Eine Die Renaissance der Akupunkturmethoden in Nordamerika

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Eine Renaissance der Akupunkturmethoden in Nordamerika
von Mark Seem, Ph. D., Präsident des Tri-State College of Acupuncture
Übersetzt aus dem Englischen von Heidi Taeubler
Einleitung
„ … Es bereitet mir Kummer, diejenigen nicht versorgen zu können, die von Krankheit betroffen
sind“ - Ling Shu, Erste Schriftrolle, Seite 1.
So lautet der Anfang der ersten Zeile des Ling Shu („Göttlicher Angelpunkt“), die erste vollständige
Abhandlung über den „Weg der Nadeln“. In dieser Niederschrift bittet Huang Di, der Gelbe Kaiser,
seinen Hofarzt Qi Bo, die wesentlichen Elemente der Akupunktur zu erläutern, die Meridiane,
Verbindungskanäle und außerordentlichen Gefäße, die Wirkungspfade und -punkte und wie man
die Nadeln setzt, um das Qi zuzuführen oder es abzuleiten. In dieser Abhandlung geht es um
„Herkömmliche“ und „Besondere“ Methoden der Akupunktur.
Betrachten wir diese erste Schriftrolle, in welcher erstmalig die Geschichte der Akupunktur und der
Weg der Nadeln in voller Gänze niedergeschrieben sind.
Bekümmert darüber, die kranken Menschen nicht erfolgreich behandeln zu können, fährt Huang Di
fort: „Ich wünschte, die Kranken bräuchten die Einnahme von Giftstoffen, die man Medizin nennt,
oder chirurgische Eingriffe nicht über sich ergehen lassen. Ich bevorzuge jene feinen Nadeln, um
die Meridiane anzuregen, das Blut und die Energie des Qi ins Gleichgewicht zu bringen, die
Ströme und Gegenströme zu regulieren und um ihre Kreisläufe zu schließen. Bitte enträtsele dies
den zukünftigen Generationen und weise sie ein in die entsprechenden Methoden, damit diese
Therapieform für die Ewigkeit erhalten bleibt. Sorge dafür, dass es einfach zu gebrauchen ist und
schwer zu vergessen, eine klassische Niederschrift (...) Beginne mit den Grundlagen der
klassischen Akupunktur. Es soll die wesentlichen Elemente behandeln (ebenda).“
Qi Bo erläutert daraufhin die Handhabung jener feinen Nadeln, die „einfach zu benennen, aber
schwierig umzusetzen ist“, mit dem ersten übergeordneten Grundsatz: „Die herkömmlichen
Methoden der Akupunktur kurieren den physischen Körper“. Er erklärt dies einige Zeilen später
damit, dass „die herkömmlichen Methoden die Tore schützen“. Demnach sei jeder Akupunkteur in
der Lage den physischen Körper und seine Extremitäten (besonders die Tore vom Ellbogen zum
Handgelenk und vom Knie zum Knöchel) zu behandeln, was Krankheitserregern von außen
vorbeugt, die das innere Wohlbefinden zu gefährden drohen.
„Besondere Methoden“ hingegen kurieren den Geist und es gilt zu lernen, wie man „mithilfe des
Geistes sowohl den Geist zum Vorschein bringt, als auch den Gast an der Tür (ebenda)“. Der
Übersetzer dieser modernen Fassung des „Göttlichen Angelpunkts“ Wu Jing-Nuan erklärt, dass in
diesem Zusammenhang mit „Gast“ der „Krankheitserreger von außen“ gemeint ist, welchem
„Anerkennung und Respekt gebührt“ und dessen Einflussvermögen nicht unterschätzt werden darf.
Der Begriff „Shen“,der üblicherweise mit „Geist“ übersetzt wird, bezieht sich auf die Intelligenz des
Seins, eine tief verborgene Kenntnis und Weisheit, die jedem Lebewesen innewohnt. In der
westlichen Welt wird hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Körper und Geist oft vom ähnelnden
Begriff der „inneren Weisheit“ gesprochen, ein Wissen, das wir alle tief in uns tragen und welches
uns mit allem Notwendigen ausstattet, um uns voll zu entfalten und allem zu begegnen, was das
Leben für uns bereithält. Ganz ähnlich spricht man im Chinesischen und in der Chinesischen
Medizin von „Shen ming“, von „geistiger Klarheit“.
