krise - PsychoHistoire

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Psychohistorie der Krise – Hamburg März 2010
Angesichts der heutigen Krise kann man sich die Frage stellen, ob sie jetzt schon überhaupt
geistig zu bewältigen sei. In dieser Hinsicht können die Werke von bestimmten
Psychoanalytikern und Philosophen behilflich sein. Die Krise, der wir jetzt begegnen, berührt
uns nicht nur auf der Ebene unserer Umwelt, auf der sozialen oder sogar persönlichen Ebene,
sie erschüttert uns auch im Intimsten unserer psychischen Struktur. Sie bedroht und zerrüttet,
was der Psychoanalytiker René Kaës als unseren metapsychischen Rahmen bezeichnet.
Der Philosoph Dany Robert Dufour deutet die Krise als Ende der grossen Erzählungen, die
unser gesellschaftliches Leben strukturieren, oder als Ende der liberalen Erzählung. Der
Rechtshistoriker und Anthropologe Pierre Legendre bietet eine Vorstellung der Geschichte als
sedimentäre Geschichte. Die Vergangenheit verschwindet nicht, sie versinkt in den
Untergrund unserer Kulturgeschichte. Insofern wäre dann die Deutung der heutigen Krise als
Ende der Erzählungen zu relativieren. Diese Krise erinnert zum Teil an die Krise, welche die
Französische Revolution auch war. Sie taucht auch als Referenz in den politischen Reden in
Frankreich auf. Alain Minc, ein Politiker, der Nicolas Sarkozy nahe steht, schreibt in der
Ausgabe der Zeitung Le Figaro vom 23 März 2009 einen „offenen Brief“ an seine Freunde
der führenden Klasse: „Sehen Sie ein, dass das Land zerrüttete Nerven hat, dass die Bürger
das Gefühl haben, auch wenn es irrig ist, eine Krise zu erleiden, für die wir in ihren Augen
alle schuldig sind? Wissen Sie denn nicht, dass die Suche nach Sündenböcken eine Konstante
unserer Geschichte ist, und dass 1789 sich in 1788 abspielt ?“
Laut Sophie Wahnich, Historikerin der frz Revolution, zielt die Referenz auf die Revolution
darauf, „entweder ihr zu kündigen, indem man sagt, dass man sie nicht mehr machen lassen
wird, oder darauf, sie als einen Ort einer nützlichen Erfahrung zu machen, um die begangenen
Fehler nicht zu wiederholen.“ (Le Monde 5. April 2009)
Wie die heutige Krise erscheint die Krise der frz. Revolution als das Ende einer grossen
Erzählung, damals der historischen Erzählung der frz. Monarchie. Sie erlaubte dem liberalen
Diskurs, sich politisch als Alternative zur dieser traditionellen Rede durchzusetzen. Die Frage
der Interpretation des Naturrechts, des Naturrechts zum Besitz und seiner Begrenzung stellt
auch das Problem des Limits. Heute erscheint die Frage der Limits als zentral in der Krise, die
wir erleben. Die Psychoanalytiker Jean-Pierre Lebrun und Charles Melman meinen wir lebten
in einer „Welt ohne Limits“ 1), und die Frage des Limits stelle sich auch in Bezug auf die
Begrenzung der natürlichen Ressourcen unserer Umwelt, der Rohstoffe, und auch z.B. in
Bezug auf die möglichen Begrenzung der Gewinne der Traders. Ich werde zuerst den Rahmen
meiner theoretischen Referenzen darlegen, d. h. den Begriff des metapsychischen Rahmens
von René Kaës und die historischen Ansätze von Dany Robert Dufour und Pierre Legendre.
Dann werde ich die Krise der frz. Revolution erwähnen, als das Ende einer großen Erzählung
und als Übergang zum liberalen Diskurs, und auch als Konflikt um die Frage des Limits.
Zuletzt werde ich einige Denkansätze zu diesen Aspekten der heutigen Krise hervorheben.
Der Psychoanalytiker René Kaës meint, dass das psychische Leben des Einzelnen von einem
metapsychischen Rahmen abhängt. Dieser kollektive Rahmen bestand vor uns, hängt nicht
von uns ab und strukturiert unser psychisches Leben. Er bildet die Grundlage der Autorität,
des Glaubens, der Ideologien, der Mythen, der geteilten Vorstellungen. Diese Vorstellungen
bilden ihrerseits das Bezugssystem für die Praxis. Die Krise löst diese Vorstellungen auf, und
bedroht den metapsychischen Rahmen, was vielleicht den Zustand der Sprachlosigkeit oder
der Verleugnung seitens vieler Bürger zu erklären vermag.
