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Die Katastrophe der Oktoberrevolution
Aus « (Dis)continuité » Nr. 34, S. 17 bis 26 („Présentation des textes); Anmerkungen 66
bis 136 1
Wir müssen auf das Problem der Revolution zurückkommen und insbesondere auf
die Russische Revolution; diese erhellt nämlich die allgemeine Problematik jeder
Revolution.
Die Russische Revolution ist von Bordiga als erste proletarische Revolution und die
einzige siegreiche kommunistische verherrlicht worden (auch wenn sie zweifach,
kapitalistisch in ihren ökonomischen Aufgaben als auch kommunistisch in ihrer politischen,
internationalen Dimension war, indem sie den imperialistischen Charakter des Ersten
Weltkrieges und die Rolle der Sozialisten in der Heiligen Union denunzierte und zur
Bildung der Dritten Internationalen führte). Andere Revolutionäre: Pannekoek, Rühle,
Gorter und sogar zahlreiche Anarchisten, verteidigten offen diese Revolution, bevor sie sie
wegen ihrer Gemässigtheit, ihres Reformismus’, Opportunismus’ und ihrer bürgerlichen
Ausrichtung kritisierten, Tendenzen, denen Lenin und seine Genossen sich nicht hätten
entziehen können. Man hat den Bolschewiki zum Vorwurf gemacht, dass sie mit den
Kapitalisten zusammenspannten, also letztlich konterrevolutionär waren 2. Wir müssen
1
„(Dis)continuité“ ist eine von François Bochet redigierte Zeitschrift. Sie erscheint seit 1996 und ist
in jedem Sinne „hors commerce“ („Publication irrégulière-privée, hors commerce“ steht auf der Titelseite der
Nummern).
Adresse: F. Bochet, Le moulin des chapelles, 87800 Janailhac, Frankreich. Ein Inhaltsverzeichnis
der Zeitschriftennummern ist im Internet zu finden.
Die Zitate der vorliegenden Schrift sind durchwegs Übersetzungen aus den vom Autor zitierten
Büchern; es erfolgte also keine Verifikation in den zumeist bestehenden entsprechenden, auf Deutsch
erschienen Büchern (seien es Übersetzungen ins Deutsche oder seien sie ursprünglich auf Deutsch
erschienen). Für die Seitenangabe wurde deshalb ‚p.’ (für ‚page’, ‚Seite’) geschrieben, um auf diesen
Umstand aufmerksam zu machen. [Anmerkung des Übersetzers A. L.]
222
Die Linkskommunisten (Bucharin, Smirnow, Radek, Ossinski, Preobraschenski hatten die beiden
zentralen Posten in der Wirtschaftsorganisation des jungen Sowjetstaates inne, denn sie leiteten die
Staatsbank), die innere Opposition in der kommunistischen Partei (Bolschewiki), haben nie wirklich die
1
Grundsätze der leninschen Politik in Frage gestellt: die überschwängliche Revolutionsbegeisterung, den
proletarischen Messianismus, die Mystik des Klassenkampfes und die Entwicklung der Produktivkräfte, den
Kommunismus, welcher dem Kapitalismus aufgesetzt und deshalb auf die Spitze getrieben werden sollte.
Also war sie wirklich bloss eine innere Opposition. Ronald I. Kowalski hat diese Opposition in seinem Buch
„The Bolshevik Party in Conflict. The Left Communist Opposition of 1918“, University of Pittsburg Press,
1991, dargestellt. Wir gehen hier nur auf die Beziehung der Partei zur Bauernschaft ein, die Agrarfrage. Die
Linkskommunisten (wie auch Rosa Luxemburg) warfen in der Tat Lenin von Januar 1918 an vor, vor der
Bauernschaft zu weichen und mit ihr zu paktieren. Sie warfen ihm vor, die sozialistischen Prinzipien verraten
zu haben und vor den Sozialrevolutionären und Kleinbürgern und ihrem reaktionären und antisozialistischen
Programm der Aufteilung des Bodens zu kapitulieren. Die Linkskommunisten, Bucharin an ihrer Spitze,
waren demnach für einen konsequenten Klassenkampf gegen die Bauern und auch die Kirche (eine wichtige
Grossgrundbesitzerin), um mit allen Mitteln die Aufteilung des Bodens zu verhindern und den Boden
unbedingt zu nationalisieren. Tatsächlich nahm Lenin vom Sommer 1918 an die Sichtweise der
Linkskommunisten, was die Landfrage betrifft, an (wie später auch Stalin den Gesichtspunkt von Trotzki und
Preobraschenski übernahm). Und das war der Startschuss des Klassenkampfes auf dem Lande und der
Politik der Zwangsrequisitionen. Die Linksextremen von 1918 behaupteten (Kowalski zitiert dazu
Preobraschenski), dass die Aufteilung des Bodens unter den Bauern der Grund für einen spektakulären Fall
der Landwirtschaftsproduktion sein würde; es traf aber das Gegenteil ein, es war die Politik der
Zwangskollektivierung,
welche
den
Bankrott
der
sowjetischen
Landwirtschaft
zur
Folge
hatte.
Preobraschenski und Bucharin sahen in den Bauern Ignoranten, Idioten, Reaktionäre, auf jeden Fall
Marionetten und Instrumente der Reaktion. Der Autor zitiert auf p. 92 und 112 „Die Theorie des historischen
Materialismus“ von Bucharin. Dieser spricht da vom Traditionalismus des Bauern, von seiner Trägheit,
seinem Horror und Widerstand gegenüber allem Neuen. Er kreidet die Idiotie des Landlebens an, doch
werden dies Dampfmaschine und Elektrizität zum Glück beseitigen (siehe dazu auch Marx und Engels in
ihrem berühmten Artikel gegen Daumier). Kowalewski zitiert viele andere Texte von Linkskommunisten
derselben Stossrichtung. Er zeigt, dass die russischen Linken Angst vor dem verderblichen Einfluss der
Bauernschaft auf die Partei hatten (die deutsch-holländischen Linken behaupteten gar, die Degeneration der
russischen Revolution sei unter dem Einfluss der russischen Bauernschaft eingetreten). Der konsequent
durchgeführte Klassenkampf auf dem Lande sollte die Homogenität der Bauernklasse aufbrechen (N. Werth
berichtet in seinem Werk, dass eine Parole der Bauern in ihrem Kampf gegen die Bolschewiki lautete: Nein
zur Spaltung der bäuerlichen Welt). Die Revolutionäre haben eine eigentliche Obsession: Einheiten zu
zerstören (die für sie Pseudo-Einheiten sind, Mystifikationen der herrschenden Klasse, was manchmal, ja
häufig, aber nicht immer wahr ist); nur, was fordern sie an Stelle dieser Einheiten? Nationale, dann globale!
Kowalewski schliesst mit der Bemerkung (p. 98), dass die von Stalin so grausam vorangetriebene Politik
derjenigen der Linkskommunisten von 1918 sehr nahe kommt.
2
Die russischen Bauern wollten ihr Stück Boden als Eigentum garantiert wissen; die Bolschewiki wie
auch die Grossgrundbesitzer hielten – nicht uninteressiert – dagegen, die Kultur kleiner Parzellen sei nicht
genügend ertragreich. Das ist aber nicht bewiesen; der russische Ökonom Tschainow (. . .) dachte auf
jeden Fall das Gegenteil. Überdies hätte der Besitzer von Parzellen von der russischen Gemeinde
kontrolliert werden können, welche die Aufteilung des Bodens periodisch überprüfte. Bordiga schreibt
übrigens in „La questione agraria“, 1921 (. . .), dass die kleine Landwirtschaft mit Privateigentum gegenüber
dem feudalen Grossgrundbesitz einen Fortschritt darstelle.
Wir haben das von Bucharin gemeinsam mit Preobraschenski geschriebene Buch „ABC des
Kommunismus“ schon erwähnt. Das Buch beginnt mit einer Widmung, die keines Kommentars bedarf: „Der
Partei gewidmet, die, stark wie Stahl, in sich die ganze Grösse des Proletariates, seine Heldenhaftigkeit,
seinen hellen Verstand, seinen tödlichen Hass auf den Kapitalismus, seinen kräftigen Schwung zur
Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft (. . .); der Partei, welche die Wiederauferstehung der
Menschheit vorbereitet.“ Weiter hinten beteuern die Autoren: „Unser Ziel ist die Entwicklung der
Produktivkräfte“. Man findet auch hier das Misstrauen in die kleinen landbesitzenden Bauern. „Der grösste
Teil des guten Bodens befindet sich in den Händen der unabhängigen kleinen Landbesitzer. Doch trotz der
schlechten Bedingungen der Vergesellschaftung der Landwirtschaft in Russland, trotz des hartnäckigen
Widerstandes der kleinbürgerlichen Eigentümer, gehört die Zukunft in Russland dem grossen sozialistischen
Betrieb. Das ist aber noch nicht alles, man erfährt weiter unten, dass „das kommunistische Regime allein
imstande ist, den unheilvollen Zeitverlust auf den kleinen Bauernhöfen und das zurückgebliebene asiatische
System der Tierhaltung, sowie die barbarischen Esssitten zu beseitigen.“ Was das doch für ein Horror war!
Sehr bald, nach 1924, spaltete sich die Linke auf. Preobraschenski fuhr in gewohnter Weise fort,
auf eine ursprüngliche sozialistische Akkumulation mit gleichzeitig aufs Äusserste vorangetriebener
Industrialisierung zu setzen (was dann Stalin und seine Gruppe auf albtraumhafte Weise verwirklichten),
das spätere Programm von Trotzki. Bucharin dagegen verteidigte 1921 die von Lenin vorgeschlagene N.E.P.
[Neue Ökonomische Politik, A. d. Ü.], später, gegen die Linke (Trotzki, Preobraschenski, dann Sinowjew
und Kamenjew) und das Zentrum (Stalin) eine den Bauern, auch den reichen, günstigere Politik. Dies
sicher nicht aus Liebe zu den Bauern, sondern weil Bucharin auf eine ursprüngliche Kapitalakkumulation auf
dem Lande setzte; danach erst sollte der proletarische Staat sich dieses Kapitals bemächtigen. Als
Sinowjew und Kamenjew erschossen wurden, äusserte sich Bucharin gegenüber seiner Gefährtin: „Ich bin
schrecklich froh, dass man diese Hunde erschossen hat!“ (zitiert von Brossat „Un communisme
unsupportable“).
Michel Roger brachte unlängst (2011) im Verlag Smolny „Moscou 1918, La revue ‚Kommunist’. Les
communistes de gauche contre le capitalisme d’Etat“ heraus. Es handelt sich um vier Nummern des Organs
der Linkskommunisten in Moskau. Eine gute Arbeit, zweifellos, doch sind die Präsentatoren Michel Roger
und Marcel Roelandts, wie auch Guy Sabatier, der das Nachwort schrieb, weit davon entfernt, mit dem
revolutionären Mythos und demjenigen der Bolschewiki zu brechen. Sie stellen die Position der Linken zum
3
Krieg dar (sie waren für einen Partisanenkrieg gegen Deutschland), zum Staatskapitalismus, zur Beziehung
zu den anderen kapitalistischen Ländern (sie waren radikal gegen die Politik von Lenin gegenüber den
ausländischen Kapitalisten, welche zudem den europäischen Ländern für eine Allianz die Hand bot), zur
Frage der Spezialisten, zur Arbeiterkontrolle, zur Natur der Partei. Doch nirgendwo wird die Agrarfrage
aufgeworfen. Die Redaktion von „Kommunist“ fordert in Nr. 1, Moskau 1918: „Auf dem Lande: Druck der
armen Bauern auf die reichen, Entwicklung im grossen Stil einer spezialisierten Landwirtschaft.“
Guy Sabatier urteilt über das „Schwarzbuch Kommunismus“ negativ. Er meint zu diesem
vollmundig: „Das Ziel war, die Angst vor der Bewegung der sich selbst emanzipierenden Massen zu
nehmen“ (p. 323) und die „Anwandlungen des Proletariates zu entmutigen und zu desorientieren“! Sabatier
wirft Nicolas Werth vor, sich auf das Buch von Melgunow zu stützen, der mit den Weissen in Russland
verbunden war (was kaum bezweifelt werden kann; die Frage ist aber, ob das, was Melgunow sagte, wahr
oder falsch ist; das gilt auch für Stéphane Courtois; er mag nicht sympathisch erscheinen, wir teilen seinen
Pro-Okzidentalismus nicht, die wesentliche Frage ist aber die nach dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen).
Werth stützt sich zudem auch auf andere Quellen, so auch auf offizielle Dokumente und auf Erklärungen der
Führer der Bolschewiki selbst (Werths Artikel umfasst etwa 250 Seiten; er zitiert darin, Irrtum vorbehalten,
Melgunow drei Mal (. . .). Ein anderer Vorwurf, den Sabatier gegen Werth erhebt, dem er attestiert, „sich
Mühe zu geben[!], ehrlich zu sein“ und „unbestreitbar historische Kenntnisse zu besitzen“, besteht darin,
dass dieser das Zeugnis von Victor Serge nicht berücksichtigt habe. Dieser Vorwurf ist angesichts der
Ausgedehntheit der von Werth im besagten Buch vorgebrachten und behandelten Themen spassig.
Noch zwei Worte zu Serge Melgunow und seinem berühmten Buch „Krasnyi terror v Rossi 1918 –
1923“, erste Auflage 1923 (auf Deutsch „Der rote Terror in Russland“) nach der Ausgabe von 1927, die von
Melgunow selbst betreut worden ist. Melgunow war ein Reformsozialist, sehr antiklerikal, im Zweiten
Weltkrieg Patriot, Parteigänger einer Wiederaufnahme des Krieges gegen Deutschland nach der
Oktoberrevolution. Er war sicher mit Kreisen befreundet, die gegenüber den Bolschewiki feindlich gesinnt
waren, lehnte aber eine Rückkehr zum Zarismus(wie auch General Wrangel) ab. Er war ein renommierter
Historiker, wie Paolo Sensini in der interessanten Einführung zur italienischen Ausgabe des erwähnten
Buches schreibt (. . .). Sensini, verantwortlich für die Herausgabe der Hauptwerke von Bruno Rizzi und Ante
Ciliga auf Italienisch, bemerkt, dass man in der sowjetischen Presse in den ersten Jahren nach der
Oktoberrevolution von 1917 von einem Staatsstreich, nicht von „sozialistischer Revolution“ sprach; er
erinnert daran, dass der bolschewistische Terror klar und deutlich von Lenin lange vor seiner Durchführung
angekündigt worden war. Lenin hatte der Kommune von Paris vorgeworfen, zu nachsichtig gewesen zu sein,
ein Fehler, den er nicht mehr machen würde. Erinnern wir uns zudem, dass sich für Lenin und noch mehr
für Bordiga die proletarische, antidemokratische und kommunistische Revolution durch den – proletarischen
– Terror von den reformistischen, opportunistischen Sozialisten unterschied.
4
Sensini erwähnt die enorme Rolle der Juden in der Oktoberrevolution, zudem, wie die schlimmsten
Elemente in der russischen Gesellschaft sich den Bolschewiki anschlossen, da sie bei ihnen auf einen
Aufstieg hofften, ein Phänomen, das für alle Revolutionen zutrifft, wo der Bodensatz aufgewirbelt wird.
Sabatier, eh und je der proletarische Revolutionär, zitiert positiv Orwell, der den Helden seines
grossen Romans „1984“ sagen lässt: „Wenn es eine Hoffnung gibt, so ist es bei den Proletariern“; er
erwähnt hingegen nicht den Zusammenhang dieses Satzes, worin Orwell in demselben Roman auch tiefe
Zweifel an den Proletariern hegt. So liest man da noch:„’Wenn es eine Hoffnung gibt’, hatte er in sein
Tagebuch geschrieben, ‚so ist es bei den Proletariern’. Diese Worte, Ausdruck einer eigentlichen Mystik,
jedoch von spürbarer Absurdität, beschäftigten ihn quälend auf seinem Spaziergang“ („1984“, p. 121).
Miasnikow, ein anderer Revolutionär, derselbe, der die „Kommunistische Arbeitergruppe“ und
später, nach Frankreich exiliert, die Gruppe “Ouvrier communiste“ gründete, derselbe, der dafür war, dass
der Grossherzog Michel, Bruder des Zaren, exekutiert würde, schrieb: „ Man muss jeden Konterrevolutionär
überwachen, auf der Strasse, in den Häusern, auf den öffentlichen Plätzen, in den Zügen, in den
sowjetischen Institutionen, überall und immer, sie arretieren und der Tscheka übergeben.“ („Isvestija“ vom 1.
Oktober 1919, zitiert von Baynac, Alexandre Skirda und Charles Urjewicz im Buch „La terreur sous Lénine
1917 – 1924“ Sagittaire, 1975, p. 34. Dieses Buch blieb auf revolutionärer Seite unbeantwortet oder kaum
beachtet, es wurde stillschweigend übergangen; man findet darin lange Auszüge aus dem Buch von
Melgunow.
In seinem äusserst interessanten Artikel „La tragédie Spartacus“ im Buch „Spartacus et la
Commune de Berlin, 1918 – 1919“, éd. Spartacus, 1972, ein Artikel, der wohl von 1948 stammt (der Autor
zitiert das 1948 erschienene Buch von Collinet „La tragédie du marxisme“ von 1948; der Roman von Orwell
datiert von 1949) hatte André Prudhommeaux den Mythos vom Proletariat aufgezeigt, nämlich den „Mythos
vom Proletariat als dem bewaffneten Messias“, wie er auf p. 109 sagt. Er denunziert auch den Marxismus
und „diejenigen, die glauben, dass die ‚Lokomotive der Geschichte’ fest auf den Geleisen steht und nur
entweder vorwärts oder zurück fahren kann, und nicht genauer hinschauen. Sie sinnen nur darauf, die
Ventile zu ändern, diejenigen, welche ans Bremsen denken, als Reaktionäre zu verschreien und
die
Generationen im Ofen zu verheizen - wie sonst die Briketts in die Glut geschippt werden -, also alles zu
verheizen, was der Vergangenheit angehört. Die heilige Pflicht wäre es, die enorme Maschine à tout prix zu
beschleunigen; Dampf abzulassen wäre ein Verbrechen“ (p. 116)
Prudhommeaux (. . .) brach mit dem Marxismus; er war den dissidenten Marxisten nahe (der
Gruppe, welche „Réveil communiste“ herausgab). Er verteidigte die Autarkie: „Die Autarkie zu praktizieren,
heisst, aus eigenen Mitteln leben, um frei und unabhängig zu sein“ (in einem Text von 1949, in André
Proudhommeaux, „L’éffort libertaire“, 1. Le principe autonomie“ Spartacus, 1978, p. 17). Er schlug eine ganz
persönliche Physiokratie vor, worin Handwerk und Arbeit auf dem Land hochgeschätzt würden; (die
Physiokratie „betrachtet den Menschen als räumliches Wesen, im Boden verwurzelt, in unmittelbarem
5
Kontakt mit seiner Umwelt; sein Handeln ist nur im Handbereich wirksam“ (ein Text von 1954 (?), ibidem,
p. 16).
In einem nicht datierten Brief (ibidem, p. 78-79) erklärt Prudhommeaux, dass das Grundproblem
„der richtige Gebrauch der Lebensumwelt durch den Menschen ist; diese ist in Ausdehnung und
Fruchtbarkeit begrenzt und stellt seine einzige Ressource, sein Kapital und seinen Lebensort dar, den er mit
den Arten in seinem Verbund teilt“.
Er tadelt den modernen Anti-Malthusianismus, Ursache aller Übel, an denen die Menschheit leidet.
Prudhommeaux gibt das Proletariat, den Marxismus, die universalistische Megalomanie auf und verteidigt
das konkret-lebendige Individuum. Er ist sowohl gegen die Klassen, als auch gegen die Nationen eingestellt;
unglücklicherweise hat er einige Schwächen gegenüber der Demokratie.
Georg Lukàcs ist der Denker, welcher den marxistischen proletarischen Messianismus am weitesten
treibt. Er war säkularisierter Jude (Sohn eines äusserst reichen Bankiers in Wien). In „Geschichte und
Klassenbewusstsein“ schreibt er, dass das Proletariat das Subjekt-Objekt der Geschichte ist, sowohl
Weltgeist, als auch transzendentales Subjekt und versöhnt dabei Hegel und Kant. Schon vor seiner
Bekehrung zum Marxismus (die relativ schnell erfolgte und die man mit der Bekehrung von Saulus zu
Paulus auf dem Weg nach Damaskus verglichen hat) war Lukàcs ein Feind des Kapitalismus und vertrat
das, was man den romantischen Antikapitalismus von Anfang des 20. Jahrhunderts nannte und was im
Anschluss an den Sieg Deutschlands im deutsch-französischen Krieg von 1871auf die schnelle und äusserst
zerstörerische Industrialisierung von Deutschland folgte. Damals war das alte Deutschland untergegangen.
Michael Löwy behandelt dieses Thema in seinem Buch von 1976: „Pour une sociologie des intellectuels:
L’évolution politique de Lukàcs, 1909 – 1929“ (. . .) und in einem Artikel von 1978 „Idéologie
révolutionnaire et messianisme mystique chez le jeune Lukàcs (1910 – 1919)“ (. . .). Dieser
antikapitalistische Neo-Romantizismus nahm die Themen der deutschen Romantik von Anfang des 19.
Jahrhunderts (mit den
Vertretern:
Tieck,
Novalis,
Adam
Müller,
Friedrich
Schlegel,
Schelling,
Schleiermacher) wieder auf. Die Romantik hatte das Lob der schönen christlichen Einheit des katholischen
Mittelalters gesungen, der Epoche vor dem Einbruch des Nominalismus, der dann zum Protestantismus
führte. Dieses Mittelalter, dessen goldene Zeit v. a. das 13. Jahrhundert war, als zwischen Wert und
Grundeigentum ein Gleichgewicht bestand und nicht zufällig die Scholastik mit der „Summa“ des Thomas
von Aquin entstand (neben andern nicht zu vernachlässigenden scholastischen Werken), wurde von einer
Transzendenz beherrscht. Die deutschen Romantiker stellten diese dem Rationalismus, der Klassik, dem
Industrialismus-Mechanismus gegenüber. Lucien Goldmann – Löwy zitiert ihn zu Recht – schrieb in „Le
Dieu caché; étude sur la vision tragique dans les ‚Pensées’ de Pascal et dans le théatre de Racine“, dass
der Rationalismus gleichermassen Gott und Gemeinschaft unterdrücke (1955, p. 40). Er hätte noch die
Natur anfügen können. Diesen Gegensatz zwischen Tradition und Moderne theoretisierten dann die
deutschen Soziologen als Gegensatz von Gemeinschaft (die organische, traditionelle, mehr oder weniger
hierarchische Gemeinschaft, die auf biologischen (rassischen, familiären) und persönlichen Banden) und
6
Gesellschaft (die auf formalen, abstrakten, künstlichen und unpersönlichen Beziehungen beruht; zudem
auch als Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation: erstere religiös-ethisch-geistig und germanisch, zweite
städtisch, materialistisch-industriell, angelsächsisch und französisch, seelenlos. Vertreter dieser Neoromantik
sind Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, darauf Max Weber, aber auch Stefan George, Oswald Spengler und
Thomas Mann. Doch Max Weber steht der Moderne zwiespältig gegenüber; er bleibt Zuschauer dessen,
was er die Entzauberung der Welt nennt (die Marx schon im Kommunistischen Manifest hervorgehoben
hatte; die Werte der feudalen Welt werden durch die kalte, egoistische Berechnung von Profit und Gewinn
ersetzt); er zeigt sie auf, lehnt sie aber auch nicht ab. Max Weber stand im Zentrum eines Zirkels in
Heidelberg, dem u. a. Sombart, Simmel, Robert Michels, Lask, Windelband, der Neokantianer de Bade, v. a.
aber zwei Freunde angehörten, jüdische Intellektuelle, die von sich hören lassen sollten; denn sie würden
beide berühmte Marxisten und Stalinisten werden: Georg Lukàcs und Ernst Bloch. Marianne Weber
bezeichnete die beiden unzertrennlichen Freunde (die, einmal Stalinisten geworden, zu Feinden werden
sollten) als apokalyptische Juden katholischen Schlages, die von „eschatologischen Hoffnungen auf das
Kommen eines neuen Messias umgetrieben wurden“. Nach seiner Bekehrung zum Marxismus identifizierte
Lukàcs diesen Messias im Proletariat (allerdings in einem vollständig abstrakten Sinn, eigentlich in seiner
Partei; man kommt nicht darum herum, hier an Bordiga zu denken; nur war für diesen nicht wie für Lukàcs,
den politischen Aktivisten, die bolschewistische Partei, sondern die historische Partei dieser Messias).
In den Zehnerjahren hatte sich Lukàcs noch für den Chassidismus begeistert, eine jüdische
mystische Strömung, die Martin Buber durch verschiedene Schriften seiner Zeit mystifizierend schmackhaft
gemacht hatte, aber auch für den Hinduismus und die christliche Mystik (Dionysios Aeropagites, Meister
Eckhart). Vor allem aber faszinierte Lukàcs wie anscheinend den ganzen Kreis um Max Weber die
russische Spiritualität, insbesondere das Denken von Dostojewski, der ja eine grosse Abneigung gegenüber
der individualistischen Industriegesellschaft des Westens hegte, zudem der autobiographische Roman von
Boris Sawinkow, „Das falbe Pferd“ (1909 unter einem Pseudonym erschienen) und dessen Held, Ivan
Kaljajew, ein sozialrevolutionärer Terrorist. Boris Sawinkow kämpfte übrigens nach der Russischen
Revolution gegen die Bolschewiki, die ihn gefangen nahmen und exekutierten. Es sei noch angefügt, dass
Martin Buber seine Leser bezüglich des Chassidismus arg täuschte: Dieser verkündete nämlich die
rassische Überlegenheit der Juden und war frauenverachtend. Buber verschwieg auch den fanatischen Kult
der Anhängerschaft für die heiligen Rabbiner im Chassidismus.
1916 ist für Lukàcs in seiner „Theorie des Romans“ Dostojewski anscheinend ein literarischer Heroe
wie Homer oder Dante, eine Art Prophet einer neuen historischen Weltepoche. Er definiert in diesem Buch
die gegenwärtige Zeit mit denselben Worten, die auch Fichte gebraucht hatte, als „Epoche der vollendeten
Schuldhaftigkeit“. Die Zeit des Ersten Weltkriegs ist für ihn eine Zeit des Grauens und des definitiven
Zerfalls, welche die nahe Ankunft eines neuen Gottes, die Heraufkunft einer neuen Welt, einer mystischen
Gemeinschaft der Menschen, eine Rückkehr zum verlorenen Paradies und zum Goldenen Zeitalter
ankündigte. Auch Marx hatte in der äussersten Unmenschlichkeit, in die das Proletariat gefallen war, das
7
Zeichen dafür gesehen, dass es dazu auserwählt war, Handelnder in der kommenden Revolution zu werden,
woraus die weltweite menschliche Gemeinschaft erwachsen sollte. Lukàcs und Bloch begeisterten sich 1917
für die russische Revolution, in der sie das Vorspiel der erwarteten eschatologischen Umwälzung sahen.
1918 radikalisierte Lukàcs seine messianische Erwartung; sie ging von Russland, einer Nation, auf eine
Klasse, das Proletariat, über. Doch wenn er sich auch mit dem Kampf des Proletariates identifizierte (für
viele entwurzelte bürgerliche, ja grossbürgerliche Intellektuelle war das Proletariat doch so etwas wie eine
konkrete Gemeinschaft und übte so einige Anziehungskraft aus) so trat er nicht sofort zum Bolschewismus
über, denn er interessierte sich damals noch sehr für die ethische Dimension der Revolution. Erst im
Dezember 1918 trat er in die kommunistische Partei Ungarns ein und nahm dann die bolschewistische
Ablehnung der Moral an, ja theoretisierte sie. Ernst Bloch schloss sich ebenfalls dem russischen
Bolschewismus an, versuchte aber in der Folge eine Integration, denn er gab seine apokalyptischen,
mystisch-religiösen Überzeugungen von vor dem Krieg nicht auf (im Gegensatz zu Lukàcs). 1931 schrieb
Lukàcs einen wütenden Artikel, „Zum Erbe von Dostojewski“ und qualifizierte diesen Autor, den er so lange
verehrt hatte, als „reaktionär“. Nach Löwy verzieh Ernst Bloch Lukàcs diesen Artikel nie, insbesondere da er
darin als mystizistisch bezeichnet wurde. In den Dreissiger Jahren fand dann der berühmte Streit der beiden
einstigen Freunde über den Expressionismus statt; Lukàcs lehnte ihn (wie auch der deutsche
Nationalsozialismus) im Namen des sozialistischen Realismus als degenerierte Kunst ab, Bloch hiess ihn
gut und nahm damit Partei für die Auflösung.
Es gab sehr wohl eine degenerierte moderne Kunst, welche Nationalsozialisten und Stalinisten
ablehnten; heute ist die ganze moderne Kunst degeneriert; doch ist sie vor eher, wie andere schon betont
haben, degenerierend (also die Degeneration fördernd) als degeneriert. Was soll man z. B. vom „Künstler“
Andreas Serrano (. . .) halten, halb Hondurianer, halb Afrokubaner, der in Schweden und anderswo
Fotographien mit abartigen sexuellen Akten ausstellte, etwa eine (anscheinend weisse) Frau, die ein Pferd
masturbiert, eine andere, die auf einen Mann uriniert, ein Mann auf den Knien vor einem andern, ihm eine
Fellation applizierend? Man kann den schwedischen Nationalisten nur gratulieren, welche die Ausstellung
2007 zerstörten. Es wäre noch anzufügen, dass die schwedischen Behörden die Eltern dazu animierten,
ihre Kinder mit zur Ausstellung zu nehmen, um sie Toleranz gegenüber unterschiedlichem Verhalten zu
lehren. Und dann die Demokraten und Fortschrittlichen! Nach dem Anschlag auf die Ausstellung sprachen
sie vom Angriff auf die künstlerische Freiheit, die Demokratie, von der Rückkehr zu den dunkelsten Zeiten
des Moralismus . . . Oder was soll man zum fortschrittlichen Avantgardekünstler Romeo Castellucci mit
seinem Schauspiel „Sur le concept du visage du Fils de Dieu“ sagen? Da sieht man einen Alten auf der
Bühne kacken (pestilenzartigen, verstärkten Gestank inbegriffen), ein Bild Christi, das von Jugendlichen
gesteinigt und anschliessend mit Exkrementen beschmiert wird. Eine katholische Gemeinschaft (die Jeanne
d’Arc-Vereinigung) protestierte, während der Erzbischof von Poitier und die Linkskatholiken in einer
bekannten Fernsehshow das Stück lobten; die Linke schrie natürlich auf und sprach von Zensur, Intoleranz,
Faschismus, von den dunkelsten Zeiten in der Geschichte . . .
8
aber endlich einsehen und zugeben, dass die Russische Revolution schlichtweg eine
Ungeheuerlichkeit und ein Horror war, was nicht einfach durch die feindliche
kapitalistische Umwelt dieser Revolution 3 und die vielen Gegner des jungen Sowjet-
3
In Tat und Wahrheit war dieses Milieu keineswegs so feindlich eingestellt (. . .). Schon sehr früh,
Ende 1917 planten Leute aus Finanz und Politik in den USA (in Auswirkung des Gewichts der jüdischen und
freimaurerischen Pressure-Groups auf die Annäherung an das kommunistische Russland) die Zerstörung
der christlichen Reiche von Österreich-Ungarn und Russland und die Zerstörung des muslimischen
Osmanenreiches (dies war die Voraussetzung für die Gründung des jüdischen Sitzes, den die Zionisten
planten) und interessierten sich deshalb für den neuen sowjetischen Staat. Der kleine Satz von Bordiga zu
Damen (inhaltlich: Entfernen wir den Schnauz (Stalin) und setzen Alpha (Bordiga selbst) an seine Stelle!);
Truman wäre in fünf Minuten zur Stelle, war schon wahr. Man könnte ihn heute folgendermassen
umschreiben: Wären einmal Nikolaus II. und Kerenski verschwunden und Lenin auf seinen Platz verwiesen,
würde Wilson sofort zu springen kommen.
Antony Cyril Sutton (1925 – 2002) ist ein britischer Historiker, Ökonom und Essayist liberallibertärer Tendenz; er verteidigt die individuelle Freiheit gegen Einfluss und Eingriff des Staates (wobei doch
zu sehen ist, dass dieser Despotismus häufig gegen die Folgen der Pulverisierung infolge des
Individualismus auftritt) und ist Gegner der Globalisierung (die Anhänger der Globalisierung sind aber, im
ökonomischen, amerikanischen Sinne verstanden mindestens so anti-etatistisch eingestellt wie die
Libertären: sie lehnen die Staaten ab und verteidigen das Chaos und den Fluss im Gegensatz zu einer
tyrannischen Weltordnung; man sehe den Irak, Syrien und Libyen). Sutton hat die Frage der Finanzierung
der bolschewistischen Revolution durch die US-amerikanische Finanz in seinem Buch „Wall Street and the
Bolshevik Revolution“, 1974, Buccaneer Book, untersucht. Pierre de Villemarest macht eine kurze
Zusammenfassung dieses Buches in seinem „Complicité et financement soviéto-nazis“, éd. Godefroy de
Bouillon, 1996 (. . .). Das Buch ist den „libertären, unbekannten Russen gewidmet, die unter dem Namen
der Grünen 1919 sowohl gegen die Roten als auch die Weissen kämpften, um ein freies Russland zu
erkämpfen, das seines Geschickes Herr würde“ (p. 5). Sutton hat mehrere andere Werke über die
Finanzfrage geschrieben; er hatte dabei einigen Ärger mit seinem Auftraggeber (z. Z. von Nixon und
Kissinger), da er die Hilfe der USA an die Sowjetunion ankreidete, als das Land im Krieg mit Vietnam stand.