Qi Bo erklärt, wie man das Qi je nach Ungleichgewicht eines Patienten tonisiert oder sediert,
indem man sich dem Geist und dem Qi des Geistes widmet. Daraufhin ist es möglich, anhand der
Beobachtung der Vitalfunktionen des Patienten festzustellen, ob die Behandlung den gewünschten
Erfolg zeigt. Die Vitalfunktionen zeigen an, ob Geist und geistige Klarheit wirksam durch die
Akupunktur angeregt werden: „Betrachte die Farbe des Patienten. Beobachte die Augen. Erkenne
daran wie das Qi schwindet und wiederkehrt (…) Beobachte Bewegung oder Stille des Patienten.
Erkenne daran, ob er im Gleichgewicht ist (ebenda, Seite 4).“
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Dabei ist wohl von folgenden zu beobachtenden Merkmalen die Rede:

von der Hautfarbe, die sich deutlich erkennbar normalisieren sollte, nachdem die ersten
paar Nadeln an Fernpunkten gesetzt wurden, um Yin und Yang ins Gleichgewicht zu
bringen, und in dem Moment, in welchem die Nadeln wieder entfernt werden. Während der
Behandlung erfährt die Haut drastisch Veränderungen. 5 Farben erscheinen, trennen sich
und gehen schließlich über zu einem insgesamt gesünderen Teint;

davon, ob Shen in den Augen sichtbar ist oder dorthin wieder zurückkehrt, ein Leuchten,
Strahlen oder eine Verfärbung, welches oft bei den ersten Nadelmanipulationen eintritt;

von der Reaktion auf die Nadeln, aufgrund derer sich entweder Qi an der Nadelspitze
sammelt und somit der Nadel einen soliden Stand verleiht oder das Qi sich im Umkreis
verstreut;

von den Sprachmustern, der Atmung und anderer Laute, die bei der Regulierung von Yin
und Yang ruhiger, stiller und sanfter werden sollten (oftmals Wurzelbehandlung genannt);

vom Puls (Halsschlagader verglichen mit dem Radialispuls sowie anderen Arterien);

und von den Akupunkturpunkten selbst, die Fülle, Leere oder Stagnation des Qi aufzeigen.
In ihrem „Praktischen Nachschlagewerk“ für Fachbegriffe der Chinesischen Medizin definieren
Wiseman und Feng den Begriff „Shen“ oder Geist in weiterem Sinne als „das, was angeblich bei
Menschen mit gesunder Hautfarbe vorliegt: strahlende Augen, aufrechte Haltung,
uneingeschränkte körperliche Beweglichkeit und eine klare und flüssige Sprechweise (Seite 550).“
Bei der Behandlung von Patienten im Rahmen einer Demonstration am Tri-State College of
Acupuncture zeigte ich anhand einer Videokamera die Veränderung, die beim Patienten stattfindet,
wenn „das Qi erreicht ist“, wenn geistige Klarheit dahin zurückkehrt, wo die Hautfarbe vorher matt
war, der Blick starr und trüb und der Atem flach. Besonders ist darauf hinzuweisen, dass diese
Wandlung zur geistigen Klarheit sich oftmals innerhalb der ersten Minuten vollzieht, ja sogar
innerhalb von Sekunden, wenn sich an der betroffenen Einstichstelle oder an entsprechenden
Fernpunkten das sanfte De-Qi-Gefühl einstellt (dieses Gefühl spürt man an der Nadelspitze oder
es wandert sogar tiefer in den Punkt hinein) oder wenn ein intensives De-Qi-Gefühl ausgelöst wird,
damit es sich verbreitet („wie das Qi schwindet und wiederkehrt“). In diesem Moment werden trübe
Augen, deren Farbe kaum zu erkennen war, leuchtend und sie bekommen eine satte Farbe. Die
Haut bekommt einen Glanz und ihre normale Farbe kehrt zurück, der Atem („Bewegung oder Stille
des Patienten“) pegelt sich ein auf einen tieferen und entspannteren Rhythmus, ein aufgeregter
Patient beruhigt sich, ein träger Patient wird lebhafter.
