Psychohistorie der Krise – Hamburg März 2010 Angesichts der heutigen Krise kann man sich die Frage stellen, ob sie jetzt schon überhaupt geistig zu bewältigen sei. In dieser Hinsicht können die Werke von bestimmten Psychoanalytikern und Philosophen behilflich sein. Die Krise, der wir jetzt begegnen, berührt uns nicht nur auf der Ebene unserer Umwelt, auf der sozialen oder sogar persönlichen Ebene, sie erschüttert uns auch im Intimsten unserer psychischen Struktur. Sie bedroht und zerrüttet, was der Psychoanalytiker René Kaës als unseren metapsychischen Rahmen bezeichnet. Der Philosoph Dany Robert Dufour deutet die Krise als Ende der grossen Erzählungen, die unser gesellschaftliches Leben strukturieren, oder als Ende der liberalen Erzählung. Der Rechtshistoriker und Anthropologe Pierre Legendre bietet eine Vorstellung der Geschichte als sedimentäre Geschichte. Die Vergangenheit verschwindet nicht, sie versinkt in den Untergrund unserer Kulturgeschichte. Insofern wäre dann die Deutung der heutigen Krise als Ende der Erzählungen zu relativieren. Diese Krise erinnert zum Teil an die Krise, welche die Französische Revolution auch war. Sie taucht auch als Referenz in den politischen Reden in Frankreich auf. Alain Minc, ein Politiker, der Nicolas Sarkozy nahe steht, schreibt in der Ausgabe der Zeitung Le Figaro vom 23 März 2009 einen „offenen Brief“ an seine Freunde der führenden Klasse: „Sehen Sie ein, dass das Land zerrüttete Nerven hat, dass die Bürger das Gefühl haben, auch wenn es irrig ist, eine Krise zu erleiden, für die wir in ihren Augen alle schuldig sind? Wissen Sie denn nicht, dass die Suche nach Sündenböcken eine Konstante unserer Geschichte ist, und dass 1789 sich in 1788 abspielt ?“ Laut Sophie Wahnich, Historikerin der frz Revolution, zielt die Referenz auf die Revolution darauf, „entweder ihr zu kündigen, indem man sagt, dass man sie nicht mehr machen lassen wird, oder darauf, sie als einen Ort einer nützlichen Erfahrung zu machen, um die begangenen Fehler nicht zu wiederholen.“ (Le Monde 5. April 2009) Wie die heutige Krise erscheint die Krise der frz. Revolution als das Ende einer grossen Erzählung, damals der historischen Erzählung der frz. Monarchie. Sie erlaubte dem liberalen Diskurs, sich politisch als Alternative zur dieser traditionellen Rede durchzusetzen. Die Frage der Interpretation des Naturrechts, des Naturrechts zum Besitz und seiner Begrenzung stellt auch das Problem des Limits. Heute erscheint die Frage der Limits als zentral in der Krise, die wir erleben. Die Psychoanalytiker Jean-Pierre Lebrun und Charles Melman meinen wir lebten in einer „Welt ohne Limits“ 1), und die Frage des Limits stelle sich auch in Bezug auf die Begrenzung der natürlichen Ressourcen unserer Umwelt, der Rohstoffe, und auch z.B. in Bezug auf die möglichen Begrenzung der Gewinne der Traders. Ich werde zuerst den Rahmen meiner theoretischen Referenzen darlegen, d. h. den Begriff des metapsychischen Rahmens von René Kaës und die historischen Ansätze von Dany Robert Dufour und Pierre Legendre. Dann werde ich die Krise der frz. Revolution erwähnen, als das Ende einer großen Erzählung und als Übergang zum liberalen Diskurs, und auch als Konflikt um die Frage des Limits. Zuletzt werde ich einige Denkansätze zu diesen Aspekten der heutigen Krise hervorheben. Der Psychoanalytiker René Kaës meint, dass das psychische Leben des Einzelnen von einem metapsychischen Rahmen abhängt. Dieser kollektive Rahmen bestand vor uns, hängt nicht von uns ab und strukturiert unser psychisches Leben. Er bildet die Grundlage der Autorität, des Glaubens, der Ideologien, der Mythen, der geteilten Vorstellungen. Diese Vorstellungen bilden ihrerseits das Bezugssystem für die Praxis. Die Krise löst diese Vorstellungen auf, und bedroht den metapsychischen Rahmen, was vielleicht den Zustand der Sprachlosigkeit oder der Verleugnung seitens vieler Bürger zu erklären vermag. 