Er kam nämlich zum Schluss, dass die amerikanischen Soldaten in Asien von ihrer eigenen Technologie
getötet wurden: die Waffenhändler ihres Landes verkauften nämlich über die Russen als Zwischenhändler
den Vietnamesen Waffen.
Sutton hat ein Buch geschrieben, worin er den Federal Reserve der USA angreift, „The Federal
Reserve Conspiracy“, 1995 (. . .), welches das Buch von Eustace Mullins „The Secrets of the Federal
Reserve, 1952 – 1991“, ergänzt. Sutton und Mullins beweisen, dass die Federal Reserve, eine von
Präsident Wilson 1913 eingesetzte Institution (Wilson selbst war ein Industrie- und Finanzmagnat), weder
9
eine Reserve, geschweige denn eine staatliche des US-Bundes, sondern ein legales Monopol verschiedener
Privatbanken ist (der Lehman Brothers, Chase Manhattan Bank, der Goldmann Sachs Bank von N.Y., sowie
anderer nichtstaatlicher wie Bank Rothschild von London und Paris, die Bank Lazard de Paris, die Bank
Wartburg von Hamburg und Amsterdam, die Bank Israel Moses Seif von Italien; man beachte das
beachtliche Gewicht des jüdischen Elementes in dieser Stiftung der FED; Paul Wartburg war
Ratsvorsitzender), das Ziel verfolgt, Geld ausserhalb jeder staatlichen Kontrolle zu emittieren. Mullins war
ein Freund von Ezra Pound, welcher ihn bat, dieses Buch zu schreiben. Das Interesse des Buches von
Mullins geht ebenfalls sehr auf die zentrale Rolle der englischen City in der Weltfinanz und ihrer Macht ein.
Diese Londoner City ist weit davon entfernt, von N.Y. vollständig entthront worden zu sein (erwähnen wir
nur die Rothschild Bank). Ein weiteres Buch von Sutton ist erwähnenswert, das er mit Patrick M. Wood
geschrieben hat; es handelt von der Trilateralen Kommission, „Trilaterals Over Washington“, zwei Bände
1979 – 1980, sowie der Artikel von Robert Dragan, in „Terre et Peuple“ Nummer 52 erschienen „Qu’est-ce
qu’une banque centrale?“.
Sutton hat ebenfalls über die Beziehungen zwischen Wall Street und nationalsozialistischem
Deutschland geschrieben „Wall Street and the rise of Hitler“, 1976, 1999 (. . .). er behauptet, dass ohne
das
amerikanische
Kapital
im
Rahmen
des
Dawes-Planes
weder
die
IG
Farben
noch
der
Nationalsozialismus hätten existieren können, was uns nicht gänzlich zu überzeugen vermag. Der
Nationalsozialismus vertrat eine gewisse Autarkie und eine Ablösung vom Weltmarkt und lässt sich nicht
durch die Unterstützung durch eine ausländische Finanz erklären, wenn diese sich auch für den Fall eines
nationalsozialistischen Sieges abzusichern versucht haben mag. So nationalisierten die neuen Herren von
Deutschland am 15. Juni 1939 die Deutsche Bank; sie wurde zur einzigen zur Emission von Geld
berechtigten Anstalt und unterstellten sie direkt dem Kanzler Hitler. Der Artikel 2 der Verlautbarung dieses
15. Juni besagt: „Die Aufgaben der Deutschen Reichsbank erwachsen aus ihrer Stellung als Emissionsbank
des Reiches. Sie allein hat das Recht, Banknoten herauszugeben. Sie soll zudem die Transaktionen und
Finanzoperationen in Deutschland und ins Ausland regeln. Sie soll ausserdem für die ökonomischen Mittel
zu Gunsten des kollektiven und politisch-ökonomischen Gemeinwohls in angebrachter Weise sorgen“. Man
kann sich leicht vorstellen, dass diese Ziele den Wartburg, Rockefeller, Morgan und Rothschild, der Finanz
und den vaterlandslosen Weltwucherern nicht behagten (wie auch heute die Regierungen in Ungnade fallen,
die in den Transaktionen ohne den Dollar auszukommen suchen und sich soweit wie möglich aus dem
Kapitalienhandel heraushalten). Eine der ersten Massnahmen der Sieger des Zweiten Weltkriegs bestand
darin, dieses Gesetz in allen vier Okkupationszonen (von USA, GB, F und UdSSR) auszuschalten (. . .)
„Der Wucher ist der Krebs der Welt und allein der Skalpell des Faschismus kann ihn aus dem
Leben der Nationen entfernen.“ (Ezra Pound, am 30. April 1942 am italienischen faschistischen Radio).
Heute heulen und toben die Finanzmärkte gegen das Ungarn von Viktor Orban, der die ungarische
Zentralbank unter Aufsicht des Staates stellen will. Mullins und Sutton zeigen in ihren jeweiligen Büchern (s.
o.), dass mit der Federal Reserve, 1913 von Wilson gegründet, die Vereinigten Staaten über eine
10
Zentralbank verfügen („der grösste Trust der Welt“, erklärte der Abgeordnete Charles Lindbergh (Vater des
berühmten Fliegers) in der Repräsentantenkammer im Dezember 1913; er war entschiedener Gegner der
FED). Die Aktionäre dieser Bank sind Privatleute, sie hat aber das Geldemissionsrecht und leiht den im
Wirtschaftsleben Agierenden Geld, unter anderem auch dem Staat. Der US-Staat verlor damit die Herrschaft
über das Geld, was mittlerweilen auch für die andern westlichen Staaten gilt, die sich von 1970-1980 an
untersagten, sich selbst zu finanzieren. Damit werden sie von Krediten auf dem Weltmarkt abhängig. Der
Federal Reserve war schon die Zentralbank von England vorausgegangen, die ebenfalls auf privater
Initiative, von eine Gruppe von englisch-holländischen Bankiers, geschaffen worden war, worunter auch
einigen jüdischen. Dies geschah im Jahre 1688 infolge der Absetzung des katholischen Königs Jakob II.
Stuart und seiner Ersetzung durch den Ehemann von Marie Stuart, Tochter Jakobs II., den Protestanten
Willhelm III von Oranien-Nassau, also zur Zeit der Glorious Revolution. Letzterer benötigte grosse
Finanzmittel, um ruinöse Kriege zu führen (oder auch ausstehende Solde zu entrichten). Dazu verlieh ihm
die internationale Zinslobby das Geld, 16 Millionen Gold-Pfund!
Sie erhielt im Gegenzug das Privileg,
eigenmächtig Geld zu schlagen, was bis anhin ein königliches Regal gewesen war.
Das Buch von Sutton über die Verbindungen zwischen Wall Street und der Sowjetunion ist unseres
Erachtens interessanter und überzeugt mehr; vor allem ist es hervorragend dokumentiert. Sutton behauptet,
die Bolschewiki hätten ohne die Unterstützung durch die amerikanische Finanz weder den Sieg davontragen,
noch den Sieg behalten können. Er will aufzeigen, wie diese Finanzkreise den Bolschewiki Kapital geliehen
haben. Das wären je nach politischer Situation auch andere politische Kräfte in Russland gewesen; auch die
Menschewiki erhielten lange Zeit grosszügig Geldmittel; die „Weissen“ dagegen wurden recht schnell
fallengelassen. Es ging um die Sicherung der gewaltigen Naturschätze in Russland, um die Schaffung und
Beherrschung des künftigen Marktes dieses Landes. Sutton täuscht sich jedoch in dieser Hinsicht, wenn er
den Magnaten der US-Finanz ausschliesslich marktmonopolistische Absichten unterstellt. Er ist da ganz
libertär eingestellt, ja marxistisch, wenn er die rein ideologisch-politischen Motive ausser Acht lässt. U. E.
sollte die natürliche Affinität von Bolschewiki und Hochfinanz über alle ökonomischen Divergenzen hinweg
unterstrichen werden: Der Wille der Fortschrittlichen, eine alte, archaische, ländliche Ordnung zu zerstören,
der Wille zur Beseitigung jeder Hierarchie und Transzendenz, um einer seichten Horizontalität zum Siege zu
verhelfen. Kurz: U. E bestand jenseits eines kurzfristigen ökonomischen Gewinnes ein politisches Konzept.
Sutton spricht von einem Komplott von Wall Street; er weigert sich, von einem jüdischen Finanzkomplott zu
sprechen. Er beweist, dass die Juden weder unter den Bankiers, welche die Bolschewiki unterstützten (v. a.
P. Morgan und J. Rockefeller), noch unter den Bolschewiki die Mehrzahl stellten. Das scheint uns
unzutreffend; die Übervertretung der Juden unter den Bolschewiki wie auch in der US-Finanz ist kaum zu
bestreiten.
Sutton spricht von der Allianz zwischen zwei Gruppen von Internationalisten, derjenigen des
Monopolkapitalismus und derjenigen der auf Zentralisierung abzielenden bolschewistischen Revolutionäre.
Eine starke Zentralregierung war auch im Sinne des Grosskapitals.
11
Die deutsche Führung im Ersten Weltkrieg unterstützte die russischen Revolutionäre schon früh
(wobei die Rolle von Parvus in diesen Finanzgeschäften doch bedeutend blieb). Das Geld wurde vermittels
der
schwedischen
Nya
Banken
transferiert,
in
welcher
US-amerikanische
Financiers
eine
nichtzuunterschätzende Rolle spielten.
Sutton zeigt auch, wie korrupt das bolschewistische Regime war und wie es, seiner Meinung nach,
die Russische Revolution verriet.
Er untersucht minutiös und im Detail die Verbindungen zwischen Bankiers und Bolschewiki (erstere
waren schon lange vor dem Oktober 1917 auf dem Sprung). So etwa die Beziehungen zwischen Trotzki und
amerikanischen Bankiers, die schon anlässlich Trotzkis Besuch in den USA geknüpft wurden. Woodrow
Wilson, Freund der russischen Revolutionäre, habe (gegen die Ansicht der britischen Alliierten) alles
unternommen, ihm zu helfen, wieder nach Russland zurückzugelangen, welches eben in Revolution
begriffen war, etwa, indem er ihm einen Pass verschaffte. (Sutton sagt, Trotzki habe in N.Y. von
kapitalistischer Seite Geldmittel erhalten). Trotzki habe von November 1917 an in St. Petersburg William
Boyce Thompson empfangen, einen Grosskapitalisten, Business-Man, Finanzmann und Besitzer eines
gewaltigen Vermögens (als Inhaber von Silber- und Kupferminen), und als Verwalter der Federal Reserve
Bank in N.Y. von einiger politischer Macht (p. 18). So seien gewaltige Finanzmittel der neuen
Sowjetregierung zugeflossen. Gemäss Sutton hätte dieser Thompson, nachdem er eine Zeit lang Kerenski
unterstützt hatte, in der bolschewistischen Revolution finanziell, diplomatisch und materiell eine grosse Rolle
gespielt. Bei der US-Regierung trat er für die Anerkennung der UdSSR durch die USA ein und versuchte
auch Gross-Britannien von der neuen Realität zu überzeugen. Thompson schrieb auch eine kleine Boschüre
vollen Lobes auf Lenin und das neue Regime auf Russisch, die 1918 in N.Y. herauskam: „Prawda o Rossii i
Bolshevikach“ („Die Wahrheit über Russland und die Bolschewiki“).
Sutton zeigt, dass die Riesengruppen Morgan und Rockefeller schon 1903 die Revolutionäre in
Panama unterstützt und die Abtrennung Panamas von Kolumbien erreicht hatten, wonach die
amerikanischen Kapitalisten sich des Kanals bemächtigen konnten. Vergleichbare Interventionen gab es in
China, 1911-12, zu Gunsten von Sun Yat-sen, sowie in Mexiko zur Unterstützung der Revolutionäre um
Pancho Villa.
Sutton erzählt die Geschichte von Michael Gruzenberg, einem bolschewistischen Agenten in
Skandinavien, der unter dem Namen von Alexandre Gumberg auch Vertrauensrat der Chase Manhattan
Bank von N.Y. war. Er spricht auch von einem Cousin von L. Trotzki, Abram Givatowzo, einem Bankier aus
Kiew, der, ein Antibolschewist bis in die Knochen, doch die sowjetische Regierung 1818 bei zahlreichen
Transaktionen unterstützte (er sei es gewesen, der zwischen
den Bolschewiki und den internationalen
Bankiers vermittelt haben soll). Von 1917 an entstand ein beeindruckendes Konsortium von amerikanischen
Kapitalisten unter der Führung von Rockefeller und Morgan, um die Russische Revolution zu finanzieren und
damit natürlich die Anstrengungen des zaristischen Russland zu sabotieren, das dennoch offiziell Alliierter
12
der USA war! Dieses Konsortium wandelte sich nach der Oktoberrevolution in die Amerikanische Liga zur
Unterstützung und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion um.
Sutton beleuchtet auch die Rolle des revolutionären schwedischen Bankiers Olof Alschberg, der
gleichzeitig Krassine (Bolschewik und leitender Ingenieur der Siemenswerke in St. Petersburg) und Max
May nahe stand, einem der Chefs der Guaranty Trust Company (von Morgan kontrolliert und geführt). Über
Alschbergs Bank, die Nya Banken, wären Fonds an die Bolschewiki während und nach der Revolution
überwiesen worden. Alschberg machte Geschäfte mit dem Sowjetstaat und wurde dann Direktor der ersten
sowjetischen Bank, der Ruskombank (der sowjetischen Aussenhandelsbank). Diese internationale Bank
wurde 1922 gegründet (also damals, als die bolschewistischen Führer vor den versammelten
enthusiastischen Revolutionären von der Tribüne des VI. Kongresses der Kommunistischen Internationalen
herab flammende Aufrufe zur proletarischen Weltrevolution erliessen . . .) und zwar mit dem wesentlichen
Beitrag von privaten Kapitalien aus den USA (insbesondere vom Morgan-Trust), aus England, Schweden,
Deutschland und Russland. Sie wurde in N.Y. von der Guaranty Trust Company vertreten. Max May wurde
Direktor der für die Ruskombank zuständigen Abteilung für auswärtige Angelegenheiten.
Sutton widmet ein Kapitel der Mission des Internationalen Roten Kreuzes in Russland im August
1917. Sie war ein Vehikel der Neuyorker Finanz und auch gänzlich aus Financiers der Wall Street
zusammengesetzt! Unter dem Deckmantel einer humanitären Mission sollte die Hand auf die Reichtümer
von Russland gelegt werden, indem den Herren des Landes von morgen unter die Arme gegriffen werden
sollte, Kerenski oder den Bolschewiki. Dabei sollte den Industriellen und Financiers aus Deutschland
zuvorgekommen werden; nicht zufällig figurierte unter den Geldgebern der Mission auch Basil Zaharoff, der
berüchtigte internationale Waffenhändler (siehe dazu von Tintin d’Hergé „L’oreille cassée, 1979, p. 34-35).
Unter Berufung auf einen gewissen McCormick („The Mask of Merlin“, 1963), sei dieser Zaharoff, der
während des Weltkrieges durch den Verkauf von Waffen an die beiden Lager ein immenses Vermögen
erworben hatte, von den Führern der Alliierten bezüglich der Aussenpolitik konsultiert worden. Auch sollen
sich Lloyd George, Woodrow Wilson und George Clémenceau mehrfach in der Wohnung von Zaharoff in
Paris getroffen haben. Sutton gibt auch an (o.c., p. 93), Zaharoff habe Kontakte mit den Bolschewiki gehabt
und sei in London und Paris zu ihren Gunsten aufgetreten.
Die Neuyorker Bankenwelt (Morgan und Rockefeller) finanzierte die Bolschewiki, insbesondere
vermittels der American International Corporation (eine von Morgan kontrollierte Bank, an der aber auch
Rockefeller und Carnegie Anteil hatten). Diese AIC war 1915 gegründet worden und übte einen grossen
Einfluss auf die Politik gegenüber der UdSSR aus. Es ging letztlich um einen versteckten Krieg der USA
gegen Deutschland und um den Besitz von Russland und seiner Reichtümer. Die kapitalistischen Kreise der
USA wollten den russischen Markt ausbeuten, ohne die Konkurrenz der deutschen und der russischen
Kapitalisten selbst, oder anderer kapitalistischer Kreise in den USA fürchten zu müssen (die US-Amerikaner
befürchteten, Russland könnte eine Grossmacht werden).
13
Staates erklärt werden kann; diese Ungeheuerlichkeit von einer Revolution entfaltete sich
im übrigen nicht erst mit dem Tod von Lenin und der Machtübernahme durch Stalin. Lenin
selbst gebärdete sich wie ein Monster und Dämon4, und wer Lenin hochjubelt und
Die Industrie in Russland lag nach dem Krieg zu Boden; die Bolschewiki brauchten Maschinen,
Eisenbahnen, chemische Produkte, Kleider, Lebensmittel etc. Sie eröffneten zu diesem Zweck Anfangs 1919
ein Büro in N.Y., über welches der Kontakt zu Firmen des Landes hergestellt und Verträge zur Einfuhr von
Ausrüstung, Kleidern, Schuhen etc. in die junge Sowjetunion geschlossen werden sollten. Von Mai bis
Oktober 1919 signierten neun amerikanische Firmen Verträge zur Einführung solcher Waren. In zehn
Monaten fanden Transaktionen von 40 Millionen Dollar statt! 99% der Elektrifizierung und Radioausrüstung
in der UdSSR wurde von den amerikanischen Firmen R.C.A. und General Electric geleistet.
Sutton widmet mehrere Seiten John Reed. Dieser Sympathisant und Propagandist der Bolschewiki
war in Tat und Wahrheit ganz in der Hand des Morgan Trust, denn dieser Journalist schrieb in Zeitungen,
die dem Trust gehörten. Reed wurde mehrere Male in Europa verhaftet und jedes Mal von AIC wieder
herausgeholt. Kurz und gut, Reed wurde von der Morgan Bank bezahlt und beschützt; Sutton liefert dazu
Beweise. Dagegen spricht nicht, dass er Artikel gegen den Kapitalismus und zu Gunsten der Bolschewiki, ja
gegen Morgan selbst schrieb! Oder auch, dass Morgan eine Zeit lang den Admiral Koltschak finanzierte.
Sutton untersucht, allzu schnell, die verschiedenen in den Kreisen von Kapitalisten und Financiers
der USA von Anfang des 20. Jahrhunderts an entworfenen Pläne, vor allem den Plan von Carnegie: ein
globales Projekt, das unter dem Vorwand des Pazifismus eine Weltregierung und einen einzigen Weltmarkt
vorsah (das hatte Solowjew in seiner Schrift zum Antichrist gut hervorgehoben und auch „Colonel“ Edward
House in „Philip Dru Administrator“ skizziert (. . .)). Diese kapitalistischen Kreise warfen alle wegen des
Internationalismus einen wohlwollenden Blick auf den Marxismus (insbesondere die Variante des FabianSozialismus). Dieses globale Projekt ist immer noch aktuell; Sutton zitiert das Buch von John D. Rockefeller,
„The Second American Revolution“, aus dem Jahre 1973, ein einziges Plädoyer für den egalitären
Humanismus und Weltfrieden. Die amerikanischen Firmen (insbesondere der Morgan-Rockefeller-Gruppe)
haben Russland in den Dreissigerjahren wiederaufgebaut und das Gelingen des ersten Fünfjahresplanes
von Stalin ermöglicht. Es war also eine grosse Heuchelei als 1932 die USA die Sowjetunion anerkannten,
denn die beiden Länder standen schon lange in kommerziellem und finanziellem Austausch; so kaufte die
Federal Reserve Bank seit 1920 russisches Gold und der Rubel, die russische Devise, war schon lange auf
den Devisenmärkten akzeptiert.
Sutton kommt zum bekannten Schluss, dass die Bankiers weder Ideologie noch Vaterland kennen
und dass es eine Koalition zwischen Bankiers und russischen Revolutionären gab.
4
Man versteht leicht, warum Lenin die Romane von Dostojewski nicht mochte; er stufte sie nach
dem Zeugnis von Valentinow, „Vstretchy c Leninym“, als reaktionär ein: Lenin hätte nämlich seine
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Geschichte in den „Dämonen“ vorgezeichnet gefunden. Dostojewski beschreibt darin die revolutionäre Furie
über Russland mit ihrer marxistischen und explizit russischen Komponente.
Wladimir Wolkoff spricht bezüglich Lenin, Trotzki und Stalin als der Dreifaltigkeit des Bösen (siehe
das Buch „La trinité du Mal“, 1991). Das ist bestimmt übertrieben, diese drei Männer waren aber vom
Dämon des Fortschritts besessen (vom Hass auf das Sein, wie Wolkoff sagt) und sind für unvorstellbare
Schlachtereien und Zerstörungen verantwortlich. Wolkoff übertreibt sicher, wenn er vom russischen
Kommunismus als der grössten Katastrophe der Geschichte spricht, auch wenn er einen beträchtlichen Teil
der kapitalistischen Weltrevolution darstellt, dieser immensen Katastrophe, die keinen zutreffenden Namen
trägt, also unbenennbar ist.
Es ist absurd, einen andern Nürnberger Prozess für die Verbrechen des Kommunismus zu fordern,
wie das Wolkoff tut. Es hiesse zu vergessen, dass der Nürnberger Prozess nichts als eine gewaltige und
dunkle Farce war, eine Mischung von Hollywood-Film und stalinschem Moskauer Prozess (wie dann auch
noch der Jerusalemer Prozess von 1961 gegen Eichmann). Es gibt mehr als genug Beweise dafür, dass von
den angelsächsischen Demokraten damals die Folter eingesetzt worden war, um aus den Gefangenen die
erwünschten
Geständnisse
und
Aussagen
herauszupressen.
Das
gilt
auch
für
die
folgenden
Kriegsverbrecherprozesse.
Wolkoff ruft in Erinnerung, dass Lenin in seinen jungen Jahren ein unglücklicher Landwirt war, auf
die Jagd ging (wie Trotzki), dass er von seiner Mutter geliebt wurde, dass er mutig war, dass er die Blumen
verabscheute (diesbezügliche Quelle ist das Buch von Bertrand D. Wolfe, „Three who made a Revolution“,
oftmals von Bordiga zitiert). Wolkoff anerkennt die vollständige persönliche Uneigennützigkeit von Lenin,
seinen Asketismus (insbesondere seine Abscheu für die freie Liebe; er sagte, er trinke nicht aus einem
Glas, in das andere gespuckt hätten!!), seine Verachtung für den Luxus, seine tiefe Bescheidenheit; so
zögerte er nicht, andere für ihn seine Artikel unterschreiben zu lassen. Wolkoff anerkennt das Genie von
Lenin (für ihn ein Genie des Bösen), aber auch seine theoretische Brutalität.
Nicolas Valentinow, eine Zeit lang Bolschewik, darauf nach, dem Bruch mit Lenin bis 1917
Menschewik, berichtet, wie ihm Lenin erklärte: „Marx und Engels haben alles gesagt, was es zu sagen gab.
Der Marxismus muss nicht entwickelt werden ausser im von seinen Begründern angegebenen Sinne. Nichts
im Marxismus muss revidiert werden. Auf Revisionen gibt es nur eine richtige Antwort: aufs Maul schlagen.“
(Nicolas Valentinov, o. c., p. 224).
Bordiga hätte das sofort unterschrieben, ausser vielleicht die
empfohlene therapeutische Massnahme, wenn auch er zuweilen proletarisch-marxistische Brutalität kannte.
Valentinow betont Lenins totale Unkenntnis der Philosophie, ja seine Verachtung für sie (und auch Bordiga
rühmte sich, nie eine Zeile von Hegel oder Croce gelesen zu haben).
Valentinov vergleicht die anti-revisionistische Einstellung von Lenin mit derjenigen des orthodoxen
Patriarchen Awakum, Oberhaupt der Alt-Gläubigen, der sich jeder Modernisierung des orthodoxen Glaubens
im 18. Jahrhundert widersetzt hatte. Er zitiert ihn: „Wie in den alten Büchern die Sachen geschrieben
15
entschuldigt, macht sich einer Schändlichkeit schuldig. Bordiga hat die Frage der
Verantwortlichkeit Lenins und darüber hinaus des Grauens der Russischen Revolution nie
behandelt; er vergötterte Lenin und die Bolschewiki. Und konnte man die Wirklichkeit in
Russland vor dem Zweiten Weltkrieg noch übersehen, dann sicher nicht mehr nach 1950.
Bordiga äusserte sich mit Verachtung über Victor Krawtschenko, den Autor von „I chose
Freedom“, in Frankreich 1947 unter dem Titel „Ich wählte die Freiheit“ erschienen, als
einem C.I.A.-Agenten. Vielleicht war er das, wir meinen aber, dass es korrekter gewesen
wäre zu sagen, dass er vom C.I.A. benutzt worden ist. Vor allem aber war nicht das die
Frage, sondern: Was sagte dieser Krawtschenko, und was bestätigte Margaret BuberNeumann, die als Zeugin im Prozess gegen die stalinistische Zeitschrift „Les Lettres
Françaises“ auftrat? Ob C.I.A.-Agent oder keiner: das war doch nur banale Nebensache.
Doch noch viel schlimmer: Bordiga denunzierte nie die Massaker, welche auf Befehl
Stalins begangen wurden, und betonte nur die Ausmerzung der alten Bolschewistengarde,
wodurch die Umkehrung der revolutionären Perspektive eingeleitet worden sei. In
„Structure économique et sociale de la Russie d’aujourd’hui“ geht er nur kurz auf die
Rebellion von Kronstadt ein, offensichtlich peinlich berührt, nirgendwo aber erwähnt er die
gewaltigen Bauernaufstände, nie die Massaker an den Bauern. Ihm als gutem,
stehen, so bewahre ich sie und glaube daran und sterbe damit. Bis zum Tod halte ich es mit ihnen, wie ich
sie erhalten habe. Und verflucht sei, wer daran ein Iota verändert.“ (o.c., S. 289)
Valentinow widersetzt sich dem Misoneismus, erfasst aber nicht die Tragweite der Frage, dass
nämlich auch der Kapitalismus eine Revolution, die Geburt des Neuen ist. Bordiga vermochte dank seinem
geforderten Misoneismus und trotz seines marxistischen proletarischen Deliriums eine Zeit lang der
kapitalistischen Revolution zu widerstehen und sie deutlich ins rechte Licht zu rücken. Nur erkannte er in ihr
nicht auch die marxistische Komponente.
Das Zeugnis von Valentinow widerspricht demjenigen von Wolfe in verschiedenen Punkten.
Valentinow behauptet, Lenin sei ein Feigling gewesen,
er sei vor Versammlungen geflohen, wenn er
Streitigkeiten habe kommen sehen (o.c. p. 36-37). Er behauptet auch, Lenin sei ein grosser Verehrer der
wilden Natur, sei ein unermüdlicher Berggänger gewesen und habe sich gerne an die Blumen des
Landsitzes erinnert, wo er seine Kindheit verbracht hat. Er berichtet auch, Lenin sei, wenig überraschend,
weder Parteigänger der antiautoritären Erziehung, noch des Feminismus gewesen (wie im übrigen auch
wir).
16
orthodoxem Marxist war die ländliche Autarkie ein Graus5 und so waren diese Massaker
nicht von Belang und er interessierte sich nur für die proletarischen Massaker – sofern sie
nicht zu Lebzeiten Lenins begangen wurden.
Von Seiten der Revolutionäre ist ein mea culpa erforderlich.
Die Russische Revolution war vor allem ein Krieg gegen die von den Bolschewiki,
den Marxisten und von Marx selbst verachtete und verhasste Bauernschaft. Letztere
vergötterten dagegen die Industriearbeiter 6. Lenin hasste in seiner modernistischen
5
Für Bordiga und die Marxisten im allgemeinen ist Kommunismus gleich Gemeinschaft aller
Menschen der Erde (der Weltameisenhaufen, hätte Dostojewski gesagt). Die lokalen Gemeinschaften, die
als verschlossen, abgetrennt, geistig beschränkt, egoistisch und allen andern Gemeinschaften gegenüber als
feindlich eingestellt betrachtet werden, bilden nichts als ein Hindernis für die Weltgemeinschaft. Bordiga zieht
nirgendwo die Frage der Basisgemeinschaften und ihrer Beziehung zur Weltgemeinschaft in Betracht.
6
Ein mea culpa wie es 1936 Céline schrieb. Céline geisselt darin den marxistischen Materialismus
und macht den Glauben an den proletarischen Messias lächerlich, einen nicht von den Proletariern selbst,
sondern von den Intellektuellen entwickelten Glauben. Céline führt ebenfalls die Vergötterung der Maschine
ad absurdum, welche die Bolschewiki und Kommunisten im allgemeinen praktizierten.
„Die Maschine verschmutzt richtiggehend, sie verdammt und tötet alles, was sich ihr nähert. Sie
gehört aber zum guten Ton, die Maschine. Das macht ‚prolo’, macht ‚Fortschritt’, macht ‚Job’, macht ‚Effekt’
. . . Das bringt Massen aufs Pflaster . . . Das gibt gewiefte Kenner, zuverlässige Sympathisanten . . . Man
hat da anzufügen und zu empfehlen . . . Dann lässt man die Ventile knallen . . . „Ich bin, bin dabei!“ Es lebe
die grosse Schichtfolge! Keine Schraube, die wir vergessen hätten! Die Ordnung kommt aus den Tiefen der
Büros!“ Die ganze Sauce auf die Maschinen! Alle Schwindel zur Verfügung! Währenddessen werden sie
nichts denken! . . . (. . .) Die Politik hat den Menschen seit drei Jahrhunderten tiefer verfaulen lassen als
während der ganzen Vorgeschichte von Homo. Wir waren im Mittelalter näher daran, vereint zu sein als
heute, ein gemeinsamer Geist hatte Gestalt angenommen. (. . .).“
Céline hat eine dunkle Menschheitsvision:
„Der grosse Anspruch auf das Glück: dies ist der grosse Bluff! Dieser Anspruch macht das ganze
Leben kompliziert. Macht die Leute so giftig, hässlich und ungeniessbar. Es gibt kein Glück im Leben, nur
mehr oder weniger grosses Unglück, mehr oder weniger spät ausbrechend, geheim, aufgeschoben,
heimtückisch. . . „Aus glücklichen Leuten macht man die besten Verdammten“. Das Prinzip des Teufels ist
gültig. Er hatte wie immer Recht, den Menschen auf das Materielle auszurichten. Das hat nicht hingehalten.
In zwei Jahrhunderten alles verrückt vor Stolz, von der Mechanik aufgeblasen, unmöglich geworden. So
17
sehen wir ihn heute: verstört, übersättigt, alkoholsüchtig, benzinsüchtig, misstrauisch, anspruchsvoll, das
Universum mit kleiner Anstrengung in Sekunden! („Mea culpa“, p. 22, 24, 26).
Moskau sah in Céline - nicht ganz zu Unrecht - jemanden, der die bürgerlichen Werte in den Dreck
zog und unterstützte ihn mit Autorenrechten, die indessen nicht über die Sowjetunion hinausgingen. Céline
war deshalb in Sowjetrussland, um sie dort einzulösen. Nach seiner Rückkehr schrieb er „Mea culpa“.
Man sollte doch einmal den von Konterrevolutionären den Revolutionären vorgehaltenen Vorwurf sowenig subtil er ist, so hat er doch einiges an sich – beherzigen, die Revolutionäre seien
realitätsuntauglich. Sicher, die Wirklichkeit ist diejenige des Kapitals, der schrecklichen modernen Welt, sie
ist aber auch die natürlich gegebene der materiellen und menschlichen Mitwelt, in welcher Gemeinschaft
auch immer. Auch der Vorwurf an die Revolutionäre, sie seien neidisch, eifersüchtig auf die Habenden,
sauertöpfisch, armselig und unfähig, zu Eigentum zu kommen, zu einer Frau, einer Familie, unfähig zu
arbeiten, an einem Vaterland Anteil zu nehmen, kurz: Versager. Man könnte ebenso kurz sagen: Es sind
Verrückte, die für die Abschaffung der Gesundheit, es sind Hässliche, die für die Abschaffung der Schönheit
sind. Diesen Zug zu erkennen, heisst nicht, das furchtbare Phänomen der Enteignung zu verkennen.