Man kann auch den Puls prüfen (Radialispuls, Halsschlagader) oder den Unterleib untersuchen
(Hara), um eine Normalisierung festzustellen. Meiner Erfahrung nach sind weitere Untersuchungen
jedoch unnötig, sobald das Qi erreicht ist und die Vitalfunktionen sich in dieser Weise verändern.
Die Anzeichen für die Rückkehr geistiger Klarheit sind für jeden aufmerksamen Beobachter
deutlich sichtbar.
Von diesem Moment an sind die Vorgänge schwieriger zu verfolgen: gewöhnliche Methoden
scheinen schwächer und oberflächlicher zu wirken als besondere, da sie lediglich im Außen, also
auf den physischen Körper wirken und auf die „Tore “ (Extremitäten und Gelenke, besonders vom
Handgelenk bis zum Knöchel).
Diese erste Schriftrolle behandelt Fernpunkte, Shu-Transport-Punkte, Yuan-Quellpunkte. Diese
entscheidenden Punkte auf den Extremitäten zwischen Fingern und Ellbogen und zwischen Zehen
und Knie werden in jeder klassischen und modernen TCM-Ausbildung gelehrt. Laut dieser
Erörterung unterliegen diese Punkte -die 12 Quellpunkte im Besonderen- den gewöhnlichen
Methoden, mit denen Krankheiten der inneren Organe kuriert werden können, wenn die Meridiane
und deren Organe beschädigt wurden; Methoden, die jeder Akupunkteur beherrschen muss.
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Folglich sind gewöhnliche Methoden eigentlich lebenswichtige Methoden. Sie behandeln die 12
Shu-Fernpunkte und Quellpunkte der Meridiane, wenn die Krankheit von der Oberfläche her
bereits bis zum betreffenden inneren Organ vorgedrungen ist.
Welche sind diese gewöhnlichen Methoden? Grob gegliedert sind es vier:

Nadeltechniken (tonisieren, sedieren, ausleiten);

das Qi herbeiführen (De-Qi/Zhi-Qi);

Beobachtung bestehender und sich verändernder Vitalfunktionen des Patienten
(Normalisierung der Hautfarbe, Shen kehrt in den Augen zurück, verbesserte Atmung,
verbesserte Zirkulation von Qi und Blut, Veränderung der Pulse, etc.);

Dornen herausziehen, Flecken wegwaschen, Knoten lösen, Blockaden lösen.
Die ersten 3 Methoden zielen auf die Regulierung von Yin und Yang mittels Fernpunkten. Die letzte
Anwendung zielt auf die Behandlung der eigentlichen Beschwerde des Patienten. „Dornen“ Bereiche, an denen sich das Qi staut, „Flecken“ - Stellen auf Haut, Kapillaren und Adern, die eine
anormale Farbe aufweisen (ganze Hautregionen sowie konkrete) „Knoten“ - ertastbare
Verhärtungen der Faszien und Muskeln (Ashi-Punkte, Kori, Triggerpunkte, jegliche Anzeichen von
Fülle in den Luo-Gefäßen und Muskelmeridiane) und „Blockaden“- Bereiche, die vom Qi umflossen
oder durchdrungen werden müssen wie es beispielsweise bei Verwachsungen, Narben,
fibrotischem Gewebe oder chronischen Ashi-Punkten der Fall ist.
Daher wird in der erste Schriftrolle betont, dass zuallererst die Regulierung von Yin und Yang über
die regulären Fernpunkte auf den Meridianen erfolgen sollte, was eine Verbesserung der
Vitalfunktionen hervorruft. Daraufhin erst behandelt man Dornen, Flecken, Knoten und Blockaden;
eben die Stellen, an denen sich Fülle, Stagnationen oder Blockaden vorfinden.
