Die Katastrophe der Oktoberrevolution Aus « (Dis)continuité » Nr. 34, S. 17 bis 26 („Présentation des textes); Anmerkungen 66 bis 136 1 Wir müssen auf das Problem der Revolution zurückkommen und insbesondere auf die Russische Revolution; diese erhellt nämlich die allgemeine Problematik jeder Revolution. Die Russische Revolution ist von Bordiga als erste proletarische Revolution und die einzige siegreiche kommunistische verherrlicht worden (auch wenn sie zweifach, kapitalistisch in ihren ökonomischen Aufgaben als auch kommunistisch in ihrer politischen, internationalen Dimension war, indem sie den imperialistischen Charakter des Ersten Weltkrieges und die Rolle der Sozialisten in der Heiligen Union denunzierte und zur Bildung der Dritten Internationalen führte). Andere Revolutionäre: Pannekoek, Rühle, Gorter und sogar zahlreiche Anarchisten, verteidigten offen diese Revolution, bevor sie sie wegen ihrer Gemässigtheit, ihres Reformismus’, Opportunismus’ und ihrer bürgerlichen Ausrichtung kritisierten, Tendenzen, denen Lenin und seine Genossen sich nicht hätten entziehen können. Man hat den Bolschewiki zum Vorwurf gemacht, dass sie mit den Kapitalisten zusammenspannten, also letztlich konterrevolutionär waren 2. Wir müssen 1 „(Dis)continuité“ ist eine von François Bochet redigierte Zeitschrift. Sie erscheint seit 1996 und ist in jedem Sinne „hors commerce“ („Publication irrégulière-privée, hors commerce“ steht auf der Titelseite der Nummern). Adresse: F. Bochet, Le moulin des chapelles, 87800 Janailhac, Frankreich. Ein Inhaltsverzeichnis der Zeitschriftennummern ist im Internet zu finden. Die Zitate der vorliegenden Schrift sind durchwegs Übersetzungen aus den vom Autor zitierten Büchern; es erfolgte also keine Verifikation in den zumeist bestehenden entsprechenden, auf Deutsch erschienen Büchern (seien es Übersetzungen ins Deutsche oder seien sie ursprünglich auf Deutsch erschienen). Für die Seitenangabe wurde deshalb ‚p.’ (für ‚page’, ‚Seite’) geschrieben, um auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. [Anmerkung des Übersetzers A. L.] 222 Die Linkskommunisten (Bucharin, Smirnow, Radek, Ossinski, Preobraschenski hatten die beiden zentralen Posten in der Wirtschaftsorganisation des jungen Sowjetstaates inne, denn sie leiteten die Staatsbank), die innere Opposition in der kommunistischen Partei (Bolschewiki), haben nie wirklich die 1 Grundsätze der leninschen Politik in Frage gestellt: die überschwängliche Revolutionsbegeisterung, den proletarischen Messianismus, die Mystik des Klassenkampfes und die Entwicklung der Produktivkräfte, den Kommunismus, welcher dem Kapitalismus aufgesetzt und deshalb auf die Spitze getrieben werden sollte. Also war sie wirklich bloss eine innere Opposition. Ronald I. Kowalski hat diese Opposition in seinem Buch „The Bolshevik Party in Conflict. The Left Communist Opposition of 1918“, University of Pittsburg Press, 1991, dargestellt. Wir gehen hier nur auf die Beziehung der Partei zur Bauernschaft ein, die Agrarfrage. Die Linkskommunisten (wie auch Rosa Luxemburg) warfen in der Tat Lenin von Januar 1918 an vor, vor der Bauernschaft zu weichen und mit ihr zu paktieren. Sie warfen ihm vor, die sozialistischen Prinzipien verraten zu haben und vor den Sozialrevolutionären und Kleinbürgern und ihrem reaktionären und antisozialistischen Programm der Aufteilung des Bodens zu kapitulieren. Die Linkskommunisten, Bucharin an ihrer Spitze, waren demnach für einen konsequenten Klassenkampf gegen die Bauern und auch die Kirche (eine wichtige Grossgrundbesitzerin), um mit allen Mitteln die Aufteilung des Bodens zu verhindern und den Boden unbedingt zu nationalisieren. Tatsächlich nahm Lenin vom Sommer 1918 an die Sichtweise der Linkskommunisten, was die Landfrage betrifft, an (wie später auch Stalin den Gesichtspunkt von Trotzki und Preobraschenski übernahm). Und das war der Startschuss des Klassenkampfes auf dem Lande und der Politik der Zwangsrequisitionen. Die Linksextremen von 1918 behaupteten (Kowalski zitiert dazu Preobraschenski), dass die Aufteilung des Bodens unter den Bauern der Grund für einen spektakulären Fall der Landwirtschaftsproduktion sein würde; es traf aber das Gegenteil ein, es war die Politik der Zwangskollektivierung, welche den Bankrott der sowjetischen Landwirtschaft zur Folge hatte. Preobraschenski und Bucharin sahen in den Bauern Ignoranten, Idioten, Reaktionäre, auf jeden Fall Marionetten und Instrumente der Reaktion. Der Autor zitiert auf p. 92 und 112 „Die Theorie des historischen Materialismus“ von Bucharin. Dieser spricht da vom Traditionalismus des Bauern, von seiner Trägheit, seinem Horror und Widerstand gegenüber allem Neuen. Er kreidet die Idiotie des Landlebens an, doch werden dies Dampfmaschine und Elektrizität zum Glück beseitigen (siehe dazu auch Marx und Engels in ihrem berühmten Artikel gegen Daumier). Kowalewski zitiert viele andere Texte von Linkskommunisten derselben Stossrichtung. Er zeigt, dass die russischen Linken Angst vor dem verderblichen Einfluss der Bauernschaft auf die Partei hatten (die deutsch-holländischen Linken behaupteten gar, die Degeneration der russischen Revolution sei unter dem Einfluss der russischen Bauernschaft eingetreten). Der konsequent durchgeführte Klassenkampf auf dem Lande sollte die Homogenität der Bauernklasse aufbrechen (N. Werth berichtet in seinem Werk, dass eine Parole der Bauern in ihrem Kampf gegen die Bolschewiki lautete: Nein zur Spaltung der bäuerlichen Welt). Die Revolutionäre haben eine eigentliche Obsession: Einheiten zu zerstören (die für sie Pseudo-Einheiten sind, Mystifikationen der herrschenden Klasse, was manchmal, ja häufig, aber nicht immer wahr ist); nur, was fordern sie an Stelle dieser Einheiten? Nationale, dann globale! Kowalewski schliesst mit der Bemerkung (p. 98), dass die von Stalin so grausam vorangetriebene Politik derjenigen der Linkskommunisten von 1918 sehr nahe kommt. 2 Die russischen Bauern wollten ihr Stück Boden als Eigentum garantiert wissen; die Bolschewiki wie auch die Grossgrundbesitzer hielten – nicht uninteressiert – dagegen, die Kultur kleiner Parzellen sei nicht genügend ertragreich. Das ist aber nicht bewiesen; der russische Ökonom Tschainow (. . .) dachte auf jeden Fall das Gegenteil. Überdies hätte der Besitzer von Parzellen von der russischen Gemeinde kontrolliert werden können, welche die Aufteilung des Bodens periodisch überprüfte. Bordiga schreibt übrigens in „La questione agraria“, 1921 (. . .), dass die kleine Landwirtschaft mit Privateigentum gegenüber dem feudalen Grossgrundbesitz einen Fortschritt darstelle. Wir haben das von Bucharin gemeinsam mit Preobraschenski geschriebene Buch „ABC des Kommunismus“ schon erwähnt. Das Buch beginnt mit einer Widmung, die keines Kommentars bedarf: „Der Partei gewidmet, die, stark wie Stahl, in sich die ganze Grösse des Proletariates, seine Heldenhaftigkeit, seinen hellen Verstand, seinen tödlichen Hass auf den Kapitalismus, seinen kräftigen Schwung zur Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft (. . .); der Partei, welche die Wiederauferstehung der Menschheit vorbereitet.“ Weiter hinten beteuern die Autoren: „Unser Ziel ist die Entwicklung der Produktivkräfte“. Man findet auch hier das Misstrauen in die kleinen landbesitzenden Bauern. „Der grösste Teil des guten Bodens befindet sich in den Händen der unabhängigen kleinen Landbesitzer. Doch trotz der schlechten Bedingungen der Vergesellschaftung der Landwirtschaft in Russland, trotz des hartnäckigen Widerstandes der kleinbürgerlichen Eigentümer, gehört die Zukunft in Russland dem grossen sozialistischen Betrieb. Das ist aber noch nicht alles, man erfährt weiter unten, dass „das kommunistische Regime allein imstande ist, den unheilvollen Zeitverlust auf den kleinen Bauernhöfen und das zurückgebliebene asiatische System der Tierhaltung, sowie die barbarischen Esssitten zu beseitigen.“ Was das doch für ein Horror war! Sehr bald, nach 1924, spaltete sich die Linke auf. Preobraschenski fuhr in gewohnter Weise fort, auf eine ursprüngliche sozialistische Akkumulation mit gleichzeitig aufs Äusserste vorangetriebener Industrialisierung zu setzen (was dann Stalin und seine Gruppe auf albtraumhafte Weise verwirklichten), das spätere Programm von Trotzki. Bucharin dagegen verteidigte 1921 die von Lenin vorgeschlagene N.E.P. [Neue Ökonomische Politik, A. d. Ü.], später, gegen die Linke (Trotzki, Preobraschenski, dann Sinowjew und Kamenjew) und das Zentrum (Stalin) eine den Bauern, auch den reichen, günstigere Politik. Dies sicher nicht aus Liebe zu den Bauern, sondern weil Bucharin auf eine ursprüngliche Kapitalakkumulation auf dem Lande setzte; danach erst sollte der proletarische Staat sich dieses Kapitals bemächtigen. Als Sinowjew und Kamenjew erschossen wurden, äusserte sich Bucharin gegenüber seiner Gefährtin: „Ich bin schrecklich froh, dass man diese Hunde erschossen hat!“ (zitiert von Brossat „Un communisme unsupportable“). Michel Roger brachte unlängst (2011) im Verlag Smolny „Moscou 1918, La revue ‚Kommunist’. Les communistes de gauche contre le capitalisme d’Etat“ heraus. Es handelt sich um vier Nummern des Organs der Linkskommunisten in Moskau. Eine gute Arbeit, zweifellos, doch sind die Präsentatoren Michel Roger und Marcel Roelandts, wie auch Guy Sabatier, der das Nachwort schrieb, weit davon entfernt, mit dem revolutionären Mythos und demjenigen der Bolschewiki zu brechen. Sie stellen die Position der Linken zum 3 Krieg dar (sie waren für einen Partisanenkrieg gegen Deutschland), zum Staatskapitalismus, zur Beziehung zu den anderen kapitalistischen Ländern (sie waren radikal gegen die Politik von Lenin gegenüber den ausländischen Kapitalisten, welche zudem den europäischen Ländern für eine Allianz die Hand bot), zur Frage der Spezialisten, zur Arbeiterkontrolle, zur Natur der Partei. Doch nirgendwo wird die Agrarfrage aufgeworfen. Die Redaktion von „Kommunist“ fordert in Nr. 1, Moskau 1918: „Auf dem Lande: Druck der armen Bauern auf die reichen, Entwicklung im grossen Stil einer spezialisierten Landwirtschaft.“ Guy Sabatier urteilt über das „Schwarzbuch Kommunismus“ negativ. Er meint zu diesem vollmundig: „Das Ziel war, die Angst vor der Bewegung der sich selbst emanzipierenden Massen zu nehmen“ (p. 323) und die „Anwandlungen des Proletariates zu entmutigen und zu desorientieren“! Sabatier wirft Nicolas Werth vor, sich auf das Buch von Melgunow zu stützen, der mit den Weissen in Russland verbunden war (was kaum bezweifelt werden kann; die Frage ist aber, ob das, was Melgunow sagte, wahr oder falsch ist; das gilt auch für Stéphane Courtois; er mag nicht sympathisch erscheinen, wir teilen seinen Pro-Okzidentalismus nicht, die wesentliche Frage ist aber die nach dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen). Werth stützt sich zudem auch auf andere Quellen, so auch auf offizielle Dokumente und auf Erklärungen der Führer der Bolschewiki selbst (Werths Artikel umfasst etwa 250 Seiten; er zitiert darin, Irrtum vorbehalten, Melgunow drei Mal (. . .). Ein anderer Vorwurf, den Sabatier gegen Werth erhebt, dem er attestiert, „sich Mühe zu geben[!], ehrlich zu sein“ und „unbestreitbar historische Kenntnisse zu besitzen“, besteht darin, dass dieser das Zeugnis von Victor Serge nicht berücksichtigt habe. Dieser Vorwurf ist angesichts der Ausgedehntheit der von Werth im besagten Buch vorgebrachten und behandelten Themen spassig. Noch zwei Worte zu Serge Melgunow und seinem berühmten Buch „Krasnyi terror v Rossi 1918 – 1923“, erste Auflage 1923 (auf Deutsch „Der rote Terror in Russland“) nach der Ausgabe von 1927, die von Melgunow selbst betreut worden ist. Melgunow war ein Reformsozialist, sehr antiklerikal, im Zweiten Weltkrieg Patriot, Parteigänger einer Wiederaufnahme des Krieges gegen Deutschland nach der Oktoberrevolution. Er war sicher mit Kreisen befreundet, die gegenüber den Bolschewiki feindlich gesinnt waren, lehnte aber eine Rückkehr zum Zarismus(wie auch General Wrangel) ab. Er war ein renommierter Historiker, wie Paolo Sensini in der interessanten Einführung zur italienischen Ausgabe des erwähnten Buches schreibt (. . .). Sensini, verantwortlich für die Herausgabe der Hauptwerke von Bruno Rizzi und Ante Ciliga auf Italienisch, bemerkt, dass man in der sowjetischen Presse in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution von 1917 von einem Staatsstreich, nicht von „sozialistischer Revolution“ sprach; er erinnert daran, dass der bolschewistische Terror klar und deutlich von Lenin lange vor seiner Durchführung angekündigt worden war. Lenin hatte der Kommune von Paris vorgeworfen, zu nachsichtig gewesen zu sein, ein Fehler, den er nicht mehr machen würde. Erinnern wir uns zudem, dass sich für Lenin und noch mehr für Bordiga die proletarische, antidemokratische und kommunistische Revolution durch den – proletarischen – Terror von den reformistischen, opportunistischen Sozialisten unterschied. 4 Sensini erwähnt die enorme Rolle der Juden in der Oktoberrevolution, zudem, wie die schlimmsten Elemente in der russischen Gesellschaft sich den Bolschewiki anschlossen, da sie bei ihnen auf einen Aufstieg hofften, ein Phänomen, das für alle Revolutionen zutrifft, wo der Bodensatz aufgewirbelt wird. Sabatier, eh und je der proletarische Revolutionär, zitiert positiv Orwell, der den Helden seines grossen Romans „1984“ sagen lässt: „Wenn es eine Hoffnung gibt, so ist es bei den Proletariern“; er erwähnt hingegen nicht den Zusammenhang dieses Satzes, worin Orwell in demselben Roman auch tiefe Zweifel an den Proletariern hegt. So liest man da noch:„’Wenn es eine Hoffnung gibt’, hatte er in sein Tagebuch geschrieben, ‚so ist es bei den Proletariern’. Diese Worte, Ausdruck einer eigentlichen Mystik, jedoch von spürbarer Absurdität, beschäftigten ihn quälend auf seinem Spaziergang“ („1984“, p. 121). Miasnikow, ein anderer Revolutionär, derselbe, der die „Kommunistische Arbeitergruppe“ und später, nach Frankreich exiliert, die Gruppe “Ouvrier communiste“ gründete, derselbe, der dafür war, dass der Grossherzog Michel, Bruder des Zaren, exekutiert würde, schrieb: „ Man muss jeden Konterrevolutionär überwachen, auf der Strasse, in den Häusern, auf den öffentlichen Plätzen, in den Zügen, in den sowjetischen Institutionen, überall und immer, sie arretieren und der Tscheka übergeben.“ („Isvestija“ vom 1. Oktober 1919, zitiert von Baynac, Alexandre Skirda und Charles Urjewicz im Buch „La terreur sous Lénine 1917 – 1924“ Sagittaire, 1975, p. 34. Dieses Buch blieb auf revolutionärer Seite unbeantwortet oder kaum beachtet, es wurde stillschweigend übergangen; man findet darin lange Auszüge aus dem Buch von Melgunow. In seinem äusserst interessanten Artikel „La tragédie Spartacus“ im Buch „Spartacus et la Commune de Berlin, 1918 – 1919“, éd. Spartacus, 1972, ein Artikel, der wohl von 1948 stammt (der Autor zitiert das 1948 erschienene Buch von Collinet „La tragédie du marxisme“ von 1948; der Roman von Orwell datiert von 1949) hatte André Prudhommeaux den Mythos vom Proletariat aufgezeigt, nämlich den „Mythos vom Proletariat als dem bewaffneten Messias“, wie er auf p. 109 sagt. Er denunziert auch den Marxismus und „diejenigen, die glauben, dass die ‚Lokomotive der Geschichte’ fest auf den Geleisen steht und nur entweder vorwärts oder zurück fahren kann, und nicht genauer hinschauen. Sie sinnen nur darauf, die Ventile zu ändern, diejenigen, welche ans Bremsen denken, als Reaktionäre zu verschreien und die Generationen im Ofen zu verheizen - wie sonst die Briketts in die Glut geschippt werden -, also alles zu verheizen, was der Vergangenheit angehört. Die heilige Pflicht wäre es, die enorme Maschine à tout prix zu beschleunigen; Dampf abzulassen wäre ein Verbrechen“ (p. 116) Prudhommeaux (. . .) brach mit dem Marxismus; er war den dissidenten Marxisten nahe (der Gruppe, welche „Réveil communiste“ herausgab). Er verteidigte die Autarkie: „Die Autarkie zu praktizieren, heisst, aus eigenen Mitteln leben, um frei und unabhängig zu sein“ (in einem Text von 1949, in André Proudhommeaux, „L’éffort libertaire“, 1. Le principe autonomie“ Spartacus, 1978, p. 17). Er schlug eine ganz persönliche Physiokratie vor, worin Handwerk und Arbeit auf dem Land hochgeschätzt würden; (die Physiokratie „betrachtet den Menschen als räumliches Wesen, im Boden verwurzelt, in unmittelbarem 5 Kontakt mit seiner Umwelt; sein Handeln ist nur im Handbereich wirksam“ (ein Text von 1954 (?), ibidem, p. 16). In einem nicht datierten Brief (ibidem, p. 78-79) erklärt Prudhommeaux, dass das Grundproblem „der richtige Gebrauch der Lebensumwelt durch den Menschen ist; diese ist in Ausdehnung und Fruchtbarkeit begrenzt und stellt seine einzige Ressource, sein Kapital und seinen Lebensort dar, den er mit den Arten in seinem Verbund teilt“. Er tadelt den modernen Anti-Malthusianismus, Ursache aller Übel, an denen die Menschheit leidet. Prudhommeaux gibt das Proletariat, den Marxismus, die universalistische Megalomanie auf und verteidigt das konkret-lebendige Individuum. Er ist sowohl gegen die Klassen, als auch gegen die Nationen eingestellt; unglücklicherweise hat er einige Schwächen gegenüber der Demokratie. Georg Lukàcs ist der Denker, welcher den marxistischen proletarischen Messianismus am weitesten treibt. Er war säkularisierter Jude (Sohn eines äusserst reichen Bankiers in Wien). In „Geschichte und Klassenbewusstsein“ schreibt er, dass das Proletariat das Subjekt-Objekt der Geschichte ist, sowohl Weltgeist, als auch transzendentales Subjekt und versöhnt dabei Hegel und Kant. Schon vor seiner Bekehrung zum Marxismus (die relativ schnell erfolgte und die man mit der Bekehrung von Saulus zu Paulus auf dem Weg nach Damaskus verglichen hat) war Lukàcs ein Feind des Kapitalismus und vertrat das, was man den romantischen Antikapitalismus von Anfang des 20. Jahrhunderts nannte und was im Anschluss an den Sieg Deutschlands im deutsch-französischen Krieg von 1871auf die schnelle und äusserst zerstörerische Industrialisierung von Deutschland folgte. Damals war das alte Deutschland untergegangen. Michael Löwy behandelt dieses Thema in seinem Buch von 1976: „Pour une sociologie des intellectuels: L’évolution politique de Lukàcs, 1909 – 1929“ (. . .) und in einem Artikel von 1978 „Idéologie révolutionnaire et messianisme mystique chez le jeune Lukàcs (1910 – 1919)“ (. . .). Dieser antikapitalistische Neo-Romantizismus nahm die Themen der deutschen Romantik von Anfang des 19. Jahrhunderts (mit den Vertretern: Tieck, Novalis, Adam Müller, Friedrich Schlegel, Schelling, Schleiermacher) wieder auf. Die Romantik hatte das Lob der schönen christlichen Einheit des katholischen Mittelalters gesungen, der Epoche vor dem Einbruch des Nominalismus, der dann zum Protestantismus führte. Dieses Mittelalter, dessen goldene Zeit v. a. das 13. Jahrhundert war, als zwischen Wert und Grundeigentum ein Gleichgewicht bestand und nicht zufällig die Scholastik mit der „Summa“ des Thomas von Aquin entstand (neben andern nicht zu vernachlässigenden scholastischen Werken), wurde von einer Transzendenz beherrscht. Die deutschen Romantiker stellten diese dem Rationalismus, der Klassik, dem Industrialismus-Mechanismus gegenüber. Lucien Goldmann – Löwy zitiert ihn zu Recht – schrieb in „Le Dieu caché; étude sur la vision tragique dans les ‚Pensées’ de Pascal et dans le théatre de Racine“, dass der Rationalismus gleichermassen Gott und Gemeinschaft unterdrücke (1955, p. 40). Er hätte noch die Natur anfügen können. Diesen Gegensatz zwischen Tradition und Moderne theoretisierten dann die deutschen Soziologen als Gegensatz von Gemeinschaft (die organische, traditionelle, mehr oder weniger hierarchische Gemeinschaft, die auf biologischen (rassischen, familiären) und persönlichen Banden) und 6 Gesellschaft (die auf formalen, abstrakten, künstlichen und unpersönlichen Beziehungen beruht; zudem auch als Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation: erstere religiös-ethisch-geistig und germanisch, zweite städtisch, materialistisch-industriell, angelsächsisch und französisch, seelenlos. Vertreter dieser Neoromantik sind Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, darauf Max Weber, aber auch Stefan George, Oswald Spengler und Thomas Mann. Doch Max Weber steht der Moderne zwiespältig gegenüber; er bleibt Zuschauer dessen, was er die Entzauberung der Welt nennt (die Marx schon im Kommunistischen Manifest hervorgehoben hatte; die Werte der feudalen Welt werden durch die kalte, egoistische Berechnung von Profit und Gewinn ersetzt); er zeigt sie auf, lehnt sie aber auch nicht ab. Max Weber stand im Zentrum eines Zirkels in Heidelberg, dem u. a. Sombart, Simmel, Robert Michels, Lask, Windelband, der Neokantianer de Bade, v. a. aber zwei Freunde angehörten, jüdische Intellektuelle, die von sich hören lassen sollten; denn sie würden beide berühmte Marxisten und Stalinisten werden: Georg Lukàcs und Ernst Bloch. Marianne Weber bezeichnete die beiden unzertrennlichen Freunde (die, einmal Stalinisten geworden, zu Feinden werden sollten) als apokalyptische Juden katholischen Schlages, die von „eschatologischen Hoffnungen auf das Kommen eines neuen Messias umgetrieben wurden“. Nach seiner Bekehrung zum Marxismus identifizierte Lukàcs diesen Messias im Proletariat (allerdings in einem vollständig abstrakten Sinn, eigentlich in seiner Partei; man kommt nicht darum herum, hier an Bordiga zu denken; nur war für diesen nicht wie für Lukàcs, den politischen Aktivisten, die bolschewistische Partei, sondern die historische Partei dieser Messias). In den Zehnerjahren hatte sich Lukàcs noch für den Chassidismus begeistert, eine jüdische mystische Strömung, die Martin Buber durch verschiedene Schriften seiner Zeit mystifizierend schmackhaft gemacht hatte, aber auch für den Hinduismus und die christliche Mystik (Dionysios Aeropagites, Meister Eckhart). Vor allem aber faszinierte Lukàcs wie anscheinend den ganzen Kreis um Max Weber die russische Spiritualität, insbesondere das Denken von Dostojewski, der ja eine grosse Abneigung gegenüber der individualistischen Industriegesellschaft des Westens hegte, zudem der autobiographische Roman von Boris Sawinkow, „Das falbe Pferd“ (1909 unter einem Pseudonym erschienen) und dessen Held, Ivan Kaljajew, ein sozialrevolutionärer Terrorist. Boris Sawinkow kämpfte übrigens nach der Russischen Revolution gegen die Bolschewiki, die ihn gefangen nahmen und exekutierten. Es sei noch angefügt, dass Martin Buber seine Leser bezüglich des Chassidismus arg täuschte: Dieser verkündete nämlich die rassische Überlegenheit der Juden und war frauenverachtend. Buber verschwieg auch den fanatischen Kult der Anhängerschaft für die heiligen Rabbiner im Chassidismus. 1916 ist für Lukàcs in seiner „Theorie des Romans“ Dostojewski anscheinend ein literarischer Heroe wie Homer oder Dante, eine Art Prophet einer neuen historischen Weltepoche. Er definiert in diesem Buch die gegenwärtige Zeit mit denselben Worten, die auch Fichte gebraucht hatte, als „Epoche der vollendeten Schuldhaftigkeit“. Die Zeit des Ersten Weltkriegs ist für ihn eine Zeit des Grauens und des definitiven Zerfalls, welche die nahe Ankunft eines neuen Gottes, die Heraufkunft einer neuen Welt, einer mystischen Gemeinschaft der Menschen, eine Rückkehr zum verlorenen Paradies und zum Goldenen Zeitalter ankündigte. Auch Marx hatte in der äussersten Unmenschlichkeit, in die das Proletariat gefallen war, das 7 Zeichen dafür gesehen, dass es dazu auserwählt war, Handelnder in der kommenden Revolution zu werden, woraus die weltweite menschliche Gemeinschaft erwachsen sollte. Lukàcs und Bloch begeisterten sich 1917 für die russische Revolution, in der sie das Vorspiel der erwarteten eschatologischen Umwälzung sahen. 1918 radikalisierte Lukàcs seine messianische Erwartung; sie ging von Russland, einer Nation, auf eine Klasse, das Proletariat, über. Doch wenn er sich auch mit dem Kampf des Proletariates identifizierte (für viele entwurzelte bürgerliche, ja grossbürgerliche Intellektuelle war das Proletariat doch so etwas wie eine konkrete Gemeinschaft und übte so einige Anziehungskraft aus) so trat er nicht sofort zum Bolschewismus über, denn er interessierte sich damals noch sehr für die ethische Dimension der Revolution. Erst im Dezember 1918 trat er in die kommunistische Partei Ungarns ein und nahm dann die bolschewistische Ablehnung der Moral an, ja theoretisierte sie. Ernst Bloch schloss sich ebenfalls dem russischen Bolschewismus an, versuchte aber in der Folge eine Integration, denn er gab seine apokalyptischen, mystisch-religiösen Überzeugungen von vor dem Krieg nicht auf (im Gegensatz zu Lukàcs). 1931 schrieb Lukàcs einen wütenden Artikel, „Zum Erbe von Dostojewski“ und qualifizierte diesen Autor, den er so lange verehrt hatte, als „reaktionär“. Nach Löwy verzieh Ernst Bloch Lukàcs diesen Artikel nie, insbesondere da er darin als mystizistisch bezeichnet wurde. In den Dreissiger Jahren fand dann der berühmte Streit der beiden einstigen Freunde über den Expressionismus statt; Lukàcs lehnte ihn (wie auch der deutsche Nationalsozialismus) im Namen des sozialistischen Realismus als degenerierte Kunst ab, Bloch hiess ihn gut und nahm damit Partei für die Auflösung. Es gab sehr wohl eine degenerierte moderne Kunst, welche Nationalsozialisten und Stalinisten ablehnten; heute ist die ganze moderne Kunst degeneriert; doch ist sie vor eher, wie andere schon betont haben, degenerierend (also die Degeneration fördernd) als degeneriert. Was soll man z. B. vom „Künstler“ Andreas Serrano (. . .) halten, halb Hondurianer, halb Afrokubaner, der in Schweden und anderswo Fotographien mit abartigen sexuellen Akten ausstellte, etwa eine (anscheinend weisse) Frau, die ein Pferd masturbiert, eine andere, die auf einen Mann uriniert, ein Mann auf den Knien vor einem andern, ihm eine Fellation applizierend? Man kann den schwedischen Nationalisten nur gratulieren, welche die Ausstellung 2007 zerstörten. Es wäre noch anzufügen, dass die schwedischen Behörden die Eltern dazu animierten, ihre Kinder mit zur Ausstellung zu nehmen, um sie Toleranz gegenüber unterschiedlichem Verhalten zu lehren. Und dann die Demokraten und Fortschrittlichen! Nach dem Anschlag auf die Ausstellung sprachen sie vom Angriff auf die künstlerische Freiheit, die Demokratie, von der Rückkehr zu den dunkelsten Zeiten des Moralismus . . . Oder was soll man zum fortschrittlichen Avantgardekünstler Romeo Castellucci mit seinem Schauspiel „Sur le concept du visage du Fils de Dieu“ sagen? Da sieht man einen Alten auf der Bühne kacken (pestilenzartigen, verstärkten Gestank inbegriffen), ein Bild Christi, das von Jugendlichen gesteinigt und anschliessend mit Exkrementen beschmiert wird. Eine katholische Gemeinschaft (die Jeanne d’Arc-Vereinigung) protestierte, während der Erzbischof von Poitier und die Linkskatholiken in einer bekannten Fernsehshow das Stück lobten; die Linke schrie natürlich auf und sprach von Zensur, Intoleranz, Faschismus, von den dunkelsten Zeiten in der Geschichte . . . 