Auch Jacques Camatte geht auf das Thema der Frage nach der Schuld der Revolutionäre ein (in
„Inversion et Dévoilement“, ein Text von 2012 auf der Website revueinvariance), er, der doch jede Schuld
ablehnt oder relativiert. Auf p. 53 spricht er von der revolutionären Arbeiterbewegung, einer Bewegung, die
seiner Ansicht nach mit der italienischen Linken zu Ende ging. Er spricht von „Ungenügen, Inkonsequenz
und Widersprüchen“, deretwegen es sich nicht lohne, zu verurteilen, zu lamentieren oder in Selbsthass zu
verfallen (ein Begriff, der im Zusammenhang mit der Ablehnung von Juden aufgekommen ist, welche den
Judaismus und die Juden kritisieren), da man da selbst mitgemacht hat. Das stimmt durchaus, nur spricht
Camatte weiter unten von „Strömungen, welche die bestehende Ordnung verteidigten und Massaker und
andere Gräuel anrichteten“; wie verhält es sich aber mit den revolutionären Strömungen? Haben sie nicht
auch Massaker und andere Gräuel angerichtet, in Russland insbesondere? Das wird nicht erwähnt. Diese
Bilanz der Dinge ist zumindest etwas schnell gezogen. Auf p. 54 sucht Camatte Entlastungsgründe für die
Revolutionäre, d. h. er gibt stillschweigend doch zu, dass da Gräuel geschehen waren. Diese
Entlastungsgründe laufen auf einen einzigen hinaus: Man dürfe nicht nur die Akte beurteilen, sondern müsse
auch die Absichten berücksichtigen, welche nebenbei geäussert wurden. Die Bolschewiki (etwa das Komitee
zum öffentlichen Wohl) hätten also Gräuel begangen, ebenso wie die Weissen und Faschisten, nur: Sie
wollten das Beste für die Menschen. Das gemahnt unbedingt an das „Es ist zu deinem Besten“ der
Schwarzen Pädagogik, wie sie Alice Miller anprangert, worin ihr Camatte in seiner Ablehnung der
„elterlichen Unterdrückung“ und jeder anderen Repression folgt. Man sollte noch beherzigen, dass die
Bolschewiki sich überdies deutlich aussprachen: Es gab einen Diskurs über proletarische Brüderlichkeit auf
der Welt und das Glück der gesamten Menschheit gleichzeitig neben einem anderen über die Notwendigkeit,
die Ausbeuterklassen, Kulaken, Priester etc. zu vernichten. Vom Anfang seiner politischen Karriere an
machte Lenin aus seinen Zielen kein Hehl: Industrialisierung und Kommunisierung Russlands. Camatte
18
Paranoia tief alles, was ganz russisch war, das bäuerliche Leben und die Religion. Für ihn
war das Obskurantismus; die russische Seele wollte er ausradieren 7. Er und seine
Genossen betrachteten die Bauern als religiöse Trottel, als zurückgebliebene, bornierte
Idioten, welche der Modernisierung und Industrialisierung Russlands im Wege standen 8
spricht, auf p. 62, vom Phylum, dem er sich zugehörig fühlt, dasjenige, „welches jede Zähmung ablehnt“. Er
zählt offenbar die ganze proletarisch-revolutionäre Bewegung dazu. Es gibt also doch Menschen, die
dazuzählen und andere, die das nicht tun (und welche Gräuel vollziehen); überraschend für jemanden, der
die Trennung in Innen und Aussen so strikt ablehnt; hier hat man sie wieder. Und dann stellt sich doch die
Frage: Hätten also die christenverfolgenden Bolschewiki und massakrierenden Kulakenjäger „zum Phylum“
gehört?
7
Interessanterweise hält Adam Smith in seiner „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of
Nations”, 1776, dafür, dass die Bauern intelligenter als die durchschnittlichen Handwerker der Städte sind.
Man liest da:
„Auch ist es rar, dass diese Eigenschaften (Verstand und Klugheit) dem einfachen Pflugbauern
abgehen, sosehr man ihn doch als ein Modell für Dummheit und Einfalt nimmt. In der Tat ist er weniger als
der Handwerker an das Geschäftsleben der Gesellschaft gewohnt; seine Sprache und seine Stimme haben
etwas Gröberes und Anstossenderes an sich für diejenigen, die nicht daran gewohnt sind. Des Bauern
Intelligenz ist aber gewohnt, auf eine Vielzahl von Gegenständen angewandt zu werden, sehr wohl
derjenigen des Handwerkers überlegen, dessen ganze Aufmerksamkeit gewöhnlich von Morgen bis Abend
auf die Verrichtung einiger weniger Handgriffe konzentriert ist. Wer immer eine Zeit lang aus Interesse oder
geschäftlicher Notwendigkeit mit den bäuerlichen Klassen auf dem Lande gelebt hat, wird diese
Überlegenheit bestätigen.“ (Nach der franz. Übersetzung besagten Werkes von 1991, p. 204.)
8
Es ist oft bemerkt worden, wie sehr Lenin die Entwicklung des Kapitalismus in Russland Ende des
19. Jahrhunderts und dessen Einfluss auf die Landschaft in seiner Polemik gegen die Populisten, Verteidiger
der bäuerlichen Welt und der russischen Gemeinde, überschätzt hat (er gab das später selber zu). Man
denke an sein Buch von 1899, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“. Lenin unterstreicht da die
historische Aufgabe des Kapitalismus: Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit,
Kollektivierung derselben. Lenin verteidigte sich gegen die Populisten, welche ihm daher vorwarfen,
Verteidiger des eindringenden Kapitalismus zu sein, da er den so genannten progressiven Charakter des
Kapitalismus anerkenne. Es handelt sich bei dieser Fehleinschätzung des Entwicklungsstandes von
Russland nicht einfach um einen epistemologischen oder theoretischen Fehler; Lenin überzeichnet
absichtlich den kapitalistischen Entwicklungsstand, um eine bäuerlich-populistische Zukunftsaussicht zu
verbauen und nahm gleichzeitig seinen Traum von einer verschwundenen bäuerlichen Lebensweise und
19
9. Die ländliche Welt hatte eine authentische, eigenständige Kultur entwickelt. Der
russische Bauer war Christ, besass das Wissen vom autarken Leben, konnte seine Isba
bauen, seine Kleider weben, seine Erde bebauen und somit alle Bedürfnisse befriedigen,
nicht nur die unmittelbarsten der Ernährung. Diese waren sicher sehr eingeschränkt. Das
alles war dem städtischen Parasitismus der Marxisten vollständig verhasst. Sie verehrten
und verteidigten die verfälschten Bedürfnisse und das zivilisatorische Raffinement,
schwärmten vom nationalen, dann kontinentalen, letztlich weltweiten Markt und
verachteten nichts so sehr wie die Autarkie. Wer ausserhalb des Weltmarktes bleiben will,
wird verdächtigt, antisozial, also konterrevolutionär zu sein. Die progressiven Juden
hassten den Archaismus dieser russischen Zivilisation und füllten deshalb en masse die
Ränge der bolschewistischen Partei10. Sie verstanden sich vor allem als Verfolger der
fortgeschrittenen Industrialisierung für die Wirklichkeit; darauf aufbauend hob sein Programm auf den Aufbau
des Sozialismus ab. Trotzki war ein noch viel schärferer Gegner der Bauernschaft und ihrer Welt als Lenin.
Es mag seine jüdische Herkunft oder /und sein ausgeprägter Okzidentalismus dazu beigetragen haben. So
schreibt er 1909 in seinem „1905“: „Die gesellschaftliche und politische Barbarei Russlands hat ihren Grund
auf dem Lande (. . .) Der Kretinismus der örtlichen Beschränktheit ist ein Fluch, der auf allen
Bauernrevolten lastet.“ Als Ideal schwebt Trotzki (und das gilt auch für Lenin) die amerikanische
Landwirtschaft vor.
9
G. Plechanow, kein Jude, drückte diesen Hass auf
das Russland der Ahnen und diese
Faszination für die Moderne 1892 gut aus: „Die Rolle des Proletariates ist so revolutionär wie diejenige der
Muschiks konservativ ist. Der orientalische Despotismus, der sich auf die Bauernschaft abstützte, ist seit
Jahrhunderten unerschüttert geblieben. Das Proletariat hat in relativ kurzer Zeit die westliche Zivilisation bis
auf den Grund erschüttert. In Russland entwickelt sich das politische Bewusstsein des Proletariates noch
viel schneller als in Europa. Das russische Proletariat wird jeden Tag wie der Held im Märchen stärker und
grösser. In zehn Jahren könnte eintreten, dass man es nicht mehr wieder erkennt.“ (Zitiert von Christine
Fauré, „Terre, terreur, liberté, S. 176 – 177“). Auch Plechanow nahm seine Träume für die Wirklichkeit;
Russland war noch weitgehend bäuerlich-ländlich und das Kapital noch weit davon entfernt, sich fest
eingepflanzt zu haben. Lenin nahm diese Fehleinschätzung auf und verbreitete sie. In der „Gruppe
Befreiung der Arbeit“ (von Lenin zusammen mit Plechanov und Vera Sassulitsch gegründet) gab es jedoch
einen ersten Marxisten, Peter Axelrod, ein Jude, welcher der Bauernschaft gegenüber viel feindlicher als
seine Genossen eingestellt war.
10
Wolkogonow zitiert in „Lenin: Life and Legacy“, 1994 einen Satz von Lenin an Leonid Krassin zur
20
Bauernschaft 11 (Iagoda war ein Jude, Kaganovitsch ebenfalls) und der alten christlichrussischen Zivilisation; es ist deshalb nicht vollständig falsch, wenn die Reaktionäre in der
Elektrifizierung von Russland:
„Die Elektrizität wird Gott ersetzen. Lasst den Bauern um Elektrizität beten, er wird ihre Macht
stärker als diejenige des Himmels spüren.“
Doch hatte Lenin vielleicht nicht ganz falsch; Christentum und Elektrizität sind vielleicht unvereinbar.
11
Alexander Solschenizyn
behandelt in seinem 2002 erschienen Buch „Zwei Jahrhunderte
zusammen, 1795 - 1995“ die Bedeutung der Juden in der russischen revolutionären Bewegung. Er bemerkt,
die Juden seien häufiger bei den Anarchisten, Sozialrevolutionären und Menschewiki als bei den Bolschewiki
anzutreffen gewesen. Er zitiert einen Autor (p. 74) der von „Sanhedrin“ anlässlich einer Versammlung der
bolschewistischen Partei spricht: „so viele Juden waren da versammelt“ (der prozentuale Anteil der Juden
an der bayrischen und ungarischen Revolution war noch viel erheblicher). Schon 1907, am letzten Kongress
der Sozialistischen Arbeiterpartei Russlands war über die Hälfte der Delegierten jüdisch (160 von 305).
Solschenizyn gibt ehrlich zu, dass die Juden nicht die einzigen waren, die vom Hass auf das alte Russland,
seine Geschichte, seine Bauernschaft, seinen Boden und die Orthodoxie beseelt waren. Das traf auf alle
Bolschewiki zu. Und wenn die Rolle der Juden (insbesondere von Sverdlow) in der Ermordung der
Herrscherfamilie unter grausamen Umständen entscheidend war, so wurde der Grossherzog Michel, Bruder
des Zaren, von Russen, nicht Juden umgebracht.
Nach der bolschewistischen Revolution strömten die Juden massenhaft in die Städte und zur
bolschewistischen Partei (auch der Historiker Leonard Schapiro, von Solschenizyn auf p. 88 zitiert, betont
die grosse Bedeutung des jüdischen Zustroms in die Partei). Die Juden nahmen überproportional am neuen
Staat teil und stellten einen Grossteil der Verwaltung, was die Eifersucht der Russen weckte. Die
bolschewistische Partei scheint ihre hervorragende Organisation den Juden zu verdanken, deren Fähigkeiten
zur Abstraktion, Einsicht, zu rationellem Denken, zu Handel und Wirtschaft sie nutzten. Die Juden nahmen
auch in grossem Masse am ideologischen und praktischen Kampf gegen die Orthodoxe Kirche, in der
Verfolgung der Priester und der Zerstörung der Kirchen teil. Im Kampf gegen die Bauernaufstände und zu
ihrer Liquidierung in den Zwanzigerjahren standen sie in vorderster Reihe (Solschenizyn zitiert auf p. 47 die
jüdischen Geschlechtsnamen der Henker der Revolte von Tambow). Die an ihrem Leben nach dem Vorbild
der Ahnen hängenden Bauern verabscheuten die Juden, in denen sie die ausbeuterischen Bolschewiki und
ihre Verfolger sahen, was kein Zerrbild war. Gleichermassen spielten die Juden eine ausschlaggebende
Rolle in der Tscheka, der G. P. U., in der forcierten Kollektivierung und „Entkulakisierung“, im Apparat der
Konzentrationslager, im Volkskommissariat (1936 waren acht Juden unter den Kommissaren) und in der
Roten Armee. Solschenizyn zitiert Serge Bulgakow, offensichtlich beipflichtend: „Man darf nicht alles den
Juden in die Schuhe schieben, darf aber auch nicht ihren Einfluss herunterspielen“ (p. 107). Er berichtet
auch (p. 222) von einer Konferenz von Bucharin (der Text erschien in der Prawda vom 2. Februar 1927),
21
worin er erklärt: „die kleine und mittlere
jüdische Bourgeoisie hat den Platz der einstigen russischen
eingenommen“; er schliesst mit dem Aufruf an die Kommunisten, gegen den Antisemitismus zu kämpfen.
Solschenizyn, der Antony Sutton gelesen hat und ihn auch zitiert, sagt, die den Juden gegenüber freundliche
Politik sei auch ein Mittel der Bolschewiki gewesen, sich die Hilfe der jüdischen US-amerikanischen
Financiers zu sichern. Das war auch während des Zweiten Weltkrieges die politische Praxis, die russischen
Juden, insbesondere etwa Ilya Ehrenburg, wurden dazu benutzt, die Hilfe reicher amerikanischer Juden zu
erhalten und diese dazu zu bringen, auf ihre Regierung im Sinne der Förderung der russischen Sache Druck
auszuüben.
Solschenizyn geht auch länger auf die Juden in Russland ein, welche sich gegen den
Bolschewismus stellten. Er erwähnt einen jüdischen Autor (p. 421), einen gewissen Dan Levine, der meint,
die Verfolgung der Juden (Solschenizyn spricht von Der Katastrophe (ob das Solschenizyns Bezeichnung
für die Shoa ist oder ob die Übersetzer die Initiative ergriffen?) durch die Deutschen sei die Strafe Gottes
dafür, dass sich die Juden an die Spitze der kommunistischen Bewegung gestellt hätten!
Solschenizyn reiht sich im zitierten Buch unter diejenigen, welche den monströsen Ersten Weltkrieg
hatten weiterführen wollen (er, der doch russischer Patriot sein will; wie kann er sich für den Krieg
aussprechen, der zur Vernichtung des alten Russland geführt hat?), er verteidigt auch den Krieg von 1939 –
1945 und akzeptiert diskussionslos alle Mythen der antifaschistischen und antideutschen Propaganda. Er
schreibt, für eine künftige Menschheit hoffe er, sie vermöchte Liebe zur Nation und Liebe zur Menschheit
vereinen.
Igor Rostislavovitch Chafarevitch ist russischer Nationalist, orthodoxer Christ, ein Dissidenter, der
Alexander Solschenizyn nahe steht, und Mathematiker von weltweitem Renommé (Koautor mit Z. I.
Borevitsch der „Theorie der Zahlen“). Er hat ein Buch mit dem Titel „Le Phénomène socialiste“ geschrieben,
auf Russisch 1977 erschienen, worin er die Weltgeschichte des Sozialismus seit Platon und den
griechischen Utopien darstellt. In „Russofobyia“, 1989, geht Chafarevitch auf die Feinde und Gegner
Russlands ein, vor allem auf die modernistischen, revolutionären Literaten, welche die alte ländliche
Lebensweise in Russland hassen und die Bauern verabscheuen (er erinnert an das verächtliche Urteil von
Trotzki über die bäuerlichen Schriftsteller in Russland, in „Literatur und Revolution“; oder die gehässigen
Bemerkungen des deutschen jüdischen Poeten Heinrich Heine zum Christentum). Chafarevitch geht auf die
Reaktion gegen die Moderne ein und schreibt: „Es scheint mir, dass bei uns die geistige Grundlage, worauf
man noch bauen kann, das Dorf ist. Ein Viertel unserer Bevölkerung lebt auf dem Dorf, während die
ländliche Bevölkerung in den USA nur noch 3% ausmacht. Das Dorf verbindet uns mit dem Boden, mit der
Natur, mit dem Kosmos. Es ist eine Quelle der Energie, dank der man noch die Gesundheit des Lebens
bewahren kann, vorausgesetzt, dass die Zerstörung der so genannten „perspektivlosen Dörfer“ aufhört und
das amerikanische Modell einer minimalisierten ländlichen Bevölkerung aufgegeben wird.“
Das scheint aber gerade der Weg zu sein, den Russland heute geht: die äusserste Verstädterung.
Chafarevitch geht ebenfalls auf die Frage der Juden ein (v. a. in Kapitel VIII: „L’influence juive dans la
22
Russie révolutionnaire“) und beschuldigt, ähnlich wie Solschenizyn, die jüdische Gemeinschaft, die
Speerspitze des revolutionären Kampfes gegen die russische Seele gewesen zu sein; sie habe eine zentrale
Rolle in der anti-russischen fortschrittlichen Intelligentsia inne gehabt. Er bringt den jüdischen Messianismus
mit dem proletarischen in Zusammenhang (er betont auch, sich auf Max Webers berühmte Studie
abstützend, die zersetzende Rolle des Calvinismus auf die alte abendländische Kultur des Mittelalters).
Ganz wie Dostojewski greift Chafarevitch die Apologeten der Entwurzelung und des Kosmopolitismus an,
welche die Kontinuität in Russland zu brechen versuchen; die Entwurzelung führt zum Hass auf Russland,
auf die Verleumdung alles Russischen. Chafarevitch erkennt indessen an, dass die Juden in der
Französischen Revolution keine Rolle spielten und dass die ersten russischen Revolutionäre (Bakunin,
Herzen, Tschernyschewky) keine Juden waren (Bakunin hasste sogar die Juden). Die Juden strömten erst
nach der Oktoberrevolution in die Kommunistische Partei; zuvor hatten sie sich den Menschewiki
angeschlossen. Dann aber spielten sie darin eine entscheidende Rolle.
Er geht auf Charles Rappoport ein, einen der wenigen marxistischen Theoretiker in Frankreich nach
dem Ersten Weltkrieg. Dieser schreibt: „Das jüdische Volk ist der Empfänger aller grossen Ideen der Einheit
und einer menschlichen Gesellschaft durch die Geschichte hindurch (. . .) Das Verschwinden des jüdischen
Volkes bedeutete das Ende der Menschheit, die endgültige Verwandlung des Menschen in ein wildes Tier“
(ibidem, p. 210). Rappaport entstammte einer reichen jüdischen baltischen Familie und war einer der
theoretischen Führer des KPF. Er trat aus dieser 1938 aus, entrüstet über den zweiten Moskauer Prozess,
denn er stand Bucharin nahe. Er war Chefredakteur der 1920 gegründeten Revue communiste, Feind
Souvarins in der Partei. Dieser wurde ja dann später gechasst, nachdem er als grosser Reiniger in der
Partei gewirkt hatte. Das war auch Rappaport. Er kritisierte
Souvarins Abrechnung mit Stalin im
gleichnamigen Buch von 1935 und verteidigte diesen, wenn er ihn dann auch Bonnet-Stalin nannte (siehe
„Une vie révolutionnaire, 1883 – 1940. Les mémoires de Charles Rappaport“, 1991), was, von seiner Feder
geschrieben, sicher kein Lob war.
Chafarevitch kommt auf die Feindseligkeit der jüdischen amerikanischen (und nicht nur jüdischen)
Finanz gegenüber dem zaristischen Russland und auf die russische Revolution zu sprechen. Dabei erwähnt
er auch den jüdischen Rassismus (diesen gibt es bei der Mehrzahl der Völker, doch bei keinem anderen
Volk findet man die Idee des Herrenvolkes religiös verankert: die Juden, das auserwählte Volk Jahwes); der
Talmud weist Stellen auf, welche von der Nicht-Menschlichkeit der Nicht-Juden sprechen.
Chafarevitch ist natürlich von der ganzen bezahlten demokratischen Canaille als Faschist und
Antisemit beschimpft worden. Die nationale Akademie der Wissenschaften verlangte von ihm, auszutreten,
was er verweigerte.
Chafarevitch verbindet Religion und Mathematik; auf einer Tagung der Akademie der
Wissenschaften von Göttingen, als ihm ein Preis verliehen wurde, hielt er eine Rede:
„Ein oberflächlicher Blick auf die Mathematik könnte den Eindruck erwecken, es handle sich da um
die Anstrengungen vieler einzelner Gelehrter auf der ganzen Welt über die Epochen hinweg. Doch lässt die
23
innere Logik ihrer Entwicklung viel mehr an das Werk einer einzigen Intelligenz denken, die ihren
systematischen Gedanken entwickelt und dabei die Vielfalt an menschlichen Individuen nur als Mittel
benutzt. Das ähnelt einem Orchester, das eine Symphonie spielt, die jemand komponiert hat (. . .) Die Idee
einer solchen Aktivität der Menschheit, wunderbar verwirrend und mysteriös, ist frappierend, einer Aktivität,
die sich über Jahrtausende fortgesetzt hat; sie kann nicht blosser Zufall sein, sie muss ein Ziel haben. Dies
erkannt habend steht man sofort vor der Frage: Welches ist dieses Ziel? (. . .) Abschliessend möchte ich
hier meine Hoffnung ausdrücken [. . .], dass die Mathematik als ein Modell dienen könnte für die Lösung
des Hauptproblems unserer Zeit: die Aufdeckung eines höchsten religiösen Zieles und die Erkenntnis der
Bedeutung der geistigen Aktivität der Menschheit.“
Wiederholen wir: Die Juden hassten den Zarismus; die Juden, grossenteils arm, flüchteten aus
Russland, richteten sich in den USA ein und importierten diesen Hass auf das alte Russland, was sich
natürlich auch auf die jüdische Finanzoligarchie des Landes übertrug, die deshalb grosszügig die
revolutionären Bewegungen unterstützte und die grössere Finanzierung von Grossbritannien und Frankreich
im Ersten Weltkrieg nur unter der Bedingung zuliess, dass kein Dollar an den Zaren ginge! Dieser Hass der
jüdischen plutokratischen Kreise gegen Russland hat nicht nachgelassen; noch heute verteidigen sie die
russischen Oligarchen, die grossenteils jüdisch sind, gegen Putin, den man im Namen der Demokratie und
Freiheit aller Verbrechen bezichtigt. So wird der grösste all dieser Oligarchen, Mikhail Chodorowski, in
Wirklichkeit ein ganz gewöhnlicher Verbrecher, von der Presse und der linken Intelligentsia als Märtyrer
hingestellt! Und man wirft vor allem Putin vor, ohne es offen zu sagen, dass er sein Land von den Schulden
befreit hat, die das Land belasteten, Schulden, welche das Land eingegangen war, als das Land von Yeltsin
regiert wurde, dem Pro-Liberalen und Pro-Westler, als die grossen internationalen Firmen und Banken aus
dem Westen hofften, das Land bestens auftrennen und plündern zu können (wie auch damals nach der
bolschewistischen Revolution).
Die nationalistische Gruppe Pamiat (was auf Deutsch „Gedächtnis“ heisst), genauer Pamiatanatsionalnoy Patriticheskyi Front) mit ihrem Führer Dmitri Vassilev, entstand in den Achtzigerjahren zur
Verteidigung der Nation und der russischen Seele angesichts der westlich-globalen Offensive. Pamiat
kämpft gegen die Russophobie und gegen den Kosmopolitismus, welche die Gruppe vor allem in der
Freimaurerschaft, im Zionismus, Judaismus, Internationalismus, in der internationalen Finanz etc. ausmacht.
Die Gruppe demonstriert gegen die Massenmedien („Wir wollen keine Tel-Avivision“, war einer ihrer
Slogans), gegen die Pornographie (ein wichtiger Bestandteil der modernen Auflösungsbewegung), gegen
die moderne antispirituelle Kunst, gegen den enthemmten Konsumismus, gegen die Auflösung der
patriarchalen Familie und der christlich-orthodoxen Kirche, gegen die Zerstörung der Natur. Pamiat
widersetzt sich der Rassenvermischung und der Verarmung des russischen Erbes und will die „Reinheit der
Gene und des Blutes der Slawen“. Sie kämpft gegen die Abtreibung, die Atomindustrie und den
Alkoholismus. Pamiat fordert eine Agrarreform: „Die Erde denen, die sie bearbeiten“ und verteidigt die
Bauernschaft. Die Arbeiter sollen an den Profiten der Unternehmen beteiligt sein, der Einfluss der Kirche im
24
russischen Revolution eine jüdische Revolution sahen 12 13 (Martin Buber seinerseits
hatte in der Räterevolution von München eine jüdische Revolution gesehen; nur lobte er
diese gerade deswegen).
öffentlichen Leben soll stärker werden. In einem Brief an die russische Regierung vom Januar 1989 verlangt
Pamiat, dass man gegen die Geschichtsverfälschung zu Ungunsten von Russland einschreite.
Die Mitglieder von Pamiat halten die sogenannten bäuerlich-ländlichen Schriftsteller wie Valentin
Rasputin und Vasili Below hoch in Ehren, diese gehören Pamiat an. Sie berufen sich auf die slawophilen
Denker Kireiewski und Chomiakow, auf Leontiew, Panslawisten wie Danilewski, Dostojewski, Berdjajew,
Solowjew und auch Solschenizyn (dem allerdings gewisse Mitglieder der Gruppe die anti-sowjetische
Haltung als Russophobie vorwerfen). Natürlich sind die Massenmedien auf Pamiat eingeschossen. Dazu
erklärte Pamiat: „Wir erklären unseren totalen Widerstand gegen alle zionistenfreundlichen, antinationalen
und kosmopolitischen Gruppierungen des Landes. Pamiat ist für die Verteidigung des russischen Volkes und
kompromisslose Gegnerin all der genannten Gruppierungen (. . .) Pamiat lehnt kategorisch alle
Anschuldigungen von Seiten der Massenmedien wegen Chauvinismus, imperialistischem Nationalismus und
Antisemitismus ab. Diese Anschuldigungen sind so schwer, dass sie auf den Genozid am russischen Volk
abzielen können.“ („Also sprach Pamiat. Manifeste und Erklärungen der national-patriotischen Front von
Russland“). Pamiat fordert das Ende der künstlichen Assimilation der Völker, welche „Indifferenz bezüglich
der Heimaterde“ und eine „einförmige Masse ohne Wurzeln, ein Konglomerat ohne Geist, Quelle von
Verbrechen, Prostitution, Drogen und Alkoholismus erzeuge“.
In einem Interview aus dem Jahre 1988 (in „Also sprach Pamiat“) erklärt Vassilev, er sei kein
Antisemit, fügt aber hinzu: „Ich sage Ihnen nur eines: der Ideologe der Zerstörung der Monumente unserer
Kultur war Jaroslavski, eigentlich Gubelman von Geschlechtsnamen. Und wer machte diese Zerstörung
wahr? Kaganovitsch, Trozki (sic), Sinowjew, Kamenew: alle jüdischer Herkunft . . .“.
12
Nicht alle Juden waren Feinde der Bauern und Fanatiker der Moderne, so der Franzose Daniel
Halévy, ein interessanter und typischer Fall. D. Halévy stammte aus einer reichen, grossbürgerlichen
Familie. Sein Vater war Jude, seine Mutter Protestantin, er erhielt eine protestantische Erziehung. Er war
Schüler von Proudhon und auch, in geringerem Masse, von Georges Sorel. Anfänglich ganz für den
Sozialismus und die Arbeiterbewegung eintretend wurde er später Traditionalist und nahm den Kampf gegen
die Moderne und die Verheerung von Körper, Seele und Natur auf. In diesem Zusammenhang entdeckte er
seine Sympathie für die bäuerliche Welt. Er schrieb eine „Voyage en Bourbonnais“ 1907, wie auch
verschiedene „Besuche bei Bauern“ (1907, 1910, 1920 und 1934, in einem Buch vereint (. . .). Die
bäuerliche Welt war damals noch lebendig, noch nicht von Zwei Weltkriegen, von der Verstädterung,
Motorisierung, vom Konsum, der Technik, dem Plastik, dem Kredit, dem Fernsehen verwüstet. Halévy
beschreibt darin die Wirtshäuser, Lesezirkel, Arbeiterbibliotheken, Erste Hilfe-Gesellschaften und KonsumGenossenschaften, die er besuchte, alles heute verschwunden, vom Beton und der Kapitalisierung
25
weggefegt. Mit der Zeit entfernte sich Halévy sowohl vom bäuerlichen Genossenschaftswesen, das ihn
anfänglich fasziniert hatte, als auch gänzlich vom Klassenkampf. Er wurde zum schärfsten Gegner des
Kommunismus. Er lobt den Bauernschriftsteller Emile Guillaume, eher linksorientiert, Autor von „La vie d’un
simple“, 1922. Halévy sieht in den Bauern harte Menschen und lobt ihre Bindung an die Erde und die
Pflichten; er sieht in ihnen die wahren Opfer der Geschichte, während die Arbeiter Komplizen der Modernität
waren, von der sie weitgehend profitierten.
1920 bedauert Halévy den Niedergang der bäuerlichen Kultur und das Fortschreiten der Städte mit
ihrem Hunger nach Baugrund. Er klagt wie Jean Giono und Charles-Ferdinand Ramuz die Umwälzungen
an, welche die Erfindungen der Technologie in unserem Leben bewirkt haben: Auto, Flugzeug, alles was er
unter dem Gattungsnamen der industriellen Zauberwelt versammelt. Das Getreide ist nunmehr Produkt der
Agro-Industrie, „doch diese grosse Bodenbebauungstechnologie wird uns nicht die alten Künstler des
Landbaus zurückgeben, welche den Saft und die Kraft des französischen Stammes ausmachten. Die Rasse
ist unersetzlich und der Verlust absolut. (. . .) Das Land ist streng, immer schon haben es die Menschen
gescheut, da sie das Leben auf dem Land fürchten. Die Stadt ist wie der Alkohol, er regt an und schwächt.“
(„Visites aux paysans du Centre“, p. 237).
Er wartet auf ein Ende der Zivilisation ähnlich dem Untergang des römischen Reiches:
Ein oder zwei Kriege noch (sie könnten nahe sein) und dann sind wir vernichtet. Dann kann es
vorteilhaft sein, an einem Waldrand zu wohnen, unweit einer Quelle und bei einem Stall (. . .) Ein kleines
Gehöft im Beaujolais wird mehr wert sein, als ein Perlenhalsband, als ein Haufen von Diamanten. Die
hartnäckigen Bauern haben Recht, wenn sie Land kaufen. Es allein hat keinen Preis, ist nicht zu seinem
Preis zu kaufen.“ (ibidem, p. 238-239).
„Wer wählt die Abkehr vom Zauber der Technik und bleibt im alten Dienst der traditionellen Welt?
Nur diejenigen, welche die Bande des familiären Eigentums an den Boden knüpfen. (. . .) So zerfällt unser
Europa, hier gibt es nahezu 10 Millionen Arbeitslose neben brachliegenden Äckern in England und in
Frankreich. Die Europäer beginnen zu frieren und Hunger zu haben: Wie sollte es auch anders sein? Sollen
sie sich doch wieder Gärten anlegen, Rinderställe bauen!“ (ibidem, p. 275).
Daniel Halévy hat seinen Berichten (ab p. 361) einen langen Ausschnitt der „Südamerikanischen
Meditationen“ von Graf Keyserling angefügt, einem Theoretiker der deutschen konservativen Revolution:
„Sobald eine Rückkehr zum ursprünglichen nomadischen Leben physiologisch und geopolitisch
nicht mehr möglich, verliert der Mensch ohne Verwurzelung in der Erde seine Kraft. Nicht nur das Land
entvölkert sich, wenn das Prinzip ‚la tierra a quien la trabaja’ nicht mehr anerkannt wird: das Blut
degeneriert. Und wenn das Blut degeneriert ist, findet der Geist nicht mehr den mit der Erde
übereinstimmenden Leib.“
26
Halévy schloss sich logischerweise der nationalen Revolution von Marschall Pétain an und kreidete
den Einfluss der Freimaurerschaft an. Er war ein Verächter des Malthusanismus; man müsse, sagte er, das
offene Land wieder besiedeln. Er hat eine „Vie de Frédéric Nietzsche“ verfasst, 1909 herausgekommen, und
eine „Jeunesse de Proudhon“ (1913), sowie eine „Vie de Proudhon“ (1948). Im im gleichen Jahr
herausgekommenen Buch „Essais sur l’accélération de l’histoire“ legt er seine Überlegungen zur Moderne
und das, was er „die Art des Zeitlaufs“ nennt, dar und stellt fest, dass die Moderne einen Bruch des
Gleichgewichts mit der Tradition auferlegt; ein Übermass an Macht ist dem Menschen zugefallen, dem kein
Fortschritt der „inneren Disziplin“ steuernd entspricht. Am Ende des Buches verfasst er eine Hommage an
Leibniz, dessen Ideen zur Organisation der Erde er vorstellt. Durch die Beschleunigung der Geschichte im
18. Jahrhundert sei es mit diesen Ideen schief gelaufen (vergleichbar mit den Ideen des Christentums, von
denen Chesterton sagt, die Welt sei voll von ihnen, nur seien sie verrückt geworden). Man versteht so,
warum Leibniz das 18. Jahrhundert nicht schätzt. Leibniz hatte eine gewaltige Enzyklopädie vorgesehen,
eine Summa eines neuen Wissens, „vergleichbar den Enzyklopädien der Antike und des Mittelalters, wie
diese dazu bestimmt, das Gemeinwohl der Menschen im Rahmen der gegebenen Institutionen und
Überzeugungen zu fördern“. An Stelle davon kam dann die „Encyclopédie“ von Diderot heraus, das Arsenal
der verheerenden und bilderstürmenden Revolution. Halévy singt das Lob der Weltreiche Frankreichs und
Englands, die zur Zeit der Verfassung des Buches unter dem Angriff der USA daran waren, zu zerfallen.