Das erste Kapitel des Ling Shu besagt, dass die Behandlung der chronischen Beschwerden des
Patienten zu den herkömmlichen Methoden gehört, die jeder Akupunkteur beherrschen muss,
ganz gleich ob man nun eher Fernpunkte oder Lokalpunkte bevorzugt, um Fülle zu behandeln,
Symptome zu lindern und auf die spezifische Beschwerde des Patienten einzugehen.
Bei Behandlungen von Bereichen, die Verfärbungen aufweisen, gespannt und entzündet sind,
sollte eine lokale Verbesserung eintreten. Das sollte spätestens nach den ersten paar
Behandlungssitzungen der Fall sein. Die Verbesserung des Qi-Flusses und der Blutzirkulation
sowie das Zerstreuen von Fülle führen beispielsweise zu einer normaleren Farbe und Textur von
Narben oder an Knöcheln älterer Patienten, die wegen Stagnation braun verfärbt waren.
Fibrotisches Gewebe wird weicher und Muskeln entspannter.
Nach meiner persönlichen Erfahrung genügt es nicht, Shu-Fernpunkte, Quellpunkte, Luo- und XiPunkte anzusteuern, um solche Veränderungen in Ballungspunkten, entzündeten oder blockierten
Bereichen hervorzurufen. Was dies anbelangt, betrachte ich Akupunktur als manuelle Therapie
ähnlich wie Tuina, Anmo, Shiatsu, Sotai, Gua Sha, statisches Schröpfen und Schröpfmassage.
Diese örtlichen Behandlungsformen können selbstverständlich auch anstelle der Nadeln treten,
jedoch habe ich bisher ausschließlich Akupunktur angewandt und damit auf diesem Feld der
manuellen Therapien ausgezeichnete Erfolge erzielt.
Moxibustion wende ich längst nicht mehr an, da sie auf meiner ersten Arbeitsstelle untersagt war.
Ebenso ist es in meiner jetzigen Gemeinschaftspraxis und in vielen weiteren Fakultäten und
Hochschulen New Yorks. Ich habe auch mit Schröpfen und Gua Sha aufgehört, weil viele meiner
älteren jüdischen Patienten ungern eine Arztrechnung für etwas zahlen wollten, das als Hausmittel
gilt, und auch wegen der hässlichen blauen Flecken. Schließlich ließ ich auch die Akupressur und
Shiatsu sein, denn ich bekam in meinen 30ern Arthritis und Massagen verursachten Taubheit und
Schmerzen in meinen Händen.
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Man könnte sagen, ich arbeitete wie die wahren Chiropraktiker der alten Garde, die ausschließlich
chiropraktische Techniken anwendeten und damit ausgezeichnete Erfolge erzielen. Ich bin ein
wahrer Akupunkteur. Auch wenn ich das so sage, möchte ich die Studenten dazu ermutigen, je
nach persönlicher Neigung und je nach Bedarf des Patienten sich jeglicher Methode der
Akupunktur und Orientalischen Medizin zu bedienen, die sie erlernt haben.
Diese herkömmlichen Methoden sind Bestandteil des Lehrplans aller nordamerikanischen
Hochschulen für Akupunktur und Orientalische Medizin, seien es TCM, 5-Elemente-Medizin oder
auf dem Meridiansystem basierende Medizin. Sie gehören dort sozusagen zum Allgemeinwissen
und werden landesweit einheitlich von der National Certification Commission for Acupuncture and
Oriental Medicine (NCCAOM) abgeprüft. In vielen Staaten erhält man nur nach Ablegung dieser
Prüfung eine Lizenz. Herkömmliche Methoden – Allgemeinwissen – werden in Nordamerika oft als
Wurzelbehandlung bezeichnet, ein Begriff, der doch eher den „besonderen Methoden“ vorbehalten
sein sollte.
Was hat es nun also mit diesen „besonderen Methoden“ auf sich, die, wie wir schon gehört haben,
„den Geist kurieren“ und „mithilfe des Geistes den Geist zum Vorschein bringen“, während man
sich mit der Krankheit beschäftigt (Gast an der Tür)?
