Günter Burkart: Kritischer Rationalismus - über Beobachtung, empirische Erfahrung und Theorie Das aufrechte Bestreben, Behauptungen über Erscheinungen oder Zusammenhänge der Wirklichkeit zu überprüfen, nennt man empirische Forschung (vgl. Wellenreuther 2000:17). Der Zugang zur Wirklichkeit ist das erste Problem dabei. "Empirische Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft. Ihre Aussagen beruhen auf Erfahrung. Erfahrung basiert auf Beobachtung. Dies gilt für den Alltag wie für die Wissenschaft, die wissenschaftliche Erfahrung. Diese Beobachtungen sind in beiden Fällen theoriegeleitet. Beide zielen auf Klassifizierungen der beobachteten Phänomene (Sachverhalte, Ereignisse etc.) und auf Schlussfolgerungen ab, das heißt Beobachtungen sind nicht Selbstzweck. " (Kromrey, 1998: 21). Drei Dinge gibt uns Helmut Kromrey hier mit auf unseren weiteren Lebensweg. Zum Ersten: Wir müssen über Beobachtung in Wissenschaft und Alltag nachdenken. Zweitens: Was hat Beobachtung mit Alltagserfahrung und wissenschaftlicher Erfahrung und all dies mit "Theorie" hinter der Beobachtung zu schaffen? Und schließlich die Absicht bei Beobachtung oder allgemeiner das Verhältnis von Fragestellung und Beobachtung. Beobachtung bedient sich entsprechender Instrumente, im einfachsten Fall unserer Sinne. Das bereits dies eine Festlegung unserer Beobachtung im Sinne einer theoriehaltigen Vorgabe darstellt, zeigt Sir Karl Popper schon am Beispiel der Sinnesorgane: "Da alle unsere Dispositionen in gewissem Sinne Anpassungen an konstante oder sich langsam verändernde Umweltbedingungen sind, kann man sie als theoriegetränkt bezeichnen, wobei der Ausdruck »Theorie« in einem genügend weiten Sinne zu nehmen ist. Ich meine, daß sich jede Beobachtung auf bestimmte typische Situationen - Regelmäßigkeiten - bezieht, zwischen denen sie entscheiden möchte. Und ich denke, wir können sogar noch mehr behaupten: Es gibt kein Sinnesorgan, in das nicht antizipierende Theorien genetisch eingebaut wären. Das Auge einer Katze reagiert in bestimmter Weise auf eine Anzahl typischer Situationen, für die vorbereitete Mechanismen in seine Struktur eingebaut sind: Sie entsprechen den biologisch wichtigsten Situationen, zwischen denen unterschieden werden muß. Die Disposition, zwischen diesen Situationen zu unterscheiden, ist also in das Sinnesorgan eingebaut, und damit die Theorie, daß genau diese die bedeutsamen Situationen sind, zu deren Unterscheidung das Auge zu verwenden ist." (Popper, 1993: 72). Eine theoriefreie Erfahrung der Realität ist demnach schlicht nicht möglich. Beobachtungen sind jedenfalls in Wissenschaft und Alltag darauf ausgelegt, aus den beobachteten Ereignissen Schlußfolgerungen zu ziehen oder diese Ereignisse in ein gedankliches Schema einzuordnen. Dabei ist die alltägliche Beobachtung eher auf konkretes Handeln bezogen, der Beobachter abstrahiert weniger von der konkreten Situation und ihren Bedingungen. Die wissenschaftliche Beobachtung dagegen ist systematischer, kontrollierter und auf verallgemeinerbare Aussagen und Erkenntnisse ausgerichtet. Wissenschaftliche Beobachtung ist also zumindest graduell von der Alltagsbeobachtung verschieden. Sie ist kontrolliert selektiv. Sie sucht danach, ihre aus Beobachtungen gewonnenen Erfahrungen zu verallgemeinern und nach Möglichkeit zu einer Theorie zu verdichten. Solche Theorie ist aber scheinbar von anderer Art als die erwähnte Theorie, die das jeweilige Instrument (oder das Sinnesorgan) bereits "mitbringt". Sie ist weniger unmittelbar an die Beobachtung selbst gebunden, will vielmehr Zusammenhänge darstellen, will Prognosen über die Wirklichkeit und ihre zukünftige Entwicklung ermöglichen. Eine Theorie will wahre Aussagen treffen. Wie kann sie das erreichen? Genauer: Wie kann sie hinsichtlich ihrer Wahrheit geprüft und verglichen werden mit einer anderen Theorie, die ebenfalls Prognosen und Behauptungen über Zusammenhänge in der wirklichen Welt abgesondert hat? Und wie verhält sich diese Theorie zu den Erfahrungen und Überzeugungen unserer durch alltägliche Beobachtungen gewonnen Erfahrung? Also haben wir hier zwei Probleme: Erstens, wie kommen wir zu wahren wissenschaftlichen Theorien und wie grenzen wir die gegen die aus der Alltagsbeobachtung gewonnen "Alltagstheorien" ab? Und zweitens: Wie können wir aus konkurrierenden Theorien die beste herausfinden? 