1 Die Forschungen der Psychoanalytiker René Kaës und José Bleger über die Institutionen, und die Begriffe die sie daraus entwickelt haben: der psyschische Gruppen-Apparat (appareil psychique groupal) wurde von Kaës erarbeitet, und die synkretische Soziabilität, die von Bleger ausgearbeitet wurde, könnten interessante Werkzeuge der Psychohistorie werden. Laut René Kaës wird jede Gruppe – egal auch welche – von verschiedenen Trieben investiert Es sind hauptsächlich die Selbst-Erhaltungstriebe des Ichs, narzisstische Triebe, und auch eventuell Äußerungen des Todestriebes. Diese triebhaften psychischen Investierungen fallen von Subjekt zu Subjekt ganz unterschiedlich aus, und das Funktionieren der Gruppe ermöglicht dass die Triebe jedes Einzelnen dort ihren Objekt oder ihre Anlehnung finden. Es stellt sich dann die Frage, wie die Triebe sich vereinbaren, wie sie sich verbinden, und wie die Subjekte den Verzicht ihrer direkten Erfüllung akzeptieren, damit laut Kaës „die Gemeinschaft geschehe, die jedem Sicherheit und Liebe gewährleistet.“ Die Gruppe hat auch verschiedene Funktionen. In ihr werden Plätze zugewiesen, Objekte vorgestellt, Schutz- und Angriffsmittel sowie Verwirklichungswege angeboten, Grenzen gesetzt und Verbote ausgedrückt. 2) Als Hinweis möchte ich die Theorie des argentinischen Psychoanalytikers José Bleger erwähnen. Er unterscheidet zwischen dem, was er als „synkretische“ Soziabilität bezeichnet, und einer Soziabilität durch Interaktion. Diese letztere ist differenziert, die erste hat mit der Urbeziehung zur Mutter zu tun und mit Mechanismen der projektiven Identifizierung. Die gesellschaftlichen Vorstellungen und auch die Ideologien sind durch diese psychischen Prozesse beinflusst. Auch interessant für die Psychohistorie ist der originelle Ansatz des Philosophen Dany Robert Dufour. Er meint, dass die „sprechenden Subjekte“ nie aufgehört haben, Dritte zu schaffen, Gebilde, die natürlich zu sein scheinen, die er als „große Subjekte“ bezeichnet, und um welche die restlichen Subjekte sich einordnen. Dieser Dritte hat die Struktur einer diskursiven Fiktion, die von der Gesamtheit der „Sprechenden“ unterstützt wird. Dufour erinnert daran, dass Aristoteles am Anfang seiner Politik ausgemacht hatte, dass unser Zustand „eines politischen Tieres“ mit unserem Zustand eines „sprechendes Tieres“ zu tun hatte. 3) Diese „großen Erzählungen“ bezogen sich auf einen „großen Anderen“ (die Götter, Gott, die Nation, das Volk etc.. ), und sie ermöglichten der Gemeinschaft sich darzustellen und die Triebe mit diesen Erzählungen zu verbinden. Die Krise, laut Dufour, löst die Triebe von den Erzählungen, die im Gange waren, bis sie von der Krise durch eine gewaltsame Wiederkehr des Realen zerstört wurden. Die Krise ist auch als Moment zu deuten, in dem eine neue Bindung der Triebe an die Erzählungen erstrebt wird. Für den Rechtshistoriker und Anthropologen Pierre Legendre ist die Geschichte nicht nur linear, sondern auch sedimentär. Seine Vorstellung der sedimentären Geschichte hat auch unmittelbar mit seiner Vorstellung des Rechts zu tun. 4) So meint er, dass die Gesellschaft auf einem Boden von Diskurs- und Wörtersedimenten aufgebaut ist. 5) Die Vergangenheit verschwindet nie, sie versinkt in den kulturellen Untergrund. In Westeuropa, wo das römische Reich verschwunden war, hat die Romanität ihren Ausdruck im Papsttum gefunden. Das Papsttum hat seine Herrschaft auf die falsche Konstantinische Schenkung gegründet. Dieser 2 Text wurde schon ab der Renaissance als eine Fälschung erkannt, aber er blieb im Gepäck des Heiligen Stuhls bis zum