8 aber endlich einsehen und zugeben, dass die Russische Revolution schlichtweg eine Ungeheuerlichkeit und ein Horror war, was nicht einfach durch die feindliche kapitalistische Umwelt dieser Revolution 3 und die vielen Gegner des jungen Sowjet- 3 In Tat und Wahrheit war dieses Milieu keineswegs so feindlich eingestellt (. . .). Schon sehr früh, Ende 1917 planten Leute aus Finanz und Politik in den USA (in Auswirkung des Gewichts der jüdischen und freimaurerischen Pressure-Groups auf die Annäherung an das kommunistische Russland) die Zerstörung der christlichen Reiche von Österreich-Ungarn und Russland und die Zerstörung des muslimischen Osmanenreiches (dies war die Voraussetzung für die Gründung des jüdischen Sitzes, den die Zionisten planten) und interessierten sich deshalb für den neuen sowjetischen Staat. Der kleine Satz von Bordiga zu Damen (inhaltlich: Entfernen wir den Schnauz (Stalin) und setzen Alpha (Bordiga selbst) an seine Stelle!); Truman wäre in fünf Minuten zur Stelle, war schon wahr. Man könnte ihn heute folgendermassen umschreiben: Wären einmal Nikolaus II. und Kerenski verschwunden und Lenin auf seinen Platz verwiesen, würde Wilson sofort zu springen kommen. Antony Cyril Sutton (1925 – 2002) ist ein britischer Historiker, Ökonom und Essayist liberallibertärer Tendenz; er verteidigt die individuelle Freiheit gegen Einfluss und Eingriff des Staates (wobei doch zu sehen ist, dass dieser Despotismus häufig gegen die Folgen der Pulverisierung infolge des Individualismus auftritt) und ist Gegner der Globalisierung (die Anhänger der Globalisierung sind aber, im ökonomischen, amerikanischen Sinne verstanden mindestens so anti-etatistisch eingestellt wie die Libertären: sie lehnen die Staaten ab und verteidigen das Chaos und den Fluss im Gegensatz zu einer tyrannischen Weltordnung; man sehe den Irak, Syrien und Libyen). Sutton hat die Frage der Finanzierung der bolschewistischen Revolution durch die US-amerikanische Finanz in seinem Buch „Wall Street and the Bolshevik Revolution“, 1974, Buccaneer Book, untersucht. Pierre de Villemarest macht eine kurze Zusammenfassung dieses Buches in seinem „Complicité et financement soviéto-nazis“, éd. Godefroy de Bouillon, 1996 (. . .). Das Buch ist den „libertären, unbekannten Russen gewidmet, die unter dem Namen der Grünen 1919 sowohl gegen die Roten als auch die Weissen kämpften, um ein freies Russland zu erkämpfen, das seines Geschickes Herr würde“ (p. 5). Sutton hat mehrere andere Werke über die Finanzfrage geschrieben; er hatte dabei einigen Ärger mit seinem Auftraggeber (z. Z. von Nixon und Kissinger), da er die Hilfe der USA an die Sowjetunion ankreidete, als das Land im Krieg mit Vietnam stand. Er kam nämlich zum Schluss, dass die amerikanischen Soldaten in Asien von ihrer eigenen Technologie getötet wurden: die Waffenhändler ihres Landes verkauften nämlich über die Russen als Zwischenhändler den Vietnamesen Waffen. Sutton hat ein Buch geschrieben, worin er den Federal Reserve der USA angreift, „The Federal Reserve Conspiracy“, 1995 (. . .), welches das Buch von Eustace Mullins „The Secrets of the Federal Reserve, 1952 – 1991“, ergänzt. Sutton und Mullins beweisen, dass die Federal Reserve, eine von Präsident Wilson 1913 eingesetzte Institution (Wilson selbst war ein Industrie- und Finanzmagnat), weder 9 eine Reserve, geschweige denn eine staatliche des US-Bundes, sondern ein legales Monopol verschiedener Privatbanken ist (der Lehman Brothers, Chase Manhattan Bank, der Goldmann Sachs Bank von N.Y., sowie anderer nichtstaatlicher wie Bank Rothschild von London und Paris, die Bank Lazard de Paris, die Bank Wartburg von Hamburg und Amsterdam, die Bank Israel Moses Seif von Italien; man beachte das beachtliche Gewicht des jüdischen Elementes in dieser Stiftung der FED; Paul Wartburg war Ratsvorsitzender), das Ziel verfolgt, Geld ausserhalb jeder staatlichen Kontrolle zu emittieren. Mullins war ein Freund von Ezra Pound, welcher ihn bat, dieses Buch zu schreiben. Das Interesse des Buches von Mullins geht ebenfalls sehr auf die zentrale Rolle der englischen City in der Weltfinanz und ihrer Macht ein. Diese Londoner City ist weit davon entfernt, von N.Y. vollständig entthront worden zu sein (erwähnen wir nur die Rothschild Bank). Ein weiteres Buch von Sutton ist erwähnenswert, das er mit Patrick M. Wood geschrieben hat; es handelt von der Trilateralen Kommission, „Trilaterals Over Washington“, zwei Bände 1979 – 1980, sowie der Artikel von Robert Dragan, in „Terre et Peuple“ Nummer 52 erschienen „Qu’est-ce qu’une banque centrale?“. Sutton hat ebenfalls über die Beziehungen zwischen Wall Street und nationalsozialistischem Deutschland geschrieben „Wall Street and the rise of Hitler“, 1976, 1999 (. . .). er behauptet, dass ohne das amerikanische Kapital im Rahmen des Dawes-Planes weder die IG Farben noch der Nationalsozialismus hätten existieren können, was uns nicht gänzlich zu überzeugen vermag. Der Nationalsozialismus vertrat eine gewisse Autarkie und eine Ablösung vom Weltmarkt und lässt sich nicht durch die Unterstützung durch eine ausländische Finanz erklären, wenn diese sich auch für den Fall eines nationalsozialistischen Sieges abzusichern versucht haben mag. So nationalisierten die neuen Herren von Deutschland am 15. Juni 1939 die Deutsche Bank; sie wurde zur einzigen zur Emission von Geld berechtigten Anstalt und unterstellten sie direkt dem Kanzler Hitler. Der Artikel 2 der Verlautbarung dieses 15. Juni besagt: „Die Aufgaben der Deutschen Reichsbank erwachsen aus ihrer Stellung als Emissionsbank des Reiches. Sie allein hat das Recht, Banknoten herauszugeben. Sie soll zudem die Transaktionen und Finanzoperationen in Deutschland und ins Ausland regeln. Sie soll ausserdem für die ökonomischen Mittel zu Gunsten des kollektiven und politisch-ökonomischen Gemeinwohls in angebrachter Weise sorgen“. Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Ziele den Wartburg, Rockefeller, Morgan und Rothschild, der Finanz und den vaterlandslosen Weltwucherern nicht behagten (wie auch heute die Regierungen in Ungnade fallen, die in den Transaktionen ohne den Dollar auszukommen suchen und sich soweit wie möglich aus dem Kapitalienhandel heraushalten). Eine der ersten Massnahmen der Sieger des Zweiten Weltkriegs bestand darin, dieses Gesetz in allen vier Okkupationszonen (von USA, GB, F und UdSSR) auszuschalten (. . .) „Der Wucher ist der Krebs der Welt und allein der Skalpell des Faschismus kann ihn aus dem Leben der Nationen entfernen.“ (Ezra Pound, am 30. April 1942 am italienischen faschistischen Radio). Heute heulen und toben die Finanzmärkte gegen das Ungarn von Viktor Orban, der die ungarische Zentralbank unter Aufsicht des Staates stellen will. Mullins und Sutton zeigen in ihren jeweiligen Büchern (s. o.), dass mit der Federal Reserve, 1913 von Wilson gegründet, die Vereinigten Staaten über eine 10 Zentralbank verfügen („der grösste Trust der Welt“, erklärte der Abgeordnete Charles Lindbergh (Vater des berühmten Fliegers) in der Repräsentantenkammer im Dezember 1913; er war entschiedener Gegner der FED). Die Aktionäre dieser Bank sind Privatleute, sie hat aber das Geldemissionsrecht und leiht den im Wirtschaftsleben Agierenden Geld, unter anderem auch dem Staat. Der US-Staat verlor damit die Herrschaft über das Geld, was mittlerweilen auch für die andern westlichen Staaten gilt, die sich von 1970-1980 an untersagten, sich selbst zu finanzieren. Damit werden sie von Krediten auf dem Weltmarkt abhängig. Der Federal Reserve war schon die Zentralbank von England vorausgegangen, die ebenfalls auf privater Initiative, von eine Gruppe von englisch-holländischen Bankiers, geschaffen worden war, worunter auch einigen jüdischen. Dies geschah im Jahre 1688 infolge der Absetzung des katholischen Königs Jakob II. Stuart und seiner Ersetzung durch den Ehemann von Marie Stuart, Tochter Jakobs II., den Protestanten Willhelm III von Oranien-Nassau, also zur Zeit der Glorious Revolution. Letzterer benötigte grosse Finanzmittel, um ruinöse Kriege zu führen (oder auch ausstehende Solde zu entrichten). Dazu verlieh ihm die internationale Zinslobby das Geld, 16 Millionen Gold-Pfund! Sie erhielt im Gegenzug das Privileg, eigenmächtig Geld zu schlagen, was bis anhin ein königliches Regal gewesen war. Das Buch von Sutton über die Verbindungen zwischen Wall Street und der Sowjetunion ist unseres Erachtens interessanter und überzeugt mehr; vor allem ist es hervorragend dokumentiert. Sutton behauptet, die Bolschewiki hätten ohne die Unterstützung durch die amerikanische Finanz weder den Sieg davontragen, noch den Sieg behalten können. Er will aufzeigen, wie diese Finanzkreise den Bolschewiki Kapital geliehen haben. Das wären je nach politischer Situation auch andere politische Kräfte in Russland gewesen; auch die Menschewiki erhielten lange Zeit grosszügig Geldmittel; die „Weissen“ dagegen wurden recht schnell fallengelassen. Es ging um die Sicherung der gewaltigen Naturschätze in Russland, um die Schaffung und Beherrschung des künftigen Marktes dieses Landes. Sutton täuscht sich jedoch in dieser Hinsicht, wenn er den Magnaten der US-Finanz ausschliesslich marktmonopolistische Absichten unterstellt. Er ist da ganz libertär eingestellt, ja marxistisch, wenn er die rein ideologisch-politischen Motive ausser Acht lässt. U. E. sollte die natürliche Affinität von Bolschewiki und Hochfinanz über alle ökonomischen Divergenzen hinweg unterstrichen werden: Der Wille der Fortschrittlichen, eine alte, archaische, ländliche Ordnung zu zerstören, der Wille zur Beseitigung jeder Hierarchie und Transzendenz, um einer seichten Horizontalität zum Siege zu verhelfen. Kurz: U. E bestand jenseits eines kurzfristigen ökonomischen Gewinnes ein politisches Konzept. Sutton spricht von einem Komplott von Wall Street; er weigert sich, von einem jüdischen Finanzkomplott zu sprechen. Er beweist, dass die Juden weder unter den Bankiers, welche die Bolschewiki unterstützten (v. a. P. Morgan und J. Rockefeller), noch unter den Bolschewiki die Mehrzahl stellten. Das scheint uns unzutreffend; die Übervertretung der Juden unter den Bolschewiki wie auch in der US-Finanz ist kaum zu bestreiten. Sutton spricht von der Allianz zwischen zwei Gruppen von Internationalisten, derjenigen des Monopolkapitalismus und derjenigen der auf Zentralisierung abzielenden bolschewistischen Revolutionäre. Eine starke Zentralregierung war auch im Sinne des Grosskapitals. 11 Die deutsche Führung im Ersten Weltkrieg unterstützte die russischen Revolutionäre schon früh (wobei die Rolle von Parvus in diesen Finanzgeschäften doch bedeutend blieb). Das Geld wurde vermittels der schwedischen Nya Banken transferiert, in welcher US-amerikanische Financiers eine nichtzuunterschätzende Rolle spielten. Sutton zeigt auch, wie korrupt das bolschewistische Regime war und wie es, seiner Meinung nach, die Russische Revolution verriet. Er untersucht minutiös und im Detail die Verbindungen zwischen Bankiers und Bolschewiki (erstere waren schon lange vor dem Oktober 1917 auf dem Sprung). So etwa die Beziehungen zwischen Trotzki und amerikanischen Bankiers, die schon anlässlich Trotzkis Besuch in den USA geknüpft wurden. Woodrow Wilson, Freund der russischen Revolutionäre, habe (gegen die Ansicht der britischen Alliierten) alles unternommen, ihm zu helfen, wieder nach Russland zurückzugelangen, welches eben in Revolution begriffen war, etwa, indem er ihm einen Pass verschaffte. (Sutton sagt, Trotzki habe in N.Y. von kapitalistischer Seite Geldmittel erhalten). Trotzki habe von November 1917 an in St. Petersburg William Boyce Thompson empfangen, einen Grosskapitalisten, Business-Man, Finanzmann und Besitzer eines gewaltigen Vermögens (als Inhaber von Silber- und Kupferminen), und als Verwalter der Federal Reserve Bank in N.Y. von einiger politischer Macht (p. 18). So seien gewaltige Finanzmittel der neuen Sowjetregierung zugeflossen. Gemäss Sutton hätte dieser Thompson, nachdem er eine Zeit lang Kerenski unterstützt hatte, in der bolschewistischen Revolution finanziell, diplomatisch und materiell eine grosse Rolle gespielt. Bei der US-Regierung trat er für die Anerkennung der UdSSR durch die USA ein und versuchte auch Gross-Britannien von der neuen Realität zu überzeugen. Thompson schrieb auch eine kleine Boschüre vollen Lobes auf Lenin und das neue Regime auf Russisch, die 1918 in N.Y. herauskam: „Prawda o Rossii i Bolshevikach“ („Die Wahrheit über Russland und die Bolschewiki“). Sutton zeigt, dass die Riesengruppen Morgan und Rockefeller schon 1903 die Revolutionäre in Panama unterstützt und die Abtrennung Panamas von Kolumbien erreicht hatten, wonach die amerikanischen Kapitalisten sich des Kanals bemächtigen konnten. Vergleichbare Interventionen gab es in China, 1911-12, zu Gunsten von Sun Yat-sen, sowie in Mexiko zur Unterstützung der Revolutionäre um Pancho Villa. Sutton erzählt die Geschichte von Michael Gruzenberg, einem bolschewistischen Agenten in Skandinavien, der unter dem Namen von Alexandre Gumberg auch Vertrauensrat der Chase Manhattan Bank von N.Y. war. Er spricht auch von einem Cousin von L. Trotzki, Abram Givatowzo, einem Bankier aus Kiew, der, ein Antibolschewist bis in die Knochen, doch die sowjetische Regierung 1818 bei zahlreichen Transaktionen unterstützte (er sei es gewesen, der zwischen den Bolschewiki und den internationalen Bankiers vermittelt haben soll). Von 1917 an entstand ein beeindruckendes Konsortium von amerikanischen Kapitalisten unter der Führung von Rockefeller und Morgan, um die Russische Revolution zu finanzieren und damit natürlich die Anstrengungen des zaristischen Russland zu sabotieren, das dennoch offiziell Alliierter 12 der USA war! Dieses Konsortium wandelte sich nach der Oktoberrevolution in die Amerikanische Liga zur Unterstützung und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion um. Sutton beleuchtet auch die Rolle des revolutionären schwedischen Bankiers Olof Alschberg, der gleichzeitig Krassine (Bolschewik und leitender Ingenieur der Siemenswerke in St. Petersburg) und Max May nahe stand, einem der Chefs der Guaranty Trust Company (von Morgan kontrolliert und geführt). Über Alschbergs Bank, die Nya Banken, wären Fonds an die Bolschewiki während und nach der Revolution überwiesen worden. Alschberg machte Geschäfte mit dem Sowjetstaat und wurde dann Direktor der ersten sowjetischen Bank, der Ruskombank (der sowjetischen Aussenhandelsbank). Diese internationale Bank wurde 1922 gegründet (also damals, als die bolschewistischen Führer vor den versammelten enthusiastischen Revolutionären von der Tribüne des VI. Kongresses der Kommunistischen Internationalen herab flammende Aufrufe zur proletarischen Weltrevolution erliessen . . .) und zwar mit dem wesentlichen Beitrag von privaten Kapitalien aus den USA (insbesondere vom Morgan-Trust), aus England, Schweden, Deutschland und Russland. Sie wurde in N.Y. von der Guaranty Trust Company vertreten. Max May wurde Direktor der für die Ruskombank zuständigen Abteilung für auswärtige Angelegenheiten. Sutton widmet ein Kapitel der Mission des Internationalen Roten Kreuzes in Russland im August 1917. Sie war ein Vehikel der Neuyorker Finanz und auch gänzlich aus Financiers der Wall Street zusammengesetzt! Unter dem Deckmantel einer humanitären Mission sollte die Hand auf die Reichtümer von Russland gelegt werden, indem den Herren des Landes von morgen unter die Arme gegriffen werden sollte, Kerenski oder den Bolschewiki. Dabei sollte den Industriellen und Financiers aus Deutschland zuvorgekommen werden; nicht zufällig figurierte unter den Geldgebern der Mission auch Basil Zaharoff, der berüchtigte internationale Waffenhändler (siehe dazu von Tintin d’Hergé „L’oreille cassée, 1979, p. 34-35). Unter Berufung auf einen gewissen McCormick („The Mask of Merlin“, 1963), sei dieser Zaharoff, der während des Weltkrieges durch den Verkauf von Waffen an die beiden Lager ein immenses Vermögen erworben hatte, von den Führern der Alliierten bezüglich der Aussenpolitik konsultiert worden. Auch sollen sich Lloyd George, Woodrow Wilson und George Clémenceau mehrfach in der Wohnung von Zaharoff in Paris getroffen haben. Sutton gibt auch an (o.c., p. 93), Zaharoff habe Kontakte mit den Bolschewiki gehabt und sei in London und Paris zu ihren Gunsten aufgetreten. Die Neuyorker Bankenwelt (Morgan und Rockefeller) finanzierte die Bolschewiki, insbesondere vermittels der American International Corporation (eine von Morgan kontrollierte Bank, an der aber auch Rockefeller und Carnegie Anteil hatten). Diese AIC war 1915 gegründet worden und übte einen grossen Einfluss auf die Politik gegenüber der UdSSR aus. Es ging letztlich um einen versteckten Krieg der USA gegen Deutschland und um den Besitz von Russland und seiner Reichtümer. Die kapitalistischen Kreise der USA wollten den russischen Markt ausbeuten, ohne die Konkurrenz der deutschen und der russischen Kapitalisten selbst, oder anderer kapitalistischer Kreise in den USA fürchten zu müssen (die US-Amerikaner befürchteten, Russland könnte eine Grossmacht werden). 13 Staates erklärt werden kann; diese Ungeheuerlichkeit von einer Revolution entfaltete sich im übrigen nicht erst mit dem Tod von Lenin und der Machtübernahme durch Stalin. Lenin selbst gebärdete sich wie ein Monster und Dämon4, und wer Lenin hochjubelt und Die Industrie in Russland lag nach dem Krieg zu Boden; die Bolschewiki brauchten Maschinen, Eisenbahnen, chemische Produkte, Kleider, Lebensmittel etc. Sie eröffneten zu diesem Zweck Anfangs 1919 ein Büro in N.Y., über welches der Kontakt zu Firmen des Landes hergestellt und Verträge zur Einfuhr von Ausrüstung, Kleidern, Schuhen etc. in die junge Sowjetunion geschlossen werden sollten. Von Mai bis Oktober 1919 signierten neun amerikanische Firmen Verträge zur Einführung solcher Waren. In zehn Monaten fanden Transaktionen von 40 Millionen Dollar statt! 99% der Elektrifizierung und Radioausrüstung in der UdSSR wurde von den amerikanischen Firmen R.C.A. und General Electric geleistet. Sutton widmet mehrere Seiten John Reed. Dieser Sympathisant und Propagandist der Bolschewiki war in Tat und Wahrheit ganz in der Hand des Morgan Trust, denn dieser Journalist schrieb in Zeitungen, die dem Trust gehörten. Reed wurde mehrere Male in Europa verhaftet und jedes Mal von AIC wieder herausgeholt. Kurz und gut, Reed wurde von der Morgan Bank bezahlt und beschützt; Sutton liefert dazu Beweise. Dagegen spricht nicht, dass er Artikel gegen den Kapitalismus und zu Gunsten der Bolschewiki, ja gegen Morgan selbst schrieb! Oder auch, dass Morgan eine Zeit lang den Admiral Koltschak finanzierte. Sutton untersucht, allzu schnell, die verschiedenen in den Kreisen von Kapitalisten und Financiers der USA von Anfang des 20. Jahrhunderts an entworfenen Pläne, vor allem den Plan von Carnegie: ein globales Projekt, das unter dem Vorwand des Pazifismus eine Weltregierung und einen einzigen Weltmarkt vorsah (das hatte Solowjew in seiner Schrift zum Antichrist gut hervorgehoben und auch „Colonel“ Edward House in „Philip Dru Administrator“ skizziert (. . .)). Diese kapitalistischen Kreise warfen alle wegen des Internationalismus einen wohlwollenden Blick auf den Marxismus (insbesondere die Variante des FabianSozialismus). Dieses globale Projekt ist immer noch aktuell; Sutton zitiert das Buch von John D. Rockefeller, „The Second American Revolution“, aus dem Jahre 1973, ein einziges Plädoyer für den egalitären Humanismus und Weltfrieden. Die amerikanischen Firmen (insbesondere der Morgan-Rockefeller-Gruppe) haben Russland in den Dreissigerjahren wiederaufgebaut und das Gelingen des ersten Fünfjahresplanes von Stalin ermöglicht. Es war also eine grosse Heuchelei als 1932 die USA die Sowjetunion anerkannten, denn die beiden Länder standen schon lange in kommerziellem und finanziellem Austausch; so kaufte die Federal Reserve Bank seit 1920 russisches Gold und der Rubel, die russische Devise, war schon lange auf den Devisenmärkten akzeptiert. Sutton kommt zum bekannten Schluss, dass die Bankiers weder Ideologie noch Vaterland kennen und dass es eine Koalition zwischen Bankiers und russischen Revolutionären gab. 4 Man versteht leicht, warum Lenin die Romane von Dostojewski nicht mochte; er stufte sie nach dem Zeugnis von Valentinow, „Vstretchy c Leninym“, als reaktionär ein: Lenin hätte nämlich seine 14 Geschichte in den „Dämonen“ vorgezeichnet gefunden. Dostojewski beschreibt darin die revolutionäre Furie über Russland mit ihrer marxistischen und explizit russischen Komponente. Wladimir Wolkoff spricht bezüglich Lenin, Trotzki und Stalin als der Dreifaltigkeit des Bösen (siehe das Buch „La trinité du Mal“, 1991). Das ist bestimmt übertrieben, diese drei Männer waren aber vom Dämon des Fortschritts besessen (vom Hass auf das Sein, wie Wolkoff sagt) und sind für unvorstellbare Schlachtereien und Zerstörungen verantwortlich. Wolkoff übertreibt sicher, wenn er vom russischen Kommunismus als der grössten Katastrophe der Geschichte spricht, auch wenn er einen beträchtlichen Teil der kapitalistischen Weltrevolution darstellt, dieser immensen Katastrophe, die keinen zutreffenden Namen trägt, also unbenennbar ist. Es ist absurd, einen andern Nürnberger Prozess für die Verbrechen des Kommunismus zu fordern, wie das Wolkoff tut. Es hiesse zu vergessen, dass der Nürnberger Prozess nichts als eine gewaltige und dunkle Farce war, eine Mischung von Hollywood-Film und stalinschem Moskauer Prozess (wie dann auch noch der Jerusalemer Prozess von 1961 gegen Eichmann). Es gibt mehr als genug Beweise dafür, dass von den angelsächsischen Demokraten damals die Folter eingesetzt worden war, um aus den Gefangenen die erwünschten Geständnisse und Aussagen herauszupressen. Das gilt auch für die folgenden Kriegsverbrecherprozesse. Wolkoff ruft in Erinnerung, dass Lenin in seinen jungen Jahren ein unglücklicher Landwirt war, auf die Jagd ging (wie Trotzki), dass er von seiner Mutter geliebt wurde, dass er mutig war, dass er die Blumen verabscheute (diesbezügliche Quelle ist das Buch von Bertrand D. Wolfe, „Three who made a Revolution“, oftmals von Bordiga zitiert). Wolkoff anerkennt die vollständige persönliche Uneigennützigkeit von Lenin, seinen Asketismus (insbesondere seine Abscheu für die freie Liebe; er sagte, er trinke nicht aus einem Glas, in das andere gespuckt hätten!!), seine Verachtung für den Luxus, seine tiefe Bescheidenheit; so zögerte er nicht, andere für ihn seine Artikel unterschreiben zu lassen. Wolkoff anerkennt das Genie von Lenin (für ihn ein Genie des Bösen), aber auch seine theoretische Brutalität. Nicolas Valentinow, eine Zeit lang Bolschewik, darauf nach, dem Bruch mit Lenin bis 1917 Menschewik, berichtet, wie ihm Lenin erklärte: „Marx und Engels haben alles gesagt, was es zu sagen gab. Der Marxismus muss nicht entwickelt werden ausser im von seinen Begründern angegebenen Sinne. Nichts im Marxismus muss revidiert werden. Auf Revisionen gibt es nur eine richtige Antwort: aufs Maul schlagen.“ (Nicolas Valentinov, o. c., p. 224). Bordiga hätte das sofort unterschrieben, ausser vielleicht die empfohlene therapeutische Massnahme, wenn auch er zuweilen proletarisch-marxistische Brutalität kannte. Valentinow betont Lenins totale Unkenntnis der Philosophie, ja seine Verachtung für sie (und auch Bordiga rühmte sich, nie eine Zeile von Hegel oder Croce gelesen zu haben). Valentinov vergleicht die anti-revisionistische Einstellung von Lenin mit derjenigen des orthodoxen Patriarchen Awakum, Oberhaupt der Alt-Gläubigen, der sich jeder Modernisierung des orthodoxen Glaubens im 18. Jahrhundert widersetzt hatte. Er zitiert ihn: „Wie in den alten Büchern die Sachen geschrieben 15 entschuldigt, macht sich einer Schändlichkeit schuldig. Bordiga hat die Frage der Verantwortlichkeit Lenins und darüber hinaus des Grauens der Russischen Revolution nie behandelt; er vergötterte Lenin und die Bolschewiki. Und konnte man die Wirklichkeit in Russland vor dem Zweiten Weltkrieg noch übersehen, dann sicher nicht mehr nach 1950. Bordiga äusserte sich mit Verachtung über Victor Krawtschenko, den Autor von „I chose Freedom“, in Frankreich 1947 unter dem Titel „Ich wählte die Freiheit“ erschienen, als einem C.I.A.-Agenten. Vielleicht war er das, wir meinen aber, dass es korrekter gewesen wäre zu sagen, dass er vom C.I.A. benutzt worden ist. Vor allem aber war nicht das die Frage, sondern: Was sagte dieser Krawtschenko, und was bestätigte Margaret BuberNeumann, die als Zeugin im Prozess gegen die stalinistische Zeitschrift „Les Lettres Françaises“ auftrat? Ob C.I.A.-Agent oder keiner: das war doch nur banale Nebensache. Doch noch viel schlimmer: Bordiga denunzierte nie die Massaker, welche auf Befehl Stalins begangen wurden, und betonte nur die Ausmerzung der alten Bolschewistengarde, wodurch die Umkehrung der revolutionären Perspektive eingeleitet worden sei. In „Structure économique et sociale de la Russie d’aujourd’hui“ geht er nur kurz auf die Rebellion von Kronstadt ein, offensichtlich peinlich berührt, nirgendwo aber erwähnt er die gewaltigen Bauernaufstände, nie die Massaker an den Bauern. Ihm als gutem, stehen, so bewahre ich sie und glaube daran und sterbe damit. Bis zum Tod halte ich es mit ihnen, wie ich sie erhalten habe. Und verflucht sei, wer daran ein Iota verändert.“ (o.c., S. 289) Valentinow widersetzt sich dem Misoneismus, erfasst aber nicht die Tragweite der Frage, dass nämlich auch der Kapitalismus eine Revolution, die Geburt des Neuen ist. Bordiga vermochte dank seinem geforderten Misoneismus und trotz seines marxistischen proletarischen Deliriums eine Zeit lang der kapitalistischen Revolution zu widerstehen und sie deutlich ins rechte Licht zu rücken. Nur erkannte er in ihr nicht auch die marxistische Komponente. Das Zeugnis von Valentinow widerspricht demjenigen von Wolfe in verschiedenen Punkten. Valentinow behauptet, Lenin sei ein Feigling gewesen, er sei vor Versammlungen geflohen, wenn er Streitigkeiten habe kommen sehen (o.c. p. 36-37). Er behauptet auch, Lenin sei ein grosser Verehrer der wilden Natur, sei ein unermüdlicher Berggänger gewesen und habe sich gerne an die Blumen des Landsitzes erinnert, wo er seine Kindheit verbracht hat. Er berichtet auch, Lenin sei, wenig überraschend, weder Parteigänger der antiautoritären Erziehung, noch des Feminismus gewesen (wie im übrigen auch wir). 16 orthodoxem Marxist war die ländliche Autarkie ein Graus5 und so waren diese Massaker nicht von Belang und er interessierte sich nur für die proletarischen Massaker – sofern sie nicht zu Lebzeiten Lenins begangen wurden. Von Seiten der Revolutionäre ist ein mea culpa erforderlich. Die Russische Revolution war vor allem ein Krieg gegen die von den Bolschewiki, den Marxisten und von Marx selbst verachtete und verhasste Bauernschaft. Letztere vergötterten dagegen die Industriearbeiter 6. Lenin hasste in seiner modernistischen 5 Für Bordiga und die Marxisten im allgemeinen ist Kommunismus gleich Gemeinschaft aller Menschen der Erde (der Weltameisenhaufen, hätte Dostojewski gesagt). Die lokalen Gemeinschaften, die als verschlossen, abgetrennt, geistig beschränkt, egoistisch und allen andern Gemeinschaften gegenüber als feindlich eingestellt betrachtet werden, bilden nichts als ein Hindernis für die Weltgemeinschaft. Bordiga zieht nirgendwo die Frage der Basisgemeinschaften und ihrer Beziehung zur Weltgemeinschaft in Betracht. 6 Ein mea culpa wie es 1936 Céline schrieb. Céline geisselt darin den marxistischen Materialismus und macht den Glauben an den proletarischen Messias lächerlich, einen nicht von den Proletariern selbst, sondern von den Intellektuellen entwickelten Glauben. Céline führt ebenfalls die Vergötterung der Maschine ad absurdum, welche die Bolschewiki und Kommunisten im allgemeinen praktizierten. „Die Maschine verschmutzt richtiggehend, sie verdammt und tötet alles, was sich ihr nähert. Sie gehört aber zum guten Ton, die Maschine. Das macht ‚prolo’, macht ‚Fortschritt’, macht ‚Job’, macht ‚Effekt’ . . . Das bringt Massen aufs Pflaster . . . Das gibt gewiefte Kenner, zuverlässige Sympathisanten . . . Man hat da anzufügen und zu empfehlen . . . Dann lässt man die Ventile knallen . . . „Ich bin, bin dabei!“ Es lebe die grosse Schichtfolge! Keine Schraube, die wir vergessen hätten! Die Ordnung kommt aus den Tiefen der Büros!“ Die ganze Sauce auf die Maschinen! Alle Schwindel zur Verfügung! Währenddessen werden sie nichts denken! . . . (. . .) Die Politik hat den Menschen seit drei Jahrhunderten tiefer verfaulen lassen als während der ganzen Vorgeschichte von Homo. Wir waren im Mittelalter näher daran, vereint zu sein als heute, ein gemeinsamer Geist hatte Gestalt angenommen. (. . .).