwinden zu wollen. Das zweite neue Buch heißt Die hohe Schule der Einsamkeit und wurde von Mariela Sartorius verfasst. Dieses Buch weist im Untertitel Von der Kunst des Alleinseins auf die alte Semantik hin. Warum dieser Begriffswandel? Warum werden nun die gleichen Phänomene unter dem Oberbegriff "Einsamkeit" und nicht mehr unter dem Oberbegriff "Alleinsein" behandelt? Man darf getrost davon ausgehen, dass ein an der Popkultur geschulter Autor wie Ulf Porschardt, der mit Büchern über die DJ-Kultur und Cool, dem Zeitgeist immer hart auf den Fersen war, ein sicheres Gespür für gesellschaftliche Klimawandel aufbringt. Seit 5 Jahren haben die Familienwerte und mit ihnen auch das Paarleben für jeden spürbar starken Aufwind erhalten. Der letzte relativ geburtenstarke Jahrgang der Generation Golf/Ally erreichte das Familiengründungsalter. Keine Generation vorher wurde mit solch einem medialen Getöse beim Übergang ins Familienlebensalter begleitet. Der Frauenjahrgang 1965 bescherte der Republik einen ungeahnten Babyboom der Spätgebärenden. Die coolen Mütter vom Prenzlauer Berg in Berlin avancierten zum Medienspektakel. Gleichzeitig verstanden die Bevölkerungswissenschaftler und -politiker das Pflegeurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2001 als Startsignal für bis dahin beispiellose Hetzkampagnen gegen Singles, mit denen die soziale Sicherung grundlegend umgestaltet werden sollte. Spätestens seit dem Jahr 2003 gilt selbst für die schlafmützige Lifestyle-Soziologie, was der Sozialstrukturforscher Stefan Hradil in seinem Beitrag Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft vermeldet: "Singles (...) gelten nicht länger als Helden der Autonomie, sondern als einsame Defizitwesen, die auf Partnersuche sind. Ehe, Treue und Harmonie sind »angesagt«“ Der Begriffswandel reagiert also auf das gewandelte Bild des Alleinlebens. War 1978, als die erste deutsche Single-Serie im Nachrichtenmagazin Spiegel erschien, das Alleinsein angesagt, so ist jetzt das Zusammensein gefragt. Weniger das Leiden am Alleinsein wird thematisiert, sondern das Leiden an der (Zwangs)Gemeinschaft. Die neuen Eingebundenheiten in Teamarbeit, Netzwerke, Partnerschaft und Familie haben ihren Preis. Nicht mehr zu kleine, sondern ausufernde Netzwerke werden zum Problem. Mit dem Heiraten hat man es nicht mehr geschafft, sondern gestiegene gesellschaftliche und private Anforderungen erhöhen die Sehnsucht nach Distanzierungstechniken. Einsamkeit kann als eine solche Technik verstanden werden. "Einsamkeit ist wie Einatmen, Gemeinschaft wie Ausatmen. Es geht um die richtige Balance", schreibt Ulf Porschardt. Wer auf eines von beiden verzichtet, ist sozusagen nicht überlebensfähig. Die Nähe-Distanz-Problematik stellt sich heute in verschärfter Form. Eine Stunde für mich allein heißt ein Verwöhnbuch für gestresste Mütter. Ein Raum für mich heißt ein Buch, das sich an Frauen wendet, die zu sich selbst finden möchten. Der Anteil der Fernbeziehungen steigt. Deregulierungsprozesse auf allen Ebenen (Staat, Markt, Privatheit) haben einen erhöhten individuellen Regulierungsbedarf erzeugt. Die Freiheiten wollen genutzt werden. Der Alltag erzwingt Nähe, die schnell in Zwang, Überlastung und Überforderung umkippen kann. Einsamkeit bzw. Distanz, wie man bislang sagte, gewinnt dadurch als Schutzmechanismus an Attraktivität. Die postindustrielle Gesellschaft, mit ihren neuartigen Anforderungen, und das neue Ethos des Einsamen, wie es in der neuen Ratgeberliteratur seine Verbreitung findet, scheinen wie für einander geschaffen. Als 1978 der Roman Frauen ohne Männer von Evelyn Peters erschien, war das Bild der Frau als passives Wesen noch weit verbreitet. Einsamkeit erscheint hier als Schicksal, dem man nur schwer entgehen kann, wenn man nicht bereits in Kindheit und Jugend jene Charaktereigenschaften erworben hatte, die notwendig waren, um der Einsamkeit zu entgehen. Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmer mehr, war die gängige Meinung. Heutzutage gilt auch der Erwachsene als lernfähig. Nicht nur das, es wird erwartet, dass er lernt. Das Ich ist zum aktiven Zentrum geradezu verdammt. Am 15. Dezember letzten Jahres widmete sich die Wochenzeitung Die Zeit dem Thema Allein oder einsam? In dem Artikel Einsamer nie? formuliert Sven Hillenkamp das Credo der individualisierten Gesellschaft: "Es sind nicht mehr Menschen einsam, aber mehr sind selbst schuld, wenn sie es werden. Nicht mit einer einsamen Moderne haben wir es zu tun, nur mit einer Modernisierung der Einsamkeit". Das neue Ethos des Einsamen, das in der neuen Ratgeberliteratur vermittelt wird, basiert auf modernem Selbstunternehmertum. Die Ratgeberliteratur reagiert also auf eine neu entstandene Marktlücke, die durch den Rückzug des Sozialstaats, den veränderten Arbeitsmarkt und das moderne Partnerschafts- und Familienideal geschaffen wurde. Das Buch Einsamkeit von Ulf Porschardt löste in den Medien zum Teil harsche Kritik von Gleichaltrigen aus. Die Kritik kommt dabei aus zwei Richtungen. Das offene Bekenntnis von Porschardt zur FDP und seine wöchentliche Kolumne, in der er des Öfteren den Missbrauch des Sozialstaats und die Entsolidarisierung der Unterschichten mit den Reichen anprangert, hat bei Poplinken reihenweise Empörung hervorgerufen. Die andere Richtung aus der die Kritik kommt, ist dem offenen Bekenntnis zum SingleDasein geschuldet. Porschardt gehört zur Avantgarde der Kinderlosen, die nach dem Willen von Postfeministinnen wie Susanne Gaschke mit gutem, d.h. bevölkerungskorrektem, Beispiel vorangehen sollen oder sich zumindest ohne wenn und aber in den Dienst der Vermehrungskampagnen stellen sollen. Felicitas von Lovenberg ist hier jedoch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (07.05.2006) zu einem vernichtenden Urteil gekommen: "Mit Poschardts Fibel verlernt der Single endgültig, von sich selbst einmal abzusehen und auf die anderen zu achten - also genau jene Tugenden, die Familien hervorbringen und zusammenhalten." Schützenhilfe für Porschardt kommt dagegen von Ursula März und der Süddeutschen Zeitung (31.05.2006): "Das längst routinierte Dauergespräch über die Single-Gesellschaft mit ihren vielen - ja tatsächlich - einsamkeitskranken Individuen hat das Gesundungspotential des Fürsichseins in Verruf gebracht. Da hat (...) Ulf Poschardt, Shrimps hin, Schaumbäder her, ganz einfach Recht." Aus: http://www.single-generation.de/themen/thema_einsamkeitsethos_1.htm Textnachweise: Konrad Ehlich (Hrsg.): Erzählen im Alltag, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1980. Beate Rössler: Der Wert des Privaten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2001. Lucien Dällenbach und Christian L. Hart Nibbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1984.