XIX. Jh.. Konstantin war der erste christliche Kaiser, er unterstützte die christlichen Kirche, und soll laut der Schenkung, dem Papst die kaiserlichen Embleme geschenkt haben. Aufgrund dieser Schenkung stellte sich das Papsttum als Erbe des Römischen Reiches dar, oder zumindest der kaiserlichen Idee. Laut Legendre ist es sehr wichtig, diese Tatsache im Auge zu behalten. Das Christentum war nämlich in seinem Wesen eine Religion ohne Normen. Sie stammte vom Judaismus, aber hatte ihre Bindungen zur jüdischen Normativität abgebrochen. Die christliche Religion fand ihre Normativität im römischen Recht. Das Papsttum hat sich an das römische Recht angelehnt, was zur Folge hat, dass das Papsttum als kaiserlich zu bezeichnen ist. „Die christliche Imperialität ist die Matrize der westlichen laizisierten Staaten“ 6), was zur geistigen Herrschaft des Westens führt. Im Endeffekt produziert dies den Glauben in das gute Recht des Westens, die Welt zu seinem institutionellen Modell zu bekehren. Als Beispiel dieses Einflusses des römischen Rechts auf die westliche Kultur steht das Prinzip der parlamentarischen Mehrheit. Um das juristische Problem der Mehrheit zu lösen, haben die Engländer aufgrund eines römischen Texts argumentiert, welcher von der Vormundschaft handelt. Wenn es mehrere Vormunde gibt, falls eine Entscheidung getroffen werden soll, um die Güter des Minderjährigen zu verwalten: Sollte man das Einverständnis von allen Vormunden haben, oder nur von einem? Es wurde aus dem römischen Text eine Formel exzerpiert, die im XIII. Jh. zu einer politischen Basis-Doktrin geworden ist, die folgendes sagt: „Was alle betrifft, soll von allen gebilligt werden.“ In der Geschichte des parlamentarischen Systems hatte das zur Folge, dass das Prinzip der Mehrheit in der Entscheidung eine Fiktion der Einstimmigkeit ist. Wenn ein Parlament ein Gesetz annimmt, gilt dieses Gesetz nicht nur für die Mehrheit, sondern für alle. Für uns heute ist das evident, aber es hat viel geistige Gymnastik dazu gebraucht. 7). Die Frage der Mehrheit war auch der Auslöser für den Gewaltstreich des Dritten Standes am Anfang der frz Revolution. Wenn man also diese Vorstellung einer sedimentären Geschichte annimmt, wird die Vorstellung des Endes der großen Erzählungen relativiert. Oder sollte man nur von dem Ende einer großen Erzählung sprechen, der Erzählung des Liberalismus und der göttlichen Hand? Vor der frz. Revolution entfalteten sich mehrere Diskursen oder Erzählungen in der Öffentlichkeit, um die Vorstellungen zu organisieren oder zu bestreiten, welche die öffentliche Macht legitimierten. Wenn wir der Analyse des Historikers Keith Michael Baker folgen, können wir drei Diskurse unterscheiden. Einerseits der historische Diskurs, welcher sowohl die monarchische Macht, die sich auf göttliches Recht stützte, legitimierte, als auch die dreifunktionale Organisation der Gesellschaft. In dieser Organisation hatte der Klerus die Pflicht, für die Gemeinschaft zu beten, der Adel musste sie verteidigen, und der Dritte Stand musste ihre materiellen Bedürfnisse gewährleisten. Diese Organisation geht auf das Mittelalter zurück, oder sogar, laut George Dumezil, auf die indo-europäische Ideologie. Der historische Diskurs der Monarchie legitimierte diese Hierarchie und diese Zuteilung der Plätze. Er entsprach jedoch nicht der neuen wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft. Gleichzeitig verlor die kriegerische Funktion des Adels mehr und mehr an Legitimität, und der Adel geriet in Konkurrenz zu der reichen Bourgeoisie. Erwähnt soll auch sein, dass die Protestanten erst durch das Toleranzedikt von 1787 religiöse und standesamtliche Freiheit erlangten, und die Juden erst während der Revolution. Diese Gesellschaftsordnung, die in der historischen Erzählung ihre Rechtfertigung fand, wurde, zweitens, von dem Diskurs des Willens bestritten. Dieser Diskurs schöpft seine Quellen aus der klassischen republikanischen Tradition. Der gemeinsame politische Wille 3 wird in diesen Reden zum Ausdruck gebracht, sie befindet sich in den Schriften von Rousseau oder anderer Schriftsteller dieser Zeit. Der dritte Diskurs ist der Diskurs der Vernunft. Er schöpft seine rationale Autorität aus der Quellen der natürlichen Ordnung. 