“ Céline hat eine dunkle Menschheitsvision: „Der grosse Anspruch auf das Glück: dies ist der grosse Bluff! Dieser Anspruch macht das ganze Leben kompliziert. Macht die Leute so giftig, hässlich und ungeniessbar. Es gibt kein Glück im Leben, nur mehr oder weniger grosses Unglück, mehr oder weniger spät ausbrechend, geheim, aufgeschoben, heimtückisch. . . „Aus glücklichen Leuten macht man die besten Verdammten“. Das Prinzip des Teufels ist gültig. Er hatte wie immer Recht, den Menschen auf das Materielle auszurichten. Das hat nicht hingehalten. In zwei Jahrhunderten alles verrückt vor Stolz, von der Mechanik aufgeblasen, unmöglich geworden. So 17 sehen wir ihn heute: verstört, übersättigt, alkoholsüchtig, benzinsüchtig, misstrauisch, anspruchsvoll, das Universum mit kleiner Anstrengung in Sekunden! („Mea culpa“, p. 22, 24, 26). Moskau sah in Céline - nicht ganz zu Unrecht - jemanden, der die bürgerlichen Werte in den Dreck zog und unterstützte ihn mit Autorenrechten, die indessen nicht über die Sowjetunion hinausgingen. Céline war deshalb in Sowjetrussland, um sie dort einzulösen. Nach seiner Rückkehr schrieb er „Mea culpa“. Man sollte doch einmal den von Konterrevolutionären den Revolutionären vorgehaltenen Vorwurf sowenig subtil er ist, so hat er doch einiges an sich – beherzigen, die Revolutionäre seien realitätsuntauglich. Sicher, die Wirklichkeit ist diejenige des Kapitals, der schrecklichen modernen Welt, sie ist aber auch die natürlich gegebene der materiellen und menschlichen Mitwelt, in welcher Gemeinschaft auch immer. Auch der Vorwurf an die Revolutionäre, sie seien neidisch, eifersüchtig auf die Habenden, sauertöpfisch, armselig und unfähig, zu Eigentum zu kommen, zu einer Frau, einer Familie, unfähig zu arbeiten, an einem Vaterland Anteil zu nehmen, kurz: Versager. Man könnte ebenso kurz sagen: Es sind Verrückte, die für die Abschaffung der Gesundheit, es sind Hässliche, die für die Abschaffung der Schönheit sind. Diesen Zug zu erkennen, heisst nicht, das furchtbare Phänomen der Enteignung zu verkennen. Auch Jacques Camatte geht auf das Thema der Frage nach der Schuld der Revolutionäre ein (in „Inversion et Dévoilement“, ein Text von 2012 auf der Website revueinvariance), er, der doch jede Schuld ablehnt oder relativiert. Auf p. 53 spricht er von der revolutionären Arbeiterbewegung, einer Bewegung, die seiner Ansicht nach mit der italienischen Linken zu Ende ging. Er spricht von „Ungenügen, Inkonsequenz und Widersprüchen“, deretwegen es sich nicht lohne, zu verurteilen, zu lamentieren oder in Selbsthass zu verfallen (ein Begriff, der im Zusammenhang mit der Ablehnung von Juden aufgekommen ist, welche den Judaismus und die Juden kritisieren), da man da selbst mitgemacht hat. Das stimmt durchaus, nur spricht Camatte weiter unten von „Strömungen, welche die bestehende Ordnung verteidigten und Massaker und andere Gräuel anrichteten“; wie verhält es sich aber mit den revolutionären Strömungen? Haben sie nicht auch Massaker und andere Gräuel angerichtet, in Russland insbesondere? Das wird nicht erwähnt. Diese Bilanz der Dinge ist zumindest etwas schnell gezogen. Auf p. 54 sucht Camatte Entlastungsgründe für die Revolutionäre, d. h. er gibt stillschweigend doch zu, dass da Gräuel geschehen waren. Diese Entlastungsgründe laufen auf einen einzigen hinaus: Man dürfe nicht nur die Akte beurteilen, sondern müsse auch die Absichten berücksichtigen, welche nebenbei geäussert wurden. Die Bolschewiki (etwa das Komitee zum öffentlichen Wohl) hätten also Gräuel begangen, ebenso wie die Weissen und Faschisten, nur: Sie wollten das Beste für die Menschen. Das gemahnt unbedingt an das „Es ist zu deinem Besten“ der Schwarzen Pädagogik, wie sie Alice Miller anprangert, worin ihr Camatte in seiner Ablehnung der „elterlichen Unterdrückung“ und jeder anderen Repression folgt. Man sollte noch beherzigen, dass die Bolschewiki sich überdies deutlich aussprachen: Es gab einen Diskurs über proletarische Brüderlichkeit auf der Welt und das Glück der gesamten Menschheit gleichzeitig neben einem anderen über die Notwendigkeit, die Ausbeuterklassen, Kulaken, Priester etc. zu vernichten. Vom Anfang seiner politischen Karriere an machte Lenin aus seinen Zielen kein Hehl: Industrialisierung und Kommunisierung Russlands. Camatte 18 Paranoia tief alles, was ganz russisch war, das bäuerliche Leben und die Religion. Für ihn war das Obskurantismus; die russische Seele wollte er ausradieren 7. Er und seine Genossen betrachteten die Bauern als religiöse Trottel, als zurückgebliebene, bornierte Idioten, welche der Modernisierung und Industrialisierung Russlands im Wege standen 8 spricht, auf p. 62, vom Phylum, dem er sich zugehörig fühlt, dasjenige, „welches jede Zähmung ablehnt“. Er zählt offenbar die ganze proletarisch-revolutionäre Bewegung dazu. Es gibt also doch Menschen, die dazuzählen und andere, die das nicht tun (und welche Gräuel vollziehen); überraschend für jemanden, der die Trennung in Innen und Aussen so strikt ablehnt; hier hat man sie wieder. Und dann stellt sich doch die Frage: Hätten also die christenverfolgenden Bolschewiki und massakrierenden Kulakenjäger „zum Phylum“ gehört? 7 Interessanterweise hält Adam Smith in seiner „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations”, 1776, dafür, dass die Bauern intelligenter als die durchschnittlichen Handwerker der Städte sind. Man liest da: „Auch ist es rar, dass diese Eigenschaften (Verstand und Klugheit) dem einfachen Pflugbauern abgehen, sosehr man ihn doch als ein Modell für Dummheit und Einfalt nimmt. In der Tat ist er weniger als der Handwerker an das Geschäftsleben der Gesellschaft gewohnt; seine Sprache und seine Stimme haben etwas Gröberes und Anstossenderes an sich für diejenigen, die nicht daran gewohnt sind. Des Bauern Intelligenz ist aber gewohnt, auf eine Vielzahl von Gegenständen angewandt zu werden, sehr wohl derjenigen des Handwerkers überlegen, dessen ganze Aufmerksamkeit gewöhnlich von Morgen bis Abend auf die Verrichtung einiger weniger Handgriffe konzentriert ist. Wer immer eine Zeit lang aus Interesse oder geschäftlicher Notwendigkeit mit den bäuerlichen Klassen auf dem Lande gelebt hat, wird diese Überlegenheit bestätigen.“ (Nach der franz. Übersetzung besagten Werkes von 1991, p. 204.) 8 Es ist oft bemerkt worden, wie sehr Lenin die Entwicklung des Kapitalismus in Russland Ende des 19. Jahrhunderts und dessen Einfluss auf die Landschaft in seiner Polemik gegen die Populisten, Verteidiger der bäuerlichen Welt und der russischen Gemeinde, überschätzt hat (er gab das später selber zu). Man denke an sein Buch von 1899, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“. Lenin unterstreicht da die historische Aufgabe des Kapitalismus: Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit, Kollektivierung derselben. Lenin verteidigte sich gegen die Populisten, welche ihm daher vorwarfen, Verteidiger des eindringenden Kapitalismus zu sein, da er den so genannten progressiven Charakter des Kapitalismus anerkenne. Es handelt sich bei dieser Fehleinschätzung des Entwicklungsstandes von Russland nicht einfach um einen epistemologischen oder theoretischen Fehler; Lenin überzeichnet absichtlich den kapitalistischen Entwicklungsstand, um eine bäuerlich-populistische Zukunftsaussicht zu verbauen und nahm gleichzeitig seinen Traum von einer verschwundenen bäuerlichen Lebensweise und 19 9. Die ländliche Welt hatte eine authentische, eigenständige Kultur entwickelt. Der russische Bauer war Christ, besass das Wissen vom autarken Leben, konnte seine Isba bauen, seine Kleider weben, seine Erde bebauen und somit alle Bedürfnisse befriedigen, nicht nur die unmittelbarsten der Ernährung. Diese waren sicher sehr eingeschränkt. Das alles war dem städtischen Parasitismus der Marxisten vollständig verhasst. Sie verehrten und verteidigten die verfälschten Bedürfnisse und das zivilisatorische Raffinement, schwärmten vom nationalen, dann kontinentalen, letztlich weltweiten Markt und verachteten nichts so sehr wie die Autarkie. Wer ausserhalb des Weltmarktes bleiben will, wird verdächtigt, antisozial, also konterrevolutionär zu sein. Die progressiven Juden hassten den Archaismus dieser russischen Zivilisation und füllten deshalb en masse die Ränge der bolschewistischen Partei10. Sie verstanden sich vor allem als Verfolger der fortgeschrittenen Industrialisierung für die Wirklichkeit; darauf aufbauend hob sein Programm auf den Aufbau des Sozialismus ab. Trotzki war ein noch viel schärferer Gegner der Bauernschaft und ihrer Welt als Lenin. Es mag seine jüdische Herkunft oder /und sein ausgeprägter Okzidentalismus dazu beigetragen haben. So schreibt er 1909 in seinem „1905“: „Die gesellschaftliche und politische Barbarei Russlands hat ihren Grund auf dem Lande (. . .) Der Kretinismus der örtlichen Beschränktheit ist ein Fluch, der auf allen Bauernrevolten lastet.“ Als Ideal schwebt Trotzki (und das gilt auch für Lenin) die amerikanische Landwirtschaft vor. 9 G. Plechanow, kein Jude, drückte diesen Hass auf das Russland der Ahnen und diese Faszination für die Moderne 1892 gut aus: „Die Rolle des Proletariates ist so revolutionär wie diejenige der Muschiks konservativ ist. Der orientalische Despotismus, der sich auf die Bauernschaft abstützte, ist seit Jahrhunderten unerschüttert geblieben. Das Proletariat hat in relativ kurzer Zeit die westliche Zivilisation bis auf den Grund erschüttert. In Russland entwickelt sich das politische Bewusstsein des Proletariates noch viel schneller als in Europa. Das russische Proletariat wird jeden Tag wie der Held im Märchen stärker und grösser. In zehn Jahren könnte eintreten, dass man es nicht mehr wieder erkennt.“ (Zitiert von Christine Fauré, „Terre, terreur, liberté, S. 176 – 177“). Auch Plechanow nahm seine Träume für die Wirklichkeit; Russland war noch weitgehend bäuerlich-ländlich und das Kapital noch weit davon entfernt, sich fest eingepflanzt zu haben. Lenin nahm diese Fehleinschätzung auf und verbreitete sie. In der „Gruppe Befreiung der Arbeit“ (von Lenin zusammen mit Plechanov und Vera Sassulitsch gegründet) gab es jedoch einen ersten Marxisten, Peter Axelrod, ein Jude, welcher der Bauernschaft gegenüber viel feindlicher als seine Genossen eingestellt war. 10 Wolkogonow zitiert in „Lenin: Life and Legacy“, 1994 einen Satz von Lenin an Leonid Krassin zur 20 Bauernschaft 11 (Iagoda war ein Jude, Kaganovitsch ebenfalls) und der alten christlichrussischen Zivilisation; es ist deshalb nicht vollständig falsch, wenn die Reaktionäre in der Elektrifizierung von Russland: „Die Elektrizität wird Gott ersetzen. Lasst den Bauern um Elektrizität beten, er wird ihre Macht stärker als diejenige des Himmels spüren.“ Doch hatte Lenin vielleicht nicht ganz falsch; Christentum und Elektrizität sind vielleicht unvereinbar. 11 Alexander Solschenizyn behandelt in seinem 2002 erschienen Buch „Zwei Jahrhunderte zusammen, 1795 - 1995“ die Bedeutung der Juden in der russischen revolutionären Bewegung. Er bemerkt, die Juden seien häufiger bei den Anarchisten, Sozialrevolutionären und Menschewiki als bei den Bolschewiki anzutreffen gewesen. Er zitiert einen Autor (p. 74) der von „Sanhedrin“ anlässlich einer Versammlung der bolschewistischen Partei spricht: „so viele Juden waren da versammelt“ (der prozentuale Anteil der Juden an der bayrischen und ungarischen Revolution war noch viel erheblicher). Schon 1907, am letzten Kongress der Sozialistischen Arbeiterpartei Russlands war über die Hälfte der Delegierten jüdisch (160 von 305). Solschenizyn gibt ehrlich zu, dass die Juden nicht die einzigen waren, die vom Hass auf das alte Russland, seine Geschichte, seine Bauernschaft, seinen Boden und die Orthodoxie beseelt waren. Das traf auf alle Bolschewiki zu. Und wenn die Rolle der Juden (insbesondere von Sverdlow) in der Ermordung der Herrscherfamilie unter grausamen Umständen entscheidend war, so wurde der Grossherzog Michel, Bruder des Zaren, von Russen, nicht Juden umgebracht. Nach der bolschewistischen Revolution strömten die Juden massenhaft in die Städte und zur bolschewistischen Partei (auch der Historiker Leonard Schapiro, von Solschenizyn auf p. 88 zitiert, betont die grosse Bedeutung des jüdischen Zustroms in die Partei). Die Juden nahmen überproportional am neuen Staat teil und stellten einen Grossteil der Verwaltung, was die Eifersucht der Russen weckte. Die bolschewistische Partei scheint ihre hervorragende Organisation den Juden zu verdanken, deren Fähigkeiten zur Abstraktion, Einsicht, zu rationellem Denken, zu Handel und Wirtschaft sie nutzten. Die Juden nahmen auch in grossem Masse am ideologischen und praktischen Kampf gegen die Orthodoxe Kirche, in der Verfolgung der Priester und der Zerstörung der Kirchen teil. Im Kampf gegen die Bauernaufstände und zu ihrer Liquidierung in den Zwanzigerjahren standen sie in vorderster Reihe (Solschenizyn zitiert auf p. 47 die jüdischen Geschlechtsnamen der Henker der Revolte von Tambow). Die an ihrem Leben nach dem Vorbild der Ahnen hängenden Bauern verabscheuten die Juden, in denen sie die ausbeuterischen Bolschewiki und ihre Verfolger sahen, was kein Zerrbild war. Gleichermassen spielten die Juden eine ausschlaggebende Rolle in der Tscheka, der G. P. U., in der forcierten Kollektivierung und „Entkulakisierung“, im Apparat der Konzentrationslager, im Volkskommissariat (1936 waren acht Juden unter den Kommissaren) und in der Roten Armee. Solschenizyn zitiert Serge Bulgakow, offensichtlich beipflichtend: „Man darf nicht alles den Juden in die Schuhe schieben, darf aber auch nicht ihren Einfluss herunterspielen“ (p. 107). Er berichtet auch (p. 222) von einer Konferenz von Bucharin (der Text erschien in der Prawda vom 2. Februar 1927), 21 worin er erklärt: „die kleine und mittlere jüdische Bourgeoisie hat den Platz der einstigen russischen eingenommen“; er schliesst mit dem Aufruf an die Kommunisten, gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Solschenizyn, der Antony Sutton gelesen hat und ihn auch zitiert, sagt, die den Juden gegenüber freundliche Politik sei auch ein Mittel der Bolschewiki gewesen, sich die Hilfe der jüdischen US-amerikanischen Financiers zu sichern. Das war auch während des Zweiten Weltkrieges die politische Praxis, die russischen Juden, insbesondere etwa Ilya Ehrenburg, wurden dazu benutzt, die Hilfe reicher amerikanischer Juden zu erhalten und diese dazu zu bringen, auf ihre Regierung im Sinne der Förderung der russischen Sache Druck auszuüben. Solschenizyn geht auch länger auf die Juden in Russland ein, welche sich gegen den Bolschewismus stellten. Er erwähnt einen jüdischen Autor (p. 421), einen gewissen Dan Levine, der meint, die Verfolgung der Juden (Solschenizyn spricht von Der Katastrophe (ob das Solschenizyns Bezeichnung für die Shoa ist oder ob die Übersetzer die Initiative ergriffen?) durch die Deutschen sei die Strafe Gottes dafür, dass sich die Juden an die Spitze der kommunistischen Bewegung gestellt hätten! Solschenizyn reiht sich im zitierten Buch unter diejenigen, welche den monströsen Ersten Weltkrieg hatten weiterführen wollen (er, der doch russischer Patriot sein will; wie kann er sich für den Krieg aussprechen, der zur Vernichtung des alten Russland geführt hat?), er verteidigt auch den Krieg von 1939 – 1945 und akzeptiert diskussionslos alle Mythen der antifaschistischen und antideutschen Propaganda. Er schreibt, für eine künftige Menschheit hoffe er, sie vermöchte Liebe zur Nation und Liebe zur Menschheit vereinen. Igor Rostislavovitch Chafarevitch ist russischer Nationalist, orthodoxer Christ, ein Dissidenter, der Alexander Solschenizyn nahe steht, und Mathematiker von weltweitem Renommé (Koautor mit Z. I. Borevitsch der „Theorie der Zahlen“). Er hat ein Buch mit dem Titel „Le Phénomène socialiste“ geschrieben, auf Russisch 1977 erschienen, worin er die Weltgeschichte des Sozialismus seit Platon und den griechischen Utopien darstellt. In „Russofobyia“, 1989, geht Chafarevitch auf die Feinde und Gegner Russlands ein, vor allem auf die modernistischen, revolutionären Literaten, welche die alte ländliche Lebensweise in Russland hassen und die Bauern verabscheuen (er erinnert an das verächtliche Urteil von Trotzki über die bäuerlichen Schriftsteller in Russland, in „Literatur und Revolution“; oder die gehässigen Bemerkungen des deutschen jüdischen Poeten Heinrich Heine zum Christentum). Chafarevitch geht auf die Reaktion gegen die Moderne ein und schreibt: „Es scheint mir, dass bei uns die geistige Grundlage, worauf man noch bauen kann, das Dorf ist. Ein Viertel unserer Bevölkerung lebt auf dem Dorf, während die ländliche Bevölkerung in den USA nur noch 3% ausmacht. Das Dorf verbindet uns mit dem Boden, mit der Natur, mit dem Kosmos. Es ist eine Quelle der Energie, dank der man noch die Gesundheit des Lebens bewahren kann, vorausgesetzt, dass die Zerstörung der so genannten „perspektivlosen Dörfer“ aufhört und das amerikanische Modell einer minimalisierten ländlichen Bevölkerung aufgegeben wird.“ Das scheint aber gerade der Weg zu sein, den Russland heute geht: die äusserste Verstädterung. Chafarevitch geht ebenfalls auf die Frage der Juden ein (v. a. in Kapitel VIII: „L’influence juive dans la 22 Russie révolutionnaire“) und beschuldigt, ähnlich wie Solschenizyn, die jüdische Gemeinschaft, die Speerspitze des revolutionären Kampfes gegen die russische Seele gewesen zu sein; sie habe eine zentrale Rolle in der anti-russischen fortschrittlichen Intelligentsia inne gehabt. Er bringt den jüdischen Messianismus mit dem proletarischen in Zusammenhang (er betont auch, sich auf Max Webers berühmte Studie abstützend, die zersetzende Rolle des Calvinismus auf die alte abendländische Kultur des Mittelalters). Ganz wie Dostojewski greift Chafarevitch die Apologeten der Entwurzelung und des Kosmopolitismus an, welche die Kontinuität in Russland zu brechen versuchen; die Entwurzelung führt zum Hass auf Russland, auf die Verleumdung alles Russischen. Chafarevitch erkennt indessen an, dass die Juden in der Französischen Revolution keine Rolle spielten und dass die ersten russischen Revolutionäre (Bakunin, Herzen, Tschernyschewky) keine Juden waren (Bakunin hasste sogar die Juden). Die Juden strömten erst nach der Oktoberrevolution in die Kommunistische Partei; zuvor hatten sie sich den Menschewiki angeschlossen. Dann aber spielten sie darin eine entscheidende Rolle. Er geht auf Charles Rappoport ein, einen der wenigen marxistischen Theoretiker in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser schreibt: „Das jüdische Volk ist der Empfänger aller grossen Ideen der Einheit und einer menschlichen Gesellschaft durch die Geschichte hindurch (. . .) Das Verschwinden des jüdischen Volkes bedeutete das Ende der Menschheit, die endgültige Verwandlung des Menschen in ein wildes Tier“ (ibidem, p. 210). Rappaport entstammte einer reichen jüdischen baltischen Familie und war einer der theoretischen Führer des KPF. Er trat aus dieser 1938 aus, entrüstet über den zweiten Moskauer Prozess, denn er stand Bucharin nahe. Er war Chefredakteur der 1920 gegründeten Revue communiste, Feind Souvarins in der Partei. Dieser wurde ja dann später gechasst, nachdem er als grosser Reiniger in der Partei gewirkt hatte. Das war auch Rappaport. Er kritisierte Souvarins Abrechnung mit Stalin im gleichnamigen Buch von 1935 und verteidigte diesen, wenn er ihn dann auch Bonnet-Stalin nannte (siehe „Une vie révolutionnaire, 1883 – 1940. Les mémoires de Charles Rappaport“, 1991), was, von seiner Feder geschrieben, sicher kein Lob war. Chafarevitch kommt auf die Feindseligkeit der jüdischen amerikanischen (und nicht nur jüdischen) Finanz gegenüber dem zaristischen Russland und auf die russische Revolution zu sprechen. Dabei erwähnt er auch den jüdischen Rassismus (diesen gibt es bei der Mehrzahl der Völker, doch bei keinem anderen Volk findet man die Idee des Herrenvolkes religiös verankert: die Juden, das auserwählte Volk Jahwes); der Talmud weist Stellen auf, welche von der Nicht-Menschlichkeit der Nicht-Juden sprechen. Chafarevitch ist natürlich von der ganzen bezahlten demokratischen Canaille als Faschist und Antisemit beschimpft worden. Die nationale Akademie der Wissenschaften verlangte von ihm, auszutreten, was er verweigerte. Chafarevitch verbindet Religion und Mathematik; auf einer Tagung der Akademie der Wissenschaften von Göttingen, als ihm ein Preis verliehen wurde, hielt er eine Rede: „Ein oberflächlicher Blick auf die Mathematik könnte den Eindruck erwecken, es handle sich da um die Anstrengungen vieler einzelner Gelehrter auf der ganzen Welt über die Epochen hinweg. Doch lässt die 23 innere Logik ihrer Entwicklung viel mehr an das Werk einer einzigen Intelligenz denken, die ihren systematischen Gedanken entwickelt und dabei die Vielfalt an menschlichen Individuen nur als Mittel benutzt. Das ähnelt einem Orchester, das eine Symphonie spielt, die jemand komponiert hat (. . .) Die Idee einer solchen Aktivität der Menschheit, wunderbar verwirrend und mysteriös, ist frappierend, einer Aktivität, die sich über Jahrtausende fortgesetzt hat; sie kann nicht blosser Zufall sein, sie muss ein Ziel haben. Dies erkannt habend steht man sofort vor der Frage: Welches ist dieses Ziel? (. . .) Abschliessend möchte ich hier meine Hoffnung ausdrücken [. . .], dass die Mathematik als ein Modell dienen könnte für die Lösung des Hauptproblems unserer Zeit: die Aufdeckung eines höchsten religiösen Zieles und die Erkenntnis der Bedeutung der geistigen Aktivität der Menschheit.“ Wiederholen wir: Die Juden hassten den Zarismus; die Juden, grossenteils arm, flüchteten aus Russland, richteten sich in den USA ein und importierten diesen Hass auf das alte Russland, was sich natürlich auch auf die jüdische Finanzoligarchie des Landes übertrug, die deshalb grosszügig die revolutionären Bewegungen unterstützte und die grössere Finanzierung von Grossbritannien und Frankreich im Ersten Weltkrieg nur unter der Bedingung zuliess, dass kein Dollar an den Zaren ginge! Dieser Hass der jüdischen plutokratischen Kreise gegen Russland hat nicht nachgelassen; noch heute verteidigen sie die russischen Oligarchen, die grossenteils jüdisch sind, gegen Putin, den man im Namen der Demokratie und Freiheit aller Verbrechen bezichtigt. So wird der grösste all dieser Oligarchen, Mikhail Chodorowski, in Wirklichkeit ein ganz gewöhnlicher Verbrecher, von der Presse und der linken Intelligentsia als Märtyrer hingestellt! Und man wirft vor allem Putin vor, ohne es offen zu sagen, dass er sein Land von den Schulden befreit hat, die das Land belasteten, Schulden, welche das Land eingegangen war, als das Land von Yeltsin regiert wurde, dem Pro-Liberalen und Pro-Westler, als die grossen internationalen Firmen und Banken aus dem Westen hofften, das Land bestens auftrennen und plündern zu können (wie auch damals nach der bolschewistischen Revolution). Die nationalistische Gruppe Pamiat (was auf Deutsch „Gedächtnis“ heisst), genauer Pamiatanatsionalnoy Patriticheskyi Front) mit ihrem Führer Dmitri Vassilev, entstand in den Achtzigerjahren zur Verteidigung der Nation und der russischen Seele angesichts der westlich-globalen Offensive. Pamiat kämpft gegen die Russophobie und gegen den Kosmopolitismus, welche die Gruppe vor allem in der Freimaurerschaft, im Zionismus, Judaismus, Internationalismus, in der internationalen Finanz etc. ausmacht. Die Gruppe demonstriert gegen die Massenmedien („Wir wollen keine Tel-Avivision“, war einer ihrer Slogans), gegen die Pornographie (ein wichtiger Bestandteil der modernen Auflösungsbewegung), gegen die moderne antispirituelle Kunst, gegen den enthemmten Konsumismus, gegen die Auflösung der patriarchalen Familie und der christlich-orthodoxen Kirche, gegen die Zerstörung der Natur. Pamiat widersetzt sich der Rassenvermischung und der Verarmung des russischen Erbes und will die „Reinheit der Gene und des Blutes der Slawen“. Sie kämpft gegen die Abtreibung, die Atomindustrie und den Alkoholismus. Pamiat fordert eine Agrarreform: „Die Erde denen, die sie bearbeiten“ und verteidigt die Bauernschaft. Die Arbeiter sollen an den Profiten der Unternehmen beteiligt sein, der Einfluss der Kirche im 24 russischen Revolution eine jüdische Revolution sahen 12 13 (Martin Buber seinerseits hatte in der Räterevolution von München eine jüdische Revolution gesehen; nur lobte er diese gerade deswegen). öffentlichen Leben soll stärker werden. In einem Brief an die russische Regierung vom Januar 1989 verlangt Pamiat, dass man gegen die Geschichtsverfälschung zu Ungunsten von Russland einschreite. Die Mitglieder von Pamiat halten die sogenannten bäuerlich-ländlichen Schriftsteller wie Valentin Rasputin und Vasili Below hoch in Ehren, diese gehören Pamiat an. Sie berufen sich auf die slawophilen Denker Kireiewski und Chomiakow, auf Leontiew, Panslawisten wie Danilewski, Dostojewski, Berdjajew, Solowjew und auch Solschenizyn (dem allerdings gewisse Mitglieder der Gruppe die anti-sowjetische Haltung als Russophobie vorwerfen). Natürlich sind die Massenmedien auf Pamiat eingeschossen. Dazu erklärte Pamiat: „Wir erklären unseren totalen Widerstand gegen alle zionistenfreundlichen, antinationalen und kosmopolitischen Gruppierungen des Landes. Pamiat ist für die Verteidigung des russischen Volkes und kompromisslose Gegnerin all der genannten Gruppierungen (. . .) Pamiat lehnt kategorisch alle Anschuldigungen von Seiten der Massenmedien wegen Chauvinismus, imperialistischem Nationalismus und Antisemitismus ab. Diese Anschuldigungen sind so schwer, dass sie auf den Genozid am russischen Volk abzielen können.“ („Also sprach Pamiat. Manifeste und Erklärungen der national-patriotischen Front von Russland“). Pamiat fordert das Ende der künstlichen Assimilation der Völker, welche „Indifferenz bezüglich der Heimaterde“ und eine „einförmige Masse ohne Wurzeln, ein Konglomerat ohne Geist, Quelle von Verbrechen, Prostitution, Drogen und Alkoholismus erzeuge“. In einem Interview aus dem Jahre 1988 (in „Also sprach Pamiat“) erklärt Vassilev, er sei kein Antisemit, fügt aber hinzu: „Ich sage Ihnen nur eines: der Ideologe der Zerstörung der Monumente unserer Kultur war Jaroslavski, eigentlich Gubelman von Geschlechtsnamen. Und wer machte diese Zerstörung wahr? Kaganovitsch, Trozki (sic), Sinowjew, Kamenew: alle jüdischer Herkunft . . .“. 12 Nicht alle Juden waren Feinde der Bauern und Fanatiker der Moderne, so der Franzose Daniel Halévy, ein interessanter und typischer Fall. D. Halévy stammte aus einer reichen, grossbürgerlichen Familie. Sein Vater war Jude, seine Mutter Protestantin, er erhielt eine protestantische Erziehung. Er war Schüler von Proudhon und auch, in geringerem Masse, von Georges Sorel. Anfänglich ganz für den Sozialismus und die Arbeiterbewegung eintretend wurde er später Traditionalist und nahm den Kampf gegen die Moderne und die Verheerung von Körper, Seele und Natur auf. In diesem Zusammenhang entdeckte er seine Sympathie für die bäuerliche Welt. Er schrieb eine „Voyage en Bourbonnais“ 1907, wie auch verschiedene „Besuche bei Bauern“ (1907, 1910, 1920 und 1934, in einem Buch vereint (. . .). Die bäuerliche Welt war damals noch lebendig, noch nicht von Zwei Weltkriegen, von der Verstädterung, Motorisierung, vom Konsum, der Technik, dem Plastik, dem Kredit, dem Fernsehen verwüstet. Halévy beschreibt darin die Wirtshäuser, Lesezirkel, Arbeiterbibliotheken, Erste Hilfe-Gesellschaften und KonsumGenossenschaften, die er besuchte, alles heute verschwunden, vom Beton und der Kapitalisierung 25 weggefegt. Mit der Zeit entfernte sich Halévy sowohl vom bäuerlichen Genossenschaftswesen, das ihn anfänglich fasziniert hatte, als auch gänzlich vom Klassenkampf. Er wurde zum schärfsten Gegner des Kommunismus. Er lobt den Bauernschriftsteller Emile Guillaume, eher linksorientiert, Autor von „La vie d’un simple“, 1922. Halévy sieht in den Bauern harte Menschen und lobt ihre Bindung an die Erde und die Pflichten; er sieht in ihnen die wahren Opfer der Geschichte, während die Arbeiter Komplizen der Modernität waren, von der sie weitgehend profitierten. 1920 bedauert Halévy den Niedergang der bäuerlichen Kultur und das Fortschreiten der Städte mit ihrem Hunger nach Baugrund. Er klagt wie Jean Giono und Charles-Ferdinand Ramuz die Umwälzungen an, welche die Erfindungen der Technologie in unserem Leben bewirkt haben: Auto, Flugzeug, alles was er unter dem Gattungsnamen der industriellen Zauberwelt versammelt. Das Getreide ist nunmehr Produkt der Agro-Industrie, „doch diese grosse Bodenbebauungstechnologie wird uns nicht die alten Künstler des Landbaus zurückgeben, welche den Saft und die Kraft des französischen Stammes ausmachten. Die Rasse ist unersetzlich und der Verlust absolut. (. . .) Das Land ist streng, immer schon haben es die Menschen gescheut, da sie das Leben auf dem Land fürchten. Die Stadt ist wie der Alkohol, er regt an und schwächt.