Diese beiden Reiche, schreibt er, seien ganz leibnizschen Geistes gewesen, der grosse Deutsche hatte sie
aufkommen sehen und geliebt.
13
Dr. Lucien ist ein katholischer Konservativer, vielleicht ein Maurassien, erklärter Feind sowohl der
Juden, als auch der Bolschewiki – kein Grund, sein sehr interessantes Zeugnis „La République Juive des
Soviets. Deux années en Russie (1919-1921)“ zur Seite zu legen. Er blieb in Sowjetrussland bei Denikin
bis 1921, bis zu dessen endgültiger Niederlage. Juvin behauptet, sein Zeugnis sei wahr, im Gegensatz zu
demjenigen von Cachin, Froissard und anderen progressiven liberalen Besuchern des Vaterlandes des
Sozialismus oder doch wenigstens der Revolution. Er schreibt: Auf die Gefahr hin, als lächerlich zu gelten,
gebe es für ihn noch wahr und falsch (er greift dabei den Relativismus eines Anatole France an, der mit
dem Sozialismus, später mit dem Kommunismus sympathisierte. Er bezeichnet ihn als „Demolierer“ – was
heute, positiv, „Dekonstruktivist“ heisst). Er klagt das Vorgehen der neuen Herren von Russland wie auch
die legale Diktatur an, die auf dem Terror beruht und Diebstahl, Plünderung, Konfiskation, Mord und Folter
für rechtmässige Mittel erklärt, wenn sie nur gegen den Klassenfeind gerichtet sind. Für Juvin war der Russe
mit seinem mystischen und irrenden Charakter prädestiniert, den Bolschewismus anzunehmen und im
Wahnsinn dieser Oktoberrevolution zu versinken (dasselbe sagt auch Berdjajew in seinem Buch von 1937
„Les sources et le sens du communisme russe“; er macht dafür das Fehlen der katholischen Religion und
Moral verantwortlich).
27
Juvin spricht auch von der enormen Verbreitung von Rauschmitteln in Russland: Opium, Morphium
und vor allem Kokain, die zentnerweise von englischen, amerikanischen und italienischen Händlern ins Land
importiert wurden, wie er behauptet. Viele der bolschewistischen Henker waren Konsumenten von Kokain,
was auch Nicolas Werth bestätigt. Juvin hat mit eigenen Augen Hungersnöte auf dem Lande infolge der
wahnsinnigen Zwangsrequisitionen gesehen. Das war der berühmte „Kriegskommunismus“, den auch
Bordiga akzeptierte, wenn er in ihm auch nur eine Notstandsmassnahme und nicht den wirklichen
Kommunismus sah. Juvin spricht von jüdischen Spekulanten aus Konstantinopel, welche von der
Hungersnot profitierten (es ist nicht sicher, dass das alles Juden waren!). Für ihn waren die grünen
Bauernverbände nichts als Räuber.
Auch Juvin spricht von der Allgegenwart der Juden in der bolschewistischen Partei (Sinowjew,
Radek, Trotzki, Lunatscharski, Rakowski etc.), was nicht abzustreiten ist, und auch von internationaler
Jüderei. Sein Urteil auch über Denikin ist interessant, es ist recht reserviert, hingegen lobt er General
Wrangel, der leider zu spät Denikin an der Spitze der Weissen ersetzte. Nach ihm besass Denikin nicht das
Zeug zum wirklichen Chef und sein Hauptfehler sei gewesen, dass er, um den Grossgrundbesitzern zu
gefallen, die Agrarfrage nicht lösen wollte, was ihm die Feindschaft der Bauern eintrug, die eben zu einem
Stück Land gekommen waren. Wrangel dagegen zog sich die Feindschaft vieler seiner Generäle zu, die
vielfach zu beträchtlichen Vermögen gekommen waren, da er die Weisse Armee moralisieren wollte; er
kämpfte gegen die Korruption in den Rängen der Armee und gegen gewisse Kriegspraktiken wie Plünderung
und Aneignung von Beute. Wrangel wollte die Landwirtschaft fördern und setzte deshalb eine Landreform in
Gang, deren Prinzip war: „die Erde soll der grösstmöglichen Zahl von Personen, kleinen Eigentümern
gehören, welche das Land selbständig nutzen können“ (ibidem p. 67). Juvin bezeugt die grosse Feindschaft
von Grossbritannien unter Lloyd George gegenüber Wrangel (während die französische Regierung ihn
anerkannt hatte). Es wäre anzufügen, dass die Haltung der USA unter Wilson nicht anders war. Wrangel
rettete Polen vor einer sowjetischen Invasion, indem er die Rote Armee zwang, zahlreiche Divisionen gegen
ihn zu mobilisieren, Kräfte, die an der russisch-polnischen Front nicht eingesetzt werden konnten.
Juvin spricht von der Hilfe der internationalen Finanz (insbesondere der jüdischen, aber keineswegs
nur) an die bolschewistische Revolution. Alle Financiers und Kapitalisten träumten davon, Russland zu
zerreissen und zu plündern.
„Die Universelle Republik, von der die Vereinigten Nationen ein ködernder Anfang waren, also das
Reich der Plutokratie, des anonymen Goldes in den Händen der reichen Juden, schliesslich das berühmte
“Reich Israels“, begann als fühlbare Wirklichkeit zu erscheinen. Die russischen jüdischen Bolschewiki
wurden nicht wie die französischen Revolutionäre von 1789 von allen Seiten überfallen, sondern stiessen
von Seiten mächtiger fremder Freunde auf Hilfe und Schutz (. . .) Sollte dieser Krieg nicht vor allem, wie
gewisse unserer Staatschefs proklamiert hatten, das Ende der Throne und der Sieg der Demokratie
werden? Die Explosion eines deliranten Enthusiasmus der grossen Weltpresse [die Presse ist immer
revolutionär, Anmerkung des Verfassers], als Kerenski an die Macht kam, erklärt sich nur aus diesem
28
Für Marx, Lenin und die Marxisten war der Bauer also ein Reaktionär, Feind des
Fortschrittes, ein Barbar im Schosse der industriellen Zivilisation, welche sie, die
Marxisten, Atheisten und Progressiven, so sehr liebten14. Die Bücher von Nicolas Werth
Prinzip (. . .) Trotzki, Radek etc. und hinter ihnen ihre Rassenbrüder, Rothschild (sic), Sassoon und andere
sehen zu diesem Zeitpunkt die Herrschaft über die Welt in Reichweite. Es stehen ihnen nur zwei Feinde im
Wege: das Christentum und der integrale Nationalismus, gegen die sie seit Jahrhunderten einen
erbarmungslosen Krieg führen (. . .) Und das internationale Judentum erlässt in der Folge in den
einflussreichen Milieus die entsprechende Devise: Anerkennung der Sowjets.“ (ibidem, p.153, 163, 166).
Lucien Rabatet nahm in einem Artikel vom 15. April 1938 von „Je suis partout“ (in „Je suis Partout,
anthologie 1932-1944“, 2012, p. 149-157) das Thema der russischen jüdischen Revolutionäre wieder auf
(„Les Juifs dans la Révolution“). Er spricht von „jüdischer Revolution“, was natürlich stark übertrieben ist. Er
macht eine Liste aller Juden im Politbüro, im Volkskommissariat, im G. P. U. und kommt zum Schluss: „Alle
diese Juden, deren Namen mehrere Zeitungen füllten, haben in Russland die kommunistische Revolution
gemacht. Sie haben ihr zum Sieg verholfen. Die Erschiessungen von Stalin haben ihre Ränge gelichtet. Die
erwähnte Liste wäre heute eine Liste von Toten.“ Doch haben die Erschiessungen von Stalin nicht alle
jüdischen Revolutionäre beseitigt, weit davon entfernt.
Die Anthologie von Philippe d’Hughes ist wertvoll, denn sie schliesst eine Lücke, welche das Buch
von Pierre-Marie Dioudonnat, „Je suis partout, 1930 – 1944“ offen liess, welches nur eine Nachzeichnung
der Geschichte der Zeitschrift ist. In dieser Zeitschrift schrieben sehr verschiedene Personen: Rabatet war
National-Sozialist und verabscheute Charles Maurras. Er stand Marcel Déat und seinem R.N.R. nahe,
Brasillach war Anhänger von Marschall Pétain und wies die Anschuldigung des Rassismus zurück. PierreAntoine Cousteau dagegen war eher Jacques Doriot und seinem P.P.F. zugeneigt.
14
Yuri Slezkine zitiert in „The Jewish century“, bzw. „Le siècle juif“, p. 203, einen von Gorki (einem
Philosemiten) an seinen Freund Sholem Asch 1922, am Ende des Bürgerkrieges, geschriebenen Brief. Er
bestätigt, dass die bolschewistischen Juden gegen die russische bäuerliche Welt, ihren Glauben und ihre
heiligen Plätze kämpfen, ebenso, dass es einen populären Antisemitismus gibt. Gorki schreibt:
„Der Grund für den Antisemitismus, der gegenwärtig in Russland wütet, ist der Mangel an Takt von
Seiten der jüdischen Bolschewiki. Viele unverantwortliche (sicher nicht alle) jüdischen Bolschewiken nehmen
an der Profanierung von dem russischen Volk heiligen Plätzen teil. So haben sie Kirchen in Kinos und
Bibliotheken umfunktioniert, ohne sich um die Gefühle des Volkes zu scheren. Die Bolschewiki hätten das
russischen Bolschewiki überlassen sollen. Der russische Bauer ist schlau und stumm. Äusserlich erscheint
er wie ein Lamm, doch hinter seinem folgsamen Lächeln nährt er einen tiefen Hass gegen den Juden, der
gewagt hat, seine heiligen Orte zu entheiligen.“
Slezkine erinnert, wie viel Verachtung Gorki, Lenin und die Bolschewiki insgesamt für den
russischen Bauern hegten, der „Gefangener seines Misthaufens sei“. (p. 80)
29
haben viel zur Kenntnis dieses erbarmungslosen Krieges gegen die Bauernschaft
beigetragen, eine Fortsetzung des Ausrottungskrieges, den die Französische Revolution
gegen die französische Bauernschaft (insbesondere in der Normandie, Bretagne und
Vendée) führte. Es war kein Zufall, dass die Bolschewiki von ‚Vendée’ sprachen und
damit den Aufstand in Kronstadt meinten, und dass Lenin wiederholt darauf bestand, ein
wahrer Bolschewiki müsse ein Jakobiner sein15. Lenin und die Bolschewiki betrachteten
sich als die Modernisierer von Russland, als kollektiven Peter den Grossen; sie wussten,
dass sie gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu kämpfen hatten, die ihrer Bewegung der
Modernisierung der Gesellschaft gegenüber feindlich eingestellt war. Diese Feindschaft
verstärkte sich noch durch die beträchtliche, auf sie ausgeübte Unterdrückung. Erst mit
dem Zweiten Weltkrieg gelang es, die russische Gesellschaft endgültig zu brechen und sie
die schreckliche Modernität und die Liquidation der Vergangenheit annehmen zu lassen.
Die Opposition der Bolschewiki gegenüber der Bauernschaft war nicht nur politischideologisch, sondern hatte auch eine konkrete Dimension; es bestand keine Möglichkeit,
ein modernes Russland, also eine Industrienation, ohne eine Agrarrevolution aufzubauen
(was von Bordiga mehrfach betont wurde). Das bedeutete: Übergang zu einer
Landwirtschaft à l’américaine; davon träumte Lenin.
Wir interessieren uns hier ganz speziell für ein besonderes Kapitel im von einem
Kollektiv verfassten Buch „Schwarzbuch Kommunismus. Verbrechen, Terror,
Unterdrückung“16. Es trägt den Titel 17 “Ein Staat gegen sein Volk. Gewalttaten,
15
Marx und Engels sprechen im „Kommunistischen Manifest“ von der „Verblödung des Lebens auf
dem Lande“ – und nicht von Entmenschlichung des Proletariates (wie noch in der „Heiligen Familie“).
16
Die proletarischen Revolutionäre haben (mit mehr oder weniger Überzeugung) den schrecklichen
Krieg gegen die Vendée verteidigt, denn es ging darum, die von ihrem Wesen her reaktionären Bauern
auszurotten, um der Republik, der Ära des allgemeinen Glücks (eine neue Idee in Europa, sagte Saint-Juste
. . . auch für die Bauern der Vendée und der Bretagne?), zum Sieg zu verhelfen. Die Revolutionäre,
worunter auch der bordigistische P.C.I., haben auch anderen Horror, andere Massakrierer verteidigt, zum
Beispiel die mutigen Halsabschneider und Bombenleger des F.L.N. in Algerien, welche die Medien dieses
Jahr (50. Jahrestag des Abkommens von Evian) feiern, ohne abweichenden Stimmen Gehör zu geben
(während man die Meinungsgleichschaltung in Nordkorea und in China tadelt!). Nicht zu sprechen von den
30
Massakern des F.L.N. , die dieser nicht zuletzt nach dem Abkommen verübte! So wurden mehr als hundert
Franzosen am 5. Juli 1962 von Kräften dieser Befreiungsfront exekutiert, ohne dass die französische Armee
eingegriffen hätte. Diese hatte übrigens schon auf ihre unbewaffneten Mitbürger geschossen, welche für ein
französisches Algerien eintraten; dies am 26. März 1962, an der rue d’Isly in Algier. Damit erneuerte sie die
Tradition der von der Republik verübten Massaker; man denke an Fourmies am 1. Mai 1891. Das Massaker
an der rue d’Isly galt den Pied-noirs und Algeriern, die ein französisches Algerien wollten. Ähnlich
beweihräuchert man die Killer der stalinistisch-antifaschistischen Résistance in ganz Europa (betreffs der
Killer der weissen Afrikaans, Farmer, in Südafrika und Mozambique sind die Medien reservierter). Die
Medien sprechen heute nur von den Attentaten der O.A.S., nicht von den Terroraktionen des F. L. N (an
Alten, Frauen, Kindern), auch nicht, dass dieser dem Terror der O.A.S lange vorausging. Wenn man dies
ausspricht, heisst das nicht, dass man die Politik Frankreichs in den drei Departementen Algeriens verteidigt
(was sollten die Franzosen in Algerien machen? Wenn die Eroberung dessen, was Frankreich werden
sollte, die Tat von Karl X. war, der so die Barbaren unterwarf, dann war die Kolonisierung Algeriens die Tat
der Französischen Republik mit ihren freimaurerischen, humanistischen, fortschrittlichen Idealen. Algerien ist
übrigens als unabhängiger Staat eine Schöpfung Frankreichs (das ist keine Kritik, nur eine Konstatierung),
im Gegensatz zu Marokko, einer Nation, welche eine quasi Jahrtausende alte Geschichte mit berühmten
Dynastien kennt: die Almoraviden, Almohaden, Saadier etc. bis zu den Alauiten seit dem 17. Jahrhundert.
Der Fall des italienischen antifaschistischen Widerstandes ist typisch. Darin hatten die Kommunisten
im Solde Moskaus quasi alle Kommandoposten inne (des C.N.I., Comitato Nazionale di Resistenza). 70%
des italienischen Widerstandes war direkt oder indirekt in der Hand des P.C.I. [Nicht zu verwechseln mit
dem Partito comunista internazionale unter A. Bordiga; Anmerkung des Verfassers]. Italien erlebte nach der
bedingungslosen Kapitulation unter Marschall Badoglio am 8. September 1943 den Ausbruch eines
regelrechten Bürgerkriegs und den Übergang zu den angelsächsischen Alliierten, während die Faschisten
sich in den Norden zurückzogen und die Republica Sociale Italiana (die Republik von Salò) gründeten und
sich dabei radikalisierten, d. h. zum Ursprungsfaschismus zurückkehrten, zu demjenigen von 1919, der
antibürgerlich, antiklerikal und antimonarchistisch gewesen war. Die kommunistischen Partisanen (es
schaudert einen, diese Leute: Togliatti, Luigi Longo und Pietro Secchia, Kommunisten zu nennen, doch
nannten sie sich so und nicht ganz zu Unrecht), die Brigaden Garibaldi in der Macchia und die G. A. P.
(Gruppo d’Azione Patriota; Terroristen in der Stadt, die aber auch vom P.C.I. abhängig waren) verwilderten
und verübten Grausamkeiten an Zivilisten (an ihren politischen Gegnern: Katholiken, Trotzkisten,
Sozialisten, Monarchisten). Viele der roten Partisanen hatten im Spanischen Bürgerkrieg Waffenerfahrungen
gemacht und erste kriminelle Taten im Schosse der Internationalen Brigaden begangen, eine dunkle
Geschichte. Die deutschen Truppen begingen ebenfalls Morde, doch handelte es sich dabei, auf jeden Fall
in Frankreich und in Italien, um Antworten auf die Widerstandsaktionen. Diese waren häufig sehr feige: Man
tötete Soldaten oder Offiziere der Deutschen, oftmals schoss man ihnen in den Rücken. Man denke etwa an
die Repressalien der Deutschen Wehrmacht, die Erschiessung von 330 Zivilisten in den Ardeatischen
31
Gräben. Diese Aktion gegen die italienische Zivilbevölkerung erfolgte nach dem, militärisch gesehen,
vollständig unnützen Attentat des G. A. P. gegen das deutsche Polizeiregiment Bozen an der Rua Rasella in
Rom (das zwar von der SS abhing, aber kein Massaker verübt hatte) im März 1944. Bis anhin hatte die
Deutsche Wehrmacht sich nie zu Massenerschiessungen an Zivilisten heruntergelassen). Offenbar ging es
dem Widerstand einfach darum, Akte zu begehen, welche Repressalien provozieren mussten, wonach man
dann von faschistischer Barbarei schreien konnte.
Giampaolo Pansa ist ein italienischer rechter, antifaschistischer Schriftsteller. Er vertuscht die von
Deutschen begangenen Grausamkeiten nicht, bemerkt aber, dass man nie von den Grausamkeiten von
Seiten der Partisanen und nie von den Bombardierungen italienischer Städte durch die demokratische
angelsächsische Flugwaffe spricht. Diese haben mehr Italienern das Leben gekostet als Deutschen. Ja, die
Amerikaner scheuten sich nicht, auf italienische Städte Napalm zu werfen (80 bis 100 000 Tote gab es so
unter diesen Freiheits-Bomben), was anscheinend der deutschen Zivilbevölkerung erspart blieb. Man lese z.
B. von Andrea Villa „Guerra aerea sull’Italia (1943-1945), oder „Bombardate l’Italia. Storia della guerra di
distruzione aerea 1940-1945“, Bücher, welche „Quand les Alliés bombardaient la France“ von Eddy
Florentin und „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945“ von Jörg Friedrich ergänzen. Von
Bomberraids allgemein sprechen „A torch to the Enemy. The Fire Raid on Tokyo“ von Martin Caidin, „The
Night Hamburg Died“ vom selben Autor, und „Comando Bombardieri. Operazione Europa”, von Giorgio
Bonacina. Das hindert die Linken (bis zu den Ultra-Linken) nicht, die verwerfliche Rede vom Horror des
National-Sozialismus und Antisemitismus aufzunehmen. Giampaolo Pansa ist ein überzeugter Liberaler,
aber Gegner des Kommunismus. Er hat mehrer Bücher über den italienischen Bürgerkrieg geschrieben, die
wertvoll sind: „Il sangue dei vinti“, „I gendarmi della memoria“, „La grande bugia“, „Il revisionista“ und „I vinti
non dimenticano“. Die roten Partisanen wollten alle ihre politischen Gegner eliminieren, um ihre Macht zu
installieren, wie sie das in Jugoslawien nach dem Rückzug der deutschen Truppen machten und wie sie das
auch in Griechenland im Bürgerkrieg nach dem Weltkrieg machen wollten. Dabei liessen sie kein Mittel aus.
Es ging aber nicht nur um die Beseitigung der Gegner (Faschisten oder mutmasslich solche, Katholiken,
Sozialisten, Bordigisten), sondern auch um Mord um des Mordes willen, um Schrecken zu verbreiten (es
genügte, jemanden als Faschisten zu verschreien, um seine Ermordung zu rechtfertigen. Man schreckte
auch vor Folter und schlimmsten Gewalttaten gegen ihn nicht zurück). Pansa widmet ein Kapitel seines
Buches dem Los der Frauen, die in die Hände der Kriminellen und Folterknechte des Widerstandes fielen
(nicht wenige unter ihnen). Faschistinnen oder aus faschistischem Haus, oder nicht den heroischen
Verteidigern der proletarischen Demokratie Willige wurden systematisch vergewaltigt und oftmals danach
ermordet.
Die italienische Zivilbevölkerung musste die erbarmungslosen Vergeltungsschläge der Deutschen,
die Roten Partisanen (deren Ziel gerade solche Vergeltungsmassnahmen waren) und die angelsächsischen
Bombardierungen hinnehmen. Und dazu kamen dann die französischen marokkanischen Truppen! Ihre
Grausamkeit war unerhört. Sie plünderten und vergewaltigten unterschiedslos alles, jung und alt, weiblich
32
oder männlich. Ein Kapitel des Buches von Pansa ist diesen Truppen gewidmet. Ohne die Präsenz von
Amerikanern, Briten und Franzosen hätten sie Italien in einem Blutbad ertränkt. In der Gegend von Triest
und Rijeka verübten auch die titoistischen Partisanen, Alliierte der italienischen Partisanen über den
O.Z.N.A., die Geheimorganisation der jugoslawischen Befreiungsarmee, Massaker. Nach dem 25. April
1945 fand in Europa, v. a. aber im Norden Italiens, eine eigentliche Hexenjagd auf die Faschisten statt. Pius
XII. spielt auf diese in seiner Weihnachtsansprache von 1949 an und beklagt sie.
Es ist unnötig zu sagen, dass die Bücher von G. Pansa eine gewisse Feindseligkeit in ein Land
getragen haben, wo der Mythos des Widerstandes noch unerschüttert ist und von der Linken stark gepflegt
wird. Man denke an die Brigate Rosse, welche an diesen Mythos anknüpften und sich als seine Erben
verstanden. Italien bleibt ein Land, wo die Infragestellung des antifaschistischen Mythos hysterische
Reaktionen auslöst.
In Frankreich traten die Kommunisten des P.C.F nach dem Bruch des deutsch-russischen Paktes in
den Widerstand und widmeten sich ebenfalls, wie ihre Genossen in Italien, Griechenland und Jugoslawien,
mit Hilfe und Beifall der gaullistischen Résistance, schrecklichen Untaten: Ermordungen (mitunter nach
Schein-Gerichten), Folterungen (Augen herausreissen, Zungen und Ohren abschneiden, Glieder
ausreissen). Dies vor allem gegen Milizen und ihre Familien (zu den Milizen: siehe das Buch von JeanClaude Valla „La milice, Lyon, 1943-1944“). Die kommunistische Résistance übte jedoch auch Terror gegen
ihre politischen Feinde aus: Anarchisten, Trotzkisten, Katholiken, Sozialisten etc.). Bezüglich der Ermordung
von Anarchisten durch Stalinisten siehe „Les dossiers noirs d’une certaine Résistance. Trajectoires du
fascisme rouge“, 1984.
Die italienische Linke nahm nach 1969 die antifaschistische Tradition des stalinistischen
Widerstandes gegen die Neofaschisten, den M.S.I., eine legale Partei, auf. 1960 hatte ein Kongress der
Neofaschisten in Genua die hysterische Reaktion aller Linken hervorgerufen, die von der „Beleidigung der
Ideale des Widerstandes“ sprachen. Dieselbe Jagd auf die Faschisten (Neofaschisten, genauer gesagt) gab
es 1977 in Rom. Wie in „La fiamma e la celtica. Sessant’anni die neofascismo da Salò ai centri sociali di
destra“ Nicola Rao zeigt, war die gesamte Presse in den Siebzigerjahren antifaschistisch und behandelte die
Neofaschisten als Angreifer, blutrünstige Monster und ihre linksradikalen Gegner als fortschrittliche
Unschuldslämmer. Das war aber keineswegs der Fall. Wie ein Slogan auf Demonstrationen es ausdrückt:
„Einen Faschisten zu töten ist kein Verbrechen“. Damit war nahezu die ganze italienische Intelligentsia
einverstanden, ja noch mehr: am 17. April 1973 griff eine bewaffnete Gruppe des Potere Operaio das Büro
des Sektionssekretärs des M.S.I. in Rom, Mario Mattei, an und legte Feuer, wodurch zwei Söhne von ihm,
Stefano und Virgilio, grauenhaft umkamen. Der Fall steht nicht allein da, auch andere neofaschistische
Militante wurden von Militanten der extremen ausserparlamentarischen Linken aus dem Milieu von
Autonomia operaia ermordet. Das hindert Rao nicht, auch Morde, welche die Neofaschisten begingen,
aufzuzählen.
33
Gianpaolo Mattei hat die Geschichte seiner beiden verbrannten Brüder geschrieben („La notte
brucia ancora“). Was er erzählt, ist erschreckend, das Schlimmste ist jedoch, dass die Führer von Potere
operaio alles über den wirklichen Tathergang, also das Verbrechen, und von den Tätern wussten und üble
Verleumdungen über die Familie der Opfer verbreiteten. Sie zögerten auch nicht, diese einzuschüchtern. Sie
behaupteten, es handle sich nur um eine Abrechnung innerhalb der neofaschistischen Bewegung selbst. Die
drei Mörder leugneten gegen jede Evidenz frech ihre Schuld. Sie fanden Sympathie und Unterstützung in
der ganzen linken Bandbreite (die Führer und Wortführer von Lotta continua zeigten sich in ihrer ganzen
Niedertracht) und in der ganzen italienischen Intelligentsia (die damals ganz links stand). Diese denunzierte
die faschistische Provokation gegen die revolutionäre Bewegung, als sie keine Entschuldigungen für das
schreckliche Verbrechen ihrer drei Helden und proletarischen Martyrer, Achille Lollo, Marino Clavo und
Manlio Clavo, fand, war doch „einen Faschisten zu töten kein Verbrechen“. Man half ihnen, aus Italien zu
kommen und sich zu verstecken. Jedermann erklärte seine Solidarität mit den Killern und denunzierte die
Hartnäckigkeit der Bourgeoisie. Schliesslich wurde 1975 die Anklage gegen die drei Mörder und ihre
Komplizen mangels Beweisen fallengelassen.
Sergio Ramelli, junger faschistischer Militanter, wurde grausam mit Rollgabelschlüssel am 13. März
1975 von Linksextremen, Medizinstudenten, Söhnen der Mailänder Bourgeoisie, Militanten von Avanguardia
operaia erschlagen. G. Giraudo, A. Arbizzoini, G. Buttini, F. Grillo und P. Severgnini erzählen von diesem
Ereignis und seinen Folgen in „Sergio Ramelli. Una storia chi fa ancora paura“. Was war seine Schuld? Er
hatte sich immer ganz deutlich gegen den linken Terrorismus ausgesprochen, der an seiner Schule (und
andern, wie auch an der Universität) grassierte; er war Faschist, wurde aber nie tätlich und war sicher kein
Skinhead. Er trug die Haare lang und lehnte die Gewalt ab. Das ertrugen fünf proletarische Militante nicht
(voller revolutionärer marxistischer Theorie und vielleicht auch vom Cannabis verblödet); sie waren
hysterische Antifaschisten und lockten ihn in einen Hinterhalt und schlugen ihm auf offener Strasse den
Schädel ein. Auch in diesem Falle eilten die Linken zu Hilfe und leugneten jede Schuld der Mörder; als
Revolutionäre konnten sie ja gar nicht schuldig sein, wie ja auch ein Schwarzer oder Araber nicht Rassist
sein kann, nein: sie waren selbst Opfer eines vom kapitalistischen Staat angezettelten Komplottes, um die
proletarische revolutionäre Bewegung zu treffen. Und auch hier zeichnete sich Lotta continua besonders
aus. Die revolutionäre Lehre rechtfertigte im voraus die „revolutionäre Gewalt“, die sich auf einen militanten
Antifaschismus beschränkte. Adriano Soffri, Führer von Lotta continua, verteidigte die Mörder („was sie
getan haben, hätte auch ich tun können, direkt oder indirekt“) (o.c., p. 109). Er griff die Absicht an, die
revolutionäre Bewegung zu diskreditieren und zu kriminalisieren. Derselbe Soffri stellte sich auch als
unschuldiges Opfer dar, als er wegen Tötung des Kommissärs Calabresi verhaftet wurde! Die Autoren des
Buches streiten nicht die neofaschistische Gewalt ab, sie bemerken nur, dass 1. die von den Linken
begangenen Morde viel zahlreicher als die von ihren Gegnern auf der extremen Rechten begangenen
waren, und dass 2. die Justiz in den beiden Fällen sich ganz anders verhielt: exzessiv unbarmherzig
gegenüber den neofaschistischen Militanten, viel zögerlicher, langsamer und nachsichtiger gegenüber den
34
Linken. Sie liessen ihnen Zeit, aus Italien zu fliehen, wenn sie sie nicht gerade zu dazu einluden. Die
Ermittlungen endeten in den letzten Fällen häufig mit Prozessaufgabe oder Freispruch.
Man findet dasselbe Spiel im Falle von Cesare Battista (siehe Giuseppe Cruciani „Gli amici del
terrorista. Chi protegge Cesare Battista?“. Battista hatte schon mehrere gewöhnliche Delikte begangen, als
er sich der Gruppe proletari armati per il Communismo (P.A.C.) anschloss. Man könnte über diesen simplen
Namen lachen, gäbe es da nicht tragische Ereignisse. Battista wurde wegen vierer Morde angeklagt,
insbesondere der Ermordung, gemeinsam mit Genossen seiner Gruppe, zweier Kaufleute, deren Verbrechen
darin bestand, sich gegen die Einbrecher gewehrt zu haben, die bei ihnen eingedrungen waren. Diese
beiden Kaufleute wurden von den P.A.C. in Flugblättern als „Schweine“, „Volksfeinde“, „Repräsentanten des
Kapitals“ und „Agenten der Konterrevolution“ denunziert. Alle Leute der Linken mobilisierten sich (worunter
auch der Philosoph Giorgio Agamben und Nanni Balestrini) und machten sich an die Arbeit, wobei sie nicht
vor
groben
Lügen
zurückschreckten,
um
diesen
Battista
als
Opfer
des
Kapitalismus,
eines
konterrevolutionären Komplotts und gleichzeitig als Helden des Proletariates darzustellen. Dieses Mal
erreichte die Welle der linken Antirepression auch Frankreich, wo die Linksintellektuellen (worunter auch
Serge Quadruppani) und die grosse Abendzeitung [Libération, Anmerkung des Übersetzers] vor diesem
grossen Helden in Ohnmacht fielen, der in der Zwischenzeit noch zum gefeierten Kriminalschriftsteller
geworden war. Italien wurde den Franzosen als ein faschistisches Land vorgestellt, wo die Gerichtsbarkeit
kurzen Prozess macht, die Angeklagten grausam gefoltert wurden etc. Für alle Linksintellektuellen stehen
die marxistischen Revolutionäre über den Gesetzen, diese gehen sie nichts an, denn „die Taten der Reinen
sind immer rein“. Sie gaben natürlich zu, dass Battista und seine Freunde mitunter Fehler begingen, doch
war ihr Motiv rein, nur dass sie von der kapitalistischen Gesellschaft denaturiert und fehlgeleitet wurden.
Diese war also allein schuldig. Und was zählen die Leben zweier kleiner Kaufleute angesichts der
grandiosen Perspektive der proletarischen Weltrevolution? Von allen linken Mördern zeigte keiner, soweit wir
das wissen, die geringste Reue und Mitleid für ihre Opfer und deren Familien.
Die italienischen Linksextremen wiederholten in ihrem Kampf gegen den Faschismus (was auch
immer unter diesem Namen lief) den grossen antifaschistischen vaterländischen Krieg des Genossen Stalin
(ohne den Patriotismus natürlich). In einem Artikel vom 22. September 1985, in „Sergio Ramelli“, p. 114115 abgedruckt, kreidet Diego Gabutti (. . . .) die Heuchelei der Linken um Lotta continua, Avanguardia
operaia und Democrazia Proletaria an, z. B. ihren exzessiv gewalttätigen Ordnungsdienst, der ungestraft
Faschisten zusammenschlug. Er schreibt: „Wenn der Terrorismus in der Folge grosse Verteidigung fand,
dann liegt der Grund dafür in der Tatsache, dass Papa und Mama, permissiv und links, auf die Redaktionen
der Zeitungen liefen und sich stolz darüber zeigten, einen Robin Hood oder eine Lady Marian als Kinder zu
haben. Den Ordnungsdiensten war alles erlaubt.“ Er vergleicht die linksextremen Autonomen und Operaisten
mit den Dämonen des Buches gleichen Namens von Dostojewski, doch wussten jene im Gegensatz zu den
heutigen Linken noch, dass einem Verbrechen eine Ermittlung folgte, dass Anklage erhoben wurde und
35
Bestrafung drohte, während man heute der Bestrafung dank dem Einfluss eines Abgeordneten entgehen
kann.
Italien traf der Prozess der Kapitalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg mit voller Wucht. In diesem
Land wurde der delirante Mythos vom Proletariat intensiver als anderswo wieder aufgegriffen, ebenso
gelangte hier die postproletarische revolutionäre Auflösung (durch den Feminismus, die Kritik der Familie,
die Forderung nach Anerkennung der Homosexualität, die Ideologie des Festes, des Spiels und der Droge,
die Verweigerung der Arbeit, der Verantwortung, der Grammatik und Syntax, die Apologie des Nomadismus)
voll zum Durchbruch. Die italienischen Revolutionäre fanden hier eine Basis in einer wirklich aufrührerischen
Arbeiterschaft und die Roten Brigaden oder die Nuclei Armati Proletari agierten, anders als die RAF in
Deutschland oder die Nouvelle Résistance Populaire in Frankreich (die aus der Gauche prolétarienne
hervorgegangen war), nicht im luftleeren Raum. Eigenartigerweise ignorierte die gesamte operaistische
Bewegung den gewaltigen theoretischen Nachlass von Bordiga (oder tat immerhin so; man denke an Tronti)
und zog die Ideologien und Pathologien aus Frankreich vor: Lacan, Barthes, Guatteri, Sartre, Genet,
Foucault, Lyotard, Althusser und tutti quanti (wir zählen Castoriadis nicht dazu, der doch einfach nicht mit
diesen Theoretikern verglichen werden kann). Diese gelangten hier zu ganz anderem Erfolg, als in ihrem
Lande selbst, wo der Wahnsinn des Tabubrechens und des Dekonstruktivismus nicht so auf die Spitze
getrieben wurde oder doch wenigstens nicht Massendimension erlangte (vielleicht weil Frankreich, so
entchristlicht, entländlicht und von der Modernität erschüttert, wie es nach 1968 war, doch noch einen
gewissen Zusammenhalt bewahrte). Es gibt eine gute (wenn auch dithyrambische) Darstellung dieser
Wahnsinnsjahre mit ihren deliranten Protesten: das Buch von Nanni Balestrini und Primo Moroni: „L’orda
d’oro 1968 – 1977, La grande ondata rivoluzionaria e creativa, politica e esistenziale“, 1988. Es liefert
zudem viele Originaltexte aus jener Zeit. Die Verweigerung des Antifaschismus von Amadeo Bordiga war
und bleibt schwer zu integrieren, anders als sein Marx-Kult und sein Antikapitalismus.
Drei Bemerkungen drängen sich auf:
1. Bordiga hat es immer abgelehnt, sich dem antifaschistischen Widerstand anzuschliessen (was
bei vielen Militanten seiner eigenen Partei auf grosses Unverständnis stiess). Er wies warnend auf die
„grosse Illusion“ der Proletarier in Italien, die sich dem Maquis anschlossen, und auf die Stalinisten, welche
die proletarische revolutionäre Flut in den Fluss des Nationalismus umleiteten.
Diese Kritik ist aber sehr schwach! Es ging darum, auf den Horror und die Schändlichkeit der
Handlungen dieser Résistance einzugehen (die soziologisch weitgehend proletarisch war). Bordiga
attackierte indessen die Bestialitäten und Schändlichkeiten der marokkanischen Truppen, insbesondere
gegen die Frauen (wie auch Alberto Moravia in „La ciociara“). Auch hierin ist die Kritik von Bordiga
schwach. Dieser war wohl erschreckt, als er seinen ihm so lieben „kommunistischen Terror“ so pervers und
monströs vor Augen sah. Bordiga und viele ehrliche Revolutionäre seiner Zeit waren schwer von der
Entwicklung traumatisiert, welche die bolschewistische Partei genommen hatte, die für sie das
revolutionierende Ferment gewesen war, die messianische Organisation, welche die erste siegreiche
36
proletarische Revolution zu Stande gebracht hatte, das Vorspiel der Weltrevolution und der Emanzipation
der Menschheit. Diese Organisation hatten sie sich als höchstes Beispiel vor Augen gesetzt. Und nun war
diese Partei zu etwas Abscheulichem geworden, zu etwas „das keinen Namen trägt“ (wie Bordiga sagte).
Ein Grossteil der theoretischen Aktivität von Bordiga bestand im Studium der Russischen Revolution, um
das Unerklärliche zu erklären, was seine unaufhörliche Suche des Bruches verständlich macht, die
Eruierung des Zeitpunktes, von dem an die Partei degenerierte: der Tod Lenins, die Beseitigung der alten
bolschewistischen Garde etc. Wir haben es gesagt: Es gibt keinen Grund, den Stalinisten und andern den
Namen ‚Kommunist’ oder ‚Marxist’ abzusprechen. Bordiga gibt das ja selbst indirekt zu, wenn er schreibt,
es gäbe nur einen Marxismus, und anderswo von seiner Tendenz als dem revolutionären Marxismus oder
Kommunismus spricht und damit andere Kommunismen/Marxismen ausschliesst: (den reformistischen,
trotzkistischen, stalinistischen etc.).
2. Die italienischen Faschisten verübten grässliche Massaker an revolutionären Arbeitern; dies vor
allem vor 1922, dem Aufstieg Mussolinis zur Macht. Doch waren die militanten Kommunisten der Partei
ebenfalls keine Engel und begingen ebenfalls Morde an faschistischen Kämpfern.
3. Die Kräfte der ausserparlamentarischen äussersten Linken Italiens (so der Milliardär und
Verleger Giangiacomo Feltrinelli) schlugen Ende der Sechzigerjahre, zu Beginn der Siebzigerjahre wegen
eines Staatsstreiches Alarm. Die Gefahr käme vom C.I.A., vom Pentagon, von den verschiedenen
nationalen Geheimdiensten, von den Faschisten, alten und neuen (M.S.I, Ordine Nuovo von Pino Rauti und
Avanguardia Nazionale von Stefano Delle Chiaie, aus dem M.S.I. abgespalten) und wäre antikommunistisch
nach dem Modell des griechischen Staatsstreiches vom April 1967 (der berüchtigte Hauptleute an die Macht
gebracht hatte, insbesondere Georgios Papadopulos) oder demjenigen in Indonesien von 1965. Die
griechischen Militärs haben jedoch weniger Griechen als die heroischen italienischen Partisanen Italiener
oder die titoistischen Partisanen Griechen getötet! Nun ja, warum nicht von der E.L.A.S, der
erinnerungswürdigen griechischen Volksarmee mit ihrem Ziel der Befreiung und Einrichtung einer
Volksdemokratie unter der Diktatur der Kommunistischen Partei, und ihrem Terror erzählen? Ihr Versuch
misslang, die angelsächsischen Ex-Alliierten hatten sich in ihrer Aufteilung Europas Griechenland reserviert
und so wurden die griechischen Kommis 1949 beseitigt.
Mit Sicherheit malten die Feltrinelli, Linken und Stalinisten Ende der Sechziger den Teufel eines
eventuellen Militärputsches wie in Griechenland in Italien an die Wand, um so die Flut des
antikapitalistischen Protestes auf die harmlose Mühle des Antifaschismus abzulenken und die Angriffe auf
den P.C.I. (die italienische kommunistische Partei), die von Trotzkisten und Maoisten ausgingen (die
mitunter von US-amerikanischen Geheimdiensten unterstützt wurden), abzuweisen; dies, wie immer, im
Namen der Demokratie, des Fortschritts und der Ablehnung des Faschismus.
„Il triangolo delle bombe. Gli attentati all’Arcivescovado di Milano dal 1919 a Piazza Fontana“, von
Roberto Gremmeo (. . .) erzählt die Geschichte der Attentate gegen die Symbole der katholischen Kirche in
Mailand, insbesondere auf den Sitz des Erzbischofs. Wir gehen hier nicht auf das Attentat vom 12.
37
Dezember 1969 ein, eine allzu komplizierte Geschichte, über die alles gesagt worden ist und ebenso das
genaue Gegenteil davon. Hier nur einige bescheidene Eindrücke vom Buch:
Die Linksextremen auf jeden Fall, aber auch viele Linke und Demokraten haben sich nach dem
Ereignis (dem Attentat von Piazza Fontana 1969) sofort auf die Seite der Anarchisten gestellt und sofort
angenommen, sie seien fälschlicherweise von der Polizei des Attentates bezichtigt worden. Das ist möglich.
Doch muss man noch einmal sagen, dass die Anarchisten sich zumindest abenteuerlich und
verantwortungslos verhalten haben. Daneben sind sie immer manipuliert worden (von Agenten der vielen
Geheimdienste, von den Freimaurern und von Gruppen, die von Neofaschisten durchsetzt waren; diese
letzteren steckten oftmals selbst in heilloser ideologischer oder mentaler Verwirrung). Fügen wir noch bei,
dass die Linksextremen sich immer als Opfer darstellen (des Staates, des Kapitalismus, Imperialismus etc.),
als total unschuldig (ganz wie die Juden) – und doch zum bewaffneten Aufstand, zur gewaltsamen
Revolution, zur Beseitigung von Diktatoren, Industriemagnaten und ihrer Lakaien aufrufen! Man kann doch
nicht die Propaganda der Tat, das Attentat als Mittel der Revolution predigen (die Anarchisten waren immer
von Bombenattentaten, der Stadtguerilla usw. begeistert, wie noch Ende der Sechzigerjahre die Angry
Brigades in England; sie predigte die „Dynamitisierung“ von Gebäuden, welche die staatliche Autorität
repräsentieren, wenn nicht sogar die Ermordung von Leuten an der Macht), um dann, nach Verwirklichung
der Theorie, ganz beleidigt zu tun, die Ungerechtigkeit der Justiz anzuklagen, etwa, wenn ein Attentat
„gelungen“ war, womöglich ein schlimmeres als alle vorangegangenen! Die Polizei geht selbstverständlich
dagegen vor und macht Verhaftungen. Das war auch damals bei Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco der
Fall. Die beiden italienischen Arbeiter waren sicher für den Mord nicht verantwortlich, dessen sie von der
US-Justiz angeklagt wurden, sie waren aber Anarchisten und standen Luigi Galleani nahe, der die
Propaganda der Tat und die Gewalt verkündete. Und wenn man sieht, wie der unglückliche Giuseppe Pinelli
zu Tode kam (Pinelli erscheint als integrer und achtenswerter Mensch, was sicher für Pietro Valpreda nicht
zutrifft, ein Erzkonfusionist und Abenteurer, aus dem die Linke in Italien und die internationale Linke eine
sakrosankte Ikone gemacht hat). Es scheint, dass sich der Anarchist Salsedo tatsächlich getötet hat, indem
er 1920 aus dem Fenster des Kommissariates in N.Y. sprang; er hatte die Aktivitäten der beiden
italienischen Immigranten angezeigt. Das wenigstens behauptet Paul Avrich in „Sacco and Vanzetti. The
Anarchist Background“, 1991.
Gremmo weist darauf hin, dass in Anbetracht der Art und Weise, wie die italienischen Anarchisten
ihren Kampf gegen die Autorität, die Kirche und „den Faschismus“ kämpften, schwierig ist, nicht von
Dummheit zu sprechen,.
Anarchisten (worunter Giuseppi Mariani) legten am 23. März 1921 eine Bombe am Eingang des
Theaters Diana, um gegen die Macht zu protestieren. Es gab 21 Tote und Dutzende von Verletzten. Es
scheint nicht der Fall zu sein, dass es jemals Zweifel an der Urheberschaft gegeben hat.
Von Ende der Fünfzigerjahre an erschien mit der Entstrukturierung der traditionellen alten
Gesellschaft (wobei die Einwanderung anfänglich aus dem Süden Italiens kam) eine Schicht von
38
Randständigen in Mailand; sie bildeten Banden und bezeichneten sich als Anarchisten (hatten aber keine
Ahnung von Theorie) und waren oft Kleinkriminelle; sie wurden von den offiziellen, im guten und schlechten
Sinne konformistischen Anarchisten nicht anerkannt. Valpreda stammte aus diesem Milieu. Gremmo zeigt
gut auf, dass dieses Randständigenmilieu, streng von der Polizei überwacht und von Provokateuren und
Denunzianten durchsetzt, ein ideales Reservoir für alle Machenschaften der Politik, des Gangstertums und
der ökonomischen Unterwelt darstellten. Diese genannten Anarchisten waren sehr aktivistisch, blinde
Gegner der Religion, und ein Teil von ihnen war sehr für Gewalt eingestellt: gegen den Staat, vor allem aber
gegen die katholische Kirche. Der Fall des antifaschistischen Anarchisten Gino Bibbi ist in dieser Hinsicht
exemplarisch; er hatte am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und schloss sich Anfangs der
Siebzigerjahre der nationalistischen, militaristischen und autoritären Lega Italia Unita an, die sich der
Bombenlegungen schuldig machte (aus „Bombe, soldi e anarchia. L’affare Berneri’ e la tragedia dei libertari
italiani nella guerra di Spagna“, von R. Gremmo, den wir oben schon zitiert haben). Die Jahre 68 und 69
waren die Jahre des Studenten- und Jugendprotestes, aber auch der Bomben in Italien, insbesondere in
Mailand. Es ist schwierig, an der Behauptung festzuhalten, es hätte sich dabei um Polizeiprovokationen,
Attentate von Faschisten gehandelt; es gab viele Bekennerschreiben, die Taten wurden vielfach
beansprucht. Das hinderte aber die Linksintellektuellen keineswegs, zur Jagd auf die Hexen und die
repressive Polizei aufzurufen. Als der Individualanarchist Gianfranco Bertoli (er nannte sich Schüler von
Stirner) 1973 seine Schuld an einem Attentat gegen den Kommissar von Milano eingestand, der mehrere
Tote forderte, musste unbedingt der Vorstellung zum Sieg verholfen werden, Bertoli sei vom
Armeegeheimdienst oder den Faschisten oder vom C.I.A. manipuliert worden (was übrigens durchaus wahr
sein kann; das Milieu der Anarchisten ist immer bestens von Agenten durchsetzt). Es durfte einfach nicht
wahr sein, dass ein Anarchist für ein solches Verbrechen verantwortlich wäre, ein Bombenleger konnte doch
nicht von Links kommen, das musste ein Faschist, ein Provokateur sein.
Während des Jahres 1969 drückten die Anarchisten (worunter v. a. Pietro Valpreda) anlässlich
vieler Demonstrationen ihren glühenden Hass auf den Katholizismus und die Katholische Kirche aus und
riefen dabei zum bewaffneten Aufstand und zum Terrorismus mittels Dynamit auf.
Das Buch von Paolo Cucchiarelli „Il segreto di Piazza Fontana“ greift erneut in die Polemik um die
Piazza Fontana ein (wir können nicht darauf eingehen). Der Autor, der parlamentarischen Linken nahe,
klagt
die
neofaschistischen
und
neo-national-sozialistischen
Organisationen,
die
verschiedenen
Geheimdienste, die O.T.A.N an, bleibt aber hinsichtlich der Freimaurer still, die in Italien recht rührig sind.
Auch er weist auf die grosse Verantwortung (besser: Verantwortungslosigkeit) der verschiedenen Mailänder
Anarchiengruppen hin.
Die radikalen italienischen Neofaschisten (alle mehr oder weniger von Julius Evola beeinflusst)
machen alle grosse Sprüche gegen das System (“La Disintegrazione del Sistema“: ein nationalsozialistisches, aristokratisches Manifest; anti-jüdisch, anti-bürgerlich, pro-islamisch und maoistisch, von F.
G. Freda, datiert von 1969) und waren, die meiste Zeit häufig bei vollem Bewusstsein (jedoch nicht immer)
39
Handlanger von Geheimdienst und staatlichen Organen. So hielt Stefano Delle Chiaie, Gründer der
Avanguardia Nazionale 1960 (. . .), eine heftige Brandrede gegen die USA (und unterstützte den Vietkong),
war aber gleichzeitig Mitarbeiter des berüchtigten Prinzen Julio Valerio Borghese, der offen für den
Atlantikpakt eintrat und in Beziehung zum C.I.A. stand (er war schon von Mussolini am Ende der Republik
von Salò der Spionage für die Angelsachsen angeklagt worden).
Exakt um diese Verbindung zwischen der radikalen, nationalistischen Rechten und den diversen
Geheimdiensten (C.I.A., Mossad etc.), den Polizeien, insbesondere den Carabinieri, Staaten: Verbindungen,
die verschiedene Individuen und Gruppen, die sich zum Faschismus bekannten, dazu veranlassten, in den
verschiedenen Attentaten alles dessen, was „stragegia della tensione“ hiess, eine Rolle zu spielen,
behauptet Vincenzo Vinciguerra (ehemals bei O.N. und A.N.) 1972 das Attentat von Peteano gegen die
Carabinieri ausgeführt zu haben (siehe seine Autobiographie, die wir leider nicht lesen konnten: „Ergastolo
per la libertà. Verso la verità sulla strategia della tensione“. Vinciguerra sagt, dass sein Attentat (gegen die
Militärkräfte des Staates) das genaue Gegenteil der Attentate war, die blind gegen zivile Ziele gerichtet
waren (Attentat von Bologna, von Piazza Fontana in Mailand, auf den Zug Italicus). Vinciguerra beschuldigt
die Nationalisten der Rechten, Urheber des Attentates der Piazza Fontana gewesen zu sein (er nennt
insbesondere den Gruppo Veneto di Ordine Nuovo). In einem Interview von 2005 sagt Vinciguerra
bezüglich der ehemaligen radikalen neofaschistischen Führer (so Pino Rauti): „Wie aber kommt es, dass
nie jemand diesen Leuten die Frage gestellt hat: ‚Wie konnten Sie die National-Sozialisten spielen in alle
den
Jahren
und
doch
mit
dem
Verteidigungsminister
und
den
Geheimdiensten
der
Armee
zusammenarbeiten, die doch alle aus der Résistance hervorgegangen waren?’“. Das ist gut gesagt.
Erinnern wir daran, dass die Zeitung „Il comunista“, Organ der Kommunistischen Partei von Italien,
damals unter der kommunistischen Linken von Bordiga, am 30. März 1921 einen Artikel veröffentlichte, der
ziemlich sicher von Bordiga selbst stammte, und vom Attentat gegen das Theater Diana handelt „Zum
Begräbnis der Opfer des ‚Diana’“. Der Artikel stellt sich gegen die Verdammung des Attentates durch die
Kräfte der Bourgeoisie in ihrer demokratisch-antikommunistischen Optik, einer Bourgeoisie, die sich nicht
scheute, zu töten, wenn es ihre Interessen erforderten. Dass das anarchistische Attentat von den
demokratisch-kapitalistischen Kreisen für sich ausgenützt werden würde, war nicht zu bestreiten, doch stellt
Bordiga die grundsätzliche Frage nicht: Durfte man, ja oder nein, jenseits jeder Nützlichkeitserwägung
solche blinden Attentate auf Zivilisten akzeptieren? Auch Bilan, die Zeitschrift der kommunistischen Linken
im Exil, vermeidet es, diese Frage zu stellen, als ihre Herausgeber diesen Text von Bordiga anlässlich der
Ereignisse in Deutschland, die zum Tod von Marinus Van der Lubbe wegen des Reichtagsbrandes führten,
wieder publizierten, und vergrössert die allgemeine Verwirrung noch, indem sie eine Verteidigung des
revolutionären Terrorismus anfügt (wie das auch Bordiga immer machte); der Reichstagsbrand konnte aber
nicht mit dem mörderischen anarchistischen Attentat von 1921 verglichen werden.
40
17
Autoren sind Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Pczkowski, Karel
Bartosek und Jean-Louis Margolin. Erwähnen wir zu diesem Thema auch vom selben Nicolas Werth „La vie
quotidienne des paysans russes de la Révolution à la Collectivisation (1917 – 1939)“. Stéphane Courtois ist
ein ehemaliger Maoist der Gruppe „Vive la Révolution!“, der seine Ruhmesstunde nach dem Mai 68
anlässlich des wilden Campings von Palavas-Les Flots hatte, das vom Front de Libération de la Jeunesse
(aus dem V.I.R. hervorgegangen und von
Richard Deshayes geleitet, der von einer Polizeigranate
schrecklich zugerichtet wurde; der V.I.R. spielte in der Aufhebung des Homosexualitäts-Tabus eine wichtige
Rolle; siehe die diesbezügliche Spezialnummer vom
Sommer 1971, die damals Aufsehen erregt hat)
organisiert wurde;. Stéphane Courtois hat dieselbe Laufbahn wie Boris Souvarine eingeschlagen und wurde
ein Verteidiger der USA und Israels (wobei Souvarine immerhin bis zum Schluss das Gedächtnis an Lenin
heilig hielt). Viele antistalinistischen Revolutionäre gingen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger
direkt diesen Weg und schlossen sich der sogenannten freien Welt an. So auch Prudhommeaux (zu diesem
siehe Nr. 42 von „A contretemps“ vom Februar 2012, das ihm gewidmet ist), der antifaschistische Anarchist
Louis Mercier, Maximilien Rubel, ehemaliges Mitglied des Groupe Révolutionnaire Prolétarien; sie alle
schrieben in der „Preuves“, in der berühmten Zeitschrift des „Congrès de la Liberté et de la culture“, die in
der Tat mehr oder weniger offen und direkt vom CIA finanziert worden war. Über dieses Thema siehe den
Artikel von Charles Jacquier „Repli et marginalité: Les anciens „gauchistes“ des années trente et la revue
‚Preuves’“, 2002 erschienen; über diese Zeitschrift siehe auch das kleine Buch von Pierre Grémion
„L’intelligence de l’anticommunisme. Le Congrès pour la liberté de la culture à Paris 1950 – 1975“, 1995.
« Preuves“ hatte auch viele alte Mitglieder des P.O.U.M. wie etwa Franz Borkenau, Arthur Koestler und
Ignazio Silone als Mitarbeiter.
Es gereicht Bordiga zur Ehre, die Avancen der Amerikaner abgelehnt zu haben, welche ihn bei der
„Befreiung“ zu kontaktieren suchten um ihn zu benutzen (dazu: „Storia Ribelle“ Nr. 3, Herbst 1996: „Bordiga
wies 1944 das Geld der amerikanischen Geheimagenten zurück und nahm von den politischen Vorschlägen
der Sozialisten Abstand“). Bordiga betonte mehrmals, dass der amerikanische Supermarkt ebenso
antikommunistisch war wie die sowjetischen Konzentrationslager es waren, ja sogar noch gefährlicher: die
zweite Form des Antikommunismus griff den Körper an, die erste korrumpierte die Seele. Er hätte anfügen
dürfen, dass vom Gesichtspunkt des unmittelbaren, direkten Überlebens der Individuen 1952 es vorzuziehen
war, im verwestlichten Italien (oder sogar in den USA des MacCarthy mit seinem doch recht harmlosen
Antikommunismus) zu leben als in der Sowjetunion. Die italienische Regierung liess Bordiga ungestört seine
publizistische Aktivitäten entwickeln und seine revolutionären Studien machen, während er in der UdSSR
tausend Schikanen ausgesetzt gewesen, ins Gefängnis geworfen, deportiert und erschossen worden wäre
(auch die zaristische Justiz und Polizei war im Vergleich zur stalinistischen recht nachsichtig). Mit dieser
Bemerkung ist keinesfalls eine Verteidigung des Westens oder auch des Zarismus verbunden, sie ist eine
blosse Feststellung. Ebenso geben wir zu, dass wir heute lieber in Frankreich auf dem Lande leben, solange
kein AKW explodiert, als etwa in Südafrika, Schanghai, Lagos oder Saudi-Arabien.
41
Unterdrückungen, Terror in der Sowjetunion“18. Keine der darin vorgebrachten Fakten
sind, unseres Wissens, ernsthaft zurückgewiesen und bestritten worden. Am
interessantesten ist der erste Teil dieses Kapitels, der die Begebenheiten der ersten Jahre
der Revolution betrifft; er zeigt, wie grotesk und lächerlich es ist und wie sehr es von
bösem Willen zeugt, Stalin die Verantwortung für die Grausamkeiten in die Schuhe zu
schieben, die in der Sowjetunion geschahen. Nicolas Werth zitiert das Buch des
Historikers Andrea Graziosi „The Great Soviet Peasant War. Bolsheviks and Peasants,
1918 – 1933“, aus dem Jahre 1996 (…..). Graziosi sagt, dass die Bauernaufstände 1902
in Russland und in der Ukraine begannen 19.
Der Sowjetstaat stellte sich sofort gegen die Bauernschaft, ideologisch wie auch
konkret. Dieser Feldzug sollte die Städte mit Nahrungsmitteln versorgen, weshalb man auf
Das Buch von Nicolas Werth und Alexis Berelowitsch „L’Etat soviétique contre les paysans.
Rapports de la police politique (Tscheka, GPU, NKWD) 1918 – 1939“, 2011, ist eine bemerkenswerte
Ergänzung der Ausführungen von Werth im „Schwarzbuch Kommunismus“; dort finden sich, neben einer
allgemeinen Einleitung, von Werth übersetzte offizielle und geheime Dokumente. Dieses Buch ist das
Ergebnis einer Forschergruppe unter dem russischen Historiker Victor Petrovitsch Danilow: „Les campagnes
soviétiques vues par la Tscheka OGPU-NKWD, 1918-1939“. Danilow untersucht seit den Siebzigerjahren
die Geschichte der Politik der Bolschewiki gegenüber der Bauernschaft. Er hält sie für ein ökonomisches
Desaster und eine gesellschaftliche Tragödie in einer Epoche, wo die offizielle Geschichtsschreibung seines
Landes daraus noch einen grösseren Fortschritt Richtung Sozialismus machte (was in gewisser Hinsicht ja
auch wahr ist). Danilow zeigt die Bedeutung der Bauernschaft und der Bauern, die sich schon vor Lenin die
Grundstücke der Grossgrundbesitzer angeeignet und sie unter sich aufgeteilt hatten.
Werth hat sich in Russland auch an der Veröffentlichung eines Monumentalwerkes in russischer
Sprache beteiligt, an einer Geschichte des stalinistischen Gulag.
18
Wenn Werth die Massaker erwähnt, deren sich die Weisse Armee schuldig machte, vergisst er
die Schrecken des Ersten Weltkriegs, welcher zusammen mit dem Landhunger der Bauern der Hauptgrund
für den Fall des zaristischen Regimes war.
19
Graziosi irrt sich, wenn er bezüglich des Bauernkrieges und seiner Unterdrückung von einer
Regression der Gesellschaft, von einer Barbarisierung spricht. Das gilt sicher für eine erste Zeit, doch war
es genau diese Barbarisierung, welche die Modernisierung von Russland und den Eintritt von Russland in
die Neuzeit, in das Zeitalter des Fortschritts, ermöglichte.
42
Zwangsenteignung zurückgriff. Proletarier-Bataillone zur Lebensmittelbeschaffung fuhren
aufs Land und bemächtigten sich mit Gewalt der Lebensmittel, der Produkte bäuerlicher
Arbeit, um die städtische Bevölkerung zu ernähren, die in der Tat hungerte. Der
Zusammenstoss war unvermeidlich. Die Bauernschaft war ein Hindernis für die
Modernisierung von Russland (am Vorabend der Russischen Revolution lebten ungefähr
83 % der Bevölkerung in Dörfern), die Bauernschaft, die schon vom Ersten Weltkrieg
ausgeblutet war, sollte nun unterworfen werden, was nicht anders als durch Terror möglich
war. Das Fazit dieses Krieges, von dem die Revolutionäre nie sprachen20, war
schrecklich: Nach Werth wurden 2.5 Millionen Bauern deportiert und etwa 6 Millionen
starben an Hunger. Der erbarmungslose Krieg, den der sowjetische Staat gegen die
Bauern führte, lief in zwei Etappen ab. In einer ersten, von 1918 bis 1922 war die
bolschewistische Regierung gezwungen, mit der N.E.P. eine gewisse Autonomie der
Bauernschaft zu akzeptieren; doch dann, nach dieser relativen Waffenruhe, gab es eine
zweite Periode. Sie dauerte von 1928 bis 1933 (in geringerem Masse bis 1939). Der
sowjetische Staat nahm seine Offensive wieder auf und zwang der Bauernschaft die
Kollektivierung des Landes auf, um die unerträgliche Tatsache zu beseitigen, dass die
immense Mehrheit der Bevölkerung (also die Bauern) autonom war und „ausserhalb des
Sozialismus“ lebte. Graziosi spricht von den Erhebungen der russischen Bauern als dem
grössten Bauernkrieg der Geschichte. Nach seiner Schätzung hätte dieser Krieg 15
Millionen Tote gefordert (worin die Opfer der Kämpfe und Repressionsopfer des
bolschewistischen Regimes und die Opfer der beiden Hungersnöte am Ende der beiden
Perioden 1918-22 und 1928-33 stattfanden, inbegriffen sind: fünf Millionen das erste,
sieben Millionen das zweite Mal, mehrere Hunderttausend Tote durch die Repression am
Anfang der Zwanzigerjahre, eine Million Opfer durch die Repressionswelle der
Dreissigerjahre, etc.).
Die Kommission zur Nahrungsmittelbeschaffung wurde im November 1917
gegründet. Lenin versuchte den Klassenkampf auf dem Lande zu zügeln, indem er sich
aus taktischen Gründen bis zum Sommer 1918 dem Programm der bäuerlichen Partei der
20
Doch vernachlässigen die Ankläger der von den Bolschewiki begangenen Massaker
stillschweigend die ebenso schrecklichen Massaker des Ersten Weltkriegs.
43
Sozial-Revolutionäre anschloss, welches die Aufteilung des Bodens vorsah. Die Massaker
an den „Konterrevolutionären“ begannen schon gleich nach dem Sieg der Revolution,
Massaker, die nicht nur Exzesse der Volkswut waren, sondern von der neuen
sowjetischen Regierung gutgeheissen, ja dazuermuntert wurden. Bald darauf erwies sich
der Pole Feliks Dscherschinski (Gründer der Tscheka, der sowjetischen politischen
Polizei, darauf des G.P.U.) bis zu seinem Tod im Jahre 1926, als wahrhaft krimineller und
hysterischer Verrückter, als ein Fanatiker, der nach Mord lechzte, eine real gewordene
Person aus einem dostojewskischen Roman (neben seinem Partner in der Führung der
Tscheka, Martyn Latsis). Dscherschinski und seine Tscheka wurde bald von den
Bundesgenossen der Bolschewiki, z. B. Isaac Steinberg, ein linker Sozial-Revolutionär,
angegriffen. Er war Volkskommissar bei der Justiz und lehnte die Autonomie der Tscheka
ab (diese hatte die Befugnisse zur Fahndung, Verhaftung, Verurteilung und zum
Strafvollzug). Er wollte die Tscheka seinem Ministerium unterstellen; die Tscheka wurde
aber auch von innerhalb der Bolschewiki (insbesondere vonBucharin) kritisiert; Lenin
verteidigte aber Dscherschinski, die Tscheka und ihren revolutionären Terror kategorisch,
den Bordiga so schätzte, lobte und forderte. In der Tat entschlüpfte die Tscheka sehr
schnell der Partei. Lenin war mit Trotzki und Dscherschinski der heftigste und fanatischste
Verteidiger des Terrors auf dem Land; die Bauern, welche ihr „Surplus“ nicht abliefern
wollten, sollten alle erschossen werden (N. Werth, in „Schwarzbuch Kommunismus).
Lenin gebrauchte das düstere Wort: „Der russische Boden muss von allen schädlichen
Insekten gereinigt werden“ 21 22.
21
22
Die politische Polizei wurde 1922 reorganisiert, die Tscheka wurde die OGPU.
Steinberg war Volkskommissär am Gerichtshof von Dezember 1917 bis Mai 1918, bis zum Bruch
der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionären. Man findet Auszüge eines Buches von Steinberg über
den sowjetischen Terror („Der ethische Aspekt der Revolution“) im Buch von Jacques Baynac, Alexandre
Skirda und Charles Urjewitz „La Terreur sous Lénine (1917 – 1924)“. Dieses Buch enthält auch einen Text
von Martow, Texte der Tscheka und ein Kapitel des Buches von Serej Melgunow „KrasN.Y.i terror v Rossii,
1918 – 1923“, 1923 erschienen, auf Französisch unter dem Titel „La terreur rouge en Russie, 1918 – 1923“
1927 erschienen; Neuherausgabe 2004. Melgunow war reformistischer Sozialist, Sozial-Populist, 1914
patriotisch, Gegner der Macht der Bolschewiki. Er trat für die Wiederaufnahme des Krieges gegen
Deutschland auf Seiten der Entente ein. 1922 war er in den Prozess gegen die Sozialrevolutionäre
44
Von Herbst 1917 bis zum Frühjahr 1918 bestand die Politik der Bolschewiki darin,
die Bauern das alte grundherrschaftliche System auf dem russischen Lande zerstören zu
lassen. Von Mai/Juni 1918 an versuchten die Bolschewiki die Sache wieder unter
Kontrolle zu bekommen und die sowjetische Ordnung der unendlichen Weite des flachen
Landes aufzuerlegen. Die russische Bauernschaft hatte sich den Boden 1917 angeeignet,
die russische Gemeinschaft wachte wieder auf und die Bauern lebten, nach einem Wort
von Werth, die bäuerliche Utopie, wie sie nur der bäuerlichen Macht entspringen kann:
Freiheit als Zurückweisung jeder dem Dorf fremden, äusseren Macht.
verwickelt. Die Bolschewiki verurteilten ihn zum Tode, dann wandelten sie diese in eine Haftstrafe um. Am
Schluss wurde er aus der UdSSR gewiesen. Melgunow berichtet von Grausamkeiten, die in den Lagern aller
Parteien begangen wurden, insbesondere von den Truppen Denikins, von Admiral Koltschak, von den
Bauerntruppen mehr oder weniger unter Machno, und die Kosaken waren auch keine Engel. Melgunow sagt
indessen, dass es sich um bestialische Exzesse bei den Konterrevolutionären und um den von den Roten
systematisch ausgeübten Terror handelte. Das sagt auch Werth, es könnte wahr sein, müsste aber noch
diskutiert werden. Immerhin hatten die Weissen nicht den Ehrgeiz, den Neuen Menschen zu schaffen, oder
ein Paradies aufzubauen ganz wie gewisse Jakobiner damals in Frankreich.