Dieses Thema, nämlich sich mit Herz und Seele dem Patienten und seiner Krankheit zu widmen,
taucht in diesem klassischen Text über Akupunktur ständig auf. Es scheint so, als benötige ein
Therapeut beim Einsatz der besonderen Methoden die Fähigkeit, die Beziehung zum Patienten
mittels seiner eigenen geistigen Klarheit navigieren zu können. In der Chinesische Medizin wohnt
der Geist im Herzen, also muss der Therapeut Ruhe im Herzen tragen und keiner Verwirrung
durch die sieben Emotionen unterliegen. In diesem Zustand konzentriert er seinen Geist auf den
des Patienten, auf die tief verborgene Kenntnis und Weisheit des Seins, auf den Lebenswillen und
den Wunsch nach Wohlbefinden, der jedem Lebewesen innewohnt.
Um bei Nadelmanipulationen eine Wirkung zu erzielen, muss das Qi erreicht werden. Die
Veränderung, die dadurch hervorgerufen wird, deutet darauf hin, dass „ein therapeutischer Effekt
eintritt, schneller als ein Pfeil (Ling Shu, Seite 1)“.
An anderer Stelle erklärt dieser klassischen Text Folgendes: Sobald das Qi erreicht ist und die
Vitalfunktionen des Patienten sich wie oben angeführt verbessert haben, beginnt die Krankheit
bereits zu schwinden, auch wenn noch keine erkennbaren Anzeichen der Genesung festzustellen
sind.
Und wie gebraucht man diese „besonderen Methoden“, mithilfe derer man über die „strömende
Energie und ihre Wege“ die Kontrolle erlangt, über Yin und Yang, die den Nieren entspringen, über
das prenatale Qi und über das lebenserhaltende Mingmen-Feuer, das „untrennbar von seinem Sitz
existiert“ und „klar, ruhig und zart ist (ebenda)“, der Sitz des Tan Tien.
Diese erste Schriftrolle ist von komplexem Inhalt und voll von Paradoxa. Um die besonderen
Methoden zu gebrauchen, folgt man dem simplen „Weg der Akupunktur“, d. h. man „tonisiert die
Leere, man sediert die Fülle, man löst die Stagnation auf “.
Dies geschieht, indem man seine Aufmerksamkeit auf die Bewegungen der Nadel konzentriert:
erst „langsam, dann schnell“, so erlangt man die Tonisierung (langsam hinein und schnell hinaus,
damit das Yang-Qi tiefer einsinkt). Oder erst „schnell, dann langsam“, so erlangt man die
Sedierung (ein schneller Einstich bewirkt die Verbreitung von dem Punkt weg. Durch wiederholtes
schnelles Einstechen und langsames Herausziehen intensiviert man den Sedierungseffekt und
zieht das tiefliegende Yin hervor).
Direkt nach Erwähnung der besonderen Methoden und den Gebrauch des Geistes, um den Geist
zu kurieren, fährt Qi Bo mit der detaillierten Beschreibung fort, wie Tonisierung, Sedierung und
Auflösung mittels der Nadeln hervorgerufen werden. Zuerst führt man das Qi herbei. Über zwei
Seiten lang werden die neun Nadeln und ihr Gebrauch erklärt, wie tief man nadeln soll, wie man
Fern- und Lokalpunkte nadelt. Dies alles fällt unter die Überschrift „Manipulation und Weg der
Nadeln“. Wir lernen, wie man „einen vertikalen Einstich setzt“. Dabei wird betont, dass „sich an der
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Nadelspitze der Geist aufhält“. Und schließlich lernen wir wie man „den Patienten bewusst
wahrnimmt“, um so die Vitalfunktionen und therapeutische Veränderungen zu erkennen, die sich
rasch einstellen.
Folglich setzen besondere Methoden voraus, dass man die herkömmlichen Methoden mit hoher
Konzentration ausübt, aufmerksam, ohne sich ablenken zu lassen, mit geistiger Klarheit und
unbeeinträchtigt von den sieben Emotionen.
Besondere Methoden basieren auf der geistigen Klarheit des Akupunkteurs. Somit können sie wohl
kaum von einem Anfänger durchgeführt werden, der noch lernen muss, wie man aufmerksam und
konzentriert bleibt, während die Nadeln oft starke Effekte auslösen. Dorthin gelangt man wie in
jeder ostasiatischen Kunst nur mit viel Übung und man muss sich auf den Vorgang des Nadelns
selbst konzentrieren. Man muss die Haut beobachten und dafür sorgen, dass sie sich nicht wölbt,
indem man mit der anderen Hand die Hautoberfläche an der Einstichstelle strafft, wie das Fell
einer Trommel. Die Hand, die die Nadel setzt, muss auf jedes Ereignis gefasst sein, das durch die
Behandlung hervorgerufen wird. Das könnte sich anfühlen wie wenn man einen Tiger am Schwanz
hält. So wird es später in dem klassischen Text formuliert.
Bei den besonderen Methoden geht es darum, sich auf den Patienten zu konzentrieren, sich von
nichts ablenken zu lassen, seine Aufmerksamkeit permanent auf die Haut, den Körper, die Nadel
und den zu stimulierenden Punkt zu richten und achtsam die therapeutischen Veränderungen
anhand der Vitalfunktionen des Patienten zu verfolgen.
Die Fähigkeit, diese Nadelmanipulationen sicher und effektiv durchzuführen, gehört untrennbar zu
den herkömmlichen Methoden, die jeder Akupunkteur beherrschen muss. Dies erfordert Zeit und
gewissenhafte Übung. Doch wer als Akupunkteur ausdauernd ist und achtsam wahrnimmt, wie
sich während der Behandlung im eigenen Bewusstsein Gewissenhaftigkeit und geistige Klarheit
entwickeln, der verwandelt herkömmliche Methoden in besondere.
Am Ende der ersten Schriftrolle wird auf die Kritik mancher Menschen eingegangen, die
„behaupten, chronische Krankheiten seien nicht heilbar. Das ist nicht wahr. Ein geschickter
Akupunkteur kann eine Krankheit bändigen, indem er Dornen herauszieht, Flecken auswäscht,
Knoten löst und Blockaden löst. Jede Krankheit, mag sie auch chronisch sein, kann an ihrem
Fortschreiten gehindert werden. Wer behauptet, es gäbe unheilbare Krankheiten, beherrscht nicht
die Kunst der Akupunktur (ebenda).“
Die folgenden 80 Schriftrollen geben detailliert Aufschluss darüber, wie man Differentialdiagnostik
durchführt im Hinblick auf die Hauptmeridiane, über die sekundären Verbindungskanäle und über
die außerordentlichen Gefäße. Weiterhin gibt es eine genaue Beschreibung der Anzeichen und
Symptome bei Funktionsstörungen jeglicher Meridiane. Desweiteren liest man einen Abschnitt
über die „Jingluo“ und über Kanäle und den Weg der Nadeln. Sie stehen in krassem Gegensatz zu
den Ansätzen der Traditionellen Chinesischen Medizin.
Die moderne Geschichte der TCM wurde erst unlängst in den 1960er und 1970er Jahren
konstruiert. Erstmals erschien sie auf Englisch in „The Outline of Chinese Acupuncture“, dann in
„Essentials of Chinese Acupuncture“ und dann im Nachfolgeband „Chinese Acupuncture &
Moxibustion“. In dieser modernen Geschichte war jedoch keine Rede von Jingluo. Auch die
Auseinandersetzung des Menschen mit Himmel und Erde und der Einfluss des Kosmos fand keine
Erwähnung. Ebenso wenig maß man Shen bzw. dem Geist irgendeine Bedeutung bei. Der im
China der 1960er und 70er Jahre entwickelte Ansatz der TCM scheint sich der besonderen
Methoden der Akupunktur entledigt zu haben, sie betreffen das Shen und die Seele.
Zu jener Zeit, als in Nordamerika die Entwicklung eines professionellen Berufs im Bereich AOM
(siehe unten) noch in den Kinderschuhen steckte, schlugen sich Gründer und andere
Entscheidungsträger mit der Formulierung von Satzungen für ihre Schulen herum, welche die
Grundlage für staatlich anerkannte Lizenzprüfungen bilden sollte. Damals war der Einfluss der
Akupunkturmethoden aus Europa deutlich spürbar. Man orientierte sich an J. R. Worsley, Van
Buren und Mary Austins 5 Elemente, an Schriften von Felix Mann, die auf Übersetzungen anderer
Autoren beruhten, Texte über Meridiane aus der Volksrepublik China aus der Anfangszeit der TCM,
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Meridiantheorien aus Frankreich und ein Programm für Selbstlerner, das vom „Occidental Institute
of Oriental Medicine“ herausgegeben wurde.