1 Für die Entwicklung von wahren Theorien mißt der kritische Rationalismus dem Alltagsverstand einige Bedeutung bei. Popper jedenfalls setzt sich mit ihm recht freundlich auseinander, nennt den Alltagsverstand sogar den (allerdings unsicheren) Ausgangspunkt allen wissenschaftlichen Strebens: "Wissenschaft, Philosophie, rationales Denken müssen alle beim Alltagsverstand anfangen. Nicht, als ob der Alltagsverstand ein sicherer Ausgangspunkt wäre: der Ausdruck »Alltagsverstand« ist sehr unscharf, einfach deshalb, weil er etwas Vages und Wechselndes bezeichnet - die Instinkte oder Meinungen vieler Menschen, die oft brauchbar oder wahr, oft abwegig oder falsch sind. (...) Alle Wissenschaft und alle Philosophie sind aufgeklärter Alltagsverstand." (Popper, 1994: 33) Trotzdem ist dieser Alltagsverstand der Ausgangspunkt für alles wissenschaftliche Bemühen im Sinne des kritischen Rationalismus . Was seine offensichtlichen Nachteile ausgleichen soll, ist schlichtweg die Waffe der Kritik. Außerdem übt sich der kritische Rationalismus in Bescheidenheit und ist symphatisch undogmatisch: Zwar strebt er Wahrheit an, ist sich aber bewußt, daß dieses Ideal nie erreicht werden kann. Daher ist das realistischere Ziel die möglichst große Annäherung an Wahrheit. Popper nennt dieses Ziel "Wahrheitsähnlichkeit". Und diese Annäherung, eine Theorie beispielsweise, ist nicht in Erz gegossen, sondern muß sich immer wieder neu bewähren. Sie muß immer wieder aufs Neue der kritischen Prüfung, der Konfrontation mit der Realität, standhalten. Popper spricht davon, daß die Entwicklung und Fortentwicklung von Theorien kein sicheres System aufbauen will (und im übrigen auch nicht kann): Der Weg der Theorieentwicklung ist ein Weg von kühnen Annahmen und deren strengen Prüfung. Das zugrundeliegende Bild ist, daß gleichgültig von welchem Ausgangspunkt die Annahme ausgegangen ist, sie im evolutionären Sinne entweder die Konfrontation mit der Realität besteht (im biologischen Sinn würde man sagen: Sie überlebt), oder daß sie untergeht. Dabei gilt es selbstverständlich und soweit vorhanden, auf Annahmen aufzubauen, die bisher nicht "untergegangen" sind. Wir können dabei keine vollständige Annäherung an die Wahrheit erreichen, wir kennen die Fehler in unseren Annahmen nicht, bis eine weitere Konfrontation mit der Realität uns diese vor Augen führt. Wie können wir dann überhaupt zwischen Theorien entscheiden? "Wir können uns nie absolute Sicherheit verschaffen, daß unsere Theorie nicht hinfällig ist. Alles, was wir tun können, ist, nach dem Falschheitsgehalt unserer besten Theorie zu fahnden. Das tun wir, indem wir sie zu widerlegen versuchen, das heißt, indem wir sie im Lichte unseres ganzen objektiven Wissens und mit aller Erfindungskraft streng prüfen. Es ist natürlich immer möglich, daß die Theorie falsch ist, auch wenn sie alle Prüfungen besteht; das ist bei unserem Streben nach Wahrheitsähnlichkeit zu bedenken. Doch wenn unsere Theorie alle diese Prüfungen besteht, dann haben wir wohl guten Grund zu der Vermutung, daß sie - die (wie wir wissen) größeren Wahrheitsgehalt hat als ihr Vorgänger - wohl keinen größeren Falschheitsgehalt hat. Und wenn wir die neue Theorie gerade auf den Gebieten, auf denen ihre Vorgängerin scheiterte, nicht widerlegen können, dann können wir das als einen objektiven Grund für die Vermutung anführen, daß die neue Theorie eine bessere Annäherung an die Wahrheit ist als die alte. (Popper, 1994: 82)" Es geht um "Wahrheitsähnlichkeit" der Theorie, die immer aber auch mit einem gewissen "Falschheitsgehalt" beladen ist, Wahrheit ist als Ziel nicht zu erreichen. Schluß, fertig, so ist das. Was können wir tun? Die Antwort im Sinne des kritischen Rationalismus lautet: Wir müssen mit all unseren Mitteln und sehr ernsthaft versuchen, unserer besten Theorien zu widerlegen. Und das immer wieder. Falsifikation nennt sich das und bedeutet, daß wir mit den Überlebenden weiterarbeiten. Literatur: Kromrey, Helmut Empirische Sozialforschung Opladen, 1998 Popper, Karl Objektive Erkenntnis Hamburg, 1993 Wellenreuther, Martin 2000 Quantitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim 2