„Die proletarische Herrschaft in all ihren Formen, begonnen mit den Erschiessungen, scheint eine
Methode zu sein, von der man annehmen darf, dass sie aus dem Menschenmaterial der kapitalistischen
Epoche das kommunistische Individuum produziert.“ (Bucharin, zitiert von Melgunow „La terreur rouge . . .“,
o. c. p. 68)
Melgunow zitiert einen Brief von Kropotkin (der auch während des ersten Weltkriegs glühend für
den Kriegseintritt seines Landes eintrat) an Lenin, worin er sehr zu recht das schreckliche und kriminelle
Verfahren, Geiseln zu nehmen, anklagt. Die Bolschewiki griffen systematisch auf Geiselnahme zurück: von
Frauen, Alten, Kindern, und schreckten vor Exekutionen nicht zurück. „Ihr Genossen, versteht ihr nicht, dass
dieses System der Wiedereinführung der Folter an Gefangenen und ihren Eltern entspricht.“ (ibidem, p. 60).
Er zitiert auch den finsteren Latsis, Gehilfe von Dscherschinski, welcher am 1. November 1918
erklärte:
„Wir führen keinen Krieg gegen besondere Personen. Wir rotten die Bourgeoisie als Klasse aus.
Sucht bei der Untersuchung nicht nach Beweisen in Form von Dokumenten, auch nicht nach vom
Angeklagten begangenen Taten oder nach Aussagen gegen die Sowjetunion. Die erste zu stellende Frage
ist die nach der Klassenzugehörigkeit, nach der Herkunft, der Erziehung, Ausbildung, nach dem Beruf.“
(ibidem, p. 78-88).
45
„Die Zeit ist für uns gekommen, einen unbarmherzigen, gnadenlosen Kampf gegen
die kleinen Eigentümer und Besitzer zu führen.“
(Lenin, am 29. April 1918) 23
Die Abordnungen zur Nahrungsmittelbesorgung der Tscheka waren aus
revolutionären Militanten zusammengesetzt; am Anfang auch aus Anarchisten, vor allem
aber aus dem gesellschaftlichen Bodensatz, schlimmsten Elementen, Halunken,
eigentlichen Kriminellen, arbeitslosen Arbeitern, von einem guten Lohn und vom
Plünderung angezogen, blutrünstig und begierig, „Klassenrache“ zu üben. Viele waren von
eigentlichem mörderischem Wahnsinn besessen und wollten nur sich betrinken, plündern,
töten, stehlen, vergewaltigen24. Werth betont, wie schon andere Autoren vor ihm, die
23
Bordiga zitiert unermüdlich und fast mit Genuss die Definition, welche Lenin 1918 in „Die
proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ von der Diktatur des Proletariates gibt: „die Diktatur ist
eine Macht, die sich direkt auf der Gewalt abstützt und mit keinem Gesetz verbunden ist.“ Für Bordiga war
Lenin die Person, welche mit der Demokratie gebrochen hatte, die immer bürgerlich ist und nur die Maske
der Diktatur des Kapitals ist. Das Kapital benutzte aber andere Formen als demokratische, um sich
Russlands zu bemächtigen und es zu kapitalisieren, nämlich die Kräfte des Marxismus . . . welche nichts
sehnlicher wünschten. So wie die Diktatur des Proletariates in Russland aussah, hat sie Bordiga nie in
Frage gestellt.
24
Trotzki war nicht nur an der Spitze des Staates ein schrecklicher Mensch, sondern auch in
seinem Privatleben. Wenn er sich für die Psychoanalyse interessierte, dann darum, weil er eben ein
konsequenter Materialist (1923 versuchte er eine Synthese zwischen Pawlowismus und Freudianismus zu
machen, Basis einer marxistisch-materialistischen Psychologie), aber ein jämmerlicher Psychologe war,
nicht weniger grob und vulgär wie der Begründer der Psychoanalyse selbst. Er war schrecklich gefühllos und
zu keiner Empathie fähig. Dies zeigte sich an seinem Verhalten gegenüber seinen Nächsten, ja sogar
gegenüber seiner Tochter.
Trotzki wurde 1898 nach Russland deportiert und heiratete dort im sibirischen Gefangenenlager
seine erste Frau, Alexandra Lwowna. Daraus entsprossen zwei Töchter, Zina, die Ältere und Nina, die
Jüngere. Er flüchtete und liess die Familie zurück (das Schicksal hat uns getrennt, schreibt er in „Mein
Leben“).1902 begegnete er Natalia Sedow; sie wird seine zweite Frau. Er hat mit ihr zwei Söhne, Lev (Lew
Sedow) und Sergei. Dieser wurde von Stalin 1938 exekutiert, Lev wurde ermordet, anscheinend von
Agenten Stalins. Nina starb 1928 an Tuberkulose, Zina brachte sich 1933 um. Sie scheint an psychischen
Störungen gelitten zu haben, an hysterischer Psychose. Sie war nach Berlin geflüchtet und hatte in
46
Russland ihren Gemahl und ihre kleine Tochter zurücklassen. Zina idealisierte und vergötterte ihren Vater;
sie träumte davon, ihm in seiner politischen Arbeit zu helfen. Trotzki hielt sie aber auf Distanz und
vernachlässigte sie sogar, was Zina nicht ertragen konnte.
Trotzki, der mit der Weltrevolution beschäftigt war, hatte keine Zeit für seine kranke Tochter, er
verweigerte es sogar, ihr Leiden anzuerkennen und wollte sie nicht mit sich nehmen, schickte sie dafür in
die psychoanalytische Behandlung und zu Ärzten, d. h. er überliess seine Tochter der Medizin. Zina und ihre
Probleme störten den Henker von Kronstadt. Lev, der Halbbruder und Natalia, die zweite Frau, hörten nicht
auf, Trotzki dazu zu bewegen, die psychischen Leiden seiner Tochter wahrzunehmen, d. h. letztlich, sie
wirklich anzuerkennen. Während der Behandlung, welche Zina bei einem Psychologen der Adler-Schule,
einem Marxisten, absolvierte, um ihrem Vater gehorsam zu sein, schickte Trotzki die von seiner Tochter an
ihn geschickten Briefe ihrem Therapeuten. Zina erfuhr das und war schwer verletzt. Ihr Vater war blind und
wollte den schlimmen Zustand von Zina nicht wahrhaben. Er hielt sie für eine frigide, egoistische, frivole,
launische Frau, eine blosse Simulantin, vollständig gesund und beschuldigte sie der Willensschwäche, der
Haltlosigkeit, was sicher wahr war, woran aber er zuallererst schuld war! Sedow berichtet vom suizidalen
Zustand von Zina und forderte den Vater auf, Kontakt aufzunehmen, was dieser bis zum Schluss
verweigerte. Am 22. Dezember 1932, zwei Wochen vor dem Selbstmord der Tochter, schrieb er seinem
Sohn einen Brief: „Ich werde keinen Kompromiss, kein Zugeständnis annehmen. Zina soll gemäss den
Anordnungen der Ärzte so bald wie möglich nach der UdSSR aufbrechen. Ich werde auf keine Widerrede
antworten. Ihre Verweigerung, sich den Anordnungen der Ärzte zu unterziehen, betrachte ich als endgültigen
und vollständigen Bruch. Sie soll danach nicht mehr auf irgendeine Hilfe von mir zählen. Entschuldige bitte,
dass ich Dich damit beauftrage, dies meiner Tochter mitzuteilen.“ (zitiert nach J. Chemouny, „Trotsky et la
psychoanalyse“, 2004, p. 253). Trotzki zögerte in der Folge nicht, Lev Sedow, den Halbbruder von Zina, für
ihren Selbstmord verantwortlich zu machen, später Stalin und General Schleicher. Er benutzte also diesen
Tod, um seine revolutionäre Politik zu verteidigen! Die erste Frau von Trotzki, Mutter von Zina, hielt später
Trotzki die Tatsache vor, ihre Tochter einer Psychoanalyse unterzogen zu haben („man hätte sie nicht
unter Druck setzen dürfen, von Dingen zu sprechen, von denen sie nicht sprechen wollte“, ibidem, p. 258).
Im selben Brief bezichtigte sie ihren ehemaligen Gemahl, jede intellektuelle, ja jede Beziehung mit der
Tochter verweigert zu haben.
Das Buch von Chemouny ist gut dokumentiert (wenn man auch schmunzeln muss, wenn man so
naive Sätze liest wie: „die unerschöpflichen Kenntnisse von Broué über die kommunistische Bewegung“, p.
9). Er betont richtig die Verbindung zwischen Marxismus und Psychoanalyse (waren die Juden im
Marxismus zahlreich vertreten, so war die Psychoanalyse eine eigentliche jüdische Bewegung. Das änderte
sich bis zum Ersten Weltkrieg nicht, als C. G. Jung dazu stiess). Er untersucht die Beziehung zwischen
Psychoanalyse und Bolschewismus (Radek stand z. B. dem Freudianismus günstig gegenüber) und dann
natürlich, wie Trotzki zu dieser psychologischen Bewegung stand. Trotzki war, ebenso wie Otto Rühle und
47
seine Frau
Alice
Rühle-Gerstel, eher von
Alfred
Adler beeinflusst.
Dieser war Mitglied der
Sozialdemokratischen Partei Österreichs.
Auch das Verhältnis zu Wilhelm Reich kommt zu Sprache. Die Korrespondenz zwischen den beiden
Revolutionären ist in Nr. 45 der „Cahiers Léon Trotsky“, 1992, publiziert. Nach der Rückkehr von seiner
Reise in die Sowjetunion 1929 schrieb Reich „Die Situation der Psychoanalyse in der Sowjetunion“, worin er
sich begeistert über die Verwirklichung des Sozialismus in der Sowjetunion äussert. Der Kapitalismus ist dort
unterdrückt und die sexuelle Freiheit der Jungen Wirklichkeit geworden. Später, 1932-33 wurde W. Reich
skeptischer; er verwarf den Stalinismus und näherte sich dem Trotzkismus. 1936 traf er Trotzki in Oslo,
nachdem sie schon zuvor korrespondiert hatten. W. Reich, der die proletarische nicht von der sexuellen
Revolution trennen wollte, sah eine Umkehrung der revolutionären Entwicklung generell darin, dass unter
den Massen und insbesondere unter der Jugend wieder das alte „sexuelle Elend“ eingezogen waren. Reich
war besessen von der „sexuellen Unterdrückung“ und der Notwendigkeit der „Befreiung“, doch nach 1945
(sicher aber schon vorher, zuvor musste aber Deutschland vernichtet werden) verschwand die „sexuelle
Unterdrückung“ (verschieden schnell, je nach Region und gesellschaftlicher Situation) und die sexuelle
Überreizung hielt Einzug, so dass heute schon Kinder unbedingt ein sexuelles, erotisches oder Liebesleben
haben müssen. Dazu hatte das Werk von Freud wesentlich beigetragen; Freud war von der Sexualität
besessen und sah sie überall, er machte aus ihr sogar den Ursprung der Religionen.
Emma Goldmann, die jüdische Anarchistin aus den USA, wurde ebenfalls von der Psychoanalyse
verführt, die sie 1895 in Wien anlässlich ihrer Krankenschwesterausbildung kennen lernte. Emma Goldmann
liess sich in grossem Ausmass von den Theorien von Freud inspirieren, um die von ihr behauptete
bürgerliche Sexualunterdrückung anzugreifen: die Tabus und Verbote, und um dagegen die Homosexualität,
Bisexualität und das Recht der Frau auf sexuelles Vergnügen zu verteidigen. Zu ihrer Verteidigung und um
gerecht zu sein: Se verteidigte auch das Recht auf Mutterschaft, die sie verherrlichte und sprach auch vom
Mutter- und Liebesinstinkt der Frau (siehe dazu “Die Tragödie der weiblichen Emanzipation“, in
(Dis)continuité Nr. 28 übersetzt). Für Emma Goldmann bilden der Mann und die Frau, anders als das die
meisten Feministinnen sahen, nicht zwei verschiedene, entgegengesetzte Welten (worüber ebenfalls zu
diskutieren wäre). Etwas gesunden Menschenverstand gab es aber damals noch bei den Revolutionären,
auch bei den Feministinnen; das änderte sich dann ganz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Adolf Hitler beschreibt jenes Klima sexueller Aufreizung, welches damals in den grossen Städten
von Deutschland und Österreich herrschte in seinem „Mein Kampf“. Er nimmt dabei die Gegenposition von
Wilhelm Reich ein:
„Eine vernünftige Erziehung soll Folgendes in Betracht ziehen: Sie soll nicht ausser Acht lassen,
dass die Befriedigung, die ein junger, gesunder Mann von der Frau erwartet, von derjenigen verschieden ist,
die ein schwacher, vorzeitig Verdorbener erwartet. So soll die ganze Erziehung bestrebt sein, alle freien
Augenblicke des jungen Mannes dazu zu benutzen, seinen Körper sinnvoll zu stärken.
48
Bedeutung des Konsums von Alkohol, aber auch Kokain durch die Tschekisten. Letzteres
scheint unter diesen sehr verbreitet gewesen zu sein. Sofort lösten die Brutalität und
Grausamkeit dieser Abordnungen Aufstände im ganzen Land aus25. An den Bauern
Es besteht kein Recht des Jugendlichen, mit seiner Präsenz die Strassen und Kinos unsicher zu
machen. (. . .) Die Erzieher sollen mit der Idee tabula rasa machen, dass es jedermanns Privatsache ist,
was er mit seinem Körper macht, denn niemand darf auf Kosten der Nachkommenschaft und damit seiner
Rasse sündigen.“ (Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Diese Position ist derjenigen von Bordiga sehr
nahe.)
„Parallel zur Körpererziehung soll der Kampf gegen die Vergiftung der Seele geführt werden: Unser
ganzes äusseres Leben scheint in einem Treibhaus stattzufinden, in dem die Äusserungen und Reize der
Sexualität florieren. Man betrachte die Reklame unserer Kinos, unserer Vergnügungsstätten und Theater: Es
ist unleugbar, dass man dort nicht die Nahrung findet, die man braucht, insbesondere als Jugendlicher. In
den Schaufenstern und Litfasssäulen benutzt man die gemeinsten Mittel, um die Aufmerksamkeit des
Publikums auf sich zu lenken. (. . .)
Nein, wer die Prostitution beseitigen will, muss zuerst die moralischen Gründe beseitigen, deren
Resultat sie ist.
Er wird den Unrat der moralischen Verpestung der grossen Städte beseitigen müssen und das ohne
Rücksicht worauf auch immer und ohne vor dem Aufruhr und entfesselten Geschrei zurückzuweichen, das
man natürlich damit auslöst [Und heute! B. d. V.]. Wenn wir die Jugend nicht aus dem moralischen Sumpf
ziehen, worin sie sich heute befindet [der Autor kannte noch nicht das grosse elektronische Weltnetz! B. d.
V.], wird sie darin stecken bleiben (. . .) Theater, Kunst, Literatur, Kino, Presse, Plakate, Auslagen müssen
von der Exhibition einer Welt befreit werden, die am Verfaulen ist, um in den Dienst einer moralischen Idee,
eines Staats- und Kulturprinzips gestellt zu werden.“
Wir sind keine National-Sozialisten, keine Provokateure und schreien auch nicht Heil Hitler,
möchten aber nur darauf hinweisen, dass diese Zeilen (wir betonen: diese Zeilen) des Erzteufels für alle
Demokraten uns nicht unvernünftig und theoretisch ungerechtfertigt erscheinen, ganz im Gegenteil.
25
Maxim Gorki, der im Oktober 1917 noch Gegner der Bolschewiki war, lobte, zum Stalinisten
geworden, die Umerziehung durch Zwangsarbeit. Er war persönlicher Freund von Iagoda, dem Chef des
G.P.U. und übernahm nur die Hassflüche der Bolschewiki, wenn er 1932 schrieb:
„Der Klassenhass muss durch die organische Abstossung hinsichtlich des Feindes kultiviert werden.
Dieser ist ein niedrigeres Wesen. Es ist meine innigste Überzeugung, dass der Klassenfeind sehr wohl ein
niedrigeres Wesen ist, degeneriert auf physischer, wie auch auf „moralischer“ Ebene“ (zitiert von Arkadi
Vaksberg „Le mystère Gorki“, p. 286-287).
49
wurde systematisch die Folter angewandt, ebenso die massenhafte Auspeitschung und die
Erschiessung von Geiseln. Die Bolschewiki benutzten nach dem Sommer 1918 die
Sowjets der armen Bauern, um die Einheit der bäuerlichen Welt zu zerbrechen, indem sie
den Klassenkampf aufs Land trugen. Drei Jahre lang, um Werth zu zitieren, provozierte
die Politik der Requisition Tausende von Erhebungen und Aufständen, die schnell in
eigentliche Bauernkriege ausarteten, die mit grösster Gewalt unterdrückt und schliesslich
unter Strömen von Blut erstickt wurden.
War der von der Partei und ihrer Tscheka ausgeübte Massenterror vor allem gegen
die Bauern gerichtet, so hatte er doch auch andere Zielscheiben: die protestierenden
Arbeiter (die in gewissen Fällen mit dem Maschinengewehr erschossen wurden . . . Wie
bescheiden wirken gegenüber der bolschewistischen Repression die Wellen weissen
Terrors gegen die Arbeiter in den USA, die in denselben Jahren stattfanden, 1919-1920
26), die Reaktionäre oder als solche bezeichneten (Monarchisten, Kadetten etc.), die
Anarchisten, worunter auch die tolstoiischen Pazifisten, die ländlichen religiösen
26
Dominique Colas, „Le léninisme“, 1998, p. 201. Colas gibt die Begriffe auf Russisch, um nicht
der Fehlübersetzung bezichtigt zu werden, wieder. Mit den schädlichen Insekten meint Lenin die
besitzenden Bauern (kleine, mittlere, grosse). Er spricht von einer eigentlichen Schmutzsprache bei Lenin
und untersucht die Beschimpfungen in den Texten („diese Sch…“, dieser Misthaufen) und einer
prophylaktischen Obsession der „Reinigung“ (was man für gewöhnlich den National-Sozialisten vorwirft:
Deutschland von den Juden reinigen . . .). Colas zeigt auch, wie Lenin überall Hysterie sah: bei Bucharin,
dem Bolschewik, bei Martow, dem Menschewik, bei der linken Sozialrevolutionärin Maria Spiridowa: sie
waren alle in den Augen Lenins Hysteriker. Spiridonowa wurde unter mysteriösen Umständen von Stalins
Gruppe liquidiert; sie war zuvor, auf die Diagnose von Lenin hin, psychiatrisch interniert worden, um geheilt
zu werden. Sie hatte die Gefängnisse des Zaren kennengelernt, war daraus aber heil herausgekommen. Es
ist vielsagend, vergleicht man die Zahl der Repressionsopfer unter dem Zaren mit derjenigen unter dem
bolschewistischen Regime. Die Positionen der linken Sozial-Revolutionäre waren von schweren
Widersprüchen gezeichnet; sie verstanden sich als Vertreter der besitzenden Bauernschaft (und das waren
sie auch: Sie nahmen weitgehend an den antibolschewistischen Bauernaufständen teil), waren gleichzeitig
Parteigänger, wie Bucharin, Ossinski und die Linkskommunisten, der Fortsetzung des Krieges gegen
Deutschland. Dieser Krieg war aber sehr unpopulär, v. a. bei den Bauern. Diese wünschten sich, scheint es,
vor allem eine Rückkehr zum Frieden, um ihr neu in Besitz genommenes Land bewirtschaften und
geniessen zu können.
50
Gemeinschaften, die Sozial-Revolutionäre, die Kosaken (eingefleischte Gegner der
Bolschewiki und Verteidiger ihrer herkömmlichen Lebensform 27), die Intellektuellen und
schliesslich die Religiösen, Popen und Mönche. Die Repression hatte auch eine antinationale Komponente; in der Tat war der nationale Faktor ebenso stark wie der religiöse,
insbesondere in der Ukraine. Graziosi spricht von Nationalkommunismus, ja sogar
National-Sozialismus gewisser ukrainischer Aufständischer. Tatsächlich musste sich die
bolschewistische Partei gegen die grosse Mehrheit der Bevölkerung in Russland
durchsetzen.
Wenn alle Bauern, die sich erhoben und rebellierten, als konterrevolutionäre
Kulaken abgetan wurden (eine grosse Verleumdung; sie wurden also nicht nur exekutiert,
sondern auch verleumdet; das gilt auch für die Anarchisten) , so wurden die
aufbegehrenden Arbeiter und Streikenden als Menschewiki und Sozial-Revolutionäre
taxiert, was zum grossen Teil falsch war und im Gegenteil von der Macht dieser beiden
Parteien und ihrer Popularität unter den Arbeitern und Bauern zeugte, wobei erstere häufig
ehemalige Bauern waren. Zahlreich waren die Arbeiter-Umzüge, häufig friedliche
Hungermärsche, die von den Bolschewiki – häufig mit Maschinengewehren - im Blut
erstickt wurden. Die lokale Tscheka spielte dabei jedes Mal in der Unterdrückung eine
Hauptrolle. Auf die Arbeiter-Streiks antworteten die Bolschewiki mit Aussperrungen und
mit der Verhaftung der Streikführer. Im Sommer 1918 fanden in den von den Bolschewiki
kontrollierten Gebieten vierzig Bauernaufstände und -rebellionen grossen Ausmasses
statt. Die Bauerngemeinden erhoben sich gegen die Zwangsrequisitionen, gegen die von
den proletarischen Bataillonen ausgeübte Brutalität, gegen die Zwangsrekrutierungen, die
auferlegten Einschränkungen des freien Marktes (de facto handelte es sich um einen
lokalen Markt), für die Wiederverteilung des Bodens und gegen die antireligiöse Politik;
die Bauern verlangten freie Sowjets ohne Kommunisten und Juden. Lenin rief in seinem
marxistischen, fortschrittlichen, aufklärerischen Fanatismus und seiner anti-reaktionären
27
Zitiert von Nicolas Werth und Alexis Berelowitsch, „L’Etat Soviétique contre les paysans“, o. c., p.
38
51
Paranoia dazu auf, die sogenannten Kulaken alle aufzuhängen 28. Jeder Widerstand der
bäuerlichen Gemeinschaften gegen die lokalen Autoritäten wurde sofort systematisch als
„konterrevolutionärer Kulaken-Aufstand“ bezeichnet. Die bolschewistische Legende
übertrug diese Version der Dinge in frommer Tradition; es gibt eine ganze Schule der
Fälschung und Verleumdung, in der die stalinistische Fraktion nur eine Komponente ist.
Die Konzentrationslager (von denen viele schnell zu Zwangsarbeitslagern wurden,
die im Lauf der Jahre 1919-1920 in der Zahl schnell zunahmen) wurden im August 1918
eingeweiht, vor dem Beginn des offiziellen Roten Terrors im September desselben Jahres,
28
Die Praxis der Vergewaltigung stand bei den Tschekisten hoch im Kurs und erreichte ein grosses
Ausmass. Das war dann auch wieder im grossen antifaschistischen Feldzug zur Eroberung Deutschlands
1945 der Fall. Tradition bei den Sowjets war auch die Ermordung der Gefangenen, wenn man sich vor dem
Feind zurückziehen musste.
Werth („L’Etat soviétique . . .“, o. c., p. 47) spricht von der unerhörten Brutalität der
Repräsentanten der neuen Macht auf dem offenen, nun eroberten Land. Hier war alles erlaubt und nichts
hinderte die kleinen lokalen Tyrannen vor Exzessen: Vergewaltigungen, Diebstahl, Demütigungen,
Plünderungen, Brandlegungen, Ermordungen, Folterungen; die Bauern waren ja in den Augen der
Bolschewiki Apriori-Feinde des Kommunismus. Er zitiert einen Bericht der Tscheka von 1922, also ein Jahr
nach der Zulassung der N.E.P., welche das Los der Bauern verbessern sollte (und die Linkskommunisten im
Westen warfen den Bolschewiki vor, mit der N.E.P. den Kommunismus zu verraten, indem sie mit der
Bauernschaft einen Kompromiss schlossen und so den Kapitalismus wieder einführten!):
„Die
Missbräuche
der mit der Lebensmittelbeschaffung
beauftragten
Funktionäre
haben
unvorstellbare Ausmasse erreicht. Nahezu überall werden die Bauern verhaftet und in ungeheizten
Scheunen gefangen gehalten, ausgepeitscht und mit dem Tode bedroht. Diejenigen, welche nicht gänzlich
die Naturalsteuer begleichen können, werden durch das Dorf gejagt und von den Pferdehufen zertrampelt.
Und dann kommen sie nackt in die eiskalten Scheunen. Mehrere Frauen sind geschlagen worden, bis sie
das Bewusstsein verloren, andere wurden nackt im Schnee eingegraben, Vergewaltigungen haben
stattgefunden.
Melgunow weist auf die grosse Präsenz von Letten in der Tscheka hin, der sie ganz ergeben sind.
Die Letten sind auch voller Enthusiasmus für die neue Sowjetordnung und sind die Gausamsten, wenn es
um die Verfolgung der Konterrevolutionäre geht. Das gilt auch für die Juden, die darauf erpicht sind, die alte
christlich-bäuerliche, reaktionäre Gesellschaft zu zerstören. Siehe dazu das Buch von Solschenizyn, o.c.
Darin wird auch von den Ungarn und Chinesen berichtet, die ganz schrecklich waren.
Die aufständischen Bauern ihrerseits gaben sich in Reaktion darauf ebenfalls ganz unglaublichen
Gräueltaten an den Bolschewiki (Juden oder Nichtjuden) hin, die in ihre Hände fielen.
52
eines Terrors, der auf Geheiss der Parteiführung einsetzte und nicht von der Basis im
Volk ausging, wie Dscherschinski schamlos behauptete 29. Petrowski, Volkskommissar
des Inneren, proklamierte in der Iswestija vom 4. September 191830: „Beim geringsten
Widerstand muss auf massive Massenexekution zurückgegriffen werden.“ (ibidem). Das
waren keine leeren Worte, sondern Anlass für systematische Tötungen. Der Sommer 1918
war ganz besonders blutig; viele streikende Arbeiter wurden damals erschossen; Werth
spricht von mindestens 10 bis 15 000 Exekutionen im Herbst 1918. Im März 1919 wurde
Dscherschinski zum Volkskommissar des Inneren ernannt, was nichts Gutes verhiess. In
der Tat wurden sofort „Spezialkommandos“ bestimmt, welche die Armee überwachen und
gegen Anzeichen von „Anti-Sowjetismus“, Bauern-Aufständen und
Arbeiterdemonstrationen kämpfen sollten. Trotzki lieferte für diesen zum System
erhobenen Terror die theoretisch-revolutionäre Rechtfertigung (erklärte aber auch, er sei
populären Ursprungs und die Ausbeutung der Kapitalisten und Grundbesitzer sei dafür
verantwortlich). Man lese „Terrorismus und Kommunismus“, eine wahrhafte Apologie des
Terrors, eine Antwort auf Kautskys Vorhaltungen 31 32.
29
Die Tscheka-Frauen zeichneten sich durch sadistische Grausamkeit aus und überflügelten dabei
sogar ihre männlichen Kollegen.
30
Die Arbeiter wurden verfolgt und unweigerlich deportiert, erschossen oder massakriert, wenn sie
sich dem jungen Sowjetstaat entgegenstellten. Sie wurden in den folgenden Jahren vom stalinistischen
kommunistischen Staat besiegt, der sie aber erst dank des Zweiten Weltkrieges schachmatt setzen konnte.
31
Werth beschreibt eigentliche Ausrottungskriege, den der neue Staat ohne Erbarmen gegen die
Kosaken führte. Ihre Dörfer wurden verbrannt, die Einwohner massakriert, die Überlebenden deportiert (o. c.
p. 112-117). Die Bolschewiki betrachteten die Don-Region als eigentliche russische Vendée (was schon
alles sagt). Graziosi zitiert, o.c., p. 35, einen Brief eines bolschewistischen Kommandanten an das
Zentralkomitee, worin er eine Politik « der Massenausrottung ohne Unterschied » empfiehlt. Graziosi spricht
von der Armee von Sokolnikow ; sie füsilierte 1919 im Verlauf einiger Wochen über 8000 Personen.
32
« Genossen, der Kulakenaufstand in euren fünf Distrikten muss erbarmungslos niedergeschlagen
werden. (. . .) Es muss ein Exempel statuiert werden: 1) Nicht weniger als 100 reiche blutsaugerische
Kulaken hängen (und zwar so, dass alle sie sehen) ; 2) ihre Namen veröffentlichen ; 3) sich all ihres Korns
53
Die Jahre 1919-1920 sahen die grössten Bauernrevolten gegen die Macht der
Bolschewiki; sie waren noch grösser, als diejenigen von 1918; ebenso zahlreiche
Revolten, Streiks und Aufstände von Arbeitern, die alle gewaltsam unterdrückt wurden.
Die Arbeiter von Petrograd widerstanden der Macht der Bolschewiki von Beginn des
Jahres 1918 an. Die Bataillone der Tscheka unternahmen den Sturm auf die PutilowWerke, die von den Arbeitern mit der Waffe in der Hand verteidigt wurden. Zweihundert
Arbeiter wurden ohne Gerichtsspruch füsiliert. Die Streiks dehnten sich aufs ganze Land
aus; die Stadt Astrachan sah im März 1919 das grösste Massaker an Arbeitern, welches
die Bolschewiki vor Kronstadt anrichteten. Werth spricht von mehr als Dreitausend Toten
in Folge der bolschewistischen Repression 33.
bemächtigen ; 4) die Geiseln identifizieren, wie im gestrigen Telegramm angegeben. » Lenin, Telegramm
vom 10. August 1918, von Werth, o.c., p. 84 zitiert.
Robespierre hatte dem Konvent erklärt, als man das Prairal-Gesetz diskutierte : « Um die Feinde
des Vaterlandes zu bestrafen, genügt es, ihre Person festzustellen. Es geht nicht darum, sie zu bestrafen,
sondern sie zu vernichten. » (zitiert von Stéphane Courtois, « Le livre noir du communisme », o. c., p. 796.
Das Projekt von Lenin und Dscherschinski sah nicht anders aus.
Wenn wir von Beschuldigungen ohne Grundlage gegen die Bauern aller sozialen Verhältnisse
sprechen, behaupten wir nicht, es hätte keine Kulaken gegeben. Es gab in der Tat gutgestellte und reiche
Bauern; sie waren in den Gemeinden und Dörfern gut integriert und wurden keineswegs als Ausbeuter
wahrgenommen, ganz anders als die Wucherer der Städte. Diese Kulaken versuchten zu spekulieren, zu
horten und auf Kosten der armen Bauern, des revolutionären Staates und der entwurzelten Proletarier des
Landes Reichtümer zu scheffeln. Wir leugnen nicht, dass der revolutionäre Staat gezwungen war, mit ihnen
einen Kompromiss einzugehen und oftmals, nicht zuletzt infolge der grossen Terrorwelle, zurückweichen
musste. Die stalinistische Macht konnte nämlich zur Versorgung der Bevölkerung nicht auf grosse Importe
zurückgreifen. Bucharin (Bordiga war mit ihm darin einverstanden) war dafür, die Kulaken reich werden zu
lassen, damit der Staat später, nach vollbrachter Akkumulation (einer Akkumulation, die nicht als
kommunistisch gelten sollte, anders als die von Preobraschenski geforderte) diese wieder einsacken könnte.
33
Der Vorwand zur Einführung des Roten Terrors waren zwei Attentate, dasjenige vom August 1918
gegen Uritsky, den Verantwortlichen der Tscheka von Petersburg ; dieser wurde dabei getötet, und
dasjenige gegen Lenin, der dabei ernsthaft verletzt wurde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Attentat
eine Machenschaft der Bolschewiki selbst bzw. eine bolschewistische Provokation war. Auf jeden Fall war
kaum Dora Kaplan der Täter, der dann angeklagt und erschossen wurde. Lenin trat nicht dazwischen, wenn
es auch eine sentimentale Legende gibt, Lenin sei für seine Begnadigung eingetreten.