“ („Visites aux paysans du Centre“, p. 237). Er wartet auf ein Ende der Zivilisation ähnlich dem Untergang des römischen Reiches: Ein oder zwei Kriege noch (sie könnten nahe sein) und dann sind wir vernichtet. Dann kann es vorteilhaft sein, an einem Waldrand zu wohnen, unweit einer Quelle und bei einem Stall (. . .) Ein kleines Gehöft im Beaujolais wird mehr wert sein, als ein Perlenhalsband, als ein Haufen von Diamanten. Die hartnäckigen Bauern haben Recht, wenn sie Land kaufen. Es allein hat keinen Preis, ist nicht zu seinem Preis zu kaufen.“ (ibidem, p. 238-239). „Wer wählt die Abkehr vom Zauber der Technik und bleibt im alten Dienst der traditionellen Welt? Nur diejenigen, welche die Bande des familiären Eigentums an den Boden knüpfen. (. . .) So zerfällt unser Europa, hier gibt es nahezu 10 Millionen Arbeitslose neben brachliegenden Äckern in England und in Frankreich. Die Europäer beginnen zu frieren und Hunger zu haben: Wie sollte es auch anders sein? Sollen sie sich doch wieder Gärten anlegen, Rinderställe bauen!“ (ibidem, p. 275). Daniel Halévy hat seinen Berichten (ab p. 361) einen langen Ausschnitt der „Südamerikanischen Meditationen“ von Graf Keyserling angefügt, einem Theoretiker der deutschen konservativen Revolution: „Sobald eine Rückkehr zum ursprünglichen nomadischen Leben physiologisch und geopolitisch nicht mehr möglich, verliert der Mensch ohne Verwurzelung in der Erde seine Kraft. Nicht nur das Land entvölkert sich, wenn das Prinzip ‚la tierra a quien la trabaja’ nicht mehr anerkannt wird: das Blut degeneriert. Und wenn das Blut degeneriert ist, findet der Geist nicht mehr den mit der Erde übereinstimmenden Leib.“ 26 Halévy schloss sich logischerweise der nationalen Revolution von Marschall Pétain an und kreidete den Einfluss der Freimaurerschaft an. Er war ein Verächter des Malthusanismus; man müsse, sagte er, das offene Land wieder besiedeln. Er hat eine „Vie de Frédéric Nietzsche“ verfasst, 1909 herausgekommen, und eine „Jeunesse de Proudhon“ (1913), sowie eine „Vie de Proudhon“ (1948). Im im gleichen Jahr herausgekommenen Buch „Essais sur l’accélération de l’histoire“ legt er seine Überlegungen zur Moderne und das, was er „die Art des Zeitlaufs“ nennt, dar und stellt fest, dass die Moderne einen Bruch des Gleichgewichts mit der Tradition auferlegt; ein Übermass an Macht ist dem Menschen zugefallen, dem kein Fortschritt der „inneren Disziplin“ steuernd entspricht. Am Ende des Buches verfasst er eine Hommage an Leibniz, dessen Ideen zur Organisation der Erde er vorstellt. Durch die Beschleunigung der Geschichte im 18. Jahrhundert sei es mit diesen Ideen schief gelaufen (vergleichbar mit den Ideen des Christentums, von denen Chesterton sagt, die Welt sei voll von ihnen, nur seien sie verrückt geworden). Man versteht so, warum Leibniz das 18. Jahrhundert nicht schätzt. Leibniz hatte eine gewaltige Enzyklopädie vorgesehen, eine Summa eines neuen Wissens, „vergleichbar den Enzyklopädien der Antike und des Mittelalters, wie diese dazu bestimmt, das Gemeinwohl der Menschen im Rahmen der gegebenen Institutionen und Überzeugungen zu fördern“. An Stelle davon kam dann die „Encyclopédie“ von Diderot heraus, das Arsenal der verheerenden und bilderstürmenden Revolution. Halévy singt das Lob der Weltreiche Frankreichs und Englands, die zur Zeit der Verfassung des Buches unter dem Angriff der USA daran waren, zu zerfallen. Diese beiden Reiche, schreibt er, seien ganz leibnizschen Geistes gewesen, der grosse Deutsche hatte sie aufkommen sehen und geliebt. 13 Dr. Lucien ist ein katholischer Konservativer, vielleicht ein Maurassien, erklärter Feind sowohl der Juden, als auch der Bolschewiki – kein Grund, sein sehr interessantes Zeugnis „La République Juive des Soviets. Deux années en Russie (1919-1921)“ zur Seite zu legen. Er blieb in Sowjetrussland bei Denikin bis 1921, bis zu dessen endgültiger Niederlage. Juvin behauptet, sein Zeugnis sei wahr, im Gegensatz zu demjenigen von Cachin, Froissard und anderen progressiven liberalen Besuchern des Vaterlandes des Sozialismus oder doch wenigstens der Revolution. Er schreibt: Auf die Gefahr hin, als lächerlich zu gelten, gebe es für ihn noch wahr und falsch (er greift dabei den Relativismus eines Anatole France an, der mit dem Sozialismus, später mit dem Kommunismus sympathisierte. Er bezeichnet ihn als „Demolierer“ – was heute, positiv, „Dekonstruktivist“ heisst). Er klagt das Vorgehen der neuen Herren von Russland wie auch die legale Diktatur an, die auf dem Terror beruht und Diebstahl, Plünderung, Konfiskation, Mord und Folter für rechtmässige Mittel erklärt, wenn sie nur gegen den Klassenfeind gerichtet sind. Für Juvin war der Russe mit seinem mystischen und irrenden Charakter prädestiniert, den Bolschewismus anzunehmen und im Wahnsinn dieser Oktoberrevolution zu versinken (dasselbe sagt auch Berdjajew in seinem Buch von 1937 „Les sources et le sens du communisme russe“; er macht dafür das Fehlen der katholischen Religion und Moral verantwortlich). 27 Juvin spricht auch von der enormen Verbreitung von Rauschmitteln in Russland: Opium, Morphium und vor allem Kokain, die zentnerweise von englischen, amerikanischen und italienischen Händlern ins Land importiert wurden, wie er behauptet. Viele der bolschewistischen Henker waren Konsumenten von Kokain, was auch Nicolas Werth bestätigt. Juvin hat mit eigenen Augen Hungersnöte auf dem Lande infolge der wahnsinnigen Zwangsrequisitionen gesehen. Das war der berühmte „Kriegskommunismus“, den auch Bordiga akzeptierte, wenn er in ihm auch nur eine Notstandsmassnahme und nicht den wirklichen Kommunismus sah. Juvin spricht von jüdischen Spekulanten aus Konstantinopel, welche von der Hungersnot profitierten (es ist nicht sicher, dass das alles Juden waren!). Für ihn waren die grünen Bauernverbände nichts als Räuber. Auch Juvin spricht von der Allgegenwart der Juden in der bolschewistischen Partei (Sinowjew, Radek, Trotzki, Lunatscharski, Rakowski etc.), was nicht abzustreiten ist, und auch von internationaler Jüderei. Sein Urteil auch über Denikin ist interessant, es ist recht reserviert, hingegen lobt er General Wrangel, der leider zu spät Denikin an der Spitze der Weissen ersetzte. Nach ihm besass Denikin nicht das Zeug zum wirklichen Chef und sein Hauptfehler sei gewesen, dass er, um den Grossgrundbesitzern zu gefallen, die Agrarfrage nicht lösen wollte, was ihm die Feindschaft der Bauern eintrug, die eben zu einem Stück Land gekommen waren. Wrangel dagegen zog sich die Feindschaft vieler seiner Generäle zu, die vielfach zu beträchtlichen Vermögen gekommen waren, da er die Weisse Armee moralisieren wollte; er kämpfte gegen die Korruption in den Rängen der Armee und gegen gewisse Kriegspraktiken wie Plünderung und Aneignung von Beute. Wrangel wollte die Landwirtschaft fördern und setzte deshalb eine Landreform in Gang, deren Prinzip war: „die Erde soll der grösstmöglichen Zahl von Personen, kleinen Eigentümern gehören, welche das Land selbständig nutzen können“ (ibidem p. 67). Juvin bezeugt die grosse Feindschaft von Grossbritannien unter Lloyd George gegenüber Wrangel (während die französische Regierung ihn anerkannt hatte). Es wäre anzufügen, dass die Haltung der USA unter Wilson nicht anders war. Wrangel rettete Polen vor einer sowjetischen Invasion, indem er die Rote Armee zwang, zahlreiche Divisionen gegen ihn zu mobilisieren, Kräfte, die an der russisch-polnischen Front nicht eingesetzt werden konnten. Juvin spricht von der Hilfe der internationalen Finanz (insbesondere der jüdischen, aber keineswegs nur) an die bolschewistische Revolution. Alle Financiers und Kapitalisten träumten davon, Russland zu zerreissen und zu plündern. „Die Universelle Republik, von der die Vereinigten Nationen ein ködernder Anfang waren, also das Reich der Plutokratie, des anonymen Goldes in den Händen der reichen Juden, schliesslich das berühmte “Reich Israels“, begann als fühlbare Wirklichkeit zu erscheinen. Die russischen jüdischen Bolschewiki wurden nicht wie die französischen Revolutionäre von 1789 von allen Seiten überfallen, sondern stiessen von Seiten mächtiger fremder Freunde auf Hilfe und Schutz (. . .) Sollte dieser Krieg nicht vor allem, wie gewisse unserer Staatschefs proklamiert hatten, das Ende der Throne und der Sieg der Demokratie werden? Die Explosion eines deliranten Enthusiasmus der grossen Weltpresse [die Presse ist immer revolutionär, Anmerkung des Verfassers], als Kerenski an die Macht kam, erklärt sich nur aus diesem 28 Für Marx, Lenin und die Marxisten war der Bauer also ein Reaktionär, Feind des Fortschrittes, ein Barbar im Schosse der industriellen Zivilisation, welche sie, die Marxisten, Atheisten und Progressiven, so sehr liebten14. Die Bücher von Nicolas Werth Prinzip (. . .) Trotzki, Radek etc. und hinter ihnen ihre Rassenbrüder, Rothschild (sic), Sassoon und andere sehen zu diesem Zeitpunkt die Herrschaft über die Welt in Reichweite. Es stehen ihnen nur zwei Feinde im Wege: das Christentum und der integrale Nationalismus, gegen die sie seit Jahrhunderten einen erbarmungslosen Krieg führen (. . .) Und das internationale Judentum erlässt in der Folge in den einflussreichen Milieus die entsprechende Devise: Anerkennung der Sowjets.“ (ibidem, p.153, 163, 166). Lucien Rabatet nahm in einem Artikel vom 15. April 1938 von „Je suis partout“ (in „Je suis Partout, anthologie 1932-1944“, 2012, p. 149-157) das Thema der russischen jüdischen Revolutionäre wieder auf („Les Juifs dans la Révolution“). Er spricht von „jüdischer Revolution“, was natürlich stark übertrieben ist. Er macht eine Liste aller Juden im Politbüro, im Volkskommissariat, im G. P. U. und kommt zum Schluss: „Alle diese Juden, deren Namen mehrere Zeitungen füllten, haben in Russland die kommunistische Revolution gemacht. Sie haben ihr zum Sieg verholfen. Die Erschiessungen von Stalin haben ihre Ränge gelichtet. Die erwähnte Liste wäre heute eine Liste von Toten.“ Doch haben die Erschiessungen von Stalin nicht alle jüdischen Revolutionäre beseitigt, weit davon entfernt. Die Anthologie von Philippe d’Hughes ist wertvoll, denn sie schliesst eine Lücke, welche das Buch von Pierre-Marie Dioudonnat, „Je suis partout, 1930 – 1944“ offen liess, welches nur eine Nachzeichnung der Geschichte der Zeitschrift ist. In dieser Zeitschrift schrieben sehr verschiedene Personen: Rabatet war National-Sozialist und verabscheute Charles Maurras. Er stand Marcel Déat und seinem R.N.R. nahe, Brasillach war Anhänger von Marschall Pétain und wies die Anschuldigung des Rassismus zurück. PierreAntoine Cousteau dagegen war eher Jacques Doriot und seinem P.P.F. zugeneigt. 14 Yuri Slezkine zitiert in „The Jewish century“, bzw. „Le siècle juif“, p. 203, einen von Gorki (einem Philosemiten) an seinen Freund Sholem Asch 1922, am Ende des Bürgerkrieges, geschriebenen Brief. Er bestätigt, dass die bolschewistischen Juden gegen die russische bäuerliche Welt, ihren Glauben und ihre heiligen Plätze kämpfen, ebenso, dass es einen populären Antisemitismus gibt. Gorki schreibt: „Der Grund für den Antisemitismus, der gegenwärtig in Russland wütet, ist der Mangel an Takt von Seiten der jüdischen Bolschewiki. Viele unverantwortliche (sicher nicht alle) jüdischen Bolschewiken nehmen an der Profanierung von dem russischen Volk heiligen Plätzen teil. So haben sie Kirchen in Kinos und Bibliotheken umfunktioniert, ohne sich um die Gefühle des Volkes zu scheren. Die Bolschewiki hätten das russischen Bolschewiki überlassen sollen. Der russische Bauer ist schlau und stumm. Äusserlich erscheint er wie ein Lamm, doch hinter seinem folgsamen Lächeln nährt er einen tiefen Hass gegen den Juden, der gewagt hat, seine heiligen Orte zu entheiligen.“ Slezkine erinnert, wie viel Verachtung Gorki, Lenin und die Bolschewiki insgesamt für den russischen Bauern hegten, der „Gefangener seines Misthaufens sei“. (p. 80) 29 haben viel zur Kenntnis dieses erbarmungslosen Krieges gegen die Bauernschaft beigetragen, eine Fortsetzung des Ausrottungskrieges, den die Französische Revolution gegen die französische Bauernschaft (insbesondere in der Normandie, Bretagne und Vendée) führte. Es war kein Zufall, dass die Bolschewiki von ‚Vendée’ sprachen und damit den Aufstand in Kronstadt meinten, und dass Lenin wiederholt darauf bestand, ein wahrer Bolschewiki müsse ein Jakobiner sein15. Lenin und die Bolschewiki betrachteten sich als die Modernisierer von Russland, als kollektiven Peter den Grossen; sie wussten, dass sie gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu kämpfen hatten, die ihrer Bewegung der Modernisierung der Gesellschaft gegenüber feindlich eingestellt war. Diese Feindschaft verstärkte sich noch durch die beträchtliche, auf sie ausgeübte Unterdrückung. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg gelang es, die russische Gesellschaft endgültig zu brechen und sie die schreckliche Modernität und die Liquidation der Vergangenheit annehmen zu lassen. Die Opposition der Bolschewiki gegenüber der Bauernschaft war nicht nur politischideologisch, sondern hatte auch eine konkrete Dimension; es bestand keine Möglichkeit, ein modernes Russland, also eine Industrienation, ohne eine Agrarrevolution aufzubauen (was von Bordiga mehrfach betont wurde). Das bedeutete: Übergang zu einer Landwirtschaft à l’américaine; davon träumte Lenin. Wir interessieren uns hier ganz speziell für ein besonderes Kapitel im von einem Kollektiv verfassten Buch „Schwarzbuch Kommunismus. Verbrechen, Terror, Unterdrückung“16. Es trägt den Titel 17 “Ein Staat gegen sein Volk. Gewalttaten, 15 Marx und Engels sprechen im „Kommunistischen Manifest“ von der „Verblödung des Lebens auf dem Lande“ – und nicht von Entmenschlichung des Proletariates (wie noch in der „Heiligen Familie“). 16 Die proletarischen Revolutionäre haben (mit mehr oder weniger Überzeugung) den schrecklichen Krieg gegen die Vendée verteidigt, denn es ging darum, die von ihrem Wesen her reaktionären Bauern auszurotten, um der Republik, der Ära des allgemeinen Glücks (eine neue Idee in Europa, sagte Saint-Juste . . . auch für die Bauern der Vendée und der Bretagne?), zum Sieg zu verhelfen. Die Revolutionäre, worunter auch der bordigistische P.C.I., haben auch anderen Horror, andere Massakrierer verteidigt, zum Beispiel die mutigen Halsabschneider und Bombenleger des F.L.N. in Algerien, welche die Medien dieses Jahr (50. Jahrestag des Abkommens von Evian) feiern, ohne abweichenden Stimmen Gehör zu geben (während man die Meinungsgleichschaltung in Nordkorea und in China tadelt!). Nicht zu sprechen von den 30 Massakern des F.L.N. , die dieser nicht zuletzt nach dem Abkommen verübte! So wurden mehr als hundert Franzosen am 5. Juli 1962 von Kräften dieser Befreiungsfront exekutiert, ohne dass die französische Armee eingegriffen hätte. Diese hatte übrigens schon auf ihre unbewaffneten Mitbürger geschossen, welche für ein französisches Algerien eintraten; dies am 26. März 1962, an der rue d’Isly in Algier. Damit erneuerte sie die Tradition der von der Republik verübten Massaker; man denke an Fourmies am 1. Mai 1891. Das Massaker an der rue d’Isly galt den Pied-noirs und Algeriern, die ein französisches Algerien wollten. Ähnlich beweihräuchert man die Killer der stalinistisch-antifaschistischen Résistance in ganz Europa (betreffs der Killer der weissen Afrikaans, Farmer, in Südafrika und Mozambique sind die Medien reservierter). Die Medien sprechen heute nur von den Attentaten der O.A.S., nicht von den Terroraktionen des F. L. N (an Alten, Frauen, Kindern), auch nicht, dass dieser dem Terror der O.A.S lange vorausging. Wenn man dies ausspricht, heisst das nicht, dass man die Politik Frankreichs in den drei Departementen Algeriens verteidigt (was sollten die Franzosen in Algerien machen? Wenn die Eroberung dessen, was Frankreich werden sollte, die Tat von Karl X. war, der so die Barbaren unterwarf, dann war die Kolonisierung Algeriens die Tat der Französischen Republik mit ihren freimaurerischen, humanistischen, fortschrittlichen Idealen. Algerien ist übrigens als unabhängiger Staat eine Schöpfung Frankreichs (das ist keine Kritik, nur eine Konstatierung), im Gegensatz zu Marokko, einer Nation, welche eine quasi Jahrtausende alte Geschichte mit berühmten Dynastien kennt: die Almoraviden, Almohaden, Saadier etc. bis zu den Alauiten seit dem 17. Jahrhundert. Der Fall des italienischen antifaschistischen Widerstandes ist typisch. Darin hatten die Kommunisten im Solde Moskaus quasi alle Kommandoposten inne (des C.N.I., Comitato Nazionale di Resistenza). 70% des italienischen Widerstandes war direkt oder indirekt in der Hand des P.C.I. [Nicht zu verwechseln mit dem Partito comunista internazionale unter A. Bordiga; Anmerkung des Verfassers]. Italien erlebte nach der bedingungslosen Kapitulation unter Marschall Badoglio am 8. September 1943 den Ausbruch eines regelrechten Bürgerkriegs und den Übergang zu den angelsächsischen Alliierten, während die Faschisten sich in den Norden zurückzogen und die Republica Sociale Italiana (die Republik von Salò) gründeten und sich dabei radikalisierten, d. h. zum Ursprungsfaschismus zurückkehrten, zu demjenigen von 1919, der antibürgerlich, antiklerikal und antimonarchistisch gewesen war. Die kommunistischen Partisanen (es schaudert einen, diese Leute: Togliatti, Luigi Longo und Pietro Secchia, Kommunisten zu nennen, doch nannten sie sich so und nicht ganz zu Unrecht), die Brigaden Garibaldi in der Macchia und die G. A. P. (Gruppo d’Azione Patriota; Terroristen in der Stadt, die aber auch vom P.C.I. abhängig waren) verwilderten und verübten Grausamkeiten an Zivilisten (an ihren politischen Gegnern: Katholiken, Trotzkisten, Sozialisten, Monarchisten). Viele der roten Partisanen hatten im Spanischen Bürgerkrieg Waffenerfahrungen gemacht und erste kriminelle Taten im Schosse der Internationalen Brigaden begangen, eine dunkle Geschichte. Die deutschen Truppen begingen ebenfalls Morde, doch handelte es sich dabei, auf jeden Fall in Frankreich und in Italien, um Antworten auf die Widerstandsaktionen. Diese waren häufig sehr feige: Man tötete Soldaten oder Offiziere der Deutschen, oftmals schoss man ihnen in den Rücken. Man denke etwa an die Repressalien der Deutschen Wehrmacht, die Erschiessung von 330 Zivilisten in den Ardeatischen 31 Gräben. Diese Aktion gegen die italienische Zivilbevölkerung erfolgte nach dem, militärisch gesehen, vollständig unnützen Attentat des G. A. P. gegen das deutsche Polizeiregiment Bozen an der Rua Rasella in Rom (das zwar von der SS abhing, aber kein Massaker verübt hatte) im März 1944. Bis anhin hatte die Deutsche Wehrmacht sich nie zu Massenerschiessungen an Zivilisten heruntergelassen). Offenbar ging es dem Widerstand einfach darum, Akte zu begehen, welche Repressalien provozieren mussten, wonach man dann von faschistischer Barbarei schreien konnte. Giampaolo Pansa ist ein italienischer rechter, antifaschistischer Schriftsteller. Er vertuscht die von Deutschen begangenen Grausamkeiten nicht, bemerkt aber, dass man nie von den Grausamkeiten von Seiten der Partisanen und nie von den Bombardierungen italienischer Städte durch die demokratische angelsächsische Flugwaffe spricht. Diese haben mehr Italienern das Leben gekostet als Deutschen. Ja, die Amerikaner scheuten sich nicht, auf italienische Städte Napalm zu werfen (80 bis 100 000 Tote gab es so unter diesen Freiheits-Bomben), was anscheinend der deutschen Zivilbevölkerung erspart blieb. Man lese z. B. von Andrea Villa „Guerra aerea sull’Italia (1943-1945), oder „Bombardate l’Italia. Storia della guerra di distruzione aerea 1940-1945“, Bücher, welche „Quand les Alliés bombardaient la France“ von Eddy Florentin und „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945“ von Jörg Friedrich ergänzen. Von Bomberraids allgemein sprechen „A torch to the Enemy. The Fire Raid on Tokyo“ von Martin Caidin, „The Night Hamburg Died“ vom selben Autor, und „Comando Bombardieri. Operazione Europa”, von Giorgio Bonacina. Das hindert die Linken (bis zu den Ultra-Linken) nicht, die verwerfliche Rede vom Horror des National-Sozialismus und Antisemitismus aufzunehmen. Giampaolo Pansa ist ein überzeugter Liberaler, aber Gegner des Kommunismus. Er hat mehrer Bücher über den italienischen Bürgerkrieg geschrieben, die wertvoll sind: „Il sangue dei vinti“, „I gendarmi della memoria“, „La grande bugia“, „Il revisionista“ und „I vinti non dimenticano“. Die roten Partisanen wollten alle ihre politischen Gegner eliminieren, um ihre Macht zu installieren, wie sie das in Jugoslawien nach dem Rückzug der deutschen Truppen machten und wie sie das auch in Griechenland im Bürgerkrieg nach dem Weltkrieg machen wollten. Dabei liessen sie kein Mittel aus. Es ging aber nicht nur um die Beseitigung der Gegner (Faschisten oder mutmasslich solche, Katholiken, Sozialisten, Bordigisten), sondern auch um Mord um des Mordes willen, um Schrecken zu verbreiten (es genügte, jemanden als Faschisten zu verschreien, um seine Ermordung zu rechtfertigen. Man schreckte auch vor Folter und schlimmsten Gewalttaten gegen ihn nicht zurück). Pansa widmet ein Kapitel seines Buches dem Los der Frauen, die in die Hände der Kriminellen und Folterknechte des Widerstandes fielen (nicht wenige unter ihnen). Faschistinnen oder aus faschistischem Haus, oder nicht den heroischen Verteidigern der proletarischen Demokratie Willige wurden systematisch vergewaltigt und oftmals danach ermordet. Die italienische Zivilbevölkerung musste die erbarmungslosen Vergeltungsschläge der Deutschen, die Roten Partisanen (deren Ziel gerade solche Vergeltungsmassnahmen waren) und die angelsächsischen Bombardierungen hinnehmen. Und dazu kamen dann die französischen marokkanischen Truppen! Ihre Grausamkeit war unerhört. Sie plünderten und vergewaltigten unterschiedslos alles, jung und alt, weiblich 32 oder männlich. Ein Kapitel des Buches von Pansa ist diesen Truppen gewidmet. Ohne die Präsenz von Amerikanern, Briten und Franzosen hätten sie Italien in einem Blutbad ertränkt. In der Gegend von Triest und Rijeka verübten auch die titoistischen Partisanen, Alliierte der italienischen Partisanen über den O.Z.N.A., die Geheimorganisation der jugoslawischen Befreiungsarmee, Massaker. Nach dem 25. April 1945 fand in Europa, v. a. aber im Norden Italiens, eine eigentliche Hexenjagd auf die Faschisten statt. Pius XII. spielt auf diese in seiner Weihnachtsansprache von 1949 an und beklagt sie. Es ist unnötig zu sagen, dass die Bücher von G. Pansa eine gewisse Feindseligkeit in ein Land getragen haben, wo der Mythos des Widerstandes noch unerschüttert ist und von der Linken stark gepflegt wird. Man denke an die Brigate Rosse, welche an diesen Mythos anknüpften und sich als seine Erben verstanden. Italien bleibt ein Land, wo die Infragestellung des antifaschistischen Mythos hysterische Reaktionen auslöst. In Frankreich traten die Kommunisten des P.C.F nach dem Bruch des deutsch-russischen Paktes in den Widerstand und widmeten sich ebenfalls, wie ihre Genossen in Italien, Griechenland und Jugoslawien, mit Hilfe und Beifall der gaullistischen Résistance, schrecklichen Untaten: Ermordungen (mitunter nach Schein-Gerichten), Folterungen (Augen herausreissen, Zungen und Ohren abschneiden, Glieder ausreissen). Dies vor allem gegen Milizen und ihre Familien (zu den Milizen: siehe das Buch von JeanClaude Valla „La milice, Lyon, 1943-1944“). Die kommunistische Résistance übte jedoch auch Terror gegen ihre politischen Feinde aus: Anarchisten, Trotzkisten, Katholiken, Sozialisten etc.). Bezüglich der Ermordung von Anarchisten durch Stalinisten siehe „Les dossiers noirs d’une certaine Résistance. Trajectoires du fascisme rouge“, 1984. Die italienische Linke nahm nach 1969 die antifaschistische Tradition des stalinistischen Widerstandes gegen die Neofaschisten, den M.S.I., eine legale Partei, auf. 1960 hatte ein Kongress der Neofaschisten in Genua die hysterische Reaktion aller Linken hervorgerufen, die von der „Beleidigung der Ideale des Widerstandes“ sprachen. Dieselbe Jagd auf die Faschisten (Neofaschisten, genauer gesagt) gab es 1977 in Rom. Wie in „La fiamma e la celtica. Sessant’anni die neofascismo da Salò ai centri sociali di destra“ Nicola Rao zeigt, war die gesamte Presse in den Siebzigerjahren antifaschistisch und behandelte die Neofaschisten als Angreifer, blutrünstige Monster und ihre linksradikalen Gegner als fortschrittliche Unschuldslämmer. Das war aber keineswegs der Fall. Wie ein Slogan auf Demonstrationen es ausdrückt: „Einen Faschisten zu töten ist kein Verbrechen“. Damit war nahezu die ganze italienische Intelligentsia einverstanden, ja noch mehr: am 17. April 1973 griff eine bewaffnete Gruppe des Potere Operaio das Büro des Sektionssekretärs des M.S.I. in Rom, Mario Mattei, an und legte Feuer, wodurch zwei Söhne von ihm, Stefano und Virgilio, grauenhaft umkamen. Der Fall steht nicht allein da, auch andere neofaschistische Militante wurden von Militanten der extremen ausserparlamentarischen Linken aus dem Milieu von Autonomia operaia ermordet. Das hindert Rao nicht, auch Morde, welche die Neofaschisten begingen, aufzuzählen. 33 Gianpaolo Mattei hat die Geschichte seiner beiden verbrannten Brüder geschrieben („La notte brucia ancora“). Was er erzählt, ist erschreckend, das Schlimmste ist jedoch, dass die Führer von Potere operaio alles über den wirklichen Tathergang, also das Verbrechen, und von den Tätern wussten und üble Verleumdungen über die Familie der Opfer verbreiteten. Sie zögerten auch nicht, diese einzuschüchtern. Sie behaupteten, es handle sich nur um eine Abrechnung innerhalb der neofaschistischen Bewegung selbst. Die drei Mörder leugneten gegen jede Evidenz frech ihre Schuld. Sie fanden Sympathie und Unterstützung in der ganzen linken Bandbreite (die Führer und Wortführer von Lotta continua zeigten sich in ihrer ganzen Niedertracht) und in der ganzen italienischen Intelligentsia (die damals ganz links stand). Diese denunzierte die faschistische Provokation gegen die revolutionäre Bewegung, als sie keine Entschuldigungen für das schreckliche Verbrechen ihrer drei Helden und proletarischen Martyrer, Achille Lollo, Marino Clavo und Manlio Clavo, fand, war doch „einen Faschisten zu töten kein Verbrechen“. Man half ihnen, aus Italien zu kommen und sich zu verstecken. Jedermann erklärte seine Solidarität mit den Killern und denunzierte die Hartnäckigkeit der Bourgeoisie. Schliesslich wurde 1975 die Anklage gegen die drei Mörder und ihre Komplizen mangels Beweisen fallengelassen. Sergio Ramelli, junger faschistischer Militanter, wurde grausam mit Rollgabelschlüssel am 13. März 1975 von Linksextremen, Medizinstudenten, Söhnen der Mailänder Bourgeoisie, Militanten von Avanguardia operaia erschlagen. G. Giraudo, A. Arbizzoini, G. Buttini, F. Grillo und P. Severgnini erzählen von diesem Ereignis und seinen Folgen in „Sergio Ramelli. Una storia chi fa ancora paura“. Was war seine Schuld? Er hatte sich immer ganz deutlich gegen den linken Terrorismus ausgesprochen, der an seiner Schule (und andern, wie auch an der Universität) grassierte; er war Faschist, wurde aber nie tätlich und war sicher kein Skinhead. Er trug die Haare lang und lehnte die Gewalt ab. Das ertrugen fünf proletarische Militante nicht (voller revolutionärer marxistischer Theorie und vielleicht auch vom Cannabis verblödet); sie waren hysterische Antifaschisten und lockten ihn in einen Hinterhalt und schlugen ihm auf offener Strasse den Schädel ein. Auch in diesem Falle eilten die Linken zu Hilfe und leugneten jede Schuld der Mörder; als Revolutionäre konnten sie ja gar nicht schuldig sein, wie ja auch ein Schwarzer oder Araber nicht Rassist sein kann, nein: sie waren selbst Opfer eines vom kapitalistischen Staat angezettelten Komplottes, um die proletarische revolutionäre Bewegung zu treffen. Und auch hier zeichnete sich Lotta continua besonders aus. Die revolutionäre Lehre rechtfertigte im voraus die „revolutionäre Gewalt“, die sich auf einen militanten Antifaschismus beschränkte. Adriano Soffri, Führer von Lotta continua, verteidigte die Mörder („was sie getan haben, hätte auch ich tun können, direkt oder indirekt“) (o.c., p. 109). Er griff die Absicht an, die revolutionäre Bewegung zu diskreditieren und zu kriminalisieren. Derselbe Soffri stellte sich auch als unschuldiges Opfer dar, als er wegen Tötung des Kommissärs Calabresi verhaftet wurde! Die Autoren des Buches streiten nicht die neofaschistische Gewalt ab, sie bemerken nur, dass 1. die von den Linken begangenen Morde viel zahlreicher als die von ihren Gegnern auf der extremen Rechten begangenen waren, und dass 2. die Justiz in den beiden Fällen sich ganz anders verhielt: exzessiv unbarmherzig gegenüber den neofaschistischen Militanten, viel zögerlicher, langsamer und nachsichtiger gegenüber den 34 Linken. Sie liessen ihnen Zeit, aus Italien zu fliehen, wenn sie sie nicht gerade zu dazu einluden. Die Ermittlungen endeten in den letzten Fällen häufig mit Prozessaufgabe oder Freispruch. Man findet dasselbe Spiel im Falle von Cesare Battista (siehe Giuseppe Cruciani „Gli amici del terrorista. Chi protegge Cesare Battista?