8) Er ist auf den auf Fortschritt und den allgemeinen Wohlstand gerichtet. (Turgot, Le Mercier, zum Teil Condorcet) Diese drei Diskurse treten in Konflikt schon vor der Revolution. So behauptet 1788 Rabaut Saint-Etienne, späterer Präsident der verfassungsgebender Versammlung, dass „die Historie nicht unser Kode ist“. Damit lehnen die Revolutionäre die traditionelle Autorität der Monarchie ab. Die Monarchie steht in Mai 1789 vor der Pleite und will neue Steuern einziehen. So muss der König eine Ständeversammlung einrufen, das erste mal wieder seit 1614. Der Konflikt unter den Ständen und mit dem König dauert einige Wochen, bis der Dritte Stand sich selbst zur Nationalversammlung erklärt, da er die Mehrheit des Volkes vertritt. Diese Nationalversammlung soll eine neue Verfassung entwerfen. Für Pierre Legendre bedeutet dieser Gewaltstreich eine „fruchtbare Handlung“, weil sie zum Teil blind ist, und weil sie auch die Dimension des Unvorsehbaren mitenthält. So wird dem Leben freier Lauf gelassen. 9) Ab diesem Moment hat der traditionelle historische Diskurs seine Legitimität verloren. Jetzt bilden die Menschenrechte die Grundlage der neuen Verfassung. Sie beziehen sich wiederum auf den Begriff des Naturrechts. Diese Vorstellung hat eine alte Geschichte. Das Bild des natürlichen Gesetzes erscheint schon in der hebräischen Tradition, und die Vorstellung des Naturrechts kommt aus dem römischen Recht. Sie findet sich wieder im europäischen Mittelalter als „Teil der göttlichen Gesetzgebung, der alles gehorchen muss.“. 10) Am Ende des XIIten Jh. werden im Gratians Dekret die Gesetze hierarchisch gebildet. Das göttliche Gesetz (die Offenbarung), die Gesetze der Natur (die den göttlichen Willen zum Ausdruck bringen), und die menschlichen Gesetze (Könige und Kirche) finden so ihren jeweiligen Platz in der Hierarchie der Gesetze. Die menschlichen Gesetze dürfen den göttlichen und den natürlichen Gesetzen nicht widersprechen. Dieses Dekret bleibt im Kraft bis zum Anfang des 20. Jh. Die Aufklärung hat aber vor, das Recht auf die Natur des Menschen zu bilden, indem sie sich auf die Methode der mathematischen Wissenschaften, der Physik und der Chemie bezieht. Es geht hier aber nicht darum, die detaillierte Genealogie dieser Vorstellung bis zur Revolution zu verfolgen. Die Revolutionäre begründen die neue Verfassung auf den Voluntarismus, der in den Theorien des Willens des Volkes von Rousseau zu finden ist, und auf die Naturrechte. Im Artikel 6 der Menschenrechtserklärung von 1789 bringt das Gesetz den allgemeinen Willen zum Ausdruck, und im Artikel 2 werden die Naturrechte des Menschen als die Rechte auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen die Unterdrückung definiert. Der Artikel 17 ist dem Recht auf Eigentum gewidmet. Demnach ist das Eigentum ein heiliges und unverletzliches Recht, dessen niemand beraubt werden kann, es sei denn, die öffentliche Notwendigkeit erklärt es als gesetzlich, und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung. Für die frz. Revolutionäre Condorcet und Sieyes findet das Eigentum seine Quellen in der Arbeit und im Glücksfall. Entgegen der Auffassung von 4 Locke, der behauptet, dass das Recht zum Eigentum begrenzt sei, weil der Mensch Eigentümer seines Körpers und seiner Arbeit sei, aber nicht mehr als das, was er braucht, besitzen dürfe. In diesem Gesellschaftsprojekt ist die wirtschaftliche Macht nicht angesprochen. Das Eigentum, im Gegenteil zu der Lockeschen Auffassung, ist unbegrenzt. 1791 werden die Berufstände abgeschafft, und alle Arbeiterbündnisse werden verboten (Handelskammer dürfen bestehen). Erst 1884 wurde die Gewerkschaftsfreiheit erklärt. Die Revolutionäre beziehen sich sowohl auf die Natur und auf die Naturrechte, deren Unklarheit bis zum Ende der Revolution sich entfalten sollte, als auch auf den Kode des Evangeliums. Aber mit der Verurteilung von Menschenrechtserklärung und ziviler Verfassung des Klerus durch den Papst stürzt auch diese Referenz auf das Evangelium zusammen, und ein Religionskrieg bricht aus. Die Revolutionäre verbinden dann ihre Reden mit der Antike. Die römische Republik, die Bürger von Athen und Sparta werden zu Vorbildern. So wird mit historischen und religiösen Referenzen, die bisher die Gesellschaft organisiert hatten, gebrochen. Der Raum, mit dem neuen metrischen System, mit den neuen Départements, die Zeit mit dem neuen Kalender, werden neu organisiert. Auch die Sprache, mit der langsamen Abschaffung der Dialekte, wird von der Revolution betroffen. Die Bevölkerung bekommt während dieser Umbruchszeiten die Desorganisation des wirtschaftlichen Lebens zu spüren. Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln und mit Seife provozieren manche Aufstände. So entwickelte das Volk „im Akt eine andere Definition der Naturrechte, und stellt das „natürliche“ Recht auf Besitz in Frage, das in seiner Auffassung dem Recht auf Existenz unterworfen sein muss. 11) Das Volk lehnt sodann die Autonomie des Wirtschaftsbereichs ab. Es verlangt das, was „Maximum“ genannt wird: Maximum der Preise, Maximum der Gewinne, Maximum der Grösse der Betriebe. 12) Ein bedeutungsvolles Beispiel ist die Ermordung des Bürgermeisters von Etampes, Simmoneau. Simmoneau sollte mit dem Preis des Getreides spekuliert haben, und der darauffolgende Aufstand bringt den Konflikt zwischen denen ans Licht, die „im Namen des Gesetzes“ Preisregulierungen und Steuerungen verlangen, wobei „das Gesetz nicht nur eine Grenze setzt, aber die Freiheit als Herrschaft verbietet; und denen, die im Namen des Gesetzes die Marktfreiheit der Getreide verlangen“ 13). Im Namen des Naturrechts und des Gesetzes wollen die Anhänger der Preisregulierung und der Besteuerungen den gerechten Preis, weil das natürliche Gesetz durch das Naturrecht normiert werden soll, welches auf dem Recht auf Existenz beruht. Die neue Menschenrechtserklärung von Ende Mai 1793 enthält kein Naturrecht. Es findet dann ein friedlicher und unblutiger Volksaufstand statt, nach dem die Naturrechte im Juni 1793 wieder in die Verfassung eingeführt werden. 14) Das Verfassungsprojekt von Robespierre, der das unbegrenzte Recht auf Besitz als verfassungswidrig erklären will, wird abgelehnt. Gleich darauf finden das Maximum und die Begrenzung des Besitzes eine reale Implementierung in der Form der Guillotine. Im August 1794 wird dann auch Robespierre verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Volksbewegung scheitert, und die Frage des Naturrechts und der Begrenzung des Rechts auf Eigentum aufgrund des Rechts auf Existenz bleibt ohne Antwort. 5 Nach dem Sturz von Robespierre wird eine neue Verfassung erarbeitet, in der die Naturrechte nicht mehr vorhanden sind. Boissy d’Anglas erklärt, dass die Naturrechte als die Rechte der römischen Göttin Ceres, der Göttin der Besitzer, zu definieren seien. Somit setzt sich der Liberalismus und der Individualismus erst einmal durch. Der Wettbewerb, die Konkurrenz werden ermutigt. Die ersten Olympiaden der Republik finden in Paris 1796, 1797 und 1798 statt. Somit beginnt die Entwicklung des ehemaligen gemeinen Fuss-Volks zum Olympiasieger, und später zum napoleonischen Helden der „Grande Nation“. Dieser narzisstische Rausch endet in dem Untergang in Waterloo. Nach dem Fall Napoleons und der Restaurationszeit kommt der Liberalismus an die Macht unter der Herrschafts des Königs der Franzosen Louis-Philippe von 1830 bis 1848. Für François Guizot, zugleich Minister und liberaler Denker dieser Zeit, entspricht der beste Staat der Herrschaft der Besten, der Tüchtigsten, der Stärkeren:„Dem Mutigsten, dem Geschicktestem, dem der es versteht, sich als den Fähigsten darzustellen... Es ist der Tapfere, der befiehlt, der Geschickte, der regiert. Die Überlegenheit begleitet und bringt ans Licht die Herrschaft unter den Menschen, wenn sie ihrer Natur ausgeliefert sind. Indem sie (die Überlegenheit) anerkannt wird, wird ihr auch gehorcht.“ 15) Für Guizot ist die Überlegenheit die natürliche und legitime Situation der Herrschaft. Er meint, dass die Autorität der Geschichte und der Natur und somit der Überlegenheiten übereinstimmen. Nachdem Scheitern der Revolution von 1848 konnte der wirtschaftliche Liberalismus unter der Herrschaft des Kaisers Napoleon III. von 1852 bis 1870 blühen. Diese Episode beweist, dass ein wirtschaftlicher Liberalismus auch unter einem autoritären Regime gedeihen kann – das sieht man doch heute in China. Während der Revolution konnte der Marquis de Sade das natürliche Gesetz auch anders ausdeuten. Er wurde wegen mehrerer Verbrechen zu fast 30 Jahren Gefängnis verurteilt, die er in der Bastille verbrachte, und nutzte die Zeit damit, seine Romane und Theaterstücke zu schreiben. Er wurde am 14. Juli 1789 freigelassen und engagierte sich scheinheilig für die Revolution. Durch den Sturz von Robespierre konnte er noch der Guillotine entkommen. In seinen Schriften führt er die Thesen des Liberalismus zu ihren letzten Konsequenzen, und er wiederholt seine Wahl der egoistischen Moral. „Man gewöhnt uns lächerlicherweise daran, von Kindheit an, uns für nichts zu zählen, und die Anderen für alles. Von da an erscheint jede Schädigung, die diesem ehrenswerten Nächsten gemacht wird, als ein großes Übel, obwohl sie in der Natur liegt, deren Gesetze wir am besten genügen, indem wir uns den Anderen vorziehen, und indem wir sie (die Anderen) zu unserer Genugtuung peinigen (..). Kennen die Pflanzen und die Tiere das Mitleid, die sozialen Pflichten, die Nächstenliebe? Und sehen wir in der Natur ein anderes oberstes Gesetz, als das Gesetz des Egoismus?“ 16). So behauptet De Sade: „Der Nächste ist mir nichts, es gibt keine geringste Verbindung zwischen ihm und mir.“ Für de Sade wird alles durch die Natur determiniert, denn „es gibt nichts von uns, nichts für uns, alles gehört der Natur, und wir sind in ihren Händen nur das blinde Spielzeug ihrer Kapricen.“ 17) Die einzigen Gesetze, die in seinen Augen zählen, sind die Gesetze der Natur, der Triebe, denen die Menschen unterworfen sind, und welchen die Menschen keine Schranken setzen dürfen. De Sade will das „symbolische Gesetz zerstören, indem er die Gesetze der Natur, d.h. die Triebe, entzügelt“. 18) Der Philosoph Dany Robert Dufour behauptet, dass de Sade eine emblematische Figur von dem bildet, was der entzügelte Liberalismus werden sollte: eine Anregung zur unbegrenzten Befriedigung der Triebe, zum Konsum, zur Überschreitung, in einer Gesellschaft, wo, laut Dufour, Menschen mit einer perversen Struktur sich besser fühlen als klassische Neurotiker. Wir leben also in einer Gesellschaft, deren erstes Prinzip in dem Egoismus und in dem Interesse liegt, die unsere Verhaltensweisen bestimmen, ob in der hohen Bourgeoisie, den 6 Banden jugendlicher Delinquenten, oder den Mittelschichten. Dieses Prinzip des Egoismus