54
Lenin rief zu einer exemplarischen Unterdrückung der Streikbewegung auf; Werth
zitiert ein Telegramm, das er an Smirnow am 29. Januar 1920 abschickte: „P. M. hat mir
berichtet, dass von Seiten der Eisenbahnen offenbar Sabotage stattfindet (. . .) Man sagt
mir, die Arbeiter von Ijewsk seien ebenfalls darin verwickelt. Ich bin erstaunt, dass Sie das
akzeptieren und wegen dieser Sabotage nicht zum Mittel massiver Exekutionen greifen.“
(ibidem) 34. Die Arbeiter erhoben sich in Ijewsk, die Repression war furchtbar, mehrere
hundert Arbeiter wurden im November 1918 erschossen (Solschenizyn, dessen
Zahlangaben mit Vorsicht zu geniessen sind, spricht von Tausenden von Toten).
Die Bauernaufstände, die 1918 begonnen hatten, nahmen folglich 1919-1920 eine
neue Dimension an; ihr Höhepunkt war im Winter 1920-1921. Die Zahl der bäuerlichen
Deserteure erreichte mehrere Millionen35; diese Deserteure formten das Gros der
Bauerntruppen (die unter dem Begriff der „Grünen“ zusammengefasst wurden: Deserteure
und Aushebungsflüchtige, im Gegensatz zu den Roten und den Weissen). Sie bildeten
34
Werth bemerkt, dass aber auch Potrowski gleichzeitig mit Bucharin gegen die Zügellosigkeit der
Tscheka protestierte. Kamenew ging sogar soweit, die Auflösung der Tscheka zu verlangen. Stalin, Trotzki
(« der grosse Trotzki », sagte Bordiga), Swerdlow und Lenin (« der Gigant », sagte Bordiga) verteidigten
jedoch die Tscheka und Dscherschinsky. Lenin sagte: « ein guter Kommunist ist auch ein guter Tschekist. »
Und Sinowjew (« der gute Sinowjew », Bordiga) erklärte: « Die Tscheka ist die Schönheit und der Stolz der
Kommunistischen Partei. » (nach Melgunow, o.c., p. 306)
« Wir verwerfen das alte Moralsystem und die alte « Menschlichkeit », beide von der Bourgeoisie
erfunden, um die unteren Klassen auszubeuten und zu bedrücken. Unsere Moral hat keine Vorläuferin,
unsere Menschlichkeit ist absolut, denn sie beruht auf einem neuen Ideal: auf der Zerstörung jeder Form
von Bedrückung und Gewalt. Für uns ist alles erlaubt, denn wir sind die ersten auf der Welt, welche das
Schwert ergreifen, nicht um zu unterdrücken und zu Sklaven zu machen, sondern um die Menschheit von
ihren Fesseln zu befreien. . . . Blut ? Dass das Blut in Strömen fliesse! Denn allein das Blut kann die
schwarze Fahne der Bourgeoisie für immer in die rote Standarte der Revolution umfärben. » („Krasolnyi
Metsch“, Das rote Schwert, Zeitung der Tscheka, Nr. 1, 18. August 1919. Zitiert von Werth, o.c., p. 117. Statt
des „den Reinen ist nichts unrein“ „den Revolutionären ist alles erlaubt“.
35
Bordiga äusserte sich 1960 lobend zu „Terrorisme et communisme“ in seinem Text zu „Die
Kinderkrankheit des Kommunismus“, o.c,. p. 22. Er sagt sogar, Trotzki habe das in seiner besten Stunde
geschrieben!
55
eigentliche Armeen gegen die Zwangsrequisitionen; zuweilen, wenn auch selten, auf jeden
Fall seltener, als die Bolschewiki weismachen wollten, degenerierten sie zu Plünderern
und Räubern. Es waren gewaltige Aufstände, in der Ukraine, in der Provinz Samara,
Tambow, Saratow, in Sibirien, in den Kosakenländern. Diese Armeen zählten
Zehntausende von Soldaten. Die Tscheka und die Rote Armee schritten zu einer Politik
der Befriedung des Landes; sie bestand darin, die Dörfer der aufständischen Regionen zu
zerstören. Sie wurden bombardiert, verbrannt, vergast; Hunderte von Menschen wurden
dabei füsiliert. Die Parolen der Aufständischen waren immer dieselben: Handelsfreiheit!,
Sowjets ohne Kommunisten und Juden! (die oftmals gleichgesetzt wurden, nicht immer zu
Unrecht), Tod den Bourgeois!, Tod den Bolschewiki! und Tod den Juden! Die Bauern
wollten ihre Länder behalten und kein Zurück zum Grossgrundbesitzertum, wie das das
Ziel der Weissen Armee war36. Ein mobilisierendes Motiv der aufständischen Bauern war
die Ablehnung der atheistischen Politik des bolschewistischen Regimes37. Das war schon
bei der Vendée der Fall gewesen. Die Schliessung von Kirchen und Klöstern mit der
Verfolgung der Kirchentreuen war Anlass vieler der ersten Aufstände. Ende 1920 wurden
die ersten Massendeportationen in die Wege geleitet; Stalin sollte sie im grossen Stil
weiterführen. Deportiert wurden Individuen und ganze Familien, die als wenig
vertrauenserweckend galten.
36
« Der Feind soll ausser Stande gesetzt werden, zu schaden ; in Kriegszeiten heisst das
‚auslöschen’ », Trotzki, zitiert von Melgunow, o.c., p. 69
37
Hat man all diese Massaker im Kopf, so muss man erbrechen, liest man all die flammenden
Appelle von Lenin, Trotzki und den andern Chefs der Bolschewiki zur kommunistischen Revolution, zur
proletarischen Solidarität, zum Klassenkampf und tutti quanti. Trotzki schreibt 1919 in seinem Manifest der
kommunistischen Internationalen an die Arbeiter der ganzen Welt anlässlich des ersten Kongresses der
kommunistischen Internationalen :
« Unter der Fahne der Sowjetarbeiter, des revolutionären Kampfes um die Macht und der Diktatur
des Proletariates, unter der Fahne der III. Internationalen: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! »
(« Manifestes, Thèses et résolutions des quatre premiers congrès mondiaux de l’Internationale
Communiste, 1919-1923 », Reprint 1972)
56
Werth zitiert zahlreiche Berichte von Parteirepräsentanten, welche der Tscheka
gegenüber feindlich eingestellt waren und diese Bewegungen geisselten.
Nach der Beseitigung der Weissen Armeen und der Armee von Machno Ende
1920 38 39 vervielfältigten sich die Aufstände - solche von Bauern und von Arbeitern ganzer Provinzen, solcher, die nun schon seit Jahren ausgeplündert wurden und
ausgeblutet waren; die Bolschewiki kontrollierten nur noch die Städte und versuchten von
dort aus, das flache Land wieder zu erobern40. Anfang 1921 war der Höhepunkt der
38
Die Prawda schrieb am 12. Februar 1920: « Der beste Platz für einen Streikenden, diese gelbe,
schädliche Mücke, ist das Konzentrationslager.» Werth zitiert auch einen Brief von Lenin an Trotzki :
« Mögen Tausende umkommen, wenn nötig, wenn nur das Land gerettet wird. » (ibidem, p. 103)
Dimitri Wolkogonow bemerkt in „Le vrai Lénine“, dass die von Lenin geschickten Telegramme,
insbesondere diejenigen vom Herbst 1918, nie öffentlich gemacht worden sind. Er zitiert eines an Sinowjew:
Danke, meine Rekonvaleszenz geht gut voran. Ich bin sicher, dass die Niederschlagung der Tschechen und
der Weissen Garden in Kazan, sowie der blutsaugerischen Kulaken, welche sie unterstützen, exemplarisch
durchgeführt wird, d. h. brutal » („Le vrai Lénine“, o. c., p. 215). Im August 1918 schrieb Lenin an Nicolas
Semachko, einen der Kommandanten im Bürgerkrieg: « Ich beglückwünsche für die Ausrottung der Kulaken
und Weissen Garden des Distrikts. » (ibidem, p. 249)
39
Es soll 1919 1.5 Millionen Deserteure aus der Roten Armee gegeben haben.
40
Der General Denikin wollte die Agrarfrage nicht angehen, weswegen ihm die Bauern feindlich
blieben. Bei General Wrangel war das anders.
In seinen Mémoires (Reprint 2002) ist im Anhang der Text einer Rede zu finden, die er 1926 in
Brüssel hielt. Er resümiert darin den Epos seiner Weissen Armee und zieht eine Bilanz. Er behauptet, es
hätte in dieser Armee Menschen aller Klassen und aller politischen Richtungen gegeben. Er klagt den
Bolschewismus und seinen Hass auf das russische Vaterland und auf alles Nationale an. Er klagt aber auch
über den Westen, der ihn eine Zeit lang unterstützte, als es um Polen ging, das vor der sowjetischen
Invasion bewahrt werden musste, der die Weisse Armee aber fallen liess, als es darum ging, mit den
Bolschewiki ins Geschäft zu kommen.
Wrangel sagt, er habe die Expatriierung seiner Armee akzeptiert, nicht aber, dass er in ein anderes
Land verfrachtet wurde ; die alten Soldaten sollten bei ihren Offizieren und unter sich bleiben, in eigentlichen
Gemeinschaften leben, die Armee sollte überdies seiner Ansicht nach das Zentrum bleiben, um das sich alle
russischen Emigranten der bolschewistischen Revolution scharen sollten. « Alle diese Menschen waren
durch eine einzige Idee miteinander verbunden: die grenzenlose Liebe zu ihrem Vaterland. » (p. 256).
Wrangel schuf eine Allgemeine Vereinigung der russischen Kämpfer: « Alle Mitglieder dieser Arbeitsarmee
57
Bauernkriege, vor allem mit der Revolte der Region um Tambow. Diese war am besten
organisiert, dauerte am längsten und war bedeutend. Es entstand daraus ein eigentlicher
Krieg. Anführer war Alexander Stepanowitsch Antonow41. Die Dörfer und Wälder, in die
sich die revoltierenden Bauern zurückzogen, wurden bombardiert, geplündert, vergast und
angezündet. Die gegen die Bauern anrückende Armee zählte fast hunderttausend Männer,
worunter starke Abteilungen der Tscheka unter General Tuchatschewski, der kaum einen
Monat zuvor den Aufstand von Kronstadt niedergemacht hatte (bei gleichzeitiger scharfer
Unterdrückung der Arbeiter in Petrograd 42). Es gelangten in dieser Befriedungsaktion
Flugzeuge, Panzerzüge und schwere Artillerie zum Einsatz. Die Bewohner ganzer Dörfer
wurden verschleppt (der Stalinismus hat nichts Neues erfunden) und in
Konzentrationslager interniert (nach dem im Burenkrieg in Südafrika von den Engländern
leben von ihrer eigenen Arbeit. Sie verzichten auf einen Teil ihres Lohnes zur Unterstützung der
Organisation, der Kranken und Arbeitslosen. Das ist ein einzigartiger Fall in unserer industriell-merkantilen
Gesellschaft. » (ibidem, p. 257) Für Wrangel sollte diese nationale Organisation ein Gegengewicht gegen
die Kommunistische Internationale bilden, die sich « der russischen Erde bemächtigt » hat. Er meint zudem:
« Wir suchen nichts für uns selber und wollen nicht mit Gewalt die alten Rechte und Privilegien der
führenden Klassen wieder einsetzen. » (ibidem, p. 258); eine Rückkehr zum alten zaristischen Regime war
also nicht vorgesehen.
In « Zwei Jahrhunderte gemeinsam », o. c., p. 167 und 170 behauptet Solschenizyn, vielleicht
etwas voreilig, weder Admiral Koltschak noch der General Wrangel hätten akzeptiert, dass ihre Truppen an
Pogromen gegen die Juden teilnähmen.
41
Werth zitiert den Aufstand des « Schwarzen Adlers und des Pflügers », der die Provinzen von
Kazan, Ufa und Samara in Brand steckte, die besonders brutalen Requisitionen unterzogen worden waren.
42
In « Makhno et la révolution ukrainienne », Atelier de création libertaire, 2003 (eine um einen
vorher erschienen Artikel erweiterte Version erschien auf Italienisch in der Revista Storica dell’Anarchismo)
bricht Ettore Cinella mit der lobhudelnden anarchistischen Behandlung der Anhänger von Machno und
berichtet offen von wilden und grausamen Aktionen der Leute von Machno; er kritisiert auch den
militaristischen Stil, wie zuvor schon Volin. Es bestand offenbar eine Tradition der Grausamkeit bei den
russischen Bauern. Die Bauern waren gegenüber den Bolschewiki und den Polit- Kommissaren (die man für
Juden hielt) erbarmungslos; immerhin hatten im Krieg zwischen den Bauern und dem Regime nicht die
Bauern die Feindseligkeit eröffnet.
58
perfektionierten Modell); es wurden Geiseln genommen, die Folter eingesetzt und
Massenerschiessungen durchgeführt, wobei Frauen, Kinder und Alte nicht verschont
wurden.
Die Straf-Abordnungen (offiziell „Ausrottungs-Abordnungen“ genannt) wurden
oftmals von ehemaligen zaristischen Offizieren angeführt, die sich der bolschewistischen
Macht angeschlossen hatten, in der sie ein Bollwerk gegen die Bauernhorden sahen; sie
nutzten die modernen Kriegsmittel gegen die Bauern.
Auf die Erhebungen und ihre Niederwerfung folgte die grosse Hungersnot von
1921-1922; sie war zum grossen Teil auf die Zwangsrequisitionen in den Feldzügen
gegen das flache Land, die Brutalität der Einsammlung der Naturalsteuern 1921-1922
(Bordiga mass einer diesbezüglichen Rede von Lenin grosse Bedeutung zu)
zurückzuführen. Diese Naturalsteuern schienen die von bewaffneten Truppen
durchgeführten Zwangsrequisitionen zu ersetzen, unterschieden sich aber von diesen in
nichts. Werth zitiert einen Freund von Lenin, dem man wohl vertrauen darf 43:
43
Man behauptet oft, Machno hätte sowohl die Roten als auch die Weissen bekämpft; das ist aber
nicht ganz wahr. Machno schlug den Roten eine Allianz vor; diese nahmen an und Machno vernichtete die
Armee von Wrangel. Der Anarchist Volin erzählt die Geschichte in « Die unbekannte Revolution », p. 407.
Machno und seine Generäle wurden indessen von den alliierten Bolschewiki verraten, die sich über ihr
gegebenes Wort hinwegsetzten. Machno konnte fliehen, seine Generäle wurden erschossen. Für die
Bolschewiki, Verehrer von Netschajew, gab es keine Ehre und kein Ehrenwort, das man einem
Klassengegner gab. Folglich keine Moral. Gegen den Feind ist alles erlaubt. So durfte man den Alliierten
von gestern getrost verraten, man musste ihn - Bauer oder Arbeiter - bloss zum Konterrevolutionär oder
Kulaken, Sozial-Revolutionär oder Menschewik erklären.
Volin anerkennt, dass es Wrangel gelungen war, sich die Sympathien des bäuerlichen Volkes zu
gewinnen.
Wenn Volin nicht den Hass der Bolschewiki für das Leben und die Welt der Bauern hegt, so hegt er
für sie aber auch keine besondere Sympathie, wie man aus der Lektüre spürt. Sie haben für ihn eine
Bürgermentalität. Er erwähnt auch nicht die Obschtschina, die Werkgemeinschaft. Im zweiten Buch, 5. Teil
fordert er eine eigentliche Kollektivierung der Landwirtschaft (ibidem, p. 351).
Indem die Anarchisten die Machno-Armee in den Himmel erhoben, kaschierten sie die Tatsache,
dass die Gesamtheit der Bauernschaft sich gegen die bolschewistische Macht erhob.
59
„Wladimir Uljanow Lenin hatte den Mut, offen zu erklären, dass die Hungersnot
viele positive Folgen habe, d. h. das Aufkommen eines Industrieproletariates, dieses
Totengräbers der bürgerlichen Ordnung (. . .) Indem die zurückgebliebene bäuerliche
Wirtschaft zerstört wird, so erklärte er, bringt uns die Hungersnot unserem Endziel näher,
dem Sozialismus, der unmittelbar dem Kapitalismus folgenden Etappe. Die Hungersnot
zerstört ebenso den Glauben an den Zar wie an Gott.“ (ibidem) 44
44
Man findet zahlreiche Texte über die Bauernerhebungen von 1921 gegen die Zwangsrequisitionen
mit ihrer Zerstörung des bäuerlichen-traditionellen Dorflebens, aus libertärer Sicht, auf der britischen
anarchistischen Website Libcom.org, mit Nick Heath signiert. So vor allem über die radikale,
antibolschewistische anarchistische Erhebung in Samara vom Mai 1918, über die Meuterei von Fomin in der
Don-Region 1920 – 1922 (Fomin war ein Kosake, ein altes Mitglied der Roten Armee), die Erhebung von
Kolesnikow (ebenfalls ehemaliger Armeekommandant der Roten und Bolschewik) und über die
Wahrheitsarmee
1920. Die Rote Armee entsandte einen Panzerzug und grössere Detachements von
Kavallerie und Infanterie, um mit der Wahrheitsarmee ein Ende zu machen. Sapschow rief alle Arbeiter auf,
gegen die in den sowjetischen Institutionen weiterhin wirkende Bourgeoisie und die Pseudokommunisten
Lenin und Trotzki zu kämpfen und eine wirkliche Sowjetmacht zu errichten. Ein anderer Text legt Zeugnis
über die Meuterei von Maslakow und der Machnowisten am Don ab. Maslakow, Brigade-Kommandant der
Roten Armee weigerte sich, gegen die Machnowisten zu kämpfen und fraternisierte mit ihnen. Ein anderer
schliesslich, « La troisième révolution ? Résistance paysanne au gouvernement bolchévicque » zieht die
Bilanz der Bauernaufstände und der Verbindungen zwischen ihnen.
Die Texte von Nick Heath sind vom Collectif Anarchiste de Traduction et de Scannerisation
(C.A.T.S.) von Caen Ins Französische übersetzt worden ; eine gute Arbeit, nur hielten es die Übersetzer für
gut, ihre Übersetzung zu feminisieren (sie sagen das selbst), so dass überall, wo auf Englisch peasants
steht paysanNEs steht, z. B. « kulaks are rich peasants » heisst dann auf Französisch : « Kuoulaks sont
des paysanNEs riches ». Das machen sie auch mit allen Zitaten so, etwa mit denen aus Schriften von
Bakunin, der das nicht gemacht hat. Sprechen wir nicht von der Feminisierung von Titeln und Funktionen:
l’auteure, la proviseure, la ministre. Dabei sind aber die Transsexuellen und Bisexuellen vergessen worden!!
Diese gab es sicher auch unter den Aufständischen! Das ganze ist eine Groteske. Sogar Jacques Camatte
entrichtet dieser neuen orthographischen Göttin seine Opfergabe und schreibt « des hommes et des
femmes », « des travailleurs et travailleuses », « la communaute humano-féminine », « le commun des
mortes et mortelles » etc., was mitunter richtig, oftmals aber absurd, ja grotesk ist. Renaud Camus bemerkt
in seinem Répertoir des délicatesses du français contemporaire », p. 178, es sei General De Gaulle
gewesen, der den Frauen das Frauenstimmrecht gegeben hat und sich als erster ausgesprochen an die
Franzosen und Französinnen wandte, wonach die Chefs der KPF, um nicht hintennach zu stehen, von
Arbeitern und Arbeiterinnen zu sprechen begannen. Camus betont, dass in der französischen Sprache der
60
Die Bolschewiki entfesselten ebenfalls die Repression gegen die religiöse Welt, die
sich häufig mit der bäuerlichen vermischte 45. Diese Offensive gegen die Religion und die
maskuline Titel für menschliche Funktionen auch die Frauen dieser Funktionen miteinbezieht, quasi als
Neutrum, das im Französischen nicht existiert, wobei das Masculinum zum Neutrum gewählt wurde, da das
Männliche gesellschaftlich eine Vorrangstellung einnimmt (eingenommen hat). Im Lateinischen, Sprache der
wohl unbestritten patriarchalen Römer, gibt es ein Neutrum, ein « Zwischen » von Masculinum und
Femininum. Die Sprache ist Zeugnis, sagt Camus, eines Gesellschaftszustandes, der verschwunden ist; im
hier vorliegenden Fall desjenigen vor der feministischen, antirassistischen, antihomophoben Revolution.
Genau das macht aber auch ihren Charme aus. Doch bis die Sprache des neuen, hypothetischen
Gemeinwesens der Zukunft da ist, bleibt die bestehende Sprache das einzige Medium, über das wir
verfügen, um uns verständlich zu machen und auszudrücken. Die Welt ändert sich, die Sprache mit ihr, sie
ist lebendig, sie entwickelt sich, sagen die Modernisten, Revolutionäre und Dekonstrukteure; sicher, die Welt
verändert sich, wir haben es gemerkt, doch muss man jede Veränderung, jede Entwicklung einfach
hinnehmen ? Ist jede Veränderung an sich gut? Kann eine Evolution nicht auch eine Regression sein? Nun
aber scheint uns mit besagter neuer Schreibweise eine Regression der Sprache einzutreten und mit ihr eine
Regression des Denkens. Die Sprache ist auch ein Medium, sich gegen die Revolution zur Wehr zu setzen,
ihr zu widerstehen, wie das Konfuzius forderte oder die imaginierten Aristokraten von Balzac in seinem
Roman « Le cabinet des antiques ». Früher oder später gewöhnt man sich an die neue Sprache und man
beginnt neue Ausdrücke wie ‘Homophobie’, ‘Rassismus’, ‘Negationismus’, ‘Homo-Ehe’, ‘Recht aller auf Ehe’,
oder, ganz abwegig : ‘ein Homo-Pärchen’, wo man doch von zwei Schwulen sprechen müsste, oder
‘homosexuelle Elternschaft’, ‘Sexismus’, ‘Islamophobie’ anzuwenden, alles Ausdrücke, welche ein Publikum
aus stundenlang sich ergiessendem Radio-Geschwätz und am Fernsehen aufnimmt, besoffen und neugierig auf News, – und selbst zu sprechen beginnt. Doch, eben, die Modernisten beteuern es: die Welt
ändert sich und die Sprache mit ihr!
45
Man findet Dokumente über die Revolte von Tambow in der trotzkistisch-lambertistischen
Zeitschrift « Les cahiers du mouvement ouvrier », Nr. 4, Dezember 1998. Die Dokumente über die
Antanowtschina werden redlich vorgestellt, bolschewistische und solche der Aufständischen, insbesondere
das Programm der „Union der Ackerbauern“ vom Dezember 1920, Flugblätter, die sich an die Arbeiter,
Bauern und Soldaten der Roten Armee richten. Auf Seite 69 liest man :
„Genossen im Feld ! Dass sich eure Stimme der Beleidigten und unsere in einem einzigen Aufruf
vereinten: ‚Tod den Kommunisten, es lebe die allgemeine, bewaffnete Erhebung der Bauern und aller
Unterdrückten gegen die unterdrückerischen Kommunisten !’
61
Orthodoxe Kirche – die Bolschewiki fanden, zumindest anfänglich, in den russischen
kirchenabtrünnigen Sekten die hartnäckigsten Gegner der Kirche – war auch ein Mittel,
sich die Reichtümer dieser Kirche anzueignen46. Diese Epoche des Bürgerkriegs endete
mit dem Prozess gegen die Sozial-Revolutionäre, der im Juni 1922 begann, einer Parodie
eines Prozesses, der die grossen Prozesse von Moskau und, im Westen, von Nürnberg
ankündigte. Die Behörden organisierten während dieses Prozesses „spontane“
Volksdemonstrationen, welche die Todesstrafe für diese „Terroristen“ forderten.
Mehr noch als die N.E.P., die von Lenin dekretiert worden war, brach die grosse
Hungersnot von 1922 den Schwung der Bauernschaft.
Nach einem Unterbruch (ungefähr zwischen 1923 bis 1927) gelangte der Krieg
des Staates, nunmehr unter der Führung von Stalin und seiner Gruppe, gegen die
Bauernschaft 1927 zum Schlussakt: die kleinen Eigentümer wurden durch die (nur
ironisch so zu verstehende, wenn auch durchaus „radikale“) „antikapitalistische
Revolution“ beseitigt. Dieser zweite Angriff der russischen Marxisten auf die Bauern ihres
Wir Bauern haben das getan und die Waffen ergriffen. Die heuchlerischen Kommunisten nennen
uns Banditen und möchten uns so in den Augen unserer Brüder entehren und das Volk aufwiegeln, gegen
uns zu kämpfen.
Glaubt diesen verleumderischen Halunken nicht, sie lügen schamlos und gewissenlos, wie ein
Jüdchen, um eine Kopeke zu ergattern. Wir sind keine Banditen, sondern das bewaffnete Volk im Aufstand,
die revolutionäre Armee. Deshalb richten wir uns an euch, ihr Genossen im Feld. Senkt ohne zu zögern die
Bajonette zu Mutter Erde, schliesst euch uns an, wie das schon viele von euch gemacht haben. Wir nehmen
euch wie Brüder auf, wie ihr wollt könnt ihr euch bei uns einreihen oder zu euren Feldern und Herden
zurückkehren, wo euch eure Väter und Mütter traurig und ermattet erwarten. Kehrt zu euren Familien
zurück, solange die Kommunisten sie nicht aufgelöst und wie Vogelnester zerrissen haben.“
46
« Die Arbeiter haben den Kontakt mit den einkasernierten Soldaten aufgenommen (. . .) Wir
erwarten immer die Verstärkung durch Truppen, die wir aus Novgorod angefordert haben. Wenn keine
sicheren Truppen in den kommenden Stunden eintreffen, werden wir überwältigt. » (Telegramm von
Sinowjew, Chef der bolschewistischen Organisation von Petersburg an Lenin vom 26. Februar 1921, zitiert
von Werth, ibidem, p. 128.
62
Landes traf nunmehr auf einen viel zerbrechlicheren Gegner47. Dieser Angriff wurde von
der Forderung nach Erhöhung der Requisitionen vom Land durch Stalin eingeleitet. Stalin
sollte die von Lenin begonnene Arbeit beenden, ja radikalisieren, indem er das Programm
der Linken unter Trotzki und Preobraschenski aufnahm. Der Albtraum sollte wieder
beginnen. Die Kampagne der Kollektivierung implizierte Deportationen, Internierungen in
Konzentrationslager, Massaker und natürlich wieder eine grosse Hungersnot, diejenige
von 1932-1933. In der Ukraine, in Kasachstan, im Nordkaukasus und in der russischen
Gegend der Unteren Wolga führte sie zu mehreren Millionen Todesopfern, aber auch in
Sibirien, im Ural und in andern Gegenden starben Zehntausende, ja Hunderttausende von
Menschen an Hunger. Auch diese Hungerkatastrophe wurde weidlich eingesetzt, den
Widerstand der Bauern zu brechen. Werth zögert nicht, anzunehmen, dass diese
Hungersnot bewusst angezettelt worden ist, auf jeden Fall war sie allein durch die
Landwirtschaftspolitik (oder besser: -gegenpolitik) des russischen Staates verschuldet48
49. Anstrengungen, um die Zwangskollektivierung und ‚Entkulakisierung’ durchzuführen,
waren (wie zuvor anlässlich der Zwangsrequirierungen) Anlass zu einer neuen
Entfesselung von Gewalt. Die Politik der so genannten Entkulakisierung (d. h. der
Vernichtung der bäuerlichen Elite) bot dem Bodensatz der ländlichen Gesellschaft den
47
Der Tagesbefehl Nr. 171 vom 11. Juni 1921, signiert von Antonow Owseenko und
Tuchatschewski, lautete: « 1. Jeden Bürger, der seinen Namen anzugeben sich weigert, erschiessen. (. . .)
3. Im Falle dass versteckte Waffen gefunden werden, soll der Älteste der Familie an Ort und Stelle
erschossen werden. (. . .) 5. die Familien, die Mitglieder oder Güter der Familie verstecken, sind als
Banditen zu betrachten und ohne Gerichtsverfahren soll ihr Ältester an Ort und Stelle erschossen werden. (.
. .) 7. Dieser Befehl ist streng und erbarmungslos durchzuführen. » (von Werth zitiert, ibidem, p. 132)
48
A. Beliakow, „Iunost vozdia“, („Die Jugend des Führers“), 1960 erschienen.
49
Lenin bewunderte Netschajew seines Antimoralismus’ wegen. Er erklärte 1919 in einer Rede an
die Jungkommunisten: « Wir glauben an keine ewige Moral und verwerfen den Trug der Feenmärchen über
die Moral. » (zitiert von Wolkogonow, « Le vrai Lénine », o. c., p. 242. Wir haben diese Rede in unseren
36 Bänden der sogenannten gesammelten Werke des Fremdsprachendienstes in Moskau von Lenin nicht
finden können. Auf jeden Fall ist dieser Fluch über die Moral keinesfalls überraschend und steht in
vollständigem Einklang mit anderen Schriften und berichteten Aussagen.
63
Vorwand für die Begleichung alter Rechnungen mit Vergewaltigung, Folter und
unbegrenzter Plünderung. Mit dem Krieg gegen die Bauern fing der Krieg gegen die
Mönche, Popen, Klöster und Kirche im Namen eines militanten Atheismus, welchen
Bulgakow in „Der Meister und Margerita“ lächerlich machte, von neuem an; erneut stand
die Religionsfrage im Vordergrund. Der Terror setzte wieder ein50. Nach Werth wären
damals 250 000 Personen bei den Deportationen der Jahre 1932-1933 gestorben. Werth
unterscheidet verschiedene Deportationswellen. Die erste um 1930 fand unter dantesken
Verhältnissen statt: Die Deportierten blieben oft ihrem Schicksal überlassen, da nichts für
ihre Logierung und Verpflegung, ja nicht einmal für ihren Arbeitseinsatz vorgesehen war.
In den folgenden Jahren wurden die Deportierten ökonomisch unter Verhältnissen
ausgebeutet, welche die englischen workhouses Mitte der ersten Jahrhunderthälfte des
19. Jahrhunderts als Luxushotels erscheinen lassen (Arbeitstage von 12 Stunden ohne
Lohn, Einsatz schwangerer Frauen und von Kindern etc.) Werth spricht von einer
Todesrate von 10 bis 15 % unter den Deportierten. Erneut gab es grosse Aufstände von
Bauern gegen die Sowjetpolitik in den Dreissigerjahren, insbesondere in der Ukraine, sie
führten aber nicht mehr zu den eigentlichen Kriegen wie 1920-1921. Die Bauern forderten:
Beendigung der Entkulakisierung, Handelsfreiheit (eines Handels, der wie gesagt ganz
lokalen Zuschnitts war, wenn es auch sicher gewisse Bauern gab, die sich im Handel mit
dem Staat bereichern wollten), zudem wurden nationalistische Forderungen in der
Ukraine, eine der Hauptzonen des Widerstandes gegen den Bolschewismus, erhoben.
Die Führer der Sowjetunion, Stalin und seine Leute, insbesondere Molotow und
Kaganowitsch, sind für die schrecklichen Hungersnöte von 1932-1933 verantwortlich; sie
beschuldigten aber die Bauern, daran schuldig zu sein, und so gingen die Deportationen
50
Nicht ohne ein gewisses Unbehagen liest man die Artikel von Bordiga, in denen er den Russen
vorwirft, nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Christentum Frieden geschlossen und den militanten
Atheismus von Lenin und der Bolschewiki aufgegeben zu haben, etwa bei der Lektüre von „ Alleluja, tutti
quanti in Vaticano „, „ il programma comunista“, Nr. 8, 9.-23. Mai 1966, in „ Invariance“ übersetzt im
Spezialband von „Invariance“ (Bordiga – textes, 2, Juni 1995), wo man doch die schrecklichen
Verfolgungen kannte, welche die Christen im bolschewistischen Russland über sich ergehen lassen
mussten. Dasselbe gilt bezüglich Bemerkungen von Bordiga über das Zurückweichen von Stalin und
Chruschtschow vor der Bauernschaft.
64
trotz der Hungersnot fröhlich weiter. Stalin und Umgebung waren besessen vom Export
von Überschuss-Getreide, um auf dem Weltmarkt zu Devisen zu kommen, womit man im
Westen bei den kapitalistischen Firmen Maschinen, Werkzeug und Metalle kaufen konnte,
woran es in der Sowjetunion grausam mangelte. Graziosi bemerkt, dass das Russland
von Stalin am Rand des Abgrunds vorbeiwirtschaftete und dass Hitler 1933 Russland
rettete, indem er Konzessionen bezüglich der Rückzahlung von Krediten machte, welche
Deutschland Russland 1931 gewährt hatte51. Der Grosse Terror war auch der Grund einer
beträchtlichen Landflucht in die Städte und damit gleichzeitig einer Proletarisierung grosser
Massen; die Bauern liessen sich in Elendsbehausungen nieder, um dem Horror der
Repression auf dem Land zu entkommen 52.