“. Battista hatte schon mehrere gewöhnliche Delikte begangen, als er sich der Gruppe proletari armati per il Communismo (P.A.C.) anschloss. Man könnte über diesen simplen Namen lachen, gäbe es da nicht tragische Ereignisse. Battista wurde wegen vierer Morde angeklagt, insbesondere der Ermordung, gemeinsam mit Genossen seiner Gruppe, zweier Kaufleute, deren Verbrechen darin bestand, sich gegen die Einbrecher gewehrt zu haben, die bei ihnen eingedrungen waren. Diese beiden Kaufleute wurden von den P.A.C. in Flugblättern als „Schweine“, „Volksfeinde“, „Repräsentanten des Kapitals“ und „Agenten der Konterrevolution“ denunziert. Alle Leute der Linken mobilisierten sich (worunter auch der Philosoph Giorgio Agamben und Nanni Balestrini) und machten sich an die Arbeit, wobei sie nicht vor groben Lügen zurückschreckten, um diesen Battista als Opfer des Kapitalismus, eines konterrevolutionären Komplotts und gleichzeitig als Helden des Proletariates darzustellen. Dieses Mal erreichte die Welle der linken Antirepression auch Frankreich, wo die Linksintellektuellen (worunter auch Serge Quadruppani) und die grosse Abendzeitung [Libération, Anmerkung des Übersetzers] vor diesem grossen Helden in Ohnmacht fielen, der in der Zwischenzeit noch zum gefeierten Kriminalschriftsteller geworden war. Italien wurde den Franzosen als ein faschistisches Land vorgestellt, wo die Gerichtsbarkeit kurzen Prozess macht, die Angeklagten grausam gefoltert wurden etc. Für alle Linksintellektuellen stehen die marxistischen Revolutionäre über den Gesetzen, diese gehen sie nichts an, denn „die Taten der Reinen sind immer rein“. Sie gaben natürlich zu, dass Battista und seine Freunde mitunter Fehler begingen, doch war ihr Motiv rein, nur dass sie von der kapitalistischen Gesellschaft denaturiert und fehlgeleitet wurden. Diese war also allein schuldig. Und was zählen die Leben zweier kleiner Kaufleute angesichts der grandiosen Perspektive der proletarischen Weltrevolution? Von allen linken Mördern zeigte keiner, soweit wir das wissen, die geringste Reue und Mitleid für ihre Opfer und deren Familien. Die italienischen Linksextremen wiederholten in ihrem Kampf gegen den Faschismus (was auch immer unter diesem Namen lief) den grossen antifaschistischen vaterländischen Krieg des Genossen Stalin (ohne den Patriotismus natürlich). In einem Artikel vom 22. September 1985, in „Sergio Ramelli“, p. 114115 abgedruckt, kreidet Diego Gabutti (. . . .) die Heuchelei der Linken um Lotta continua, Avanguardia operaia und Democrazia Proletaria an, z. B. ihren exzessiv gewalttätigen Ordnungsdienst, der ungestraft Faschisten zusammenschlug. Er schreibt: „Wenn der Terrorismus in der Folge grosse Verteidigung fand, dann liegt der Grund dafür in der Tatsache, dass Papa und Mama, permissiv und links, auf die Redaktionen der Zeitungen liefen und sich stolz darüber zeigten, einen Robin Hood oder eine Lady Marian als Kinder zu haben. Den Ordnungsdiensten war alles erlaubt.“ Er vergleicht die linksextremen Autonomen und Operaisten mit den Dämonen des Buches gleichen Namens von Dostojewski, doch wussten jene im Gegensatz zu den heutigen Linken noch, dass einem Verbrechen eine Ermittlung folgte, dass Anklage erhoben wurde und 35 Bestrafung drohte, während man heute der Bestrafung dank dem Einfluss eines Abgeordneten entgehen kann. Italien traf der Prozess der Kapitalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg mit voller Wucht. In diesem Land wurde der delirante Mythos vom Proletariat intensiver als anderswo wieder aufgegriffen, ebenso gelangte hier die postproletarische revolutionäre Auflösung (durch den Feminismus, die Kritik der Familie, die Forderung nach Anerkennung der Homosexualität, die Ideologie des Festes, des Spiels und der Droge, die Verweigerung der Arbeit, der Verantwortung, der Grammatik und Syntax, die Apologie des Nomadismus) voll zum Durchbruch. Die italienischen Revolutionäre fanden hier eine Basis in einer wirklich aufrührerischen Arbeiterschaft und die Roten Brigaden oder die Nuclei Armati Proletari agierten, anders als die RAF in Deutschland oder die Nouvelle Résistance Populaire in Frankreich (die aus der Gauche prolétarienne hervorgegangen war), nicht im luftleeren Raum. Eigenartigerweise ignorierte die gesamte operaistische Bewegung den gewaltigen theoretischen Nachlass von Bordiga (oder tat immerhin so; man denke an Tronti) und zog die Ideologien und Pathologien aus Frankreich vor: Lacan, Barthes, Guatteri, Sartre, Genet, Foucault, Lyotard, Althusser und tutti quanti (wir zählen Castoriadis nicht dazu, der doch einfach nicht mit diesen Theoretikern verglichen werden kann). Diese gelangten hier zu ganz anderem Erfolg, als in ihrem Lande selbst, wo der Wahnsinn des Tabubrechens und des Dekonstruktivismus nicht so auf die Spitze getrieben wurde oder doch wenigstens nicht Massendimension erlangte (vielleicht weil Frankreich, so entchristlicht, entländlicht und von der Modernität erschüttert, wie es nach 1968 war, doch noch einen gewissen Zusammenhalt bewahrte). Es gibt eine gute (wenn auch dithyrambische) Darstellung dieser Wahnsinnsjahre mit ihren deliranten Protesten: das Buch von Nanni Balestrini und Primo Moroni: „L’orda d’oro 1968 – 1977, La grande ondata rivoluzionaria e creativa, politica e esistenziale“, 1988. Es liefert zudem viele Originaltexte aus jener Zeit. Die Verweigerung des Antifaschismus von Amadeo Bordiga war und bleibt schwer zu integrieren, anders als sein Marx-Kult und sein Antikapitalismus. Drei Bemerkungen drängen sich auf: 1. Bordiga hat es immer abgelehnt, sich dem antifaschistischen Widerstand anzuschliessen (was bei vielen Militanten seiner eigenen Partei auf grosses Unverständnis stiess). Er wies warnend auf die „grosse Illusion“ der Proletarier in Italien, die sich dem Maquis anschlossen, und auf die Stalinisten, welche die proletarische revolutionäre Flut in den Fluss des Nationalismus umleiteten. Diese Kritik ist aber sehr schwach! Es ging darum, auf den Horror und die Schändlichkeit der Handlungen dieser Résistance einzugehen (die soziologisch weitgehend proletarisch war). Bordiga attackierte indessen die Bestialitäten und Schändlichkeiten der marokkanischen Truppen, insbesondere gegen die Frauen (wie auch Alberto Moravia in „La ciociara“). Auch hierin ist die Kritik von Bordiga schwach. Dieser war wohl erschreckt, als er seinen ihm so lieben „kommunistischen Terror“ so pervers und monströs vor Augen sah. Bordiga und viele ehrliche Revolutionäre seiner Zeit waren schwer von der Entwicklung traumatisiert, welche die bolschewistische Partei genommen hatte, die für sie das revolutionierende Ferment gewesen war, die messianische Organisation, welche die erste siegreiche 36 proletarische Revolution zu Stande gebracht hatte, das Vorspiel der Weltrevolution und der Emanzipation der Menschheit. Diese Organisation hatten sie sich als höchstes Beispiel vor Augen gesetzt. Und nun war diese Partei zu etwas Abscheulichem geworden, zu etwas „das keinen Namen trägt“ (wie Bordiga sagte). Ein Grossteil der theoretischen Aktivität von Bordiga bestand im Studium der Russischen Revolution, um das Unerklärliche zu erklären, was seine unaufhörliche Suche des Bruches verständlich macht, die Eruierung des Zeitpunktes, von dem an die Partei degenerierte: der Tod Lenins, die Beseitigung der alten bolschewistischen Garde etc. Wir haben es gesagt: Es gibt keinen Grund, den Stalinisten und andern den Namen ‚Kommunist’ oder ‚Marxist’ abzusprechen. Bordiga gibt das ja selbst indirekt zu, wenn er schreibt, es gäbe nur einen Marxismus, und anderswo von seiner Tendenz als dem revolutionären Marxismus oder Kommunismus spricht und damit andere Kommunismen/Marxismen ausschliesst: (den reformistischen, trotzkistischen, stalinistischen etc.). 2. Die italienischen Faschisten verübten grässliche Massaker an revolutionären Arbeitern; dies vor allem vor 1922, dem Aufstieg Mussolinis zur Macht. Doch waren die militanten Kommunisten der Partei ebenfalls keine Engel und begingen ebenfalls Morde an faschistischen Kämpfern. 3. Die Kräfte der ausserparlamentarischen äussersten Linken Italiens (so der Milliardär und Verleger Giangiacomo Feltrinelli) schlugen Ende der Sechzigerjahre, zu Beginn der Siebzigerjahre wegen eines Staatsstreiches Alarm. Die Gefahr käme vom C.I.A., vom Pentagon, von den verschiedenen nationalen Geheimdiensten, von den Faschisten, alten und neuen (M.S.I, Ordine Nuovo von Pino Rauti und Avanguardia Nazionale von Stefano Delle Chiaie, aus dem M.S.I. abgespalten) und wäre antikommunistisch nach dem Modell des griechischen Staatsstreiches vom April 1967 (der berüchtigte Hauptleute an die Macht gebracht hatte, insbesondere Georgios Papadopulos) oder demjenigen in Indonesien von 1965. Die griechischen Militärs haben jedoch weniger Griechen als die heroischen italienischen Partisanen Italiener oder die titoistischen Partisanen Griechen getötet! Nun ja, warum nicht von der E.L.A.S, der erinnerungswürdigen griechischen Volksarmee mit ihrem Ziel der Befreiung und Einrichtung einer Volksdemokratie unter der Diktatur der Kommunistischen Partei, und ihrem Terror erzählen? Ihr Versuch misslang, die angelsächsischen Ex-Alliierten hatten sich in ihrer Aufteilung Europas Griechenland reserviert und so wurden die griechischen Kommis 1949 beseitigt. Mit Sicherheit malten die Feltrinelli, Linken und Stalinisten Ende der Sechziger den Teufel eines eventuellen Militärputsches wie in Griechenland in Italien an die Wand, um so die Flut des antikapitalistischen Protestes auf die harmlose Mühle des Antifaschismus abzulenken und die Angriffe auf den P.C.I. (die italienische kommunistische Partei), die von Trotzkisten und Maoisten ausgingen (die mitunter von US-amerikanischen Geheimdiensten unterstützt wurden), abzuweisen; dies, wie immer, im Namen der Demokratie, des Fortschritts und der Ablehnung des Faschismus. „Il triangolo delle bombe. Gli attentati all’Arcivescovado di Milano dal 1919 a Piazza Fontana“, von Roberto Gremmeo (. . .) erzählt die Geschichte der Attentate gegen die Symbole der katholischen Kirche in Mailand, insbesondere auf den Sitz des Erzbischofs. Wir gehen hier nicht auf das Attentat vom 12. 37 Dezember 1969 ein, eine allzu komplizierte Geschichte, über die alles gesagt worden ist und ebenso das genaue Gegenteil davon. Hier nur einige bescheidene Eindrücke vom Buch: Die Linksextremen auf jeden Fall, aber auch viele Linke und Demokraten haben sich nach dem Ereignis (dem Attentat von Piazza Fontana 1969) sofort auf die Seite der Anarchisten gestellt und sofort angenommen, sie seien fälschlicherweise von der Polizei des Attentates bezichtigt worden. Das ist möglich. Doch muss man noch einmal sagen, dass die Anarchisten sich zumindest abenteuerlich und verantwortungslos verhalten haben. Daneben sind sie immer manipuliert worden (von Agenten der vielen Geheimdienste, von den Freimaurern und von Gruppen, die von Neofaschisten durchsetzt waren; diese letzteren steckten oftmals selbst in heilloser ideologischer oder mentaler Verwirrung). Fügen wir noch bei, dass die Linksextremen sich immer als Opfer darstellen (des Staates, des Kapitalismus, Imperialismus etc.), als total unschuldig (ganz wie die Juden) – und doch zum bewaffneten Aufstand, zur gewaltsamen Revolution, zur Beseitigung von Diktatoren, Industriemagnaten und ihrer Lakaien aufrufen! Man kann doch nicht die Propaganda der Tat, das Attentat als Mittel der Revolution predigen (die Anarchisten waren immer von Bombenattentaten, der Stadtguerilla usw. begeistert, wie noch Ende der Sechzigerjahre die Angry Brigades in England; sie predigte die „Dynamitisierung“ von Gebäuden, welche die staatliche Autorität repräsentieren, wenn nicht sogar die Ermordung von Leuten an der Macht), um dann, nach Verwirklichung der Theorie, ganz beleidigt zu tun, die Ungerechtigkeit der Justiz anzuklagen, etwa, wenn ein Attentat „gelungen“ war, womöglich ein schlimmeres als alle vorangegangenen! Die Polizei geht selbstverständlich dagegen vor und macht Verhaftungen. Das war auch damals bei Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco der Fall. Die beiden italienischen Arbeiter waren sicher für den Mord nicht verantwortlich, dessen sie von der US-Justiz angeklagt wurden, sie waren aber Anarchisten und standen Luigi Galleani nahe, der die Propaganda der Tat und die Gewalt verkündete. Und wenn man sieht, wie der unglückliche Giuseppe Pinelli zu Tode kam (Pinelli erscheint als integrer und achtenswerter Mensch, was sicher für Pietro Valpreda nicht zutrifft, ein Erzkonfusionist und Abenteurer, aus dem die Linke in Italien und die internationale Linke eine sakrosankte Ikone gemacht hat). Es scheint, dass sich der Anarchist Salsedo tatsächlich getötet hat, indem er 1920 aus dem Fenster des Kommissariates in N.Y. sprang; er hatte die Aktivitäten der beiden italienischen Immigranten angezeigt. Das wenigstens behauptet Paul Avrich in „Sacco and Vanzetti. The Anarchist Background“, 1991. Gremmo weist darauf hin, dass in Anbetracht der Art und Weise, wie die italienischen Anarchisten ihren Kampf gegen die Autorität, die Kirche und „den Faschismus“ kämpften, schwierig ist, nicht von Dummheit zu sprechen,. Anarchisten (worunter Giuseppi Mariani) legten am 23. März 1921 eine Bombe am Eingang des Theaters Diana, um gegen die Macht zu protestieren. Es gab 21 Tote und Dutzende von Verletzten. Es scheint nicht der Fall zu sein, dass es jemals Zweifel an der Urheberschaft gegeben hat. Von Ende der Fünfzigerjahre an erschien mit der Entstrukturierung der traditionellen alten Gesellschaft (wobei die Einwanderung anfänglich aus dem Süden Italiens kam) eine Schicht von 38 Randständigen in Mailand; sie bildeten Banden und bezeichneten sich als Anarchisten (hatten aber keine Ahnung von Theorie) und waren oft Kleinkriminelle; sie wurden von den offiziellen, im guten und schlechten Sinne konformistischen Anarchisten nicht anerkannt. Valpreda stammte aus diesem Milieu. Gremmo zeigt gut auf, dass dieses Randständigenmilieu, streng von der Polizei überwacht und von Provokateuren und Denunzianten durchsetzt, ein ideales Reservoir für alle Machenschaften der Politik, des Gangstertums und der ökonomischen Unterwelt darstellten. Diese genannten Anarchisten waren sehr aktivistisch, blinde Gegner der Religion, und ein Teil von ihnen war sehr für Gewalt eingestellt: gegen den Staat, vor allem aber gegen die katholische Kirche. Der Fall des antifaschistischen Anarchisten Gino Bibbi ist in dieser Hinsicht exemplarisch; er hatte am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und schloss sich Anfangs der Siebzigerjahre der nationalistischen, militaristischen und autoritären Lega Italia Unita an, die sich der Bombenlegungen schuldig machte (aus „Bombe, soldi e anarchia. L’affare Berneri’ e la tragedia dei libertari italiani nella guerra di Spagna“, von R. Gremmo, den wir oben schon zitiert haben). Die Jahre 68 und 69 waren die Jahre des Studenten- und Jugendprotestes, aber auch der Bomben in Italien, insbesondere in Mailand. Es ist schwierig, an der Behauptung festzuhalten, es hätte sich dabei um Polizeiprovokationen, Attentate von Faschisten gehandelt; es gab viele Bekennerschreiben, die Taten wurden vielfach beansprucht. Das hinderte aber die Linksintellektuellen keineswegs, zur Jagd auf die Hexen und die repressive Polizei aufzurufen. Als der Individualanarchist Gianfranco Bertoli (er nannte sich Schüler von Stirner) 1973 seine Schuld an einem Attentat gegen den Kommissar von Milano eingestand, der mehrere Tote forderte, musste unbedingt der Vorstellung zum Sieg verholfen werden, Bertoli sei vom Armeegeheimdienst oder den Faschisten oder vom C.I.A. manipuliert worden (was übrigens durchaus wahr sein kann; das Milieu der Anarchisten ist immer bestens von Agenten durchsetzt). Es durfte einfach nicht wahr sein, dass ein Anarchist für ein solches Verbrechen verantwortlich wäre, ein Bombenleger konnte doch nicht von Links kommen, das musste ein Faschist, ein Provokateur sein. Während des Jahres 1969 drückten die Anarchisten (worunter v. a. Pietro Valpreda) anlässlich vieler Demonstrationen ihren glühenden Hass auf den Katholizismus und die Katholische Kirche aus und riefen dabei zum bewaffneten Aufstand und zum Terrorismus mittels Dynamit auf. Das Buch von Paolo Cucchiarelli „Il segreto di Piazza Fontana“ greift erneut in die Polemik um die Piazza Fontana ein (wir können nicht darauf eingehen). Der Autor, der parlamentarischen Linken nahe, klagt die neofaschistischen und neo-national-sozialistischen Organisationen, die verschiedenen Geheimdienste, die O.T.A.N an, bleibt aber hinsichtlich der Freimaurer still, die in Italien recht rührig sind. Auch er weist auf die grosse Verantwortung (besser: Verantwortungslosigkeit) der verschiedenen Mailänder Anarchiengruppen hin. Die radikalen italienischen Neofaschisten (alle mehr oder weniger von Julius Evola beeinflusst) machen alle grosse Sprüche gegen das System (“La Disintegrazione del Sistema“: ein nationalsozialistisches, aristokratisches Manifest; anti-jüdisch, anti-bürgerlich, pro-islamisch und maoistisch, von F. G. Freda, datiert von 1969) und waren, die meiste Zeit häufig bei vollem Bewusstsein (jedoch nicht immer) 39 Handlanger von Geheimdienst und staatlichen Organen. So hielt Stefano Delle Chiaie, Gründer der Avanguardia Nazionale 1960 (. . .), eine heftige Brandrede gegen die USA (und unterstützte den Vietkong), war aber gleichzeitig Mitarbeiter des berüchtigten Prinzen Julio Valerio Borghese, der offen für den Atlantikpakt eintrat und in Beziehung zum C.I.A. stand (er war schon von Mussolini am Ende der Republik von Salò der Spionage für die Angelsachsen angeklagt worden). Exakt um diese Verbindung zwischen der radikalen, nationalistischen Rechten und den diversen Geheimdiensten (C.I.A., Mossad etc.), den Polizeien, insbesondere den Carabinieri, Staaten: Verbindungen, die verschiedene Individuen und Gruppen, die sich zum Faschismus bekannten, dazu veranlassten, in den verschiedenen Attentaten alles dessen, was „stragegia della tensione“ hiess, eine Rolle zu spielen, behauptet Vincenzo Vinciguerra (ehemals bei O.N. und A.N.) 1972 das Attentat von Peteano gegen die Carabinieri ausgeführt zu haben (siehe seine Autobiographie, die wir leider nicht lesen konnten: „Ergastolo per la libertà. Verso la verità sulla strategia della tensione“. Vinciguerra sagt, dass sein Attentat (gegen die Militärkräfte des Staates) das genaue Gegenteil der Attentate war, die blind gegen zivile Ziele gerichtet waren (Attentat von Bologna, von Piazza Fontana in Mailand, auf den Zug Italicus). Vinciguerra beschuldigt die Nationalisten der Rechten, Urheber des Attentates der Piazza Fontana gewesen zu sein (er nennt insbesondere den Gruppo Veneto di Ordine Nuovo). In einem Interview von 2005 sagt Vinciguerra bezüglich der ehemaligen radikalen neofaschistischen Führer (so Pino Rauti): „Wie aber kommt es, dass nie jemand diesen Leuten die Frage gestellt hat: ‚Wie konnten Sie die National-Sozialisten spielen in alle den Jahren und doch mit dem Verteidigungsminister und den Geheimdiensten der Armee zusammenarbeiten, die doch alle aus der Résistance hervorgegangen waren?’“. Das ist gut gesagt. Erinnern wir daran, dass die Zeitung „Il comunista“, Organ der Kommunistischen Partei von Italien, damals unter der kommunistischen Linken von Bordiga, am 30. März 1921 einen Artikel veröffentlichte, der ziemlich sicher von Bordiga selbst stammte, und vom Attentat gegen das Theater Diana handelt „Zum Begräbnis der Opfer des ‚Diana’“. Der Artikel stellt sich gegen die Verdammung des Attentates durch die Kräfte der Bourgeoisie in ihrer demokratisch-antikommunistischen Optik, einer Bourgeoisie, die sich nicht scheute, zu töten, wenn es ihre Interessen erforderten. Dass das anarchistische Attentat von den demokratisch-kapitalistischen Kreisen für sich ausgenützt werden würde, war nicht zu bestreiten, doch stellt Bordiga die grundsätzliche Frage nicht: Durfte man, ja oder nein, jenseits jeder Nützlichkeitserwägung solche blinden Attentate auf Zivilisten akzeptieren? Auch Bilan, die Zeitschrift der kommunistischen Linken im Exil, vermeidet es, diese Frage zu stellen, als ihre Herausgeber diesen Text von Bordiga anlässlich der Ereignisse in Deutschland, die zum Tod von Marinus Van der Lubbe wegen des Reichtagsbrandes führten, wieder publizierten, und vergrössert die allgemeine Verwirrung noch, indem sie eine Verteidigung des revolutionären Terrorismus anfügt (wie das auch Bordiga immer machte); der Reichstagsbrand konnte aber nicht mit dem mörderischen anarchistischen Attentat von 1921 verglichen werden. 40 17 Autoren sind Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Pczkowski, Karel Bartosek und Jean-Louis Margolin. Erwähnen wir zu diesem Thema auch vom selben Nicolas Werth „La vie quotidienne des paysans russes de la Révolution à la Collectivisation (1917 – 1939)“. Stéphane Courtois ist ein ehemaliger Maoist der Gruppe „Vive la Révolution!“, der seine Ruhmesstunde nach dem Mai 68 anlässlich des wilden Campings von Palavas-Les Flots hatte, das vom Front de Libération de la Jeunesse (aus dem V.I.R. hervorgegangen und von Richard Deshayes geleitet, der von einer Polizeigranate schrecklich zugerichtet wurde; der V.I.R. spielte in der Aufhebung des Homosexualitäts-Tabus eine wichtige Rolle; siehe die diesbezügliche Spezialnummer vom Sommer 1971, die damals Aufsehen erregt hat) organisiert wurde;. Stéphane Courtois hat dieselbe Laufbahn wie Boris Souvarine eingeschlagen und wurde ein Verteidiger der USA und Israels (wobei Souvarine immerhin bis zum Schluss das Gedächtnis an Lenin heilig hielt). Viele antistalinistischen Revolutionäre gingen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger direkt diesen Weg und schlossen sich der sogenannten freien Welt an. So auch Prudhommeaux (zu diesem siehe Nr. 42 von „A contretemps“ vom Februar 2012, das ihm gewidmet ist), der antifaschistische Anarchist Louis Mercier, Maximilien Rubel, ehemaliges Mitglied des Groupe Révolutionnaire Prolétarien; sie alle schrieben in der „Preuves“, in der berühmten Zeitschrift des „Congrès de la Liberté et de la culture“, die in der Tat mehr oder weniger offen und direkt vom CIA finanziert worden war. Über dieses Thema siehe den Artikel von Charles Jacquier „Repli et marginalité: Les anciens „gauchistes“ des années trente et la revue ‚Preuves’“, 2002 erschienen; über diese Zeitschrift siehe auch das kleine Buch von Pierre Grémion „L’intelligence de l’anticommunisme. Le Congrès pour la liberté de la culture à Paris 1950 – 1975“, 1995. « Preuves“ hatte auch viele alte Mitglieder des P.O.U.M. wie etwa Franz Borkenau, Arthur Koestler und Ignazio Silone als Mitarbeiter. Es gereicht Bordiga zur Ehre, die Avancen der Amerikaner abgelehnt zu haben, welche ihn bei der „Befreiung“ zu kontaktieren suchten um ihn zu benutzen (dazu: „Storia Ribelle“ Nr. 3, Herbst 1996: „Bordiga wies 1944 das Geld der amerikanischen Geheimagenten zurück und nahm von den politischen Vorschlägen der Sozialisten Abstand“). Bordiga betonte mehrmals, dass der amerikanische Supermarkt ebenso antikommunistisch war wie die sowjetischen Konzentrationslager es waren, ja sogar noch gefährlicher: die zweite Form des Antikommunismus griff den Körper an, die erste korrumpierte die Seele. Er hätte anfügen dürfen, dass vom Gesichtspunkt des unmittelbaren, direkten Überlebens der Individuen 1952 es vorzuziehen war, im verwestlichten Italien (oder sogar in den USA des MacCarthy mit seinem doch recht harmlosen Antikommunismus) zu leben als in der Sowjetunion. Die italienische Regierung liess Bordiga ungestört seine publizistische Aktivitäten entwickeln und seine revolutionären Studien machen, während er in der UdSSR tausend Schikanen ausgesetzt gewesen, ins Gefängnis geworfen, deportiert und erschossen worden wäre (auch die zaristische Justiz und Polizei war im Vergleich zur stalinistischen recht nachsichtig). Mit dieser Bemerkung ist keinesfalls eine Verteidigung des Westens oder auch des Zarismus verbunden, sie ist eine blosse Feststellung. Ebenso geben wir zu, dass wir heute lieber in Frankreich auf dem Lande leben, solange kein AKW explodiert, als etwa in Südafrika, Schanghai, Lagos oder Saudi-Arabien. 41 Unterdrückungen, Terror in der Sowjetunion“18. Keine der darin vorgebrachten Fakten sind, unseres Wissens, ernsthaft zurückgewiesen und bestritten worden. Am interessantesten ist der erste Teil dieses Kapitels, der die Begebenheiten der ersten Jahre der Revolution betrifft; er zeigt, wie grotesk und lächerlich es ist und wie sehr es von bösem Willen zeugt, Stalin die Verantwortung für die Grausamkeiten in die Schuhe zu schieben, die in der Sowjetunion geschahen. Nicolas Werth zitiert das Buch des Historikers Andrea Graziosi „The Great Soviet Peasant War. Bolsheviks and Peasants, 1918 – 1933“, aus dem Jahre 1996 (…..). Graziosi sagt, dass die Bauernaufstände 1902 in Russland und in der Ukraine begannen 19. Der Sowjetstaat stellte sich sofort gegen die Bauernschaft, ideologisch wie auch konkret. Dieser Feldzug sollte die Städte mit Nahrungsmitteln versorgen, weshalb man auf Das Buch von Nicolas Werth und Alexis Berelowitsch „L’Etat soviétique contre les paysans. Rapports de la police politique (Tscheka, GPU, NKWD) 1918 – 1939“, 2011, ist eine bemerkenswerte Ergänzung der Ausführungen von Werth im „Schwarzbuch Kommunismus“; dort finden sich, neben einer allgemeinen Einleitung, von Werth übersetzte offizielle und geheime Dokumente. Dieses Buch ist das Ergebnis einer Forschergruppe unter dem russischen Historiker Victor Petrovitsch Danilow: „Les campagnes soviétiques vues par la Tscheka OGPU-NKWD, 1918-1939“. Danilow untersucht seit den Siebzigerjahren die Geschichte der Politik der Bolschewiki gegenüber der Bauernschaft. Er hält sie für ein ökonomisches Desaster und eine gesellschaftliche Tragödie in einer Epoche, wo die offizielle Geschichtsschreibung seines Landes daraus noch einen grösseren Fortschritt Richtung Sozialismus machte (was in gewisser Hinsicht ja auch wahr ist). Danilow zeigt die Bedeutung der Bauernschaft und der Bauern, die sich schon vor Lenin die Grundstücke der Grossgrundbesitzer angeeignet und sie unter sich aufgeteilt hatten. Werth hat sich in Russland auch an der Veröffentlichung eines Monumentalwerkes in russischer Sprache beteiligt, an einer Geschichte des stalinistischen Gulag. 18 Wenn Werth die Massaker erwähnt, deren sich die Weisse Armee schuldig machte, vergisst er die Schrecken des Ersten Weltkriegs, welcher zusammen mit dem Landhunger der Bauern der Hauptgrund für den Fall des zaristischen Regimes war. 19 Graziosi irrt sich, wenn er bezüglich des Bauernkrieges und seiner Unterdrückung von einer Regression der Gesellschaft, von einer Barbarisierung spricht. Das gilt sicher für eine erste Zeit, doch war es genau diese Barbarisierung, welche die Modernisierung von Russland und den Eintritt von Russland in die Neuzeit, in das Zeitalter des Fortschritts, ermöglichte. 