1
Die Forschungen der Psychoanalytiker René Kaës und José Bleger über die Institutionen, und
die Begriffe die sie daraus entwickelt haben: der psyschische Gruppen-Apparat (appareil
psychique groupal) wurde von Kaës erarbeitet, und die synkretische Soziabilität, die von
Bleger ausgearbeitet wurde, könnten interessante Werkzeuge der Psychohistorie werden.
Laut René Kaës wird jede Gruppe – egal auch welche – von verschiedenen Trieben investiert
Es sind hauptsächlich die Selbst-Erhaltungstriebe des Ichs, narzisstische Triebe, und auch
eventuell Äußerungen des Todestriebes.
Diese triebhaften psychischen Investierungen fallen von Subjekt zu Subjekt ganz
unterschiedlich aus, und das Funktionieren der Gruppe ermöglicht dass die Triebe jedes
Einzelnen dort ihren Objekt oder ihre Anlehnung finden. Es stellt sich dann die Frage, wie
die Triebe sich vereinbaren, wie sie sich verbinden, und wie die Subjekte den Verzicht ihrer
direkten Erfüllung akzeptieren, damit laut Kaës „die Gemeinschaft geschehe, die jedem
Sicherheit und Liebe gewährleistet.“
Die Gruppe hat auch verschiedene Funktionen. In ihr werden Plätze zugewiesen, Objekte
vorgestellt, Schutz- und Angriffsmittel sowie Verwirklichungswege angeboten, Grenzen
gesetzt und Verbote ausgedrückt. 2)
Als Hinweis möchte ich die Theorie des argentinischen Psychoanalytikers José Bleger
erwähnen. Er unterscheidet zwischen dem, was er als „synkretische“ Soziabilität bezeichnet,
und einer Soziabilität durch Interaktion. Diese letztere ist differenziert, die erste hat mit der
Urbeziehung zur Mutter zu tun und mit Mechanismen der projektiven Identifizierung. Die
gesellschaftlichen Vorstellungen und auch die Ideologien sind durch diese psychischen
Prozesse beinflusst.
Auch interessant für die Psychohistorie ist der originelle Ansatz des Philosophen Dany Robert
Dufour. Er meint, dass die „sprechenden Subjekte“ nie aufgehört haben, Dritte zu schaffen,
Gebilde, die natürlich zu sein scheinen, die er als „große Subjekte“ bezeichnet, und um
welche die restlichen Subjekte sich einordnen. Dieser Dritte hat die Struktur einer diskursiven
Fiktion, die von der Gesamtheit der „Sprechenden“ unterstützt wird. Dufour erinnert daran,
dass Aristoteles am Anfang seiner Politik ausgemacht hatte, dass unser Zustand „eines
politischen Tieres“ mit unserem Zustand eines „sprechendes Tieres“ zu tun hatte. 3)
Diese „großen Erzählungen“ bezogen sich auf einen „großen Anderen“ (die Götter, Gott, die
Nation, das Volk etc.. ), und sie ermöglichten der Gemeinschaft sich darzustellen und die
Triebe mit diesen Erzählungen zu verbinden. Die Krise, laut Dufour, löst die Triebe von den
Erzählungen, die im Gange waren, bis sie von der Krise durch eine gewaltsame Wiederkehr
des Realen zerstört wurden. Die Krise ist auch als Moment zu deuten, in dem eine neue
Bindung der Triebe an die Erzählungen erstrebt wird.