Nicolas Werth zeigt, dass der Krieg gegen die Bauern in seinen verschiedenen
Phasen an höchster Stelle entschieden und geplant worden ist, von den Spitzen von
51
Der Patriarch der Orthodoxen Kirche Tichon hatte sich geweigert, für die Weissen Partei zu
ergreifen, blieb also während des Bürgerkrieges neutral. Als die Bolschewiki Güter des Klerus zu
konfiszieren begannen, protestierte er. Am 19. März 1922 schrieb Lenin einen Brief an Molotow, der im
Politbüro verlesen werden sollte. Wolkogonow zitiert daraus lange Passagen p. 343-344 : « Angesichts von
Ausgehungerten, die sich von Menschenfleisch ernähren, von Strassen, die von Hunderten, ja Tausenden
von Toten übersät sind, ist es jetzt und gerade jetzt, dass wir die Güter der Kirche mit entschlossener,
unerbittlicher Energie einziehen müssen . . . Wir können uns damit einen Schatz verschaffen, der nach
mehreren Hundert Millionen Gold-Rubeln zählt. » Er schliesst an, es sei « eine Operation von einer
Entschlossenheit vonnöten, an die sich die Kirche noch in Jahrzehnten erinnern wird. » Je mehr Mitglieder
des reaktionären Klerus und der reaktionären Bourgeoisie man erschiesse, desto besser.
Es wurden Spezialkommissionen geschaffen, welche sich dem Kampf gegen den Klerus und die
Religion in allen Regionen Russlands widmen sollten. Man würde darauf achten, dass, nach den Worten des
Politbüros (vom März 1922), « die ethnische Zusammensetzung dieser offiziellen Kommissionen nicht
Angriffspunkt für nationalistische Propaganda bieten würde », was im Klartext hiess, der Anteil der Juden in
den Kommissionen sollte gering gehalten bleiben. So war Trotzki nie Mitglied des Zentralkomitees gegen
Klerus und Religion.
52
Dieser Krieg ist durch die täglichen Rapporte der Beamten des G.P.U. bekannt, ohne diejenigen
der lokalen Sekretäre an das Zentralkomitee der Partei mitzuzählen.
65
Partei und Tscheka, G. P. U. und N.K.W.D.53, Er widerspricht also der These von Gabor
Rittersporn54, die er in seinem Buch „Simplifications staliniennes et complications
53
Stalin benutzte den Hunger gegen die ukrainischen Bauern und auch gegen den ukrainischen,
damals noch starken Nationalismus. Mit Hunger wurden Regionen gebüsst, wo die bolschewistische Politik
den grössten Widerstand antraf. Als guter Marxist liebte Stalin den Nationalismus nicht, keinen
Nationalismus, sei er jüdisch, ukrainisch, armenisch oder selbst georgisch. Er schrieb 1913, vielleicht unter
der Ägide von Lenin, der ihn den wunderbaren Georgier nannte, gegen die Leute vom „Bund“, AustroMarxisten, die kaukasischen Separatisten und Menschewiki eine Serie von Artikeln, die unter dem Titel
« Der Marxismus und die Nationen-Frage » zusammengefasst wurden. [. . .]
54
Im « Schwarzbuch Kommunismus » ist ein langer Artikel von Jean-Louis Margolin China
(ebenfalls ein Land mit langer, extrem gewalttätiger Tradition von Despotismus und Grausamkeit) und dem
chinesischen Marxismus gewidmet. Mit nicht unerheblichen Varianten war China Schauplatz desselben
Krieges gegen die Bauern, durch die für notwendig erachtete schnelle Industrialisierung des Landes
motiviert. China hatte 1959 bis 1961 seine Hungersnot, von den Opferzahlen her viel grösser als die
Hungersnot in Russland 1932-1933. Es war zweifellos die grösste Hungersnot, die es je auf der Erde
gegeben hat. Mehrere Dutzend Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Siehe Yang Jisheng, in
« Stèles. La grande famine en Chine, 1958 – 1961 », 2012. Dieses Buch zieht über den Grossen Sprung
nach vorn Bilanz, spricht von 60 Millionen Toten. Auch diese Hungersnot ist durch die irrsinnige Politik der
Zwangskollektivierung (hier von Mao) bedingt. Der Grosse Sprung nach vorn ab dem Jahr 1958 hatte
katastrophale Folgen – und der Grosse Steuermann, von den Nachachtundsechziger-Revolutionären so
verehrt, anerkannte nie den Irrtum seiner Politik oder machte ihn rückgängig ! Bordiga legitimierte die
chinesische Revolution, indem er sie zur bürgerlichen erklärte. Die Partei sollte ihre Autonomie bewahren
und zur Führung bereit sein, sobald jene in eine proletarische Revolution überginge. Wie in Russland
während der Hungersnot, als es zu Kannibalismus kam, war die Kollektivierung von unvorstellbarem Grauen
begleitet. Die Repression machte nicht vor den ausgehungerten Bauern halt (die Mortalität erreichte
gewissenorts 50% der Bevölkerung) Mao tse tung und die marxistischen Ideologen hatten vor, die Familie,
das bäuerliche Kleineigentum und die alte Bauernschaft abzuschaffen. Um die Städte zu ernähren, hungerte
man das Land aus.
Die Politik des Grossen Sprunges wurde angehalten, die Politik der Proletarisierung, Enteignung der
Bauern und Zerstörung des Kleineigentums an Boden ging aber weiter. Wie Petrus Agricola im Rivarol vom
7. Dezember 2012 anmerkt (Artikelüberschrift: « Diese chinesische Landwirtschaft könnte endlich Malthus
recht geben ») geht China direkt von der kleinen Viehzucht mit 5, 6 Tieren zu Riesenmastbetrieben
amerikanischen Zuschnitts über (Lenins Traum!): 1000 Tiere und mehr. Die Folgen der Proletarisierung mit
ihren (Neben-) Effekten: Verstädterung, Naturzerstörung, Überbevölkerung, Versiegelung der Böden,
Vergiftung der landwirtschaftlichen Böden durch Chemie sind enorm. Das Land der ewigen Unbeweglichkeit
66
soviétiques, tensions sociales et conflits politiques en URSS 1933-1953“, éd. Des
archives contemporaines, 1991, verfasste, denen gemäss die Terrorkampagnen das
Resultat verschiedener lokaler Initiativen und keineswegs koordiniert gewesen seien55.
setzt sich in Bewegung (der Traum von Marx, siehe seine Artikel von 1853 – 1859 in der „N.Y. Daily
Tribune“. Hier sprach er von China als einem « lebenden Fossil » und träumte für dieses Land von einer
bürgerlichen industriellen Revolution. Mit China verschwindet ein Element der Stabilität und des
Gleichgewichts auf der Erde, mit all den Folgen daraus für Mensch und Natur. Seit 2011 lebt mehr als einer
von zwei Chinesen in der Stadt (690 Millionen Einwohner in Städten, 94 Städte mit über einer Million
Einwohnern, 2025 sollen es 143 sein). Li Kequin, Nr. 2 des Regimes, erklärte, die Verstädterung sei der
wesentliche Motor des Wachstums. Die Chinesen schrecken für ihre pharaonischen Bauten nicht vor der
Entfernung von kleinen Gebirgen zurück, von einer Armee von Bulldozern gigantischer Ausmasse
durchgeführt. Eines ist im Roman „Die Hayduken“ von Edward Abbey abgebildet. Alle Gleichgewichte der
Welt werden ausgehebelt. Es ist natürlich wahr, dass eine alte Tradition des Kampfes gegen die Natur in
China besteht; nun kommt sie wieder zum Zuge.
In China fand eine Enteignung von Millionen von Bauern in wenigen Jahrzehnten statt, wofür der
Westen Jahrhunderte gebraucht hatte; daher die extrem grausamen und ungeheuerlichen Methoden. Es
bedurfte der Marxisten zur Durchführung der ursprünglichen Akkumulation von Kapital und der Trennung der
Bauern von ihrem Boden und ihrer Tradition. Zur Legitimation dieses Geschehens im Namen des
kommunistischen Glücks der Menschheit war der Marxismus privilegiert. Zu China siehe auch den
interessanten Artikel von Flora Montcorbier, „Chine. Les habits neufs du capitalisme mondial“, in „Elements“,
der von Alain de Benoit herausgegebenen Zeitschrift, Nr. 140, Juli-September 2011.
Mao tse tung setzte die Jugend im Kampf gegen seine reaktionären Gegner ein: die Roten Garden
in der Kulturrevolution. Etwas Ähnliches ist auch in den USA und in Europa geschehen: Die linke Jugend
war die Speerspitze der revolutionären Offensive des Kapitals und kämpfte für Modernisierung, Freiheit,
gegen die reaktionären Überbleibsel der Tradition in der kapitalistischen Gesellschaft. Und ist die subversive
revolutionäre Jugendbewegung nicht direkt ein Produkt der kapitalistischen Kräfte gewesen, so wurde sie auf
jeden Fall von diesen benutzt. Doch könnte man diese Bemerkung auf die ganze revolutionäre
kommunistische Strömung ausdehnen.
„Wer immer dieses Buch ernst nimmt, wird sofort niedergeschlagen. Wer immer es nicht ernst
nimmt, wird lebendig von einem Mitsubishi-Bulldozer begraben.“(„Hayduke Lives“, Edward Abbey, franz.
Ausgabe p. 9)
55
Der Grosse Terror im eigentlichen Sinne ist die Periode zwischen 1936 und 1938, die iejowsche,
nach Nikolai Iejow, der als Chef des N.K.W.D. Iagoda ersetzte, der von Stalin exekutiert wurde. Auf ihn
sollte Beria folgen. Der Grosse Terror war vor allem gegen die Bauern gerichtet; sie waren die Opfer.
67
Wir neigen in dieser Frage Werth zu. Werth diskutiert auch die Zahl der Toten, die von
den verschiedenen Autoren vorgebracht werden, die über dieses Thema schrieben
(darunter Rittersporn). Er korrigiert die Zahlen, die Robert Conquest in „La Grande
Terreur“ und Alexander Solschenizin, je nach Werk zudem variierend, angeben, nach
unten, was den Wert dieser erwähnten Werke nicht schmälert. Er spricht von „ziemlichen
Überschätzungen“, (ibidem).
Übersieht man diesen deliranten Albtraum, welcher die Russische Revolution war,
den Wahnsinn von Krieg, welchen die Bolschewiki gegen die Bauernschaft führten, dann
kommen einem die Kritiken von A. Bordiga am Bolschewismus schlichtweg schwach,
lächerlich, ja schändlich vor 56 (Kritik am Parlamentarismus, an der Einheitsfront, an der
Arbeiterregierung etc.). Das gilt auch für die Kritik am Stalinismus. Man ist baff und
entsetzt, liest man diese Hauptkritiken an den Stalinisten, welche die kommunistische
Linke, daraunter Bordiga und seine Freunde, schrieben, etwa: Die KP der SU habe vor
den Bauern die Waffen gestreckt und sich ihrem Diktat gebeugt oder ihnen zumindest
Zugeständnisse gemacht! 57 Man kann sich nur fragen: Wie konnte man einen solchen
56
Eine makabere Ironie will es, dass die bolschewistische Partei, als sie auf dem Höhepunkt des
Ausrottungsfeldzuges gegen die Bauern des Landes stand, fortfuhr, sich als Erbin von Stenka Razine und
von Pugatschew darzustellen, die beiden Anführer der Bauernrevolten in Russland, und Studien zu den
Bauernkriegen, etwa zur Darstellung des deutschen Bauernkrieges von Engels, zu veröffentlichen.
57
Der Krieg gegen die Bauern und ihre Welt ging im Westen nach 1945 weiter (auch dies war ein
Ziel der beiden Weltkriege: die Beseitigung der alten Bauernschaft zur ungehinderten Mechanisierung und
Chemisierung der Landwirtschaft). Gleichzeitig verschuldete sich die Landwirtschaft mit Hypotheken, was die
Machtübernahme der Finanz bedeutete. Kulturell wurden die Bauern zum städtischen Leben mit seinem
Konsum umerzogen. Die Böden werden seither betoniert, vergiftet und erodieren im grossen Stil; die
Landschaft hat sich entvölkert, man spricht von Landwirtschaftswüste. Neuerdings ist Land gerade gut genug
für Deponien, „Entsorgungen“ (ein anderes Wort des New Speech!). Petrus Agricola in Rivarol vom 25.
November 2011: „Seit Jahren denunzieren wir hier die Umwandlung unserer Landschaften in Deponien der
Städte, welche von einer überbordenden Immigration überlaufen werden. In den letzten 10 Jahren ist die
Fläche durch Autobahnen, Urbanisation, TGV etc. zerstörter bester Alluvialböden [in Frankreich] von 50
000 auf 80 000 Hektaren gestiegen.“
Die Lebensweise der Vorfahren war statisch und soll schwinden. So siedelt man mehr und mehr
Immigranten auch auf dem Lande an, welche in der Megalopolis keinen Platz mehr finden. Diese Massen
68
Horror und seine Veranstalter beweihräuchern? (Es handelt sich hier auch um eine
Selbstkritik des Autors dieser Linien.) 58 59 60. Es scheint uns zudem wichtig zu
bemerken, dass die Bolschewiki Grauen und Ungeheuerlichkeiten produzierten, dass aber
schon ihr Programm, der Marxismus mit seiner Industrialisierung, Modernisierung und
Proletarisierung, eine Ungeheuerlichkeit darstellt; die Massaker in Russland waren darin
können von einer schon ruinierten Landbevölkerung nicht mehr integriert werden. So erscheinen Islam und
v. a. der Buddhismus als das Heil für die Europäer, welche die Leere des Konsumismus, den Hedonismus,
das liberale nachkonziliäre Christentum ablehnen, welche für sie sinnlos geworden sind. Sie suchen eine
Spiritualität, sind aber zu keiner persönlichen Suche, einer tieferen Reflexion mehr fähig, da sie von
Demokratie, Drogen und Bildschirm korrumpiert sind.
58
Ja, der Krieg gegen die Bauern hat nicht nur nicht aufgehört, er hat sich seit dem Zweiten
Weltkrieg intensiviert. So in der Fünften Republik unter General de Gaulle, der ein tätiger Verfechter der
Urbanisierung
und
Entländlichung
von
Frankreich
war.
Heute
haben
wir
die
EU
mit
ihrer
Landwirtschaftspolitik. 90 % der Bauern in Frankreich sind seit dem Zweiten Weltkrieg von ihren Höfen
vertrieben worden. Die traditionelle Landwirtschaft ist in eine agrochemische bzw. biologische umgewandelt
worden.
59
Rittersporn ist ein ungarischer Jude. Er hat Position für die Thesen der Revisionisten genommen,
leugnet also die Existenz von Gaskammern in den deutschen Lagern, genauer, er behauptet, dass es keine
Beweise dafür gibt. Wenn Werth den Mythos der revolutionären Bolschewiki zerstört, so scheint er für bare
Münze zu nehmen, was über all die national-sozialistischen Gräuel erzählt wird, vielleicht, um der
zionistenfreundlichen Haltung von Stéphane Courtois zu entsprechen.
60
Dasselbe war auch bei der Exekution der Herrscherfamilie der Fall (mit dem Prinzen Alexis, 13
Jahre alt, und seinen vier jüngeren Schwestern). Der Hinrichtungsbefehl soll von Lenin gekommen sein; auf
jeden Fall begrüsste Lenin die Hinrichtung. Die feigen Exekuteure hätten nur ausgeführt, was ihnen von
oben befohlen worden sei.
In „La maladie infantile, condamnation des futurs renégats“, o. c., p. 16, rechtfertigt Bordiga die
Unterdrückung der Zarenfamilie, worunter auch ihrer Kinder (was heute noch « Gejammer hervorrufe »),
infolge des Erbschaftsprinzips, woraus aus den Zarenkindern eine künftige neue Zarendynastie hätte
entspringen können.
69
schon weitgehend vorprogrammiert 61. Als die Arbeiterklassen der verschiedenen Länder
sich alle dem Burgfrieden ihrer jeweiligen Länder anschlossen, sahen die marxistischen
Revolutionäre und Kommunisten ihre Perspektive, ja sogar ihre Vision für die Welt
schwinden. Die Oktoberrevolution erlaubte es ihnen, sie weiterhin aufrechtzuerhalten
(Bordiga stellt in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme dar, denn er erklärte, dass
selbst ohne Sieg der Revolution in Russland die marxistische proletarische Perspektive
weiterhin gültig bliebe): das Proletariat und die Arbeiterklasse blieben weiterhin
revolutionär, wenn es sich auch in Russland um eine Revolution handelte, welche nicht
den Kapitalismus, sondern die Hindernisse für seine Entwicklung beseitigte. Daher wurde
hartnäckig der Mythos der siegreichen Russischen Revolution verteidigt, des einzigen
Beispieles einer siegreichen kommunistischen Revolution in der Geschichte (dasselbe gilt
für den Mythos vom Spanischen Bürgerkrieg für die Anarchisten). Bordiga erkannte das
1954 in „Russie et la révolution dans la théorie marxiste“. In dieser Schrift macht sich
Bordiga zum advocatus diaboli und erklärt, dass das Proletariat nur im bürgerlichen Sinne
revolutionär gewesen sei, im Kampf gegen den Feudalismus.
Nun, diese Revolution war effektiv proletarisch in dem Sinne, dass sie die grosse
russische Bevölkerung proletarisierte.
Die Revolutionäre waren und sind noch immer die fanatischsten Verteidiger des
antifaschistischen Mythos und des Zweiten Weltkrieges, gleichermassen wie des Mythos
von der Oktoberrevolution. Wenn Bordiga und seine Strömung bezüglich des
antifaschistischen Mythos eine schöne Ausnahme bildete – er denunzierte ihn von seiner
Entstehung an, als Sinowjew 1922 forderte, die kommunistischen Parteien sollten die
61
Gorter, linker Kritiker von Lenin, eingefleischter „Proletarier“, war seinerseits auch ein Feind der
Bauern und ihrer Welt. Doch gibt es bei Philippe Bourrinet eine Fussnote, worin anekdotisch erwähnt wird,
Gorter, der aus begüterter, besserer Gesellschaft stammte, sei zwar ideell ein Freund des Proletariates
gewesen, praktisch habe der gebildete Mann aber die Proleten in Fleisch und Blut eher gescheut. Siehe „La
Gauche communiste“ des „Courant Communiste International“, 1990, p. 33.
70
Demokratien im Namen der Freiheit verteidigen62 - so erwiese er sich andererseits als
der fanatischste Verteidiger des Mythos vom revolutionären Proletariat63.
62
1964 schrieb Bordiga zur Beseitigung von Chruschtschow, es sei eine Konzession an die
Kolchosier gewesen. Das war nicht ganz falsch, erklärt das Ende Chruschtschows aber nicht ganz; diesem
war es v. a. nicht wie versprochen gelungen, die USA wirtschaftlich einzuholen. Bordiga hat die Kolchose
lang und breit studiert (in „Structure économique et sociale de la Russie d’aujourd’hui“, v. a. Paragraph 13
des zweiten Teiles [. . .].) er zeigt die Doppelnatur, ja Dreifachnatur des Kolchosbauern auf, der
Kolchosangestellter, Lohnarbeiter, kapitalistischer Unternehmer und Grundeigentümer in einem ist (die
Kollektivform entspricht also nicht einer Vergesellschaftung), daneben auch kleiner Bauer mit Privatgrund
(und auch hier Direktproduzent, Unternehmer und kleinbürgerlicher Selbstausbeuter, Lohnarbeiter von sich
selbst). Bordiga hebt nicht klar hervor, was den Unterschied unter den Kolchosen selbst bildet: dass es
nämlich reiche und arme gab, wie es auch innerhalb der Kolchosen grosse Einkommensunterschiede gab.
Bordiga nennt das kleine Grundeigentum des Familien-Bauern eine molekuläre Wirtschaftsform, die
verachtenswert sei, da asozial in ihrer Fragmentiertheit und Selbstgenügsamkeit, obwohl mit modernbürgerlichen Unternehmenselementen angereichert. Für Bordiga ist kleinbäuerliches Eigentum eine Stütze
der Reaktion (siehe dazu den Rechenschaftsbericht von Ravenna, Paragraph „Unternehmen und Familie“):
Religion und Priester, Patriotismus und Armee, Boden und Rassedenken gründen in dieser hybriden
Wirtschaftsform. Die religiöse Mythologie wird gestützt, wo Produktion und Konsum unmittelbare Einheit
sind. Aus diesem Bauerntum entspringen Bürger und Unternehmer, also Personen mit Mitteln und nicht
mittellos wie Proletarier. Für diese Bauernkinder zählen Familie, Vaterland und Religion noch: das
Schlimmste für einen Marxisten. Natürlich weiss Bordiga, dass der Kapitalismus sein Gravitätszentrum in der
hochzentrierten Industrie hat, greift aber eben den molekulären Kapitalismus der Bauernschaft an, der seiner
Ansicht nach mit dem Industriekapital liiert ist.
Bordiga schreibt im besagten Rechenschaftsbericht, dass die Kolchose eine wirtschaftliche
Fragmentation darstellt, die aus den Mitgliedern der Kolchose entschlossene politische Verteidiger der
bestehenden Ordnung macht, welche die „brennenden und flüssigen“ Massen der Städte in „kalte Gelatine“
verwandelt. Bordiga hätte eben gerne die totale Enteignung der Bauernschaft gesehen, die integrale
Proletarisierung, also ausschliesslich Sowchosen. Wie alle Marxisten hasste Bordiga die kleine, „ineffiziente“
Kleinbauernwirtschaft und verherrlichte die assoziierte Arbeit, die grandiose Errungenschaft des
Kapitalismus, worauf nicht zurückzukommen ist.
Bordiga vergleicht die Ökonomie der russischen Kleinbauernwirtschaft mit der Wirtschaft eines USFarmers, der Eigentümer von Haus und der ganzen Ausstattung ist, welche das moderne Leben
ausmachen: TV, Waschmaschine, Kühlschrank, Auto; doch Bordiga hat noch nichts gesehen! Auf Kredit
natürlich. Bordiga macht sich über diese kapitalistische Zivilisation lustig, doch vor allem, weil sie die
Klassengrenzen aufweicht; wie sollte nämlich ein Proletarier noch auszumachen sein, der all diesen Konsum
ebenfalls teilt? Schon Rühle hatte sich diese Frage gestellt. Bordiga macht sich lustig: über den Kreditkauf,
71
Bordiga war in der Kommunistischen Internationalen und in der ganzen
internationalen revolutionären Bewegung bekannt und respektiert als jemand, der immer
die Wahrheit sagte (Stalin wiederholte mehrfach, dass er den italienischen Kommunisten
respektierte). Das betonte er 1961 auch selbst: „Ich habe gesagt, dass ich als jemand
bekannt war, der immer die Wahrheit sagte, ohne mich den Gehörigkeiten des
Augenblickes zu beugen“, fügte dann aber etwas an, das uns doch nachhaltig beunruhigt:
„Wenn es vorteilhaft gewesen wäre, Lügen zu erzählen, um die Revolution zu
fördern, so hätte ich sie erzählt.“ 64
die Verlockung der Werbung, über den Volkskapitalismus auf der Basis von Volksaktien, über das moderne
Leben auf der Basis der Konserve und der tiefgekühlten Mahlzeiten, die man per Telefonanruf zugestellt
erhält, da die Frauen ebenfalls Geld verdienen und nicht mehr kochen können, über ein Leben, das Bettler
und Sozialfälle, bis über die Ohren Verschuldete, Besitzer grosser Autos und Fernsehzuschauer schafft.
Dagegen der russische Kleinbauer auf seinem kleinen Stück Land, in seinem selbstgebauten Häuschen, der
seine Nahrung, ja Kleider selbst herstellt und keines Fernsehapparates bedarf, um die Freizeit zu
verbringen. Und was mit dem Industrieproletariat?. Bordiga wusste wohl, dass die Klassenunterschiede
verschwinden konnten, doch erwartete er die grosse Krise und die Neuverteilung, welche die Proleten auch
wieder enteignen, ihre Reserven verdampfen würde. Das sollte wieder die Klassenpolarität herstellen.
Doch vergessen wir nicht, dass Bordiga einer der seltenen orthodoxen Marxisten war, der zwei Übel
der Moderne scharf kritisierte: die Verstädterung und die Übervölkerung.
63
Wie nach der Untersuchung der psychoanalytischen Revolution; wie hatte man sich bei dieser
Scharlatanerie so für ihr Genie erwärmen können? Ursache so vieler Dramen und Leiden! Die Menschen
scheinen keine andere Alternative zu (oft recht relativer) Bedrückung und Unterdrückung zu finden als
Auflösung, Überschreitung und Lächerlichmachen der Lehrsätze (Voltaire ist so verfahren).
64
Im Kapitel mit der Überschrift „Warum?“, welches das „Schwarzbuch Kommunismus“ abschliesst,
bringt S. Courtois einige mögliche Gründe für den Horror, den die Russische Revolution darstellt, vor,
insbesondere die allen gesellschaftlichen Gruppen Russlands inhärente Gewaltsamkeit (die historische,
gesellschaftliche, geographische, ethnische, klimatische etc. Gründe hat), den schrecklichen Krieg von
1914-1918, der in den Köpfen der bolschewistischen Revolutionäre die Idee der Revolution als eines
Bürgerkrieges erzeugt habe (doch hatte kein Bolschewik diesen Krieg selbst mitgemacht). Courtois scheint
Marx, wie vor ihm Baynac und Kautsky, von jeder Schuld für diesen Horror freizusprechen, welche die
Bolschewiki veranstaltet haben, dafür soll Netschajew herhalten, den Lenin bewunderte.
Courtois zitiert auf p. 807 Kautsky, Verteidiger der Demokratie, der 1918 („La dictaturer du
prolétariat“, p. 255) schrieb: „Was da drüben geschieht, ist nicht die erste sozialistische, sondern die letzte
72
Wenig zuvor hatte er eine Anspielung auf die antibolschewistische Revolte von
Kronstadt gemacht; er sprach von „Funken ausser Kontrolle innerhalb der gigantischen
Konfrontation zwischen Produktionsweisen“; Zuhörer und Leser erfahren da nichts
Weiteres. Man kann also für die Sache der Revolution lügen, genau wie schon
Netschajew und Lenin das sagten (ja man kann sogar sein Wort brechen, doch Bordiga
geht nicht so weit, anders als die Bolschewiki, die sich nicht genierten, das zu tun 65).
bürgerliche Revolution.“ Sicher, man kann dagegen aber anführen, dass es richtiger gewesen wäre, von
einer kapitalistischen Revolution zu sprechen (letztlich ist eine kapitalistische Revolution schnell
antibürgerlich!); zudem war das nicht die letzte Revolution, denn das Kapital ist die permanente Revolution.
Courtois erinnert, nach Werth, dass während des Bürgerkrieges Grausamkeiten ohne Namen auf
beiden Seiten begangen wurden (man kreuzigte, pfählte, häutete bei lebendigem Leibe, verbrannte
lebendig), dass aber nur die Bolschewiki den Terror guthiessen und für sich forderten (sie waren weniger
heuchlerisch als die Kapitalisten, sagte wohl Bordiga).
65
In seinem Artikel von 1968: „Nota elementare sugli studenti ed il marxismo autentico di sinistra“
(in: „il programma comunista“, Nr. 8, 1-15. Mai 1968) kommt Bordiga auf seine Jugend zu sprechen und
nennt dabei den „übergrossen Trotzki“ und die „grossartige Opposition von Trotzki“ gegenüber Stalin (worin
„grossartig“? das sagt Bordiga nicht). Wir ergreifen die Gelegenheit, um auf die Ungerechtigkeit dieses
erwähnten Artikels von Bordiga zu weisen. Bordiga greift die Studenten an, die zu revoltieren begannen und
vergleicht sie mit den Studenten, welche 1915 für den Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten Frankreichs
demonstrierten. Da steckt böser Wille dahinter, denn einer der Auslöser der grundsätzlich friedlichen
Protestwelle der Jugend im Westen war der Vietnamkrieg; dies mindestens so sehr wie die Forderung nach
sexueller Freiheit, welche Bordiga zu recht kritisierte, die aber nicht lächerlich zu machen war (wenn auch
D. Cohn-Bendit
grotesk daneben griff, als er einen gaullistischen Minister, Missoffe, zum National-
Sozialisten erklärte, da dieser
keinen Grund sah, die sexuelle Frage bei den Studenten näher zu
untersuchen). Es hat etwas für sich, historische Invarianten zu untersuchen (etwa das soziale Verhalten der
Studenten); man darf dabei aber nicht neue Phänomene übersehen und à tout prix versuchen, die
Gegenwart mit der Vergangenheit zu identifizieren, wie das Bordiga im vorliegenden Fall tat.
[. . .]
Die Bewegung vom Mai-Juni 1968 hinterfragte den Antifaschismus nicht. Die Wütenden von
Nanterre nannten den Dekan der Universität Nazi und die Situationistische Internationale brach keineswegs
mit diesem Konformismus (man denke etwa an die Durruti entgegengebrachte Verehrung). Miguel Amoros
zitiert aber einen Text der Wütenden, der nie veröffentlicht worden ist: „Der Schimpf, der allen Mitgliedern
der ‚Résistance’ zukommt, ist die Befreiung. Leute, welche die Gedichte von Aragon ertrugen, die
Erklärungen von Thorez in Ivry, Leclerc in Indochina, die Oder-Neisse-Grenze (in Europa, wie in Palästina
73
Eine Schlussbemerkung zum Beitrag von Werth: Ein eigenes Kapitel wären die
gewaltigen Zerstörungen an der wilden Natur, Folgen der russischen (und auch
chinesischen und aller anderen) Revolutionen, Folgen der szientistischen und
progressiven Ideologien der Führer und Akteure der besagten Revolutionen 66. Die Natur
sollte gebeugt werden 67.
oder Indien) und dazu noch einen General De Gaulle, bei solchen Leuten kann man sich fragen, wogegen
sie denn eigentlich Widerstand leisteten.“ Diese Kritik bleibt recht schwach und liegt im Bereich der
Textproduktion der Situationistischen Internationalen. Vor allem wurden die Mythen des Zweiten Weltkriegs
überhaupt nicht in Frage gestellt.
Die Situationistische Internationale hat auch nie mit dem Mythos vom Proletariat gebrochen, ja
verteidigte ihn ganz orthodox gegenüber mehreren Theoretikern, welche ihn zurückwiesen. Die
amerikanische Sektion der S.I. [. . .] hat nur eine Nummer der Zeitschrift ihres Namens herausgegeben,
worin ein anonymer Artikel (in der Tat von Robert Chasse geschrieben) Marcuse kritisiert: „Ein Doktor der
Spekulation“. Da finden sich richtige Beobachtungen zu Reformismen von Marcuse, doch der Autor stellt
nicht die Frage: Und das Proletariat? Hat es die historische Rolle aufgegeben oder nicht? Ist der
Klassenkampf am Ende? Gibt es noch eine revolutionäre Klasse? Das hätte ein tieferes Nachdenken
erfordert, das den Autor selbst sicher verunsichert hätte; er hat es vorgezogen, mit Beleidigungen und
Frechheiten aufzuwarten. Nicht anders übrigens auch gegenüber dem S.D.S. und dem Anarchisten Murray
Bookchin („Epitaph auf den Bookchinismus“). Der Artikel weicht auch nicht von der Vergötzung der
Technologie ab, (sowenig wie Marcuse) und spricht von der potenziell befreienden Dimension des
Kapitalismus. Das macht verständlich, dass die Situationisten in den USA Bookchin und seiner „Ökologie“
nur verächtlich gegenübertreten konnten. Bookchin leugnete nämlich den Klassenkampf bzw. dessen
Bedeutsamkeit.
66
Eine Frage stellt sich: Wenn die Bolschewiki ungeheuerliche Mittel gebraucht haben, um zu
einem ungeheuerlichen Mittel zu gelangen, wäre es richtig, ungeheure Mittel, z. B. die Tötung von
Menschen, für ein edles Ziel (die Beseitigung dieser alptraumhaften Welt von heute) anzuwenden? Bordiga
hat dieses Problem schon diskutiert, als er von der notwendigen Diktatur sprach, um das Proletariat von
seinen Giften und Drogen zu befreien; er wusste aber noch nichts vom Mobiltelefon und dem Internet.
Diese Dinge sind den Menschen, insbesondere der Jugend, nicht mehr wegzunehmen. Sie empfänden das
als ultimative Enteignung.
67
Die Bordigisten haben keinesfalls alle Elemente des denkerischen Werkes von Bordiga bewahrt.
Sie wiederholen seine Position zum Zweiten Weltkrieg: Es gibt zwischen den zwei gegenwärtigen Lagern
keine Wahl (einige seltene andere Revolutionäre sind zu demselben Schluss gekommen). Schon weniger
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geneigt sind sie, an das Wort Bordigas erinnert zu werden: Der Sieg des national-sozialistischen
Deutschland wäre für die kommunistische Revolution die beste Voraussetzung, da sie die Niederlage der
kapitalistischen Zentren, die angelsächsischen Länder, die seit 1815 nie mehr eine Niederlage erlebt haben,
bedeutet hätte. Dieselbe Position vertrat er auch im Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR. Über
diesen machtpolitischen Aspekt hinaus ist aus den in „Sul filo del Tempo“ erschienen (nicht signierten)
Artikeln von Bordiga zu spüren, dass es Bordiga auch um die ideologische Seite der Konflikte ging. Natürlich
ging es um imperiale Vorherrschaft, darüber hinaus aber auch um Demokratie und Diktatur. Und da sickert
der tiefe Hass Bordigas gegen die Demokratie, gegen den Parlamentarismus und tutti quanti immer wieder
durch. So hätte er sich denn gefreut, die Angelsachsen wären gedemütigt worden.
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