42 Zwangsenteignung zurückgriff. Proletarier-Bataillone zur Lebensmittelbeschaffung fuhren aufs Land und bemächtigten sich mit Gewalt der Lebensmittel, der Produkte bäuerlicher Arbeit, um die städtische Bevölkerung zu ernähren, die in der Tat hungerte. Der Zusammenstoss war unvermeidlich. Die Bauernschaft war ein Hindernis für die Modernisierung von Russland (am Vorabend der Russischen Revolution lebten ungefähr 83 % der Bevölkerung in Dörfern), die Bauernschaft, die schon vom Ersten Weltkrieg ausgeblutet war, sollte nun unterworfen werden, was nicht anders als durch Terror möglich war. Das Fazit dieses Krieges, von dem die Revolutionäre nie sprachen20, war schrecklich: Nach Werth wurden 2.5 Millionen Bauern deportiert und etwa 6 Millionen starben an Hunger. Der erbarmungslose Krieg, den der sowjetische Staat gegen die Bauern führte, lief in zwei Etappen ab. In einer ersten, von 1918 bis 1922 war die bolschewistische Regierung gezwungen, mit der N.E.P. eine gewisse Autonomie der Bauernschaft zu akzeptieren; doch dann, nach dieser relativen Waffenruhe, gab es eine zweite Periode. Sie dauerte von 1928 bis 1933 (in geringerem Masse bis 1939). Der sowjetische Staat nahm seine Offensive wieder auf und zwang der Bauernschaft die Kollektivierung des Landes auf, um die unerträgliche Tatsache zu beseitigen, dass die immense Mehrheit der Bevölkerung (also die Bauern) autonom war und „ausserhalb des Sozialismus“ lebte. Graziosi spricht von den Erhebungen der russischen Bauern als dem grössten Bauernkrieg der Geschichte. Nach seiner Schätzung hätte dieser Krieg 15 Millionen Tote gefordert (worin die Opfer der Kämpfe und Repressionsopfer des bolschewistischen Regimes und die Opfer der beiden Hungersnöte am Ende der beiden Perioden 1918-22 und 1928-33 stattfanden, inbegriffen sind: fünf Millionen das erste, sieben Millionen das zweite Mal, mehrere Hunderttausend Tote durch die Repression am Anfang der Zwanzigerjahre, eine Million Opfer durch die Repressionswelle der Dreissigerjahre, etc.). Die Kommission zur Nahrungsmittelbeschaffung wurde im November 1917 gegründet. Lenin versuchte den Klassenkampf auf dem Lande zu zügeln, indem er sich aus taktischen Gründen bis zum Sommer 1918 dem Programm der bäuerlichen Partei der 20 Doch vernachlässigen die Ankläger der von den Bolschewiki begangenen Massaker stillschweigend die ebenso schrecklichen Massaker des Ersten Weltkriegs. 43 Sozial-Revolutionäre anschloss, welches die Aufteilung des Bodens vorsah. Die Massaker an den „Konterrevolutionären“ begannen schon gleich nach dem Sieg der Revolution, Massaker, die nicht nur Exzesse der Volkswut waren, sondern von der neuen sowjetischen Regierung gutgeheissen, ja dazuermuntert wurden. Bald darauf erwies sich der Pole Feliks Dscherschinski (Gründer der Tscheka, der sowjetischen politischen Polizei, darauf des G.P.U.) bis zu seinem Tod im Jahre 1926, als wahrhaft krimineller und hysterischer Verrückter, als ein Fanatiker, der nach Mord lechzte, eine real gewordene Person aus einem dostojewskischen Roman (neben seinem Partner in der Führung der Tscheka, Martyn Latsis). Dscherschinski und seine Tscheka wurde bald von den Bundesgenossen der Bolschewiki, z. B. Isaac Steinberg, ein linker Sozial-Revolutionär, angegriffen. Er war Volkskommissar bei der Justiz und lehnte die Autonomie der Tscheka ab (diese hatte die Befugnisse zur Fahndung, Verhaftung, Verurteilung und zum Strafvollzug). Er wollte die Tscheka seinem Ministerium unterstellen; die Tscheka wurde aber auch von innerhalb der Bolschewiki (insbesondere vonBucharin) kritisiert; Lenin verteidigte aber Dscherschinski, die Tscheka und ihren revolutionären Terror kategorisch, den Bordiga so schätzte, lobte und forderte. In der Tat entschlüpfte die Tscheka sehr schnell der Partei. Lenin war mit Trotzki und Dscherschinski der heftigste und fanatischste Verteidiger des Terrors auf dem Land; die Bauern, welche ihr „Surplus“ nicht abliefern wollten, sollten alle erschossen werden (N. Werth, in „Schwarzbuch Kommunismus). Lenin gebrauchte das düstere Wort: „Der russische Boden muss von allen schädlichen Insekten gereinigt werden“ 21 22. 21 22 Die politische Polizei wurde 1922 reorganisiert, die Tscheka wurde die OGPU. Steinberg war Volkskommissär am Gerichtshof von Dezember 1917 bis Mai 1918, bis zum Bruch der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionären. Man findet Auszüge eines Buches von Steinberg über den sowjetischen Terror („Der ethische Aspekt der Revolution“) im Buch von Jacques Baynac, Alexandre Skirda und Charles Urjewitz „La Terreur sous Lénine (1917 – 1924)“. Dieses Buch enthält auch einen Text von Martow, Texte der Tscheka und ein Kapitel des Buches von Serej Melgunow „KrasN.Y.i terror v Rossii, 1918 – 1923“, 1923 erschienen, auf Französisch unter dem Titel „La terreur rouge en Russie, 1918 – 1923“ 1927 erschienen; Neuherausgabe 2004. Melgunow war reformistischer Sozialist, Sozial-Populist, 1914 patriotisch, Gegner der Macht der Bolschewiki. Er trat für die Wiederaufnahme des Krieges gegen Deutschland auf Seiten der Entente ein. 1922 war er in den Prozess gegen die Sozialrevolutionäre 44 Von Herbst 1917 bis zum Frühjahr 1918 bestand die Politik der Bolschewiki darin, die Bauern das alte grundherrschaftliche System auf dem russischen Lande zerstören zu lassen. Von Mai/Juni 1918 an versuchten die Bolschewiki die Sache wieder unter Kontrolle zu bekommen und die sowjetische Ordnung der unendlichen Weite des flachen Landes aufzuerlegen. Die russische Bauernschaft hatte sich den Boden 1917 angeeignet, die russische Gemeinschaft wachte wieder auf und die Bauern lebten, nach einem Wort von Werth, die bäuerliche Utopie, wie sie nur der bäuerlichen Macht entspringen kann: Freiheit als Zurückweisung jeder dem Dorf fremden, äusseren Macht. verwickelt. Die Bolschewiki verurteilten ihn zum Tode, dann wandelten sie diese in eine Haftstrafe um. Am Schluss wurde er aus der UdSSR gewiesen. Melgunow berichtet von Grausamkeiten, die in den Lagern aller Parteien begangen wurden, insbesondere von den Truppen Denikins, von Admiral Koltschak, von den Bauerntruppen mehr oder weniger unter Machno, und die Kosaken waren auch keine Engel. Melgunow sagt indessen, dass es sich um bestialische Exzesse bei den Konterrevolutionären und um den von den Roten systematisch ausgeübten Terror handelte. Das sagt auch Werth, es könnte wahr sein, müsste aber noch diskutiert werden. Immerhin hatten die Weissen nicht den Ehrgeiz, den Neuen Menschen zu schaffen, oder ein Paradies aufzubauen ganz wie gewisse Jakobiner damals in Frankreich. „Die proletarische Herrschaft in all ihren Formen, begonnen mit den Erschiessungen, scheint eine Methode zu sein, von der man annehmen darf, dass sie aus dem Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche das kommunistische Individuum produziert.“ (Bucharin, zitiert von Melgunow „La terreur rouge . . .“, o. c. p. 68) Melgunow zitiert einen Brief von Kropotkin (der auch während des ersten Weltkriegs glühend für den Kriegseintritt seines Landes eintrat) an Lenin, worin er sehr zu recht das schreckliche und kriminelle Verfahren, Geiseln zu nehmen, anklagt. Die Bolschewiki griffen systematisch auf Geiselnahme zurück: von Frauen, Alten, Kindern, und schreckten vor Exekutionen nicht zurück. „Ihr Genossen, versteht ihr nicht, dass dieses System der Wiedereinführung der Folter an Gefangenen und ihren Eltern entspricht.“ (ibidem, p. 60). Er zitiert auch den finsteren Latsis, Gehilfe von Dscherschinski, welcher am 1. November 1918 erklärte: „Wir führen keinen Krieg gegen besondere Personen. Wir rotten die Bourgeoisie als Klasse aus. Sucht bei der Untersuchung nicht nach Beweisen in Form von Dokumenten, auch nicht nach vom Angeklagten begangenen Taten oder nach Aussagen gegen die Sowjetunion. Die erste zu stellende Frage ist die nach der Klassenzugehörigkeit, nach der Herkunft, der Erziehung, Ausbildung, nach dem Beruf.“ (ibidem, p. 78-88). 45 „Die Zeit ist für uns gekommen, einen unbarmherzigen, gnadenlosen Kampf gegen die kleinen Eigentümer und Besitzer zu führen.“ (Lenin, am 29. April 1918) 23 Die Abordnungen zur Nahrungsmittelbesorgung der Tscheka waren aus revolutionären Militanten zusammengesetzt; am Anfang auch aus Anarchisten, vor allem aber aus dem gesellschaftlichen Bodensatz, schlimmsten Elementen, Halunken, eigentlichen Kriminellen, arbeitslosen Arbeitern, von einem guten Lohn und vom Plünderung angezogen, blutrünstig und begierig, „Klassenrache“ zu üben. Viele waren von eigentlichem mörderischem Wahnsinn besessen und wollten nur sich betrinken, plündern, töten, stehlen, vergewaltigen24. Werth betont, wie schon andere Autoren vor ihm, die 23 Bordiga zitiert unermüdlich und fast mit Genuss die Definition, welche Lenin 1918 in „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ von der Diktatur des Proletariates gibt: „die Diktatur ist eine Macht, die sich direkt auf der Gewalt abstützt und mit keinem Gesetz verbunden ist.“ Für Bordiga war Lenin die Person, welche mit der Demokratie gebrochen hatte, die immer bürgerlich ist und nur die Maske der Diktatur des Kapitals ist. Das Kapital benutzte aber andere Formen als demokratische, um sich Russlands zu bemächtigen und es zu kapitalisieren, nämlich die Kräfte des Marxismus . . . welche nichts sehnlicher wünschten. So wie die Diktatur des Proletariates in Russland aussah, hat sie Bordiga nie in Frage gestellt. 24 Trotzki war nicht nur an der Spitze des Staates ein schrecklicher Mensch, sondern auch in seinem Privatleben. Wenn er sich für die Psychoanalyse interessierte, dann darum, weil er eben ein konsequenter Materialist (1923 versuchte er eine Synthese zwischen Pawlowismus und Freudianismus zu machen, Basis einer marxistisch-materialistischen Psychologie), aber ein jämmerlicher Psychologe war, nicht weniger grob und vulgär wie der Begründer der Psychoanalyse selbst. Er war schrecklich gefühllos und zu keiner Empathie fähig. Dies zeigte sich an seinem Verhalten gegenüber seinen Nächsten, ja sogar gegenüber seiner Tochter. Trotzki wurde 1898 nach Russland deportiert und heiratete dort im sibirischen Gefangenenlager seine erste Frau, Alexandra Lwowna. Daraus entsprossen zwei Töchter, Zina, die Ältere und Nina, die Jüngere. Er flüchtete und liess die Familie zurück (das Schicksal hat uns getrennt, schreibt er in „Mein Leben“).1902 begegnete er Natalia Sedow; sie wird seine zweite Frau. Er hat mit ihr zwei Söhne, Lev (Lew Sedow) und Sergei. Dieser wurde von Stalin 1938 exekutiert, Lev wurde ermordet, anscheinend von Agenten Stalins. Nina starb 1928 an Tuberkulose, Zina brachte sich 1933 um. Sie scheint an psychischen Störungen gelitten zu haben, an hysterischer Psychose. Sie war nach Berlin geflüchtet und hatte in 46 Russland ihren Gemahl und ihre kleine Tochter zurücklassen. Zina idealisierte und vergötterte ihren Vater; sie träumte davon, ihm in seiner politischen Arbeit zu helfen. Trotzki hielt sie aber auf Distanz und vernachlässigte sie sogar, was Zina nicht ertragen konnte. Trotzki, der mit der Weltrevolution beschäftigt war, hatte keine Zeit für seine kranke Tochter, er verweigerte es sogar, ihr Leiden anzuerkennen und wollte sie nicht mit sich nehmen, schickte sie dafür in die psychoanalytische Behandlung und zu Ärzten, d. h. er überliess seine Tochter der Medizin. Zina und ihre Probleme störten den Henker von Kronstadt. Lev, der Halbbruder und Natalia, die zweite Frau, hörten nicht auf, Trotzki dazu zu bewegen, die psychischen Leiden seiner Tochter wahrzunehmen, d. h. letztlich, sie wirklich anzuerkennen. Während der Behandlung, welche Zina bei einem Psychologen der Adler-Schule, einem Marxisten, absolvierte, um ihrem Vater gehorsam zu sein, schickte Trotzki die von seiner Tochter an ihn geschickten Briefe ihrem Therapeuten. Zina erfuhr das und war schwer verletzt. Ihr Vater war blind und wollte den schlimmen Zustand von Zina nicht wahrhaben. Er hielt sie für eine frigide, egoistische, frivole, launische Frau, eine blosse Simulantin, vollständig gesund und beschuldigte sie der Willensschwäche, der Haltlosigkeit, was sicher wahr war, woran aber er zuallererst schuld war! Sedow berichtet vom suizidalen Zustand von Zina und forderte den Vater auf, Kontakt aufzunehmen, was dieser bis zum Schluss verweigerte. Am 22. Dezember 1932, zwei Wochen vor dem Selbstmord der Tochter, schrieb er seinem Sohn einen Brief: „Ich werde keinen Kompromiss, kein Zugeständnis annehmen. Zina soll gemäss den Anordnungen der Ärzte so bald wie möglich nach der UdSSR aufbrechen. Ich werde auf keine Widerrede antworten. Ihre Verweigerung, sich den Anordnungen der Ärzte zu unterziehen, betrachte ich als endgültigen und vollständigen Bruch. Sie soll danach nicht mehr auf irgendeine Hilfe von mir zählen. Entschuldige bitte, dass ich Dich damit beauftrage, dies meiner Tochter mitzuteilen.“ (zitiert nach J. Chemouny, „Trotsky et la psychoanalyse“, 2004, p. 253). Trotzki zögerte in der Folge nicht, Lev Sedow, den Halbbruder von Zina, für ihren Selbstmord verantwortlich zu machen, später Stalin und General Schleicher. Er benutzte also diesen Tod, um seine revolutionäre Politik zu verteidigen! Die erste Frau von Trotzki, Mutter von Zina, hielt später Trotzki die Tatsache vor, ihre Tochter einer Psychoanalyse unterzogen zu haben („man hätte sie nicht unter Druck setzen dürfen, von Dingen zu sprechen, von denen sie nicht sprechen wollte“, ibidem, p. 258). Im selben Brief bezichtigte sie ihren ehemaligen Gemahl, jede intellektuelle, ja jede Beziehung mit der Tochter verweigert zu haben. Das Buch von Chemouny ist gut dokumentiert (wenn man auch schmunzeln muss, wenn man so naive Sätze liest wie: „die unerschöpflichen Kenntnisse von Broué über die kommunistische Bewegung“, p. 9). Er betont richtig die Verbindung zwischen Marxismus und Psychoanalyse (waren die Juden im Marxismus zahlreich vertreten, so war die Psychoanalyse eine eigentliche jüdische Bewegung. Das änderte sich bis zum Ersten Weltkrieg nicht, als C. G. Jung dazu stiess). Er untersucht die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Bolschewismus (Radek stand z. B. dem Freudianismus günstig gegenüber) und dann natürlich, wie Trotzki zu dieser psychologischen Bewegung stand. Trotzki war, ebenso wie Otto Rühle und 47 seine Frau Alice Rühle-Gerstel, eher von Alfred Adler beeinflusst. Dieser war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Auch das Verhältnis zu Wilhelm Reich kommt zu Sprache. Die Korrespondenz zwischen den beiden Revolutionären ist in Nr. 45 der „Cahiers Léon Trotsky“, 1992, publiziert. Nach der Rückkehr von seiner Reise in die Sowjetunion 1929 schrieb Reich „Die Situation der Psychoanalyse in der Sowjetunion“, worin er sich begeistert über die Verwirklichung des Sozialismus in der Sowjetunion äussert. Der Kapitalismus ist dort unterdrückt und die sexuelle Freiheit der Jungen Wirklichkeit geworden. Später, 1932-33 wurde W. Reich skeptischer; er verwarf den Stalinismus und näherte sich dem Trotzkismus. 1936 traf er Trotzki in Oslo, nachdem sie schon zuvor korrespondiert hatten. W. Reich, der die proletarische nicht von der sexuellen Revolution trennen wollte, sah eine Umkehrung der revolutionären Entwicklung generell darin, dass unter den Massen und insbesondere unter der Jugend wieder das alte „sexuelle Elend“ eingezogen waren. Reich war besessen von der „sexuellen Unterdrückung“ und der Notwendigkeit der „Befreiung“, doch nach 1945 (sicher aber schon vorher, zuvor musste aber Deutschland vernichtet werden) verschwand die „sexuelle Unterdrückung“ (verschieden schnell, je nach Region und gesellschaftlicher Situation) und die sexuelle Überreizung hielt Einzug, so dass heute schon Kinder unbedingt ein sexuelles, erotisches oder Liebesleben haben müssen. Dazu hatte das Werk von Freud wesentlich beigetragen; Freud war von der Sexualität besessen und sah sie überall, er machte aus ihr sogar den Ursprung der Religionen. Emma Goldmann, die jüdische Anarchistin aus den USA, wurde ebenfalls von der Psychoanalyse verführt, die sie 1895 in Wien anlässlich ihrer Krankenschwesterausbildung kennen lernte. Emma Goldmann liess sich in grossem Ausmass von den Theorien von Freud inspirieren, um die von ihr behauptete bürgerliche Sexualunterdrückung anzugreifen: die Tabus und Verbote, und um dagegen die Homosexualität, Bisexualität und das Recht der Frau auf sexuelles Vergnügen zu verteidigen. Zu ihrer Verteidigung und um gerecht zu sein: Se verteidigte auch das Recht auf Mutterschaft, die sie verherrlichte und sprach auch vom Mutter- und Liebesinstinkt der Frau (siehe dazu “Die Tragödie der weiblichen Emanzipation“, in (Dis)continuité Nr. 28 übersetzt). Für Emma Goldmann bilden der Mann und die Frau, anders als das die meisten Feministinnen sahen, nicht zwei verschiedene, entgegengesetzte Welten (worüber ebenfalls zu diskutieren wäre). Etwas gesunden Menschenverstand gab es aber damals noch bei den Revolutionären, auch bei den Feministinnen; das änderte sich dann ganz nach dem Zweiten Weltkrieg. Adolf Hitler beschreibt jenes Klima sexueller Aufreizung, welches damals in den grossen Städten von Deutschland und Österreich herrschte in seinem „Mein Kampf“. Er nimmt dabei die Gegenposition von Wilhelm Reich ein: „Eine vernünftige Erziehung soll Folgendes in Betracht ziehen: Sie soll nicht ausser Acht lassen, dass die Befriedigung, die ein junger, gesunder Mann von der Frau erwartet, von derjenigen verschieden ist, die ein schwacher, vorzeitig Verdorbener erwartet. So soll die ganze Erziehung bestrebt sein, alle freien Augenblicke des jungen Mannes dazu zu benutzen, seinen Körper sinnvoll zu stärken. 48 Bedeutung des Konsums von Alkohol, aber auch Kokain durch die Tschekisten. Letzteres scheint unter diesen sehr verbreitet gewesen zu sein. Sofort lösten die Brutalität und Grausamkeit dieser Abordnungen Aufstände im ganzen Land aus25. An den Bauern Es besteht kein Recht des Jugendlichen, mit seiner Präsenz die Strassen und Kinos unsicher zu machen. (. . .) Die Erzieher sollen mit der Idee tabula rasa machen, dass es jedermanns Privatsache ist, was er mit seinem Körper macht, denn niemand darf auf Kosten der Nachkommenschaft und damit seiner Rasse sündigen.“ (Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Diese Position ist derjenigen von Bordiga sehr nahe.) „Parallel zur Körpererziehung soll der Kampf gegen die Vergiftung der Seele geführt werden: Unser ganzes äusseres Leben scheint in einem Treibhaus stattzufinden, in dem die Äusserungen und Reize der Sexualität florieren. Man betrachte die Reklame unserer Kinos, unserer Vergnügungsstätten und Theater: Es ist unleugbar, dass man dort nicht die Nahrung findet, die man braucht, insbesondere als Jugendlicher. In den Schaufenstern und Litfasssäulen benutzt man die gemeinsten Mittel, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. (. . .) Nein, wer die Prostitution beseitigen will, muss zuerst die moralischen Gründe beseitigen, deren Resultat sie ist. Er wird den Unrat der moralischen Verpestung der grossen Städte beseitigen müssen und das ohne Rücksicht worauf auch immer und ohne vor dem Aufruhr und entfesselten Geschrei zurückzuweichen, das man natürlich damit auslöst [Und heute! B. d. V.]. Wenn wir die Jugend nicht aus dem moralischen Sumpf ziehen, worin sie sich heute befindet [der Autor kannte noch nicht das grosse elektronische Weltnetz! B. d. V.], wird sie darin stecken bleiben (. . .) Theater, Kunst, Literatur, Kino, Presse, Plakate, Auslagen müssen von der Exhibition einer Welt befreit werden, die am Verfaulen ist, um in den Dienst einer moralischen Idee, eines Staats- und Kulturprinzips gestellt zu werden.“ Wir sind keine National-Sozialisten, keine Provokateure und schreien auch nicht Heil Hitler, möchten aber nur darauf hinweisen, dass diese Zeilen (wir betonen: diese Zeilen) des Erzteufels für alle Demokraten uns nicht unvernünftig und theoretisch ungerechtfertigt erscheinen, ganz im Gegenteil. 25 Maxim Gorki, der im Oktober 1917 noch Gegner der Bolschewiki war, lobte, zum Stalinisten geworden, die Umerziehung durch Zwangsarbeit. Er war persönlicher Freund von Iagoda, dem Chef des G.P.U. und übernahm nur die Hassflüche der Bolschewiki, wenn er 1932 schrieb: „Der Klassenhass muss durch die organische Abstossung hinsichtlich des Feindes kultiviert werden. Dieser ist ein niedrigeres Wesen. Es ist meine innigste Überzeugung, dass der Klassenfeind sehr wohl ein niedrigeres Wesen ist, degeneriert auf physischer, wie auch auf „moralischer“ Ebene“ (zitiert von Arkadi Vaksberg „Le mystère Gorki“, p. 286-287). 49 wurde systematisch die Folter angewandt, ebenso die massenhafte Auspeitschung und die Erschiessung von Geiseln. Die Bolschewiki benutzten nach dem Sommer 1918 die Sowjets der armen Bauern, um die Einheit der bäuerlichen Welt zu zerbrechen, indem sie den Klassenkampf aufs Land trugen. Drei Jahre lang, um Werth zu zitieren, provozierte die Politik der Requisition Tausende von Erhebungen und Aufständen, die schnell in eigentliche Bauernkriege ausarteten, die mit grösster Gewalt unterdrückt und schliesslich unter Strömen von Blut erstickt wurden. War der von der Partei und ihrer Tscheka ausgeübte Massenterror vor allem gegen die Bauern gerichtet, so hatte er doch auch andere Zielscheiben: die protestierenden Arbeiter (die in gewissen Fällen mit dem Maschinengewehr erschossen wurden . . . Wie bescheiden wirken gegenüber der bolschewistischen Repression die Wellen weissen Terrors gegen die Arbeiter in den USA, die in denselben Jahren stattfanden, 1919-1920 26), die Reaktionäre oder als solche bezeichneten (Monarchisten, Kadetten etc.), die Anarchisten, worunter auch die tolstoiischen Pazifisten, die ländlichen religiösen 26 Dominique Colas, „Le léninisme“, 1998, p. 201. Colas gibt die Begriffe auf Russisch, um nicht der Fehlübersetzung bezichtigt zu werden, wieder. Mit den schädlichen Insekten meint Lenin die besitzenden Bauern (kleine, mittlere, grosse). Er spricht von einer eigentlichen Schmutzsprache bei Lenin und untersucht die Beschimpfungen in den Texten („diese Sch…“, dieser Misthaufen) und einer prophylaktischen Obsession der „Reinigung“ (was man für gewöhnlich den National-Sozialisten vorwirft: Deutschland von den Juden reinigen . . .). Colas zeigt auch, wie Lenin überall Hysterie sah: bei Bucharin, dem Bolschewik, bei Martow, dem Menschewik, bei der linken Sozialrevolutionärin Maria Spiridowa: sie waren alle in den Augen Lenins Hysteriker. Spiridonowa wurde unter mysteriösen Umständen von Stalins Gruppe liquidiert; sie war zuvor, auf die Diagnose von Lenin hin, psychiatrisch interniert worden, um geheilt zu werden. Sie hatte die Gefängnisse des Zaren kennengelernt, war daraus aber heil herausgekommen. Es ist vielsagend, vergleicht man die Zahl der Repressionsopfer unter dem Zaren mit derjenigen unter dem bolschewistischen Regime. Die Positionen der linken Sozial-Revolutionäre waren von schweren Widersprüchen gezeichnet; sie verstanden sich als Vertreter der besitzenden Bauernschaft (und das waren sie auch: Sie nahmen weitgehend an den antibolschewistischen Bauernaufständen teil), waren gleichzeitig Parteigänger, wie Bucharin, Ossinski und die Linkskommunisten, der Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland. Dieser Krieg war aber sehr unpopulär, v. a. bei den Bauern. Diese wünschten sich, scheint es, vor allem eine Rückkehr zum Frieden, um ihr neu in Besitz genommenes Land bewirtschaften und geniessen zu können. 50 Gemeinschaften, die Sozial-Revolutionäre, die Kosaken (eingefleischte Gegner der Bolschewiki und Verteidiger ihrer herkömmlichen Lebensform 27), die Intellektuellen und schliesslich die Religiösen, Popen und Mönche. Die Repression hatte auch eine antinationale Komponente; in der Tat war der nationale Faktor ebenso stark wie der religiöse, insbesondere in der Ukraine. Graziosi spricht von Nationalkommunismus, ja sogar National-Sozialismus gewisser ukrainischer Aufständischer. Tatsächlich musste sich die bolschewistische Partei gegen die grosse Mehrheit der Bevölkerung in Russland durchsetzen. Wenn alle Bauern, die sich erhoben und rebellierten, als konterrevolutionäre Kulaken abgetan wurden (eine grosse Verleumdung; sie wurden also nicht nur exekutiert, sondern auch verleumdet; das gilt auch für die Anarchisten) , so wurden die aufbegehrenden Arbeiter und Streikenden als Menschewiki und Sozial-Revolutionäre taxiert, was zum grossen Teil falsch war und im Gegenteil von der Macht dieser beiden Parteien und ihrer Popularität unter den Arbeitern und Bauern zeugte, wobei erstere häufig ehemalige Bauern waren. Zahlreich waren die Arbeiter-Umzüge, häufig friedliche Hungermärsche, die von den Bolschewiki – häufig mit Maschinengewehren - im Blut erstickt wurden. Die lokale Tscheka spielte dabei jedes Mal in der Unterdrückung eine Hauptrolle. Auf die Arbeiter-Streiks antworteten die Bolschewiki mit Aussperrungen und mit der Verhaftung der Streikführer. Im Sommer 1918 fanden in den von den Bolschewiki kontrollierten Gebieten vierzig Bauernaufstände und -rebellionen grossen Ausmasses statt. Die Bauerngemeinden erhoben sich gegen die Zwangsrequisitionen, gegen die von den proletarischen Bataillonen ausgeübte Brutalität, gegen die Zwangsrekrutierungen, die auferlegten Einschränkungen des freien Marktes (de facto handelte es sich um einen lokalen Markt), für die Wiederverteilung des Bodens und gegen die antireligiöse Politik; die Bauern verlangten freie Sowjets ohne Kommunisten und Juden. Lenin rief in seinem marxistischen, fortschrittlichen, aufklärerischen Fanatismus und seiner anti-reaktionären 27 Zitiert von Nicolas Werth und Alexis Berelowitsch, „L’Etat Soviétique contre les paysans“, o. c., p. 38 51 Paranoia dazu auf, die sogenannten Kulaken alle aufzuhängen 28. Jeder Widerstand der bäuerlichen Gemeinschaften gegen die lokalen Autoritäten wurde sofort systematisch als „konterrevolutionärer Kulaken-Aufstand“ bezeichnet. Die bolschewistische Legende übertrug diese Version der Dinge in frommer Tradition; es gibt eine ganze Schule der Fälschung und Verleumdung, in der die stalinistische Fraktion nur eine Komponente ist. Die Konzentrationslager (von denen viele schnell zu Zwangsarbeitslagern wurden, die im Lauf der Jahre 1919-1920 in der Zahl schnell zunahmen) wurden im August 1918 eingeweiht, vor dem Beginn des offiziellen Roten Terrors im September desselben Jahres, 28 Die Praxis der Vergewaltigung stand bei den Tschekisten hoch im Kurs und erreichte ein grosses Ausmass. Das war dann auch wieder im grossen antifaschistischen Feldzug zur Eroberung Deutschlands 1945 der Fall. Tradition bei den Sowjets war auch die Ermordung der Gefangenen, wenn man sich vor dem Feind zurückziehen musste. Werth („L’Etat soviétique . . .“, o. c., p. 47) spricht von der unerhörten Brutalität der Repräsentanten der neuen Macht auf dem offenen, nun eroberten Land. Hier war alles erlaubt und nichts hinderte die kleinen lokalen Tyrannen vor Exzessen: Vergewaltigungen, Diebstahl, Demütigungen, Plünderungen, Brandlegungen, Ermordungen, Folterungen; die Bauern waren ja in den Augen der Bolschewiki Apriori-Feinde des Kommunismus. Er zitiert einen Bericht der Tscheka von 1922, also ein Jahr nach der Zulassung der N.E.P., welche das Los der Bauern verbessern sollte (und die Linkskommunisten im Westen warfen den Bolschewiki vor, mit der N.E.P. den Kommunismus zu verraten, indem sie mit der Bauernschaft einen Kompromiss schlossen und so den Kapitalismus wieder einführten!): „Die Missbräuche der mit der Lebensmittelbeschaffung beauftragten Funktionäre haben unvorstellbare Ausmasse erreicht. Nahezu überall werden die Bauern verhaftet und in ungeheizten Scheunen gefangen gehalten, ausgepeitscht und mit dem Tode bedroht. Diejenigen, welche nicht gänzlich die Naturalsteuer begleichen können, werden durch das Dorf gejagt und von den Pferdehufen zertrampelt. Und dann kommen sie nackt in die eiskalten Scheunen. Mehrere Frauen sind geschlagen worden, bis sie das Bewusstsein verloren, andere wurden nackt im Schnee eingegraben, Vergewaltigungen haben stattgefunden. Melgunow weist auf die grosse Präsenz von Letten in der Tscheka hin, der sie ganz ergeben sind. Die Letten sind auch voller Enthusiasmus für die neue Sowjetordnung und sind die Gausamsten, wenn es um die Verfolgung der Konterrevolutionäre geht. Das gilt auch für die Juden, die darauf erpicht sind, die alte christlich-bäuerliche, reaktionäre Gesellschaft zu zerstören. Siehe dazu das Buch von Solschenizyn, o.c. Darin wird auch von den Ungarn und Chinesen berichtet, die ganz schrecklich waren. Die aufständischen Bauern ihrerseits gaben sich in Reaktion darauf ebenfalls ganz unglaublichen Gräueltaten an den Bolschewiki (Juden oder Nichtjuden) hin, die in ihre Hände fielen. 