Für den Rechtshistoriker und Anthropologen Pierre Legendre ist die Geschichte nicht nur
linear, sondern auch sedimentär. Seine Vorstellung der sedimentären Geschichte hat auch
unmittelbar mit seiner Vorstellung des Rechts zu tun. 4) So meint er, dass die Gesellschaft auf
einem Boden von Diskurs- und Wörtersedimenten aufgebaut ist. 5) Die Vergangenheit
verschwindet nie, sie versinkt in den kulturellen Untergrund. In Westeuropa, wo das römische
Reich verschwunden war, hat die Romanität ihren Ausdruck im Papsttum gefunden. Das
Papsttum hat seine Herrschaft auf die falsche Konstantinische Schenkung gegründet. Dieser
2
Text wurde schon ab der Renaissance als eine Fälschung erkannt, aber er blieb im Gepäck des
Heiligen Stuhls bis zum XIX. Jh.. Konstantin war der erste christliche Kaiser, er unterstützte
die christlichen Kirche, und soll laut der Schenkung, dem Papst die kaiserlichen Embleme
geschenkt haben. Aufgrund dieser Schenkung stellte sich das Papsttum als Erbe des
Römischen Reiches dar, oder zumindest der kaiserlichen Idee. Laut Legendre ist es sehr
wichtig, diese Tatsache im Auge zu behalten. Das Christentum war nämlich in seinem Wesen
eine Religion ohne Normen. Sie stammte vom Judaismus, aber hatte ihre Bindungen zur
jüdischen Normativität abgebrochen. Die christliche Religion fand ihre Normativität im
römischen Recht. Das Papsttum hat sich an das römische Recht angelehnt, was zur Folge hat,
dass das Papsttum als kaiserlich zu bezeichnen ist. „Die christliche Imperialität ist die
Matrize der westlichen laizisierten Staaten“ 6), was zur geistigen Herrschaft des Westens
führt. Im Endeffekt produziert dies den Glauben in das gute Recht des Westens, die Welt zu
seinem institutionellen Modell zu bekehren. Als Beispiel dieses Einflusses des römischen
Rechts auf die westliche Kultur steht das Prinzip der parlamentarischen Mehrheit. Um das
juristische Problem der Mehrheit zu lösen, haben die Engländer aufgrund eines römischen
Texts argumentiert, welcher von der Vormundschaft handelt. Wenn es mehrere Vormunde
gibt, falls eine Entscheidung getroffen werden soll, um die Güter des Minderjährigen zu
verwalten: Sollte man das Einverständnis von allen Vormunden haben, oder nur von einem?
Es wurde aus dem römischen Text eine Formel exzerpiert, die im XIII. Jh. zu einer
politischen Basis-Doktrin geworden ist, die folgendes sagt: „Was alle betrifft, soll von allen
gebilligt werden.“ In der Geschichte des parlamentarischen Systems hatte das zur Folge, dass
das Prinzip der Mehrheit in der Entscheidung eine Fiktion der Einstimmigkeit ist. Wenn ein
Parlament ein Gesetz annimmt, gilt dieses Gesetz nicht nur für die Mehrheit, sondern für alle.
Für uns heute ist das evident, aber es hat viel geistige Gymnastik dazu gebraucht. 7). Die
Frage der Mehrheit war auch der Auslöser für den Gewaltstreich des Dritten Standes am
Anfang der frz Revolution.
Wenn man also diese Vorstellung einer sedimentären Geschichte annimmt, wird die
Vorstellung des Endes der großen Erzählungen relativiert. Oder sollte man nur von dem Ende
einer großen Erzählung sprechen, der Erzählung des Liberalismus und der göttlichen Hand?
Vor der frz. Revolution entfalteten sich mehrere Diskursen oder Erzählungen in der
Öffentlichkeit, um die Vorstellungen zu organisieren oder zu bestreiten, welche die
öffentliche Macht legitimierten. Wenn wir der Analyse des Historikers Keith Michael Baker
folgen, können wir drei Diskurse unterscheiden. Einerseits der historische Diskurs, welcher
sowohl die monarchische Macht, die sich auf göttliches Recht stützte, legitimierte, als auch
die dreifunktionale Organisation der Gesellschaft. In dieser Organisation hatte der Klerus die
Pflicht, für die Gemeinschaft zu beten, der Adel musste sie verteidigen, und der Dritte Stand
musste ihre materiellen Bedürfnisse gewährleisten. Diese Organisation geht auf das
Mittelalter zurück, oder sogar, laut George Dumezil, auf die indo-europäische Ideologie. Der
historische Diskurs der Monarchie legitimierte diese Hierarchie und diese Zuteilung der
Plätze. Er entsprach jedoch nicht der neuen wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft.
Gleichzeitig verlor die kriegerische Funktion des Adels mehr und mehr an Legitimität, und
der Adel geriet in Konkurrenz zu der reichen Bourgeoisie. Erwähnt soll auch sein, dass die
Protestanten erst durch das Toleranzedikt von 1787 religiöse und standesamtliche Freiheit
erlangten, und die Juden erst während der Revolution.