zerstört das Zusammen-Sein und das Da-Sein, es führt uns dazu, in einer „perversen „Cité“/City“ zu leben. Pornographie, Egoismus, Bestreitung aller Gesetze, Annehmen des sozialen Darwinismus, Instrumentalisierung des Anderen: unsere Welt ist laut Dufour sadisch (bedeutet nicht sadistisch) geworden. Diese Welt feiert das Bündnis von Adam Smith und den frz. Liberalen mit dem Marquis de Sade. Für die Psychoanalytiker Jean-Pierre Lebrun oder Charles Melman fördert die moderne wirtschaftliche Entwicklung, d. h. der Neo-Liberalismus, das Verhältnis des Individuums mit einer logischen Ordnung, in welcher es kein Limit, kein Verbot mehr gibt. Diese Ordnung würde also einen metapsychischen Rahmen schaffen, in welchem bis vor der Krise die Illusion einer unbegrenzten Befriedigung herrschte. Dieses Anregen soll viel eher dem Matriarchat zuzuordnen sein als dem Patriarchat. Da die Moderne ihm keinen Dritten gibt, der ihm eine Stütze sein könnte, kann derjenige, der den Platz des realen Vaters besetzt, keine Legitimität mehr finden, um bei seinem Kind intervenieren zu können. Es ist heutzutage häufig und banal, mit Kindern konfrontiert zu sein, denen alles erlaubt zu sein scheint, oder: bzw denen nichts mehr verboten ist, und deren Väter wohlwollend zugeben, dass sie kein Limit mehr setzen können, weil sie fürchten, von ihren Kindern nicht mehr geliebt zu werden. Der heutige Vater fühlt sich an diesem Platz des Grenzen-Setzers nicht mehr anerkannt, weil das Soziale der Modernität sich von diesem Platz des Limit-Gebers emanzipiert wähnt. Verlassen durch dem sozialen Diskurs, der ihm seine Legitimität und also seine Autorität verlieh, sucht er bei seinem Kind die Stütze, die ihm entzogen wurde. Das Ergebnis ist also logisch: das Kind wird von seinem Vater vor der Probe der Konfrontation mit Grenzen geschützt, was keine andere Folge hat, als die Inschrift von Grenzen in die Psyche des Kindes zu erschweren. 19) Die Verinnerlichung des Modells des Marktes, zusammen mit dem unendlichen Fortschritt der Technik und der Wissenschaften, hat noch andere Folgen, welche die symbolische Ordnung aller Gesellschaften berühren, d.h. das Geschlecht und die Ordnung der Generationen. Pierre Legendre erwähnt den Fall einer transsexuellen Frau, die schon ein Kind hat – Frage: welches ist der genealogische Status dieses Kindes, dessen Mutter ihren Familienstand ändern wollte? Die Experten in Quebec gaben als Antwort, dass die Mutter des Kindes gestorben sei ! Im Jahr 2009, wie 1789, stellt das Reale der Krise die großen Erzählungen, die das Zusammenleben der Gesellschaft strukturierten, wieder in Frage. Sie hat eine unerwartete Begegnung mit dem Realen verursacht und hat sowohl das Glauben an den neo-liberalen Diskurs und seine Versprechen von Fortschritt und Wohlstand zerschmettert, als auch den Glauben an die Allmacht der Wirtschaftswissenschaft, in der alles auf quantifizierbare Parameter reduziert wird. Alan Greenspan hat sogar vor kurzem zugegeben, dass er an die unsichtbare Hand geglaubt hat, aber dass es nicht funktioniert hat. Das ist also nicht nur eine wirtschaftliche Krise, sondern auch eine psychische Krise, eine Krise der Orientierung. Da der neo-liberale Diskurs die Verinnerlichung des Modells des Marktes voraussetzt, kehrt die Frage der Grenzen, heute mit dem Realen, zurück: wir erfahren dass die Ressourcen unseres Planets begrenzt sind, dass die Umwelt sich immer weniger mit dem wirtschaftlichen Wachstum verträgt. Die finanzielle Krise erscheint auch als die Spitze des Eisbergs. In der Arbeitswelt in Frankreich z. B. ist die Sterblichkeitsrate zwischen 2006 und 2008 um 16% gestiegen. 1975 7 zählte man 25 Selbstmorde am Arbeitsplatz für 100 000 Arbeiter, heute hat sich die Zahl vervierfacht. Die ersten Selbstmorde am Arbeitsplatz fanden 1997 statt. Im Januar 2010 haben sich schon sechs Angestellten von France Telecom das Leben genommen. Ein Viertel der Krankschreibungen wird durch Depressionen verursacht. In 2010 werden sich eine Million Arbeitslosen mit kaum sozialer Hilfe befinden. Fünfzehn Millionen Personen erreichen kaum noch das Monatsende. Vor kurzem hat der Vermittler der frz. Republik seinen jährlichen Bericht veröffentlicht. Er sagt, dass die Franzosen psychisch erschöpft seien, sie befinden sich in einem Zustand starker nervöser Spannung. «Früher war man erschöpft an der Arbeit. Jetzt ist man wegen allem abgenutzt, die ganze Zeit angespannt, in allen Abteilungen des Lebens.» (Le Monde 21. Februar 2010) Die Angst vor dem sozialen Abstieg nimmt zu, die Gesellschaft neigt dazu, sich zu fragmentieren. Aber heute wie zwischen 1790 und 1792 schafft der Protest Formen, die es erlauben, die Wut auszudrücken und gleichzeitig die Gewalt zurückzuhalten. Letztes Jahr zum Beispiel haben viele Universitäten gestreikt, um gegen den Gesetzentwurf zur Autonomie der Universitäten zu protestieren. Zahlreiche Aktionen wurden durchgeführt, die Professoren gaben ihren Unterricht in öffentlichen Gärten oder auf Plätzen. Jeder konnte daran teilnehmen. Demonstrationen und friedliche Fabrikbesetzungen finden statt, die Wut wird auf traditionelle Weise von den Bauern ausgedrückt, und sie bringen das Verlangen nach gerechten und beschützenden Gesetzen zum Ausdruck. Ist eine neue Erzählung, ist die Entstehung eines neuen Paradigmas schon möglich ? Oder sollen wir, wie der Psychoanalytiker Miguel Benasayag es sagt 20), weiter im Dunkeln Widerstand leisten, wie es sich in einem dunklen Zeitraum gehört ? Das neue Paradigma käme dann später ? 1) Jean-Pierre Lebrun «Un monde sans limite, Essai pour une clinique psychanalytique du social », Point hors ligne, Erès, 1997 2) René Kaës « Le groupe et le sujet du groupe », Dunod, 2006 S. 286 3) Dany-Robert Dufour « L’art de réduire les têtes – sur la nouvelle servitude de l’homme libéré à l’ère du capitalisme total. » Denoël, 2003, S. 35 4) Pierre Legendre « Vues éparses – Entretiens radiophoniques avec Philippe Petit » France Culture, Mille et une Nuits, 2009, S. 114 5) Ebd S. 123 6) Ebd. S. 126 7) Ebd. S. 73 8) Keith Michael Baker “Au tribunal de l’opinion – Essais sur l’imaginaire politique au XVIII° siècle – “ traduction de Luois Evrard, Bibliothèque historique Payot, 1990, S. 141 9) Pierre Legendre, Ebd. S 69 8 10) « « S.115 11) Alain Supiot « Homo juridicus, Essai sur la fonction anthropologique du droit » Seuil, 2005, S. 95 12) Florence Gauthier « Triomphe et mort du droit naturel en Révolution – 1789 – 17951802 » Presses Universitaires de France, Pratiques théoriques, 1992, S. 49 13) Ebd. S. 66 14) Sophie Wahnich « la longue patience du peuple – 1792, Naissance de la République », Payot 2008, S. 197-198 15) Florence Gauthier, Ebd. S. 101 16) Pierre Manent « Histoire intellectuelle du libéralisme », Calmann-Levy, Pluriel, 1987, S. 210 17) Dany-Robert Dufour « la Cité perverse – Libéralisme et pornographie », Denoël, 2009, S. 141 18) Marquis de Sade « Ecrits politiques » Ed. Bartillat, Omnia, 1998, S. 139 19) D.R. Dufour, “Cité perverse” S. 247 20) Jean-Pierre Lebrun « Les désarrois nouveau du sujet – prolongements théoricocliniques au « Monde sans limites » « Point hors Ligne, Erès, 2004, S. 22 21) Miguel Benasayag, Entretiens 6 Février 2009 Radio France Culture http://web1.radiofrance.fr/chaines/france-culture2/dossiers/2008/regards-crise/doc/15-Benasayag.pdf Vielen Dank an Alex Desselberger für die sorgfältige Korrektur der deutschen Fassung dieses Textes. Alle Referenzen in Bezug auf Zitate oder Zusammenfassungen von Texten sind von mir übersetzt worden. 9