Wir als Gründer und Professoren dieser Schulen für Akupunktur in Nordamerika beschäftigten uns
nun also damit, wie die Ausbildung zu einem professionellen Beruf im Bereich AOM offiziell
auszusehen habe. (Wir einigten uns auf AOM. Hinter dem Wort „Akupunktur“ steckte für die
Öffentlichkeit sowie für die Medizin in Nordamerika eine völlig neue und faszinierende Idee. Um
aber nicht nur die TCM, sondern auch die Japanische, Koreanische, Vietnamesische und andere
ostasiatische Heilkünste mit zu berücksichtigen, entschieden wir uns für den Begriff „Orientalische
Medizin“, auch wenn es unter Anthropologen schon üblich war, den Begriff „orientalisch“ durch
„ostasiatisch“ zu ersetzen.
Wir haderten mit den Verschiedenheiten zweier grober Richtungen. An der Ostküste und Chicago
dominierte der europäische Einfluss, der ursprünglich aus Vietnam über Frankreich herüber kam.
Davon unterschied sich das „California Model of TCM“, welches die Kenntnis von Kräutern und
Akupunktur als prüfungsrelevant ansah für staatlich anerkannte Abschlüsse und Lizenzen.
Weil die meisten Englischen Texte aus Ostasien damals von TCM handelten und weil die
Veröffentlichung von „The Web that has no Weaver“ das Studium der TCM für nordamerikanische
Studenten wesentlich vereinfachte, kam endlich eine Einigung zustande. TCM wurde die
Grundlage für staatlich anerkannte Schulen und -Prüfungen.
Unter dem Druck des Einflusses und der Beharrlichkeit der Schulen von der Ostküste sowie des
mittleren Westens bestand der Vorsitz des AOM College gleichzeitig darauf, dass an AOM-Schulen
jegliche Akupunkturmethoden unterrichtet werden dürfen, solange TCM hauptsächlicher
Bestandteil des Rahmenplans bleibt.
Während dieser Zeit verschwanden in Nordamerika und, immer ein paar Jahre hinterher, auch in
Europa Texte, die mehr von klassischen Methoden handelten, besonders von klassischer
Chinesischer Akupunktur: Royston Lows „Sekundäre Gefäße in der Akupunktur“, Felix Manns
„Meridiane in der Akupunktur“ und die Texte über Jingluo-Methoden von Chamfrault und Van Nghi
wurden allesamt nicht mehr gedruckt. Stattdessen überschwemmte uns eine Flut von TCM-Texten,
die von Englisch sprechenden Ostasiaten übersetzt oder verfasst wurden, was unser Basiswissen
über TCM um einiges bereicherte und festigte.
Und dann nahm um 1990 herum eine interessante Entwicklung ihren Lauf. Es erschienen weitere
Texte über andere Akupunkturmethoden, die auf der klassischen Chinesischen Akupunktur
basierten, übersetzt oder geschrieben von Akupunkteuren in Nordamerika. Die Texte handelten
von unterschiedlichen Aspekten des Wegs der Nadeln, von Meridianen, 5 Elementen und anderen
klassischen Ansichten.
In dieser Zeit erschienen in Englischer Sprache Texte über diverse Japanische Methoden, die die
Tradition klassischer Meridian-Therapie beinhalteten. Auch über europäische Meridian-Akupunktur
gab es Neuerscheinungen und über neue Ansätze aus der VR China, die auf Ideen der Klassiker
basierten.