52 eines Terrors, der auf Geheiss der Parteiführung einsetzte und nicht von der Basis im Volk ausging, wie Dscherschinski schamlos behauptete 29. Petrowski, Volkskommissar des Inneren, proklamierte in der Iswestija vom 4. September 191830: „Beim geringsten Widerstand muss auf massive Massenexekution zurückgegriffen werden.“ (ibidem). Das waren keine leeren Worte, sondern Anlass für systematische Tötungen. Der Sommer 1918 war ganz besonders blutig; viele streikende Arbeiter wurden damals erschossen; Werth spricht von mindestens 10 bis 15 000 Exekutionen im Herbst 1918. Im März 1919 wurde Dscherschinski zum Volkskommissar des Inneren ernannt, was nichts Gutes verhiess. In der Tat wurden sofort „Spezialkommandos“ bestimmt, welche die Armee überwachen und gegen Anzeichen von „Anti-Sowjetismus“, Bauern-Aufständen und Arbeiterdemonstrationen kämpfen sollten. Trotzki lieferte für diesen zum System erhobenen Terror die theoretisch-revolutionäre Rechtfertigung (erklärte aber auch, er sei populären Ursprungs und die Ausbeutung der Kapitalisten und Grundbesitzer sei dafür verantwortlich). Man lese „Terrorismus und Kommunismus“, eine wahrhafte Apologie des Terrors, eine Antwort auf Kautskys Vorhaltungen 31 32. 29 Die Tscheka-Frauen zeichneten sich durch sadistische Grausamkeit aus und überflügelten dabei sogar ihre männlichen Kollegen. 30 Die Arbeiter wurden verfolgt und unweigerlich deportiert, erschossen oder massakriert, wenn sie sich dem jungen Sowjetstaat entgegenstellten. Sie wurden in den folgenden Jahren vom stalinistischen kommunistischen Staat besiegt, der sie aber erst dank des Zweiten Weltkrieges schachmatt setzen konnte. 31 Werth beschreibt eigentliche Ausrottungskriege, den der neue Staat ohne Erbarmen gegen die Kosaken führte. Ihre Dörfer wurden verbrannt, die Einwohner massakriert, die Überlebenden deportiert (o. c. p. 112-117). Die Bolschewiki betrachteten die Don-Region als eigentliche russische Vendée (was schon alles sagt). Graziosi zitiert, o.c., p. 35, einen Brief eines bolschewistischen Kommandanten an das Zentralkomitee, worin er eine Politik « der Massenausrottung ohne Unterschied » empfiehlt. Graziosi spricht von der Armee von Sokolnikow ; sie füsilierte 1919 im Verlauf einiger Wochen über 8000 Personen. 32 « Genossen, der Kulakenaufstand in euren fünf Distrikten muss erbarmungslos niedergeschlagen werden. (. . .) Es muss ein Exempel statuiert werden: 1) Nicht weniger als 100 reiche blutsaugerische Kulaken hängen (und zwar so, dass alle sie sehen) ; 2) ihre Namen veröffentlichen ; 3) sich all ihres Korns 53 Die Jahre 1919-1920 sahen die grössten Bauernrevolten gegen die Macht der Bolschewiki; sie waren noch grösser, als diejenigen von 1918; ebenso zahlreiche Revolten, Streiks und Aufstände von Arbeitern, die alle gewaltsam unterdrückt wurden. Die Arbeiter von Petrograd widerstanden der Macht der Bolschewiki von Beginn des Jahres 1918 an. Die Bataillone der Tscheka unternahmen den Sturm auf die PutilowWerke, die von den Arbeitern mit der Waffe in der Hand verteidigt wurden. Zweihundert Arbeiter wurden ohne Gerichtsspruch füsiliert. Die Streiks dehnten sich aufs ganze Land aus; die Stadt Astrachan sah im März 1919 das grösste Massaker an Arbeitern, welches die Bolschewiki vor Kronstadt anrichteten. Werth spricht von mehr als Dreitausend Toten in Folge der bolschewistischen Repression 33. bemächtigen ; 4) die Geiseln identifizieren, wie im gestrigen Telegramm angegeben. » Lenin, Telegramm vom 10. August 1918, von Werth, o.c., p. 84 zitiert. Robespierre hatte dem Konvent erklärt, als man das Prairal-Gesetz diskutierte : « Um die Feinde des Vaterlandes zu bestrafen, genügt es, ihre Person festzustellen. Es geht nicht darum, sie zu bestrafen, sondern sie zu vernichten. » (zitiert von Stéphane Courtois, « Le livre noir du communisme », o. c., p. 796. Das Projekt von Lenin und Dscherschinski sah nicht anders aus. Wenn wir von Beschuldigungen ohne Grundlage gegen die Bauern aller sozialen Verhältnisse sprechen, behaupten wir nicht, es hätte keine Kulaken gegeben. Es gab in der Tat gutgestellte und reiche Bauern; sie waren in den Gemeinden und Dörfern gut integriert und wurden keineswegs als Ausbeuter wahrgenommen, ganz anders als die Wucherer der Städte. Diese Kulaken versuchten zu spekulieren, zu horten und auf Kosten der armen Bauern, des revolutionären Staates und der entwurzelten Proletarier des Landes Reichtümer zu scheffeln. Wir leugnen nicht, dass der revolutionäre Staat gezwungen war, mit ihnen einen Kompromiss einzugehen und oftmals, nicht zuletzt infolge der grossen Terrorwelle, zurückweichen musste. Die stalinistische Macht konnte nämlich zur Versorgung der Bevölkerung nicht auf grosse Importe zurückgreifen. Bucharin (Bordiga war mit ihm darin einverstanden) war dafür, die Kulaken reich werden zu lassen, damit der Staat später, nach vollbrachter Akkumulation (einer Akkumulation, die nicht als kommunistisch gelten sollte, anders als die von Preobraschenski geforderte) diese wieder einsacken könnte. 33 Der Vorwand zur Einführung des Roten Terrors waren zwei Attentate, dasjenige vom August 1918 gegen Uritsky, den Verantwortlichen der Tscheka von Petersburg ; dieser wurde dabei getötet, und dasjenige gegen Lenin, der dabei ernsthaft verletzt wurde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Attentat eine Machenschaft der Bolschewiki selbst bzw. eine bolschewistische Provokation war. Auf jeden Fall war kaum Dora Kaplan der Täter, der dann angeklagt und erschossen wurde. Lenin trat nicht dazwischen, wenn es auch eine sentimentale Legende gibt, Lenin sei für seine Begnadigung eingetreten. 54 Lenin rief zu einer exemplarischen Unterdrückung der Streikbewegung auf; Werth zitiert ein Telegramm, das er an Smirnow am 29. Januar 1920 abschickte: „P. M. hat mir berichtet, dass von Seiten der Eisenbahnen offenbar Sabotage stattfindet (. . .) Man sagt mir, die Arbeiter von Ijewsk seien ebenfalls darin verwickelt. Ich bin erstaunt, dass Sie das akzeptieren und wegen dieser Sabotage nicht zum Mittel massiver Exekutionen greifen.“ (ibidem) 34. Die Arbeiter erhoben sich in Ijewsk, die Repression war furchtbar, mehrere hundert Arbeiter wurden im November 1918 erschossen (Solschenizyn, dessen Zahlangaben mit Vorsicht zu geniessen sind, spricht von Tausenden von Toten). Die Bauernaufstände, die 1918 begonnen hatten, nahmen folglich 1919-1920 eine neue Dimension an; ihr Höhepunkt war im Winter 1920-1921. Die Zahl der bäuerlichen Deserteure erreichte mehrere Millionen35; diese Deserteure formten das Gros der Bauerntruppen (die unter dem Begriff der „Grünen“ zusammengefasst wurden: Deserteure und Aushebungsflüchtige, im Gegensatz zu den Roten und den Weissen). Sie bildeten 34 Werth bemerkt, dass aber auch Potrowski gleichzeitig mit Bucharin gegen die Zügellosigkeit der Tscheka protestierte. Kamenew ging sogar soweit, die Auflösung der Tscheka zu verlangen. Stalin, Trotzki (« der grosse Trotzki », sagte Bordiga), Swerdlow und Lenin (« der Gigant », sagte Bordiga) verteidigten jedoch die Tscheka und Dscherschinsky. Lenin sagte: « ein guter Kommunist ist auch ein guter Tschekist. » Und Sinowjew (« der gute Sinowjew », Bordiga) erklärte: « Die Tscheka ist die Schönheit und der Stolz der Kommunistischen Partei. » (nach Melgunow, o.c., p. 306) « Wir verwerfen das alte Moralsystem und die alte « Menschlichkeit », beide von der Bourgeoisie erfunden, um die unteren Klassen auszubeuten und zu bedrücken. Unsere Moral hat keine Vorläuferin, unsere Menschlichkeit ist absolut, denn sie beruht auf einem neuen Ideal: auf der Zerstörung jeder Form von Bedrückung und Gewalt. Für uns ist alles erlaubt, denn wir sind die ersten auf der Welt, welche das Schwert ergreifen, nicht um zu unterdrücken und zu Sklaven zu machen, sondern um die Menschheit von ihren Fesseln zu befreien. . . . Blut ? Dass das Blut in Strömen fliesse! Denn allein das Blut kann die schwarze Fahne der Bourgeoisie für immer in die rote Standarte der Revolution umfärben. » („Krasolnyi Metsch“, Das rote Schwert, Zeitung der Tscheka, Nr. 1, 18. August 1919. Zitiert von Werth, o.c., p. 117. Statt des „den Reinen ist nichts unrein“ „den Revolutionären ist alles erlaubt“. 35 Bordiga äusserte sich 1960 lobend zu „Terrorisme et communisme“ in seinem Text zu „Die Kinderkrankheit des Kommunismus“, o.c,. p. 22. Er sagt sogar, Trotzki habe das in seiner besten Stunde geschrieben! 55 eigentliche Armeen gegen die Zwangsrequisitionen; zuweilen, wenn auch selten, auf jeden Fall seltener, als die Bolschewiki weismachen wollten, degenerierten sie zu Plünderern und Räubern. Es waren gewaltige Aufstände, in der Ukraine, in der Provinz Samara, Tambow, Saratow, in Sibirien, in den Kosakenländern. Diese Armeen zählten Zehntausende von Soldaten. Die Tscheka und die Rote Armee schritten zu einer Politik der Befriedung des Landes; sie bestand darin, die Dörfer der aufständischen Regionen zu zerstören. Sie wurden bombardiert, verbrannt, vergast; Hunderte von Menschen wurden dabei füsiliert. Die Parolen der Aufständischen waren immer dieselben: Handelsfreiheit!, Sowjets ohne Kommunisten und Juden! (die oftmals gleichgesetzt wurden, nicht immer zu Unrecht), Tod den Bourgeois!, Tod den Bolschewiki! und Tod den Juden! Die Bauern wollten ihre Länder behalten und kein Zurück zum Grossgrundbesitzertum, wie das das Ziel der Weissen Armee war36. Ein mobilisierendes Motiv der aufständischen Bauern war die Ablehnung der atheistischen Politik des bolschewistischen Regimes37. Das war schon bei der Vendée der Fall gewesen. Die Schliessung von Kirchen und Klöstern mit der Verfolgung der Kirchentreuen war Anlass vieler der ersten Aufstände. Ende 1920 wurden die ersten Massendeportationen in die Wege geleitet; Stalin sollte sie im grossen Stil weiterführen. Deportiert wurden Individuen und ganze Familien, die als wenig vertrauenserweckend galten. 36 « Der Feind soll ausser Stande gesetzt werden, zu schaden ; in Kriegszeiten heisst das ‚auslöschen’ », Trotzki, zitiert von Melgunow, o.c., p. 69 37 Hat man all diese Massaker im Kopf, so muss man erbrechen, liest man all die flammenden Appelle von Lenin, Trotzki und den andern Chefs der Bolschewiki zur kommunistischen Revolution, zur proletarischen Solidarität, zum Klassenkampf und tutti quanti. Trotzki schreibt 1919 in seinem Manifest der kommunistischen Internationalen an die Arbeiter der ganzen Welt anlässlich des ersten Kongresses der kommunistischen Internationalen : « Unter der Fahne der Sowjetarbeiter, des revolutionären Kampfes um die Macht und der Diktatur des Proletariates, unter der Fahne der III. Internationalen: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! » (« Manifestes, Thèses et résolutions des quatre premiers congrès mondiaux de l’Internationale Communiste, 1919-1923 », Reprint 1972) 56 Werth zitiert zahlreiche Berichte von Parteirepräsentanten, welche der Tscheka gegenüber feindlich eingestellt waren und diese Bewegungen geisselten. Nach der Beseitigung der Weissen Armeen und der Armee von Machno Ende 1920 38 39 vervielfältigten sich die Aufstände - solche von Bauern und von Arbeitern ganzer Provinzen, solcher, die nun schon seit Jahren ausgeplündert wurden und ausgeblutet waren; die Bolschewiki kontrollierten nur noch die Städte und versuchten von dort aus, das flache Land wieder zu erobern40. Anfang 1921 war der Höhepunkt der 38 Die Prawda schrieb am 12. Februar 1920: « Der beste Platz für einen Streikenden, diese gelbe, schädliche Mücke, ist das Konzentrationslager.» Werth zitiert auch einen Brief von Lenin an Trotzki : « Mögen Tausende umkommen, wenn nötig, wenn nur das Land gerettet wird. » (ibidem, p. 103) Dimitri Wolkogonow bemerkt in „Le vrai Lénine“, dass die von Lenin geschickten Telegramme, insbesondere diejenigen vom Herbst 1918, nie öffentlich gemacht worden sind. Er zitiert eines an Sinowjew: Danke, meine Rekonvaleszenz geht gut voran. Ich bin sicher, dass die Niederschlagung der Tschechen und der Weissen Garden in Kazan, sowie der blutsaugerischen Kulaken, welche sie unterstützen, exemplarisch durchgeführt wird, d. h. brutal » („Le vrai Lénine“, o. c., p. 215). Im August 1918 schrieb Lenin an Nicolas Semachko, einen der Kommandanten im Bürgerkrieg: « Ich beglückwünsche für die Ausrottung der Kulaken und Weissen Garden des Distrikts. » (ibidem, p. 249) 39 Es soll 1919 1.5 Millionen Deserteure aus der Roten Armee gegeben haben. 40 Der General Denikin wollte die Agrarfrage nicht angehen, weswegen ihm die Bauern feindlich blieben. Bei General Wrangel war das anders. In seinen Mémoires (Reprint 2002) ist im Anhang der Text einer Rede zu finden, die er 1926 in Brüssel hielt. Er resümiert darin den Epos seiner Weissen Armee und zieht eine Bilanz. Er behauptet, es hätte in dieser Armee Menschen aller Klassen und aller politischen Richtungen gegeben. Er klagt den Bolschewismus und seinen Hass auf das russische Vaterland und auf alles Nationale an. Er klagt aber auch über den Westen, der ihn eine Zeit lang unterstützte, als es um Polen ging, das vor der sowjetischen Invasion bewahrt werden musste, der die Weisse Armee aber fallen liess, als es darum ging, mit den Bolschewiki ins Geschäft zu kommen. Wrangel sagt, er habe die Expatriierung seiner Armee akzeptiert, nicht aber, dass er in ein anderes Land verfrachtet wurde ; die alten Soldaten sollten bei ihren Offizieren und unter sich bleiben, in eigentlichen Gemeinschaften leben, die Armee sollte überdies seiner Ansicht nach das Zentrum bleiben, um das sich alle russischen Emigranten der bolschewistischen Revolution scharen sollten. « Alle diese Menschen waren durch eine einzige Idee miteinander verbunden: die grenzenlose Liebe zu ihrem Vaterland. » (p. 256). Wrangel schuf eine Allgemeine Vereinigung der russischen Kämpfer: « Alle Mitglieder dieser Arbeitsarmee 57 Bauernkriege, vor allem mit der Revolte der Region um Tambow. Diese war am besten organisiert, dauerte am längsten und war bedeutend. Es entstand daraus ein eigentlicher Krieg. Anführer war Alexander Stepanowitsch Antonow41. Die Dörfer und Wälder, in die sich die revoltierenden Bauern zurückzogen, wurden bombardiert, geplündert, vergast und angezündet. Die gegen die Bauern anrückende Armee zählte fast hunderttausend Männer, worunter starke Abteilungen der Tscheka unter General Tuchatschewski, der kaum einen Monat zuvor den Aufstand von Kronstadt niedergemacht hatte (bei gleichzeitiger scharfer Unterdrückung der Arbeiter in Petrograd 42). Es gelangten in dieser Befriedungsaktion Flugzeuge, Panzerzüge und schwere Artillerie zum Einsatz. Die Bewohner ganzer Dörfer wurden verschleppt (der Stalinismus hat nichts Neues erfunden) und in Konzentrationslager interniert (nach dem im Burenkrieg in Südafrika von den Engländern leben von ihrer eigenen Arbeit. Sie verzichten auf einen Teil ihres Lohnes zur Unterstützung der Organisation, der Kranken und Arbeitslosen. Das ist ein einzigartiger Fall in unserer industriell-merkantilen Gesellschaft. » (ibidem, p. 257) Für Wrangel sollte diese nationale Organisation ein Gegengewicht gegen die Kommunistische Internationale bilden, die sich « der russischen Erde bemächtigt » hat. Er meint zudem: « Wir suchen nichts für uns selber und wollen nicht mit Gewalt die alten Rechte und Privilegien der führenden Klassen wieder einsetzen. » (ibidem, p. 258); eine Rückkehr zum alten zaristischen Regime war also nicht vorgesehen. In « Zwei Jahrhunderte gemeinsam », o. c., p. 167 und 170 behauptet Solschenizyn, vielleicht etwas voreilig, weder Admiral Koltschak noch der General Wrangel hätten akzeptiert, dass ihre Truppen an Pogromen gegen die Juden teilnähmen. 41 Werth zitiert den Aufstand des « Schwarzen Adlers und des Pflügers », der die Provinzen von Kazan, Ufa und Samara in Brand steckte, die besonders brutalen Requisitionen unterzogen worden waren. 42 In « Makhno et la révolution ukrainienne », Atelier de création libertaire, 2003 (eine um einen vorher erschienen Artikel erweiterte Version erschien auf Italienisch in der Revista Storica dell’Anarchismo) bricht Ettore Cinella mit der lobhudelnden anarchistischen Behandlung der Anhänger von Machno und berichtet offen von wilden und grausamen Aktionen der Leute von Machno; er kritisiert auch den militaristischen Stil, wie zuvor schon Volin. Es bestand offenbar eine Tradition der Grausamkeit bei den russischen Bauern. Die Bauern waren gegenüber den Bolschewiki und den Polit- Kommissaren (die man für Juden hielt) erbarmungslos; immerhin hatten im Krieg zwischen den Bauern und dem Regime nicht die Bauern die Feindseligkeit eröffnet. 58 perfektionierten Modell); es wurden Geiseln genommen, die Folter eingesetzt und Massenerschiessungen durchgeführt, wobei Frauen, Kinder und Alte nicht verschont wurden. Die Straf-Abordnungen (offiziell „Ausrottungs-Abordnungen“ genannt) wurden oftmals von ehemaligen zaristischen Offizieren angeführt, die sich der bolschewistischen Macht angeschlossen hatten, in der sie ein Bollwerk gegen die Bauernhorden sahen; sie nutzten die modernen Kriegsmittel gegen die Bauern. Auf die Erhebungen und ihre Niederwerfung folgte die grosse Hungersnot von 1921-1922; sie war zum grossen Teil auf die Zwangsrequisitionen in den Feldzügen gegen das flache Land, die Brutalität der Einsammlung der Naturalsteuern 1921-1922 (Bordiga mass einer diesbezüglichen Rede von Lenin grosse Bedeutung zu) zurückzuführen. Diese Naturalsteuern schienen die von bewaffneten Truppen durchgeführten Zwangsrequisitionen zu ersetzen, unterschieden sich aber von diesen in nichts. Werth zitiert einen Freund von Lenin, dem man wohl vertrauen darf 43: 43 Man behauptet oft, Machno hätte sowohl die Roten als auch die Weissen bekämpft; das ist aber nicht ganz wahr. Machno schlug den Roten eine Allianz vor; diese nahmen an und Machno vernichtete die Armee von Wrangel. Der Anarchist Volin erzählt die Geschichte in « Die unbekannte Revolution », p. 407. Machno und seine Generäle wurden indessen von den alliierten Bolschewiki verraten, die sich über ihr gegebenes Wort hinwegsetzten. Machno konnte fliehen, seine Generäle wurden erschossen. Für die Bolschewiki, Verehrer von Netschajew, gab es keine Ehre und kein Ehrenwort, das man einem Klassengegner gab. Folglich keine Moral. Gegen den Feind ist alles erlaubt. So durfte man den Alliierten von gestern getrost verraten, man musste ihn - Bauer oder Arbeiter - bloss zum Konterrevolutionär oder Kulaken, Sozial-Revolutionär oder Menschewik erklären. Volin anerkennt, dass es Wrangel gelungen war, sich die Sympathien des bäuerlichen Volkes zu gewinnen. Wenn Volin nicht den Hass der Bolschewiki für das Leben und die Welt der Bauern hegt, so hegt er für sie aber auch keine besondere Sympathie, wie man aus der Lektüre spürt. Sie haben für ihn eine Bürgermentalität. Er erwähnt auch nicht die Obschtschina, die Werkgemeinschaft. Im zweiten Buch, 5. Teil fordert er eine eigentliche Kollektivierung der Landwirtschaft (ibidem, p. 351). Indem die Anarchisten die Machno-Armee in den Himmel erhoben, kaschierten sie die Tatsache, dass die Gesamtheit der Bauernschaft sich gegen die bolschewistische Macht erhob. 59 „Wladimir Uljanow Lenin hatte den Mut, offen zu erklären, dass die Hungersnot viele positive Folgen habe, d. h. das Aufkommen eines Industrieproletariates, dieses Totengräbers der bürgerlichen Ordnung (. . .) Indem die zurückgebliebene bäuerliche Wirtschaft zerstört wird, so erklärte er, bringt uns die Hungersnot unserem Endziel näher, dem Sozialismus, der unmittelbar dem Kapitalismus folgenden Etappe. Die Hungersnot zerstört ebenso den Glauben an den Zar wie an Gott.“ (ibidem) 44 44 Man findet zahlreiche Texte über die Bauernerhebungen von 1921 gegen die Zwangsrequisitionen mit ihrer Zerstörung des bäuerlichen-traditionellen Dorflebens, aus libertärer Sicht, auf der britischen anarchistischen Website Libcom.org, mit Nick Heath signiert. So vor allem über die radikale, antibolschewistische anarchistische Erhebung in Samara vom Mai 1918, über die Meuterei von Fomin in der Don-Region 1920 – 1922 (Fomin war ein Kosake, ein altes Mitglied der Roten Armee), die Erhebung von Kolesnikow (ebenfalls ehemaliger Armeekommandant der Roten und Bolschewik) und über die Wahrheitsarmee 1920. Die Rote Armee entsandte einen Panzerzug und grössere Detachements von Kavallerie und Infanterie, um mit der Wahrheitsarmee ein Ende zu machen. Sapschow rief alle Arbeiter auf, gegen die in den sowjetischen Institutionen weiterhin wirkende Bourgeoisie und die Pseudokommunisten Lenin und Trotzki zu kämpfen und eine wirkliche Sowjetmacht zu errichten. Ein anderer Text legt Zeugnis über die Meuterei von Maslakow und der Machnowisten am Don ab. Maslakow, Brigade-Kommandant der Roten Armee weigerte sich, gegen die Machnowisten zu kämpfen und fraternisierte mit ihnen. Ein anderer schliesslich, « La troisième révolution ? Résistance paysanne au gouvernement bolchévicque » zieht die Bilanz der Bauernaufstände und der Verbindungen zwischen ihnen. Die Texte von Nick Heath sind vom Collectif Anarchiste de Traduction et de Scannerisation (C.A.T.S.) von Caen Ins Französische übersetzt worden ; eine gute Arbeit, nur hielten es die Übersetzer für gut, ihre Übersetzung zu feminisieren (sie sagen das selbst), so dass überall, wo auf Englisch peasants steht paysanNEs steht, z. B. « kulaks are rich peasants » heisst dann auf Französisch : « Kuoulaks sont des paysanNEs riches ». Das machen sie auch mit allen Zitaten so, etwa mit denen aus Schriften von Bakunin, der das nicht gemacht hat. Sprechen wir nicht von der Feminisierung von Titeln und Funktionen: l’auteure, la proviseure, la ministre. Dabei sind aber die Transsexuellen und Bisexuellen vergessen worden!! Diese gab es sicher auch unter den Aufständischen! Das ganze ist eine Groteske. Sogar Jacques Camatte entrichtet dieser neuen orthographischen Göttin seine Opfergabe und schreibt « des hommes et des femmes », « des travailleurs et travailleuses », « la communaute humano-féminine », « le commun des mortes et mortelles » etc., was mitunter richtig, oftmals aber absurd, ja grotesk ist. Renaud Camus bemerkt in seinem Répertoir des délicatesses du français contemporaire », p. 178, es sei General De Gaulle gewesen, der den Frauen das Frauenstimmrecht gegeben hat und sich als erster ausgesprochen an die Franzosen und Französinnen wandte, wonach die Chefs der KPF, um nicht hintennach zu stehen, von Arbeitern und Arbeiterinnen zu sprechen begannen. Camus betont, dass in der französischen Sprache der 60 Die Bolschewiki entfesselten ebenfalls die Repression gegen die religiöse Welt, die sich häufig mit der bäuerlichen vermischte 45. Diese Offensive gegen die Religion und die maskuline Titel für menschliche Funktionen auch die Frauen dieser Funktionen miteinbezieht, quasi als Neutrum, das im Französischen nicht existiert, wobei das Masculinum zum Neutrum gewählt wurde, da das Männliche gesellschaftlich eine Vorrangstellung einnimmt (eingenommen hat). Im Lateinischen, Sprache der wohl unbestritten patriarchalen Römer, gibt es ein Neutrum, ein « Zwischen » von Masculinum und Femininum. Die Sprache ist Zeugnis, sagt Camus, eines Gesellschaftszustandes, der verschwunden ist; im hier vorliegenden Fall desjenigen vor der feministischen, antirassistischen, antihomophoben Revolution. Genau das macht aber auch ihren Charme aus. Doch bis die Sprache des neuen, hypothetischen Gemeinwesens der Zukunft da ist, bleibt die bestehende Sprache das einzige Medium, über das wir verfügen, um uns verständlich zu machen und auszudrücken. Die Welt ändert sich, die Sprache mit ihr, sie ist lebendig, sie entwickelt sich, sagen die Modernisten, Revolutionäre und Dekonstrukteure; sicher, die Welt verändert sich, wir haben es gemerkt, doch muss man jede Veränderung, jede Entwicklung einfach hinnehmen ? Ist jede Veränderung an sich gut? Kann eine Evolution nicht auch eine Regression sein? Nun aber scheint uns mit besagter neuer Schreibweise eine Regression der Sprache einzutreten und mit ihr eine Regression des Denkens. Die Sprache ist auch ein Medium, sich gegen die Revolution zur Wehr zu setzen, ihr zu widerstehen, wie das Konfuzius forderte oder die imaginierten Aristokraten von Balzac in seinem Roman « Le cabinet des antiques ». Früher oder später gewöhnt man sich an die neue Sprache und man beginnt neue Ausdrücke wie ‘Homophobie’, ‘Rassismus’, ‘Negationismus’, ‘Homo-Ehe’, ‘Recht aller auf Ehe’, oder, ganz abwegig : ‘ein Homo-Pärchen’, wo man doch von zwei Schwulen sprechen müsste, oder ‘homosexuelle Elternschaft’, ‘Sexismus’, ‘Islamophobie’ anzuwenden, alles Ausdrücke, welche ein Publikum aus stundenlang sich ergiessendem Radio-Geschwätz und am Fernsehen aufnimmt, besoffen und neugierig auf News, – und selbst zu sprechen beginnt. Doch, eben, die Modernisten beteuern es: die Welt ändert sich und die Sprache mit ihr! 45 Man findet Dokumente über die Revolte von Tambow in der trotzkistisch-lambertistischen Zeitschrift « Les cahiers du mouvement ouvrier », Nr. 4, Dezember 1998. Die Dokumente über die Antanowtschina werden redlich vorgestellt, bolschewistische und solche der Aufständischen, insbesondere das Programm der „Union der Ackerbauern“ vom Dezember 1920, Flugblätter, die sich an die Arbeiter, Bauern und Soldaten der Roten Armee richten. Auf Seite 69 liest man : „Genossen im Feld ! Dass sich eure Stimme der Beleidigten und unsere in einem einzigen Aufruf vereinten: ‚Tod den Kommunisten, es lebe die allgemeine, bewaffnete Erhebung der Bauern und aller Unterdrückten gegen die unterdrückerischen Kommunisten !’ 61 Orthodoxe Kirche – die Bolschewiki fanden, zumindest anfänglich, in den russischen kirchenabtrünnigen Sekten die hartnäckigsten Gegner der Kirche – war auch ein Mittel, sich die Reichtümer dieser Kirche anzueignen46. Diese Epoche des Bürgerkriegs endete mit dem Prozess gegen die Sozial-Revolutionäre, der im Juni 1922 begann, einer Parodie eines Prozesses, der die grossen Prozesse von Moskau und, im Westen, von Nürnberg ankündigte. Die Behörden organisierten während dieses Prozesses „spontane“ Volksdemonstrationen, welche die Todesstrafe für diese „Terroristen“ forderten. Mehr noch als die N.E.P., die von Lenin dekretiert worden war, brach die grosse Hungersnot von 1922 den Schwung der Bauernschaft. Nach einem Unterbruch (ungefähr zwischen 1923 bis 1927) gelangte der Krieg des Staates, nunmehr unter der Führung von Stalin und seiner Gruppe, gegen die Bauernschaft 1927 zum Schlussakt: die kleinen Eigentümer wurden durch die (nur ironisch so zu verstehende, wenn auch durchaus „radikale“) „antikapitalistische Revolution“ beseitigt. Dieser zweite Angriff der russischen Marxisten auf die Bauern ihres Wir Bauern haben das getan und die Waffen ergriffen. Die heuchlerischen Kommunisten nennen uns Banditen und möchten uns so in den Augen unserer Brüder entehren und das Volk aufwiegeln, gegen uns zu kämpfen. Glaubt diesen verleumderischen Halunken nicht, sie lügen schamlos und gewissenlos, wie ein Jüdchen, um eine Kopeke zu ergattern. Wir sind keine Banditen, sondern das bewaffnete Volk im Aufstand, die revolutionäre Armee. Deshalb richten wir uns an euch, ihr Genossen im Feld. Senkt ohne zu zögern die Bajonette zu Mutter Erde, schliesst euch uns an, wie das schon viele von euch gemacht haben. Wir nehmen euch wie Brüder auf, wie ihr wollt könnt ihr euch bei uns einreihen oder zu euren Feldern und Herden zurückkehren, wo euch eure Väter und Mütter traurig und ermattet erwarten. Kehrt zu euren Familien zurück, solange die Kommunisten sie nicht aufgelöst und wie Vogelnester zerrissen haben.“ 46 « Die Arbeiter haben den Kontakt mit den einkasernierten Soldaten aufgenommen (. . .) Wir erwarten immer die Verstärkung durch Truppen, die wir aus Novgorod angefordert haben. Wenn keine sicheren Truppen in den kommenden Stunden eintreffen, werden wir überwältigt. » (Telegramm von Sinowjew, Chef der bolschewistischen Organisation von Petersburg an Lenin vom 26. Februar 1921, zitiert von Werth, ibidem, p. 128. 