Diese Gesellschaftsordnung, die in der historischen Erzählung ihre Rechtfertigung fand,
wurde, zweitens, von dem Diskurs des Willens bestritten. Dieser Diskurs schöpft seine
Quellen aus der klassischen republikanischen Tradition. Der gemeinsame politische Wille
3
wird in diesen Reden zum Ausdruck gebracht, sie befindet sich in den Schriften von
Rousseau oder anderer Schriftsteller dieser Zeit.
Der dritte Diskurs ist der Diskurs der Vernunft. Er schöpft seine rationale Autorität aus der
Quellen der natürlichen Ordnung. 8) Er ist auf den auf Fortschritt und den allgemeinen
Wohlstand gerichtet. (Turgot, Le Mercier, zum Teil Condorcet)
Diese drei Diskurse treten in Konflikt schon vor der Revolution. So behauptet 1788 Rabaut
Saint-Etienne, späterer Präsident der verfassungsgebender Versammlung, dass „die Historie
nicht unser Kode ist“. Damit lehnen die Revolutionäre die traditionelle Autorität der
Monarchie ab.
Die Monarchie steht in Mai 1789 vor der Pleite und will neue Steuern einziehen. So muss der
König eine Ständeversammlung einrufen, das erste mal wieder seit 1614. Der Konflikt unter
den Ständen und mit dem König dauert einige Wochen, bis der Dritte Stand sich selbst zur
Nationalversammlung erklärt, da er die Mehrheit des Volkes vertritt. Diese
Nationalversammlung soll eine neue Verfassung entwerfen. Für Pierre Legendre bedeutet
dieser Gewaltstreich eine „fruchtbare Handlung“, weil sie zum Teil blind ist, und weil sie
auch die Dimension des Unvorsehbaren mitenthält. So wird dem Leben freier Lauf gelassen.
9)
Ab diesem Moment hat der traditionelle historische Diskurs seine Legitimität verloren.
Jetzt bilden die Menschenrechte die Grundlage der neuen Verfassung. Sie beziehen sich
wiederum auf den Begriff des Naturrechts. Diese Vorstellung hat eine alte Geschichte. Das
Bild des natürlichen Gesetzes erscheint schon in der hebräischen Tradition, und die
Vorstellung des Naturrechts kommt aus dem römischen Recht. Sie findet sich wieder im
europäischen Mittelalter als „Teil der göttlichen Gesetzgebung, der alles gehorchen muss.“.
10) Am Ende des XIIten Jh. werden im Gratians Dekret die Gesetze hierarchisch gebildet.
Das göttliche Gesetz (die Offenbarung), die Gesetze der Natur (die den göttlichen Willen zum
Ausdruck bringen), und die menschlichen Gesetze (Könige und Kirche) finden so ihren
jeweiligen Platz in der Hierarchie der Gesetze. Die menschlichen Gesetze dürfen den
göttlichen und den natürlichen Gesetzen nicht widersprechen. Dieses Dekret bleibt im Kraft
bis zum Anfang des 20. Jh. Die Aufklärung hat aber vor, das Recht auf die Natur des
Menschen zu bilden, indem sie sich auf die Methode der mathematischen Wissenschaften, der
Physik und der Chemie bezieht.
Es geht hier aber nicht darum, die detaillierte Genealogie dieser Vorstellung bis zur
Revolution zu verfolgen. Die Revolutionäre begründen die neue Verfassung auf den
Voluntarismus, der in den Theorien des Willens des Volkes von Rousseau zu finden ist, und
auf die Naturrechte.
Im Artikel 6 der Menschenrechtserklärung von 1789 bringt das Gesetz den allgemeinen
Willen zum Ausdruck, und im Artikel 2 werden die Naturrechte des Menschen als die Rechte
auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen die Unterdrückung definiert. Der
Artikel 17 ist dem Recht auf Eigentum gewidmet. Demnach ist das Eigentum ein heiliges und
unverletzliches Recht, dessen niemand beraubt werden kann, es sei denn, die öffentliche
Notwendigkeit erklärt es als gesetzlich, und unter der Bedingung einer gerechten und
vorherigen Entschädigung. Für die frz. Revolutionäre Condorcet und Sieyes findet das
Eigentum seine Quellen in der Arbeit und im Glücksfall. Entgegen der Auffassung von
4
Locke, der behauptet, dass das Recht zum Eigentum begrenzt sei, weil der Mensch
Eigentümer seines Körpers und seiner Arbeit sei, aber nicht mehr als das, was er braucht,
besitzen dürfe.
In diesem Gesellschaftsprojekt ist die wirtschaftliche Macht nicht angesprochen. Das
Eigentum, im Gegenteil zu der Lockeschen Auffassung, ist unbegrenzt. 1791 werden die
Berufstände abgeschafft, und alle Arbeiterbündnisse werden verboten (Handelskammer
dürfen bestehen). Erst 1884 wurde die Gewerkschaftsfreiheit erklärt.
Die Revolutionäre beziehen sich sowohl auf die Natur und auf die Naturrechte, deren
Unklarheit bis zum Ende der Revolution sich entfalten sollte, als auch auf den Kode des
Evangeliums. Aber mit der Verurteilung von Menschenrechtserklärung und ziviler
Verfassung des Klerus durch den Papst stürzt auch diese Referenz auf das Evangelium
zusammen, und ein Religionskrieg bricht aus. Die Revolutionäre verbinden dann ihre Reden
mit der Antike. Die römische Republik, die Bürger von Athen und Sparta werden zu
Vorbildern. So wird mit historischen und religiösen Referenzen, die bisher die Gesellschaft
organisiert hatten, gebrochen. Der Raum, mit dem neuen metrischen System, mit den neuen
Départements, die Zeit mit dem neuen Kalender, werden neu organisiert. Auch die Sprache,
mit der langsamen Abschaffung der Dialekte, wird von der Revolution betroffen.
Die Bevölkerung bekommt während dieser Umbruchszeiten die Desorganisation des
wirtschaftlichen Lebens zu spüren. Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln und mit Seife
provozieren manche Aufstände. So entwickelte das Volk „im Akt eine andere Definition der
Naturrechte, und stellt das „natürliche“ Recht auf Besitz in Frage, das in seiner Auffassung
dem Recht auf Existenz unterworfen sein muss. 11) Das Volk lehnt sodann die Autonomie
des Wirtschaftsbereichs ab. Es verlangt das, was „Maximum“ genannt wird: Maximum der
Preise, Maximum der Gewinne, Maximum der Grösse der Betriebe. 12)
Ein bedeutungsvolles Beispiel ist die Ermordung des Bürgermeisters von Etampes,
Simmoneau. Simmoneau sollte mit dem Preis des Getreides spekuliert haben, und der
darauffolgende Aufstand bringt den Konflikt zwischen denen ans Licht, die „im Namen des
Gesetzes“ Preisregulierungen und Steuerungen verlangen, wobei „das Gesetz nicht nur eine
Grenze setzt, aber die Freiheit als Herrschaft verbietet; und denen, die im Namen des
Gesetzes die Marktfreiheit der Getreide verlangen“ 13). Im Namen des Naturrechts und des
Gesetzes wollen die Anhänger der Preisregulierung und der Besteuerungen den gerechten
Preis, weil das natürliche Gesetz durch das Naturrecht normiert werden soll, welches auf dem
Recht auf Existenz beruht.
Die neue Menschenrechtserklärung von Ende Mai 1793 enthält kein Naturrecht. Es findet
dann ein friedlicher und unblutiger Volksaufstand statt, nach dem die Naturrechte im Juni
1793 wieder in die Verfassung eingeführt werden. 14) Das Verfassungsprojekt von
Robespierre, der das unbegrenzte Recht auf Besitz als verfassungswidrig erklären will, wird
abgelehnt. Gleich darauf finden das Maximum und die Begrenzung des Besitzes eine reale
Implementierung in der Form der Guillotine. Im August 1794 wird dann auch Robespierre
verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Volksbewegung scheitert, und die Frage des
Naturrechts und der Begrenzung des Rechts auf Eigentum aufgrund des Rechts auf Existenz
bleibt ohne Antwort.
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Nach dem Sturz von Robespierre wird eine neue Verfassung erarbeitet, in der die Naturrechte
nicht mehr vorhanden sind. Boissy d’Anglas erklärt, dass die Naturrechte als die Rechte der
römischen Göttin Ceres, der Göttin der Besitzer, zu definieren seien. Somit setzt sich der
Liberalismus und der Individualismus erst einmal durch. Der Wettbewerb, die Konkurrenz
werden ermutigt. Die ersten Olympiaden der Republik finden in Paris 1796, 1797 und 1798
statt. Somit beginnt die Entwicklung des ehemaligen gemeinen Fuss-Volks zum
Olympiasieger, und später zum napoleonischen Helden der „Grande Nation“. Dieser
narzisstische Rausch endet in dem Untergang in Waterloo. Nach dem Fall Napoleons und der
Restaurationszeit kommt der Liberalismus an die Macht unter der Herrschafts des Königs der
Franzosen Louis-Philippe von 1830 bis 1848. Für François Guizot, zugleich Minister und
liberaler Denker dieser Zeit, entspricht der beste Staat der Herrschaft der Besten, der
Tüchtigsten, der Stärkeren:„Dem Mutigsten, dem Geschicktestem, dem der es versteht, sich
als den Fähigsten darzustellen... Es ist der Tapfere, der befiehlt, der Geschickte, der regiert.
Die Überlegenheit begleitet und bringt ans Licht die Herrschaft unter den Menschen, wenn sie
ihrer Natur ausgeliefert sind. Indem sie (die Überlegenheit) anerkannt wird, wird ihr auch
gehorcht.“ 15)
Für Guizot ist die Überlegenheit die natürliche und legitime Situation der
Herrschaft. Er meint, dass die Autorität der Geschichte und der Natur und somit der
Überlegenheiten übereinstimmen. Nachdem Scheitern der Revolution von 1848 konnte der
wirtschaftliche Liberalismus unter der Herrschaft des Kaisers Napoleon III. von 1852 bis
1870 blühen. Diese Episode beweist, dass ein wirtschaftlicher Liberalismus auch unter einem
autoritären Regime gedeihen kann – das sieht man doch heute in China.
Während der Revolution konnte der Marquis de Sade das natürliche Gesetz auch anders
ausdeuten. Er wurde wegen mehrerer Verbrechen zu fast 30 Jahren Gefängnis verurteilt, die
er in der Bastille verbrachte, und nutzte die Zeit damit, seine Romane und Theaterstücke zu
schreiben. Er wurde am 14. Juli 1789 freigelassen und engagierte sich scheinheilig für die
Revolution. Durch den Sturz von Robespierre konnte er noch der Guillotine entkommen. In
seinen Schriften führt er die Thesen des Liberalismus zu ihren letzten Konsequenzen, und er
wiederholt seine Wahl der egoistischen Moral. „Man gewöhnt uns lächerlicherweise daran,
von Kindheit an, uns für nichts zu zählen, und die Anderen für alles. Von da an erscheint jede
Schädigung, die diesem ehrenswerten Nächsten gemacht wird, als ein großes Übel, obwohl
sie in der Natur liegt, deren Gesetze wir am besten genügen, indem wir uns den Anderen
vorziehen, und indem wir sie (die Anderen) zu unserer Genugtuung peinigen (..). Kennen die
Pflanzen und die Tiere das Mitleid, die sozialen Pflichten, die Nächstenliebe? Und sehen wir
in der Natur ein anderes oberstes Gesetz, als das Gesetz des Egoismus?“ 16). So behauptet De
Sade: „Der Nächste ist mir nichts, es gibt keine geringste Verbindung zwischen ihm und mir.“
Für de Sade wird alles durch die Natur determiniert, denn „es gibt nichts von uns, nichts für
uns, alles gehört der Natur, und wir sind in ihren Händen nur das blinde Spielzeug ihrer
Kapricen.“ 17) Die einzigen Gesetze, die in seinen Augen zählen, sind die Gesetze der Natur,
der Triebe, denen die Menschen unterworfen sind, und welchen die Menschen keine
Schranken setzen dürfen. De Sade will das „symbolische Gesetz zerstören, indem er die
Gesetze der Natur, d.h. die Triebe, entzügelt“. 18)
Der Philosoph Dany Robert Dufour behauptet, dass de Sade eine emblematische Figur von
dem bildet, was der entzügelte Liberalismus werden sollte: eine Anregung zur unbegrenzten
Befriedigung der Triebe, zum Konsum, zur Überschreitung, in einer Gesellschaft, wo, laut
Dufour, Menschen mit einer perversen Struktur sich besser fühlen als klassische Neurotiker.
Wir leben also in einer Gesellschaft, deren erstes Prinzip in dem Egoismus und in dem
Interesse liegt, die unsere Verhaltensweisen bestimmen, ob in der hohen Bourgeoisie, den
6
Banden jugendlicher Delinquenten, oder den Mittelschichten. Dieses Prinzip des Egoismus
zerstört das Zusammen-Sein und das Da-Sein, es führt uns dazu, in einer „perversen
„Cité“/City“ zu leben. Pornographie, Egoismus, Bestreitung aller Gesetze, Annehmen des
sozialen Darwinismus, Instrumentalisierung des Anderen: unsere Welt ist laut Dufour sadisch
(bedeutet nicht sadistisch) geworden. Diese Welt feiert das Bündnis von Adam Smith und den
frz. Liberalen mit dem Marquis de Sade.
Für die Psychoanalytiker Jean-Pierre Lebrun oder Charles Melman fördert die moderne
wirtschaftliche Entwicklung, d. h. der Neo-Liberalismus, das Verhältnis des Individuums mit
einer logischen Ordnung, in welcher es kein Limit, kein Verbot mehr gibt. Diese Ordnung
würde also einen metapsychischen Rahmen schaffen, in welchem bis vor der Krise die
Illusion einer unbegrenzten Befriedigung herrschte. Dieses Anregen soll viel eher dem
Matriarchat zuzuordnen sein als dem Patriarchat. Da die Moderne ihm keinen Dritten gibt, der
ihm eine Stütze sein könnte, kann derjenige, der den Platz des realen Vaters besetzt, keine
Legitimität mehr finden, um bei seinem Kind intervenieren zu können. Es ist heutzutage
häufig und banal, mit Kindern konfrontiert zu sein, denen alles erlaubt zu sein scheint, oder:
bzw denen nichts mehr verboten ist, und deren Väter wohlwollend zugeben, dass sie kein
Limit mehr setzen können, weil sie fürchten, von ihren Kindern nicht mehr geliebt zu werden.
Der heutige Vater fühlt sich an diesem Platz des Grenzen-Setzers nicht mehr anerkannt, weil
das Soziale der Modernität sich von diesem Platz des Limit-Gebers emanzipiert wähnt.
Verlassen durch dem sozialen Diskurs, der ihm seine Legitimität und also seine Autorität
verlieh, sucht er bei seinem Kind die Stütze, die ihm entzogen wurde. Das Ergebnis ist also
logisch: das Kind wird von seinem Vater vor der Probe der Konfrontation mit Grenzen
geschützt, was keine andere Folge hat, als die Inschrift von Grenzen in die Psyche des Kindes
zu erschweren. 19)
Die Verinnerlichung des Modells des Marktes, zusammen mit dem unendlichen Fortschritt
der Technik und der Wissenschaften, hat noch andere Folgen, welche die symbolische
Ordnung aller Gesellschaften berühren, d.h. das Geschlecht und die Ordnung der
Generationen. Pierre Legendre erwähnt den Fall einer transsexuellen Frau, die schon ein Kind
hat – Frage: welches ist der genealogische Status dieses Kindes, dessen Mutter ihren
Familienstand ändern wollte? Die Experten in Quebec gaben als Antwort, dass die Mutter des
Kindes gestorben sei !
Im Jahr 2009, wie 1789, stellt das Reale der Krise die großen Erzählungen, die das
Zusammenleben der Gesellschaft strukturierten, wieder in Frage. Sie hat eine unerwartete
Begegnung mit dem Realen verursacht und hat sowohl das Glauben an den neo-liberalen
Diskurs und seine Versprechen von Fortschritt und Wohlstand zerschmettert, als auch den
Glauben an die Allmacht der Wirtschaftswissenschaft, in der alles auf quantifizierbare
Parameter reduziert wird. Alan Greenspan hat sogar vor kurzem zugegeben, dass er an die
unsichtbare Hand geglaubt hat, aber dass es nicht funktioniert hat.
Das ist also nicht nur eine wirtschaftliche Krise, sondern auch eine psychische Krise, eine
Krise der Orientierung. Da der neo-liberale Diskurs die Verinnerlichung des Modells des
Marktes voraussetzt, kehrt die Frage der Grenzen, heute mit dem Realen, zurück: wir erfahren
dass die Ressourcen unseres Planets begrenzt sind, dass die Umwelt sich immer weniger mit
dem wirtschaftlichen Wachstum verträgt.
Die finanzielle Krise erscheint auch als die Spitze des Eisbergs. In der Arbeitswelt in
Frankreich z. B. ist die Sterblichkeitsrate zwischen 2006 und 2008 um 16% gestiegen. 1975
7
zählte man 25 Selbstmorde am Arbeitsplatz für 100 000 Arbeiter, heute hat sich die Zahl
vervierfacht. Die ersten Selbstmorde am Arbeitsplatz fanden 1997 statt. Im Januar 2010 haben
sich schon sechs Angestellten von France Telecom das Leben genommen. Ein Viertel der
Krankschreibungen wird durch Depressionen verursacht. In 2010 werden sich eine Million
Arbeitslosen mit kaum sozialer Hilfe befinden. Fünfzehn Millionen Personen erreichen kaum
noch das Monatsende. Vor kurzem hat der Vermittler der frz. Republik seinen jährlichen
Bericht veröffentlicht. Er sagt, dass die Franzosen psychisch erschöpft seien, sie befinden sich
in einem Zustand starker nervöser Spannung. «Früher war man erschöpft an der Arbeit. Jetzt
ist man wegen allem abgenutzt, die ganze Zeit angespannt, in allen Abteilungen des Lebens.»
(Le Monde 21. Februar 2010)
Die Angst vor dem sozialen Abstieg nimmt zu, die Gesellschaft neigt dazu, sich zu
fragmentieren. Aber heute wie zwischen 1790 und 1792 schafft der Protest Formen, die es
erlauben, die Wut auszudrücken und gleichzeitig die Gewalt zurückzuhalten. Letztes Jahr zum
Beispiel haben viele Universitäten gestreikt, um gegen den Gesetzentwurf zur Autonomie der
Universitäten zu protestieren. Zahlreiche Aktionen wurden durchgeführt, die Professoren
gaben ihren Unterricht in öffentlichen Gärten oder auf Plätzen. Jeder konnte daran
teilnehmen. Demonstrationen und friedliche Fabrikbesetzungen finden statt, die Wut wird auf
traditionelle Weise von den Bauern ausgedrückt, und sie bringen das Verlangen nach
gerechten und beschützenden Gesetzen zum Ausdruck.
Ist eine neue Erzählung, ist die Entstehung eines neuen Paradigmas schon möglich ? Oder
sollen wir, wie der Psychoanalytiker Miguel Benasayag es sagt 20), weiter im Dunkeln
Widerstand leisten, wie es sich in einem dunklen Zeitraum gehört ? Das neue Paradigma
käme dann später ?
1) Jean-Pierre Lebrun «Un monde sans limite, Essai pour une clinique psychanalytique
du social », Point hors ligne, Erès, 1997
2) René Kaës « Le groupe et le sujet du groupe », Dunod, 2006 S. 286
3) Dany-Robert Dufour « L’art de réduire les têtes – sur la nouvelle servitude de
l’homme libéré à l’ère du capitalisme total. » Denoël, 2003, S. 35
4) Pierre Legendre « Vues éparses – Entretiens radiophoniques avec Philippe Petit »
France Culture, Mille et une Nuits, 2009, S. 114
5) Ebd S. 123
6) Ebd. S. 126
7) Ebd. S. 73
8) Keith Michael Baker “Au tribunal de l’opinion – Essais sur l’imaginaire politique au
XVIII° siècle – “ traduction de Luois Evrard, Bibliothèque historique Payot, 1990, S.
141
9) Pierre Legendre, Ebd. S 69
8
10) «
«
S.115
11) Alain Supiot « Homo juridicus, Essai sur la fonction anthropologique du droit » Seuil,
2005, S. 95
12) Florence Gauthier « Triomphe et mort du droit naturel en Révolution – 1789 – 17951802 » Presses Universitaires de France, Pratiques théoriques, 1992, S. 49
13) Ebd. S. 66
14) Sophie Wahnich « la longue patience du peuple – 1792, Naissance de la République »,
Payot 2008, S. 197-198
15) Florence Gauthier, Ebd. S. 101
16) Pierre Manent « Histoire intellectuelle du libéralisme », Calmann-Levy, Pluriel, 1987,
S. 210
17) Dany-Robert Dufour « la Cité perverse – Libéralisme et pornographie », Denoël,
2009, S. 141
18) Marquis de Sade « Ecrits politiques » Ed. Bartillat, Omnia, 1998, S. 139
19) D.R. Dufour, “Cité perverse” S. 247
20) Jean-Pierre Lebrun « Les désarrois nouveau du sujet – prolongements théoricocliniques au « Monde sans limites » « Point hors Ligne, Erès, 2004, S. 22
21) Miguel Benasayag, Entretiens 6 Février 2009 Radio France Culture http://web1.radiofrance.fr/chaines/france-culture2/dossiers/2008/regards-crise/doc/15-Benasayag.pdf
Vielen Dank an Alex Desselberger für die sorgfältige Korrektur der deutschen Fassung dieses
Textes.
Alle Referenzen in Bezug auf Zitate oder Zusammenfassungen von Texten sind von mir
übersetzt worden.
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