Dr. Yitian Nis bahnbrechender Text „Navigating the Channels of TCM“ erschien nun ebenfalls. Im
Vorwort weist er nachdrücklich auf Vor- und Nachteile der Vorherrschaft der TCM im Bereich AOM
in Nordamerika hin. Vorteilhaft ist sie für diejenigen, die ihre Kenntnisse hinsichtlich Chinesischer
Heilkräuter und Differentialdiagnose und Behandlung der ZangFu-Organe erweitern wollen.
Nachteilig ist sie jedoch für diejenigen, die die Jingluo-Differentialdiagnose der Kanäle,
Verbindungskanäle und außerordentlichen Gefäße erlernen möchten, als Ergänzung zur
meridianbasierten Akupunkturbehandlung.
Und schließlich sind wir in der Gegenwart angelangt, mit diversen neuen Büchern über die
Meridiane, die sich stark von TCM-Texten unterscheiden. Dennoch müssen die Hochschulen
Nordamerikas weiterhin die Grundlagen von TCM unterrichten und für staatliche Prüfungen dient
als Grundlage weiterhin eine moderne Chinesische Tradition, die in den späten 1950er Jahren
begann und in der VR China bereits am Verschwinden ist. Dort plädieren neue, junge Stimmen für
eine „zeitgenössische medizinische Akupunktur“ und dafür, Differentialdiagnosen der TCM endlich
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durch biomedizinische Diagnosemethoden zu ersetzen.
Heutzutage gibt es wesentlich mehr Englische Texte über verschiedene Akupunkturmethoden als
vor 30 Jahren, als man sich für TCM als Grundlage des Studiums der Akupunktur entschied,
besonders Texte über meridianbasierte Akupunktur und die Behandlung durch Akupunktur von
Schmerzen und Sportverletzungen an Muskeln und Skelett.
Was ich mit diesem Rückblick erreichen möchte, ist eine neue Bewegung, zurück zu diesem, mit
Vorurteilen behafteten Basiswissen über TCM, um die Stellung zu lockern, in der die
Ausbildungen, Prüfungen und Methoden der Akupunktur in Nordamerika seit 25 Jahren fest
verharren. Ich möchte mit diesem Artikel die Geschichte eines vergessenen Weges beleuchten,
den einer anderen Akupunktur, die auf Texten basierte, die ebenso maßgebend waren, wie die,
aus denen die TCM hervorging. Texte, die über kuriose Umwege nach England gelangten, über
Vietnam nach Frankreich, nach Montreal und in die Region von New York City. Texte, geschrieben
von Experten in klassischer Chinesischer Akupunktur an Akademien für Chinesische Medizin.
Diese wurden allerdings nahezu vollständig von staatlichen Hochschulen und Professoren für TCM
verdrängt, deren vereinheitlichter starrer Lehrplan keinen Raum lässt für den Geist, die Kraft und
die Eleganz der klassischen Chinesischen Methoden.
Es ist wohl an der Zeit, wieder zurück zu greifen auf dieses Basiswissen, das das Fundament der
Akupunkturausbildung in Nordamerika darstellt. Nur so können wir von starren Theorien
wegkommen, hin zu umfassenden und effektiven Methoden, die sich in den Klinikalltag einfügen
und den Bedürfnissen der Patienten anpassen.
Bei diesem Schritt zum Ursprung zurück sollten wir allerdings sicher stellen, dass in unserer
Akupunkturausbildung die Studenten vor allem auf die häufigsten Behandlungsanforderungen in
der nordamerikanischen Praxis vorbereitet werden, nämlich chronische Schmerzen und die dafür
verantwortlichen Funktionsstörungen, das sind Dysfunktionen von Muskeln und Skelett,
Sportunfälle, Dauerbelastung und starke Traumata, chronischer Stress, Erschöpfung und
Störungen, die Hormone, Herz-Lunge, Magen-Darm, Genitalien, Blase und Fruchtbarkeit betreffen.
Daraufhin könnten wir andere maßgebende Texte aussuchen und mit ihnen die
Akupunkturausbildung und ihre Prüfungen so umgestalten, dass die häufigsten Behandlungsfälle
einen gebührenden Teil einnehmen, anstelle von innerer Medizin und ZangFu-Mustern, die eher
der orientalischen Medizin zuzuordnen sind (Chinesische Kräuterkunde und Pharmakologie).
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