62 Landes traf nunmehr auf einen viel zerbrechlicheren Gegner47. Dieser Angriff wurde von der Forderung nach Erhöhung der Requisitionen vom Land durch Stalin eingeleitet. Stalin sollte die von Lenin begonnene Arbeit beenden, ja radikalisieren, indem er das Programm der Linken unter Trotzki und Preobraschenski aufnahm. Der Albtraum sollte wieder beginnen. Die Kampagne der Kollektivierung implizierte Deportationen, Internierungen in Konzentrationslager, Massaker und natürlich wieder eine grosse Hungersnot, diejenige von 1932-1933. In der Ukraine, in Kasachstan, im Nordkaukasus und in der russischen Gegend der Unteren Wolga führte sie zu mehreren Millionen Todesopfern, aber auch in Sibirien, im Ural und in andern Gegenden starben Zehntausende, ja Hunderttausende von Menschen an Hunger. Auch diese Hungerkatastrophe wurde weidlich eingesetzt, den Widerstand der Bauern zu brechen. Werth zögert nicht, anzunehmen, dass diese Hungersnot bewusst angezettelt worden ist, auf jeden Fall war sie allein durch die Landwirtschaftspolitik (oder besser: -gegenpolitik) des russischen Staates verschuldet48 49. Anstrengungen, um die Zwangskollektivierung und ‚Entkulakisierung’ durchzuführen, waren (wie zuvor anlässlich der Zwangsrequirierungen) Anlass zu einer neuen Entfesselung von Gewalt. Die Politik der so genannten Entkulakisierung (d. h. der Vernichtung der bäuerlichen Elite) bot dem Bodensatz der ländlichen Gesellschaft den 47 Der Tagesbefehl Nr. 171 vom 11. Juni 1921, signiert von Antonow Owseenko und Tuchatschewski, lautete: « 1. Jeden Bürger, der seinen Namen anzugeben sich weigert, erschiessen. (. . .) 3. Im Falle dass versteckte Waffen gefunden werden, soll der Älteste der Familie an Ort und Stelle erschossen werden. (. . .) 5. die Familien, die Mitglieder oder Güter der Familie verstecken, sind als Banditen zu betrachten und ohne Gerichtsverfahren soll ihr Ältester an Ort und Stelle erschossen werden. (. . .) 7. Dieser Befehl ist streng und erbarmungslos durchzuführen. » (von Werth zitiert, ibidem, p. 132) 48 A. Beliakow, „Iunost vozdia“, („Die Jugend des Führers“), 1960 erschienen. 49 Lenin bewunderte Netschajew seines Antimoralismus’ wegen. Er erklärte 1919 in einer Rede an die Jungkommunisten: « Wir glauben an keine ewige Moral und verwerfen den Trug der Feenmärchen über die Moral. » (zitiert von Wolkogonow, « Le vrai Lénine », o. c., p. 242. Wir haben diese Rede in unseren 36 Bänden der sogenannten gesammelten Werke des Fremdsprachendienstes in Moskau von Lenin nicht finden können. Auf jeden Fall ist dieser Fluch über die Moral keinesfalls überraschend und steht in vollständigem Einklang mit anderen Schriften und berichteten Aussagen. 63 Vorwand für die Begleichung alter Rechnungen mit Vergewaltigung, Folter und unbegrenzter Plünderung. Mit dem Krieg gegen die Bauern fing der Krieg gegen die Mönche, Popen, Klöster und Kirche im Namen eines militanten Atheismus, welchen Bulgakow in „Der Meister und Margerita“ lächerlich machte, von neuem an; erneut stand die Religionsfrage im Vordergrund. Der Terror setzte wieder ein50. Nach Werth wären damals 250 000 Personen bei den Deportationen der Jahre 1932-1933 gestorben. Werth unterscheidet verschiedene Deportationswellen. Die erste um 1930 fand unter dantesken Verhältnissen statt: Die Deportierten blieben oft ihrem Schicksal überlassen, da nichts für ihre Logierung und Verpflegung, ja nicht einmal für ihren Arbeitseinsatz vorgesehen war. In den folgenden Jahren wurden die Deportierten ökonomisch unter Verhältnissen ausgebeutet, welche die englischen workhouses Mitte der ersten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts als Luxushotels erscheinen lassen (Arbeitstage von 12 Stunden ohne Lohn, Einsatz schwangerer Frauen und von Kindern etc.) Werth spricht von einer Todesrate von 10 bis 15 % unter den Deportierten. Erneut gab es grosse Aufstände von Bauern gegen die Sowjetpolitik in den Dreissigerjahren, insbesondere in der Ukraine, sie führten aber nicht mehr zu den eigentlichen Kriegen wie 1920-1921. Die Bauern forderten: Beendigung der Entkulakisierung, Handelsfreiheit (eines Handels, der wie gesagt ganz lokalen Zuschnitts war, wenn es auch sicher gewisse Bauern gab, die sich im Handel mit dem Staat bereichern wollten), zudem wurden nationalistische Forderungen in der Ukraine, eine der Hauptzonen des Widerstandes gegen den Bolschewismus, erhoben. Die Führer der Sowjetunion, Stalin und seine Leute, insbesondere Molotow und Kaganowitsch, sind für die schrecklichen Hungersnöte von 1932-1933 verantwortlich; sie beschuldigten aber die Bauern, daran schuldig zu sein, und so gingen die Deportationen 50 Nicht ohne ein gewisses Unbehagen liest man die Artikel von Bordiga, in denen er den Russen vorwirft, nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Christentum Frieden geschlossen und den militanten Atheismus von Lenin und der Bolschewiki aufgegeben zu haben, etwa bei der Lektüre von „ Alleluja, tutti quanti in Vaticano „, „ il programma comunista“, Nr. 8, 9.-23. Mai 1966, in „ Invariance“ übersetzt im Spezialband von „Invariance“ (Bordiga – textes, 2, Juni 1995), wo man doch die schrecklichen Verfolgungen kannte, welche die Christen im bolschewistischen Russland über sich ergehen lassen mussten. Dasselbe gilt bezüglich Bemerkungen von Bordiga über das Zurückweichen von Stalin und Chruschtschow vor der Bauernschaft. 64 trotz der Hungersnot fröhlich weiter. Stalin und Umgebung waren besessen vom Export von Überschuss-Getreide, um auf dem Weltmarkt zu Devisen zu kommen, womit man im Westen bei den kapitalistischen Firmen Maschinen, Werkzeug und Metalle kaufen konnte, woran es in der Sowjetunion grausam mangelte. Graziosi bemerkt, dass das Russland von Stalin am Rand des Abgrunds vorbeiwirtschaftete und dass Hitler 1933 Russland rettete, indem er Konzessionen bezüglich der Rückzahlung von Krediten machte, welche Deutschland Russland 1931 gewährt hatte51. Der Grosse Terror war auch der Grund einer beträchtlichen Landflucht in die Städte und damit gleichzeitig einer Proletarisierung grosser Massen; die Bauern liessen sich in Elendsbehausungen nieder, um dem Horror der Repression auf dem Land zu entkommen 52. Nicolas Werth zeigt, dass der Krieg gegen die Bauern in seinen verschiedenen Phasen an höchster Stelle entschieden und geplant worden ist, von den Spitzen von 51 Der Patriarch der Orthodoxen Kirche Tichon hatte sich geweigert, für die Weissen Partei zu ergreifen, blieb also während des Bürgerkrieges neutral. Als die Bolschewiki Güter des Klerus zu konfiszieren begannen, protestierte er. Am 19. März 1922 schrieb Lenin einen Brief an Molotow, der im Politbüro verlesen werden sollte. Wolkogonow zitiert daraus lange Passagen p. 343-344 : « Angesichts von Ausgehungerten, die sich von Menschenfleisch ernähren, von Strassen, die von Hunderten, ja Tausenden von Toten übersät sind, ist es jetzt und gerade jetzt, dass wir die Güter der Kirche mit entschlossener, unerbittlicher Energie einziehen müssen . . . Wir können uns damit einen Schatz verschaffen, der nach mehreren Hundert Millionen Gold-Rubeln zählt. » Er schliesst an, es sei « eine Operation von einer Entschlossenheit vonnöten, an die sich die Kirche noch in Jahrzehnten erinnern wird. » Je mehr Mitglieder des reaktionären Klerus und der reaktionären Bourgeoisie man erschiesse, desto besser. Es wurden Spezialkommissionen geschaffen, welche sich dem Kampf gegen den Klerus und die Religion in allen Regionen Russlands widmen sollten. Man würde darauf achten, dass, nach den Worten des Politbüros (vom März 1922), « die ethnische Zusammensetzung dieser offiziellen Kommissionen nicht Angriffspunkt für nationalistische Propaganda bieten würde », was im Klartext hiess, der Anteil der Juden in den Kommissionen sollte gering gehalten bleiben. So war Trotzki nie Mitglied des Zentralkomitees gegen Klerus und Religion. 52 Dieser Krieg ist durch die täglichen Rapporte der Beamten des G.P.U. bekannt, ohne diejenigen der lokalen Sekretäre an das Zentralkomitee der Partei mitzuzählen. 65 Partei und Tscheka, G. P. U. und N.K.W.D.53, Er widerspricht also der These von Gabor Rittersporn54, die er in seinem Buch „Simplifications staliniennes et complications 53 Stalin benutzte den Hunger gegen die ukrainischen Bauern und auch gegen den ukrainischen, damals noch starken Nationalismus. Mit Hunger wurden Regionen gebüsst, wo die bolschewistische Politik den grössten Widerstand antraf. Als guter Marxist liebte Stalin den Nationalismus nicht, keinen Nationalismus, sei er jüdisch, ukrainisch, armenisch oder selbst georgisch. Er schrieb 1913, vielleicht unter der Ägide von Lenin, der ihn den wunderbaren Georgier nannte, gegen die Leute vom „Bund“, AustroMarxisten, die kaukasischen Separatisten und Menschewiki eine Serie von Artikeln, die unter dem Titel « Der Marxismus und die Nationen-Frage » zusammengefasst wurden. [. . .] 54 Im « Schwarzbuch Kommunismus » ist ein langer Artikel von Jean-Louis Margolin China (ebenfalls ein Land mit langer, extrem gewalttätiger Tradition von Despotismus und Grausamkeit) und dem chinesischen Marxismus gewidmet. Mit nicht unerheblichen Varianten war China Schauplatz desselben Krieges gegen die Bauern, durch die für notwendig erachtete schnelle Industrialisierung des Landes motiviert. China hatte 1959 bis 1961 seine Hungersnot, von den Opferzahlen her viel grösser als die Hungersnot in Russland 1932-1933. Es war zweifellos die grösste Hungersnot, die es je auf der Erde gegeben hat. Mehrere Dutzend Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Siehe Yang Jisheng, in « Stèles. La grande famine en Chine, 1958 – 1961 », 2012. Dieses Buch zieht über den Grossen Sprung nach vorn Bilanz, spricht von 60 Millionen Toten. Auch diese Hungersnot ist durch die irrsinnige Politik der Zwangskollektivierung (hier von Mao) bedingt. Der Grosse Sprung nach vorn ab dem Jahr 1958 hatte katastrophale Folgen – und der Grosse Steuermann, von den Nachachtundsechziger-Revolutionären so verehrt, anerkannte nie den Irrtum seiner Politik oder machte ihn rückgängig ! Bordiga legitimierte die chinesische Revolution, indem er sie zur bürgerlichen erklärte. Die Partei sollte ihre Autonomie bewahren und zur Führung bereit sein, sobald jene in eine proletarische Revolution überginge. Wie in Russland während der Hungersnot, als es zu Kannibalismus kam, war die Kollektivierung von unvorstellbarem Grauen begleitet. Die Repression machte nicht vor den ausgehungerten Bauern halt (die Mortalität erreichte gewissenorts 50% der Bevölkerung) Mao tse tung und die marxistischen Ideologen hatten vor, die Familie, das bäuerliche Kleineigentum und die alte Bauernschaft abzuschaffen. Um die Städte zu ernähren, hungerte man das Land aus. Die Politik des Grossen Sprunges wurde angehalten, die Politik der Proletarisierung, Enteignung der Bauern und Zerstörung des Kleineigentums an Boden ging aber weiter. Wie Petrus Agricola im Rivarol vom 7. Dezember 2012 anmerkt (Artikelüberschrift: « Diese chinesische Landwirtschaft könnte endlich Malthus recht geben ») geht China direkt von der kleinen Viehzucht mit 5, 6 Tieren zu Riesenmastbetrieben amerikanischen Zuschnitts über (Lenins Traum!): 1000 Tiere und mehr. Die Folgen der Proletarisierung mit ihren (Neben-) Effekten: Verstädterung, Naturzerstörung, Überbevölkerung, Versiegelung der Böden, Vergiftung der landwirtschaftlichen Böden durch Chemie sind enorm. Das Land der ewigen Unbeweglichkeit 66 soviétiques, tensions sociales et conflits politiques en URSS 1933-1953“, éd. Des archives contemporaines, 1991, verfasste, denen gemäss die Terrorkampagnen das Resultat verschiedener lokaler Initiativen und keineswegs koordiniert gewesen seien55. setzt sich in Bewegung (der Traum von Marx, siehe seine Artikel von 1853 – 1859 in der „N.Y. Daily Tribune“. Hier sprach er von China als einem « lebenden Fossil » und träumte für dieses Land von einer bürgerlichen industriellen Revolution. Mit China verschwindet ein Element der Stabilität und des Gleichgewichts auf der Erde, mit all den Folgen daraus für Mensch und Natur. Seit 2011 lebt mehr als einer von zwei Chinesen in der Stadt (690 Millionen Einwohner in Städten, 94 Städte mit über einer Million Einwohnern, 2025 sollen es 143 sein). Li Kequin, Nr. 2 des Regimes, erklärte, die Verstädterung sei der wesentliche Motor des Wachstums. Die Chinesen schrecken für ihre pharaonischen Bauten nicht vor der Entfernung von kleinen Gebirgen zurück, von einer Armee von Bulldozern gigantischer Ausmasse durchgeführt. Eines ist im Roman „Die Hayduken“ von Edward Abbey abgebildet. Alle Gleichgewichte der Welt werden ausgehebelt. Es ist natürlich wahr, dass eine alte Tradition des Kampfes gegen die Natur in China besteht; nun kommt sie wieder zum Zuge. In China fand eine Enteignung von Millionen von Bauern in wenigen Jahrzehnten statt, wofür der Westen Jahrhunderte gebraucht hatte; daher die extrem grausamen und ungeheuerlichen Methoden. Es bedurfte der Marxisten zur Durchführung der ursprünglichen Akkumulation von Kapital und der Trennung der Bauern von ihrem Boden und ihrer Tradition. Zur Legitimation dieses Geschehens im Namen des kommunistischen Glücks der Menschheit war der Marxismus privilegiert. Zu China siehe auch den interessanten Artikel von Flora Montcorbier, „Chine. Les habits neufs du capitalisme mondial“, in „Elements“, der von Alain de Benoit herausgegebenen Zeitschrift, Nr. 140, Juli-September 2011. Mao tse tung setzte die Jugend im Kampf gegen seine reaktionären Gegner ein: die Roten Garden in der Kulturrevolution. Etwas Ähnliches ist auch in den USA und in Europa geschehen: Die linke Jugend war die Speerspitze der revolutionären Offensive des Kapitals und kämpfte für Modernisierung, Freiheit, gegen die reaktionären Überbleibsel der Tradition in der kapitalistischen Gesellschaft. Und ist die subversive revolutionäre Jugendbewegung nicht direkt ein Produkt der kapitalistischen Kräfte gewesen, so wurde sie auf jeden Fall von diesen benutzt. Doch könnte man diese Bemerkung auf die ganze revolutionäre kommunistische Strömung ausdehnen. „Wer immer dieses Buch ernst nimmt, wird sofort niedergeschlagen. Wer immer es nicht ernst nimmt, wird lebendig von einem Mitsubishi-Bulldozer begraben.“(„Hayduke Lives“, Edward Abbey, franz. Ausgabe p. 9) 55 Der Grosse Terror im eigentlichen Sinne ist die Periode zwischen 1936 und 1938, die iejowsche, nach Nikolai Iejow, der als Chef des N.K.W.D. Iagoda ersetzte, der von Stalin exekutiert wurde. Auf ihn sollte Beria folgen. Der Grosse Terror war vor allem gegen die Bauern gerichtet; sie waren die Opfer. 67 Wir neigen in dieser Frage Werth zu. Werth diskutiert auch die Zahl der Toten, die von den verschiedenen Autoren vorgebracht werden, die über dieses Thema schrieben (darunter Rittersporn). Er korrigiert die Zahlen, die Robert Conquest in „La Grande Terreur“ und Alexander Solschenizin, je nach Werk zudem variierend, angeben, nach unten, was den Wert dieser erwähnten Werke nicht schmälert. Er spricht von „ziemlichen Überschätzungen“, (ibidem). Übersieht man diesen deliranten Albtraum, welcher die Russische Revolution war, den Wahnsinn von Krieg, welchen die Bolschewiki gegen die Bauernschaft führten, dann kommen einem die Kritiken von A. Bordiga am Bolschewismus schlichtweg schwach, lächerlich, ja schändlich vor 56 (Kritik am Parlamentarismus, an der Einheitsfront, an der Arbeiterregierung etc.). Das gilt auch für die Kritik am Stalinismus. Man ist baff und entsetzt, liest man diese Hauptkritiken an den Stalinisten, welche die kommunistische Linke, daraunter Bordiga und seine Freunde, schrieben, etwa: Die KP der SU habe vor den Bauern die Waffen gestreckt und sich ihrem Diktat gebeugt oder ihnen zumindest Zugeständnisse gemacht! 57 Man kann sich nur fragen: Wie konnte man einen solchen 56 Eine makabere Ironie will es, dass die bolschewistische Partei, als sie auf dem Höhepunkt des Ausrottungsfeldzuges gegen die Bauern des Landes stand, fortfuhr, sich als Erbin von Stenka Razine und von Pugatschew darzustellen, die beiden Anführer der Bauernrevolten in Russland, und Studien zu den Bauernkriegen, etwa zur Darstellung des deutschen Bauernkrieges von Engels, zu veröffentlichen. 57 Der Krieg gegen die Bauern und ihre Welt ging im Westen nach 1945 weiter (auch dies war ein Ziel der beiden Weltkriege: die Beseitigung der alten Bauernschaft zur ungehinderten Mechanisierung und Chemisierung der Landwirtschaft). Gleichzeitig verschuldete sich die Landwirtschaft mit Hypotheken, was die Machtübernahme der Finanz bedeutete. Kulturell wurden die Bauern zum städtischen Leben mit seinem Konsum umerzogen. Die Böden werden seither betoniert, vergiftet und erodieren im grossen Stil; die Landschaft hat sich entvölkert, man spricht von Landwirtschaftswüste. Neuerdings ist Land gerade gut genug für Deponien, „Entsorgungen“ (ein anderes Wort des New Speech!). Petrus Agricola in Rivarol vom 25. November 2011: „Seit Jahren denunzieren wir hier die Umwandlung unserer Landschaften in Deponien der Städte, welche von einer überbordenden Immigration überlaufen werden. In den letzten 10 Jahren ist die Fläche durch Autobahnen, Urbanisation, TGV etc. zerstörter bester Alluvialböden [in Frankreich] von 50 000 auf 80 000 Hektaren gestiegen.“ Die Lebensweise der Vorfahren war statisch und soll schwinden. So siedelt man mehr und mehr Immigranten auch auf dem Lande an, welche in der Megalopolis keinen Platz mehr finden. Diese Massen 68 Horror und seine Veranstalter beweihräuchern? (Es handelt sich hier auch um eine Selbstkritik des Autors dieser Linien.) 58 59 60. Es scheint uns zudem wichtig zu bemerken, dass die Bolschewiki Grauen und Ungeheuerlichkeiten produzierten, dass aber schon ihr Programm, der Marxismus mit seiner Industrialisierung, Modernisierung und Proletarisierung, eine Ungeheuerlichkeit darstellt; die Massaker in Russland waren darin können von einer schon ruinierten Landbevölkerung nicht mehr integriert werden. So erscheinen Islam und v. a. der Buddhismus als das Heil für die Europäer, welche die Leere des Konsumismus, den Hedonismus, das liberale nachkonziliäre Christentum ablehnen, welche für sie sinnlos geworden sind. Sie suchen eine Spiritualität, sind aber zu keiner persönlichen Suche, einer tieferen Reflexion mehr fähig, da sie von Demokratie, Drogen und Bildschirm korrumpiert sind. 58 Ja, der Krieg gegen die Bauern hat nicht nur nicht aufgehört, er hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg intensiviert. So in der Fünften Republik unter General de Gaulle, der ein tätiger Verfechter der Urbanisierung und Entländlichung von Frankreich war. Heute haben wir die EU mit ihrer Landwirtschaftspolitik. 90 % der Bauern in Frankreich sind seit dem Zweiten Weltkrieg von ihren Höfen vertrieben worden. Die traditionelle Landwirtschaft ist in eine agrochemische bzw. biologische umgewandelt worden. 59 Rittersporn ist ein ungarischer Jude. Er hat Position für die Thesen der Revisionisten genommen, leugnet also die Existenz von Gaskammern in den deutschen Lagern, genauer, er behauptet, dass es keine Beweise dafür gibt. Wenn Werth den Mythos der revolutionären Bolschewiki zerstört, so scheint er für bare Münze zu nehmen, was über all die national-sozialistischen Gräuel erzählt wird, vielleicht, um der zionistenfreundlichen Haltung von Stéphane Courtois zu entsprechen. 60 Dasselbe war auch bei der Exekution der Herrscherfamilie der Fall (mit dem Prinzen Alexis, 13 Jahre alt, und seinen vier jüngeren Schwestern). Der Hinrichtungsbefehl soll von Lenin gekommen sein; auf jeden Fall begrüsste Lenin die Hinrichtung. Die feigen Exekuteure hätten nur ausgeführt, was ihnen von oben befohlen worden sei. In „La maladie infantile, condamnation des futurs renégats“, o. c., p. 16, rechtfertigt Bordiga die Unterdrückung der Zarenfamilie, worunter auch ihrer Kinder (was heute noch « Gejammer hervorrufe »), infolge des Erbschaftsprinzips, woraus aus den Zarenkindern eine künftige neue Zarendynastie hätte entspringen können. 69 schon weitgehend vorprogrammiert 61. Als die Arbeiterklassen der verschiedenen Länder sich alle dem Burgfrieden ihrer jeweiligen Länder anschlossen, sahen die marxistischen Revolutionäre und Kommunisten ihre Perspektive, ja sogar ihre Vision für die Welt schwinden. Die Oktoberrevolution erlaubte es ihnen, sie weiterhin aufrechtzuerhalten (Bordiga stellt in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme dar, denn er erklärte, dass selbst ohne Sieg der Revolution in Russland die marxistische proletarische Perspektive weiterhin gültig bliebe): das Proletariat und die Arbeiterklasse blieben weiterhin revolutionär, wenn es sich auch in Russland um eine Revolution handelte, welche nicht den Kapitalismus, sondern die Hindernisse für seine Entwicklung beseitigte. Daher wurde hartnäckig der Mythos der siegreichen Russischen Revolution verteidigt, des einzigen Beispieles einer siegreichen kommunistischen Revolution in der Geschichte (dasselbe gilt für den Mythos vom Spanischen Bürgerkrieg für die Anarchisten). Bordiga erkannte das 1954 in „Russie et la révolution dans la théorie marxiste“. In dieser Schrift macht sich Bordiga zum advocatus diaboli und erklärt, dass das Proletariat nur im bürgerlichen Sinne revolutionär gewesen sei, im Kampf gegen den Feudalismus. Nun, diese Revolution war effektiv proletarisch in dem Sinne, dass sie die grosse russische Bevölkerung proletarisierte. Die Revolutionäre waren und sind noch immer die fanatischsten Verteidiger des antifaschistischen Mythos und des Zweiten Weltkrieges, gleichermassen wie des Mythos von der Oktoberrevolution. Wenn Bordiga und seine Strömung bezüglich des antifaschistischen Mythos eine schöne Ausnahme bildete – er denunzierte ihn von seiner Entstehung an, als Sinowjew 1922 forderte, die kommunistischen Parteien sollten die 61 Gorter, linker Kritiker von Lenin, eingefleischter „Proletarier“, war seinerseits auch ein Feind der Bauern und ihrer Welt. Doch gibt es bei Philippe Bourrinet eine Fussnote, worin anekdotisch erwähnt wird, Gorter, der aus begüterter, besserer Gesellschaft stammte, sei zwar ideell ein Freund des Proletariates gewesen, praktisch habe der gebildete Mann aber die Proleten in Fleisch und Blut eher gescheut. Siehe „La Gauche communiste“ des „Courant Communiste International“, 1990, p. 33. 70 Demokratien im Namen der Freiheit verteidigen62 - so erwiese er sich andererseits als der fanatischste Verteidiger des Mythos vom revolutionären Proletariat63. 62 1964 schrieb Bordiga zur Beseitigung von Chruschtschow, es sei eine Konzession an die Kolchosier gewesen. Das war nicht ganz falsch, erklärt das Ende Chruschtschows aber nicht ganz; diesem war es v. a. nicht wie versprochen gelungen, die USA wirtschaftlich einzuholen. Bordiga hat die Kolchose lang und breit studiert (in „Structure économique et sociale de la Russie d’aujourd’hui“, v. a. Paragraph 13 des zweiten Teiles [. . .].) er zeigt die Doppelnatur, ja Dreifachnatur des Kolchosbauern auf, der Kolchosangestellter, Lohnarbeiter, kapitalistischer Unternehmer und Grundeigentümer in einem ist (die Kollektivform entspricht also nicht einer Vergesellschaftung), daneben auch kleiner Bauer mit Privatgrund (und auch hier Direktproduzent, Unternehmer und kleinbürgerlicher Selbstausbeuter, Lohnarbeiter von sich selbst). Bordiga hebt nicht klar hervor, was den Unterschied unter den Kolchosen selbst bildet: dass es nämlich reiche und arme gab, wie es auch innerhalb der Kolchosen grosse Einkommensunterschiede gab. Bordiga nennt das kleine Grundeigentum des Familien-Bauern eine molekuläre Wirtschaftsform, die verachtenswert sei, da asozial in ihrer Fragmentiertheit und Selbstgenügsamkeit, obwohl mit modernbürgerlichen Unternehmenselementen angereichert. Für Bordiga ist kleinbäuerliches Eigentum eine Stütze der Reaktion (siehe dazu den Rechenschaftsbericht von Ravenna, Paragraph „Unternehmen und Familie“): Religion und Priester, Patriotismus und Armee, Boden und Rassedenken gründen in dieser hybriden Wirtschaftsform. Die religiöse Mythologie wird gestützt, wo Produktion und Konsum unmittelbare Einheit sind. Aus diesem Bauerntum entspringen Bürger und Unternehmer, also Personen mit Mitteln und nicht mittellos wie Proletarier. Für diese Bauernkinder zählen Familie, Vaterland und Religion noch: das Schlimmste für einen Marxisten. Natürlich weiss Bordiga, dass der Kapitalismus sein Gravitätszentrum in der hochzentrierten Industrie hat, greift aber eben den molekulären Kapitalismus der Bauernschaft an, der seiner Ansicht nach mit dem Industriekapital liiert ist. Bordiga schreibt im besagten Rechenschaftsbericht, dass die Kolchose eine wirtschaftliche Fragmentation darstellt, die aus den Mitgliedern der Kolchose entschlossene politische Verteidiger der bestehenden Ordnung macht, welche die „brennenden und flüssigen“ Massen der Städte in „kalte Gelatine“ verwandelt. Bordiga hätte eben gerne die totale Enteignung der Bauernschaft gesehen, die integrale Proletarisierung, also ausschliesslich Sowchosen. Wie alle Marxisten hasste Bordiga die kleine, „ineffiziente“ Kleinbauernwirtschaft und verherrlichte die assoziierte Arbeit, die grandiose Errungenschaft des Kapitalismus, worauf nicht zurückzukommen ist. Bordiga vergleicht die Ökonomie der russischen Kleinbauernwirtschaft mit der Wirtschaft eines USFarmers, der Eigentümer von Haus und der ganzen Ausstattung ist, welche das moderne Leben ausmachen: TV, Waschmaschine, Kühlschrank, Auto; doch Bordiga hat noch nichts gesehen! Auf Kredit natürlich. Bordiga macht sich über diese kapitalistische Zivilisation lustig, doch vor allem, weil sie die Klassengrenzen aufweicht; wie sollte nämlich ein Proletarier noch auszumachen sein, der all diesen Konsum ebenfalls teilt? Schon Rühle hatte sich diese Frage gestellt. Bordiga macht sich lustig: über den Kreditkauf, 71 Bordiga war in der Kommunistischen Internationalen und in der ganzen internationalen revolutionären Bewegung bekannt und respektiert als jemand, der immer die Wahrheit sagte (Stalin wiederholte mehrfach, dass er den italienischen Kommunisten respektierte). Das betonte er 1961 auch selbst: „Ich habe gesagt, dass ich als jemand bekannt war, der immer die Wahrheit sagte, ohne mich den Gehörigkeiten des Augenblickes zu beugen“, fügte dann aber etwas an, das uns doch nachhaltig beunruhigt: „Wenn es vorteilhaft gewesen wäre, Lügen zu erzählen, um die Revolution zu fördern, so hätte ich sie erzählt.“ 64 die Verlockung der Werbung, über den Volkskapitalismus auf der Basis von Volksaktien, über das moderne Leben auf der Basis der Konserve und der tiefgekühlten Mahlzeiten, die man per Telefonanruf zugestellt erhält, da die Frauen ebenfalls Geld verdienen und nicht mehr kochen können, über ein Leben, das Bettler und Sozialfälle, bis über die Ohren Verschuldete, Besitzer grosser Autos und Fernsehzuschauer schafft. Dagegen der russische Kleinbauer auf seinem kleinen Stück Land, in seinem selbstgebauten Häuschen, der seine Nahrung, ja Kleider selbst herstellt und keines Fernsehapparates bedarf, um die Freizeit zu verbringen. Und was mit dem Industrieproletariat?. Bordiga wusste wohl, dass die Klassenunterschiede verschwinden konnten, doch erwartete er die grosse Krise und die Neuverteilung, welche die Proleten auch wieder enteignen, ihre Reserven verdampfen würde. Das sollte wieder die Klassenpolarität herstellen. Doch vergessen wir nicht, dass Bordiga einer der seltenen orthodoxen Marxisten war, der zwei Übel der Moderne scharf kritisierte: die Verstädterung und die Übervölkerung. 63 Wie nach der Untersuchung der psychoanalytischen Revolution; wie hatte man sich bei dieser Scharlatanerie so für ihr Genie erwärmen können? Ursache so vieler Dramen und Leiden! Die Menschen scheinen keine andere Alternative zu (oft recht relativer) Bedrückung und Unterdrückung zu finden als Auflösung, Überschreitung und Lächerlichmachen der Lehrsätze (Voltaire ist so verfahren). 64 Im Kapitel mit der Überschrift „Warum?“, welches das „Schwarzbuch Kommunismus“ abschliesst, bringt S. Courtois einige mögliche Gründe für den Horror, den die Russische Revolution darstellt, vor, insbesondere die allen gesellschaftlichen Gruppen Russlands inhärente Gewaltsamkeit (die historische, gesellschaftliche, geographische, ethnische, klimatische etc. Gründe hat), den schrecklichen Krieg von 1914-1918, der in den Köpfen der bolschewistischen Revolutionäre die Idee der Revolution als eines Bürgerkrieges erzeugt habe (doch hatte kein Bolschewik diesen Krieg selbst mitgemacht). Courtois scheint Marx, wie vor ihm Baynac und Kautsky, von jeder Schuld für diesen Horror freizusprechen, welche die Bolschewiki veranstaltet haben, dafür soll Netschajew herhalten, den Lenin bewunderte. Courtois zitiert auf p. 807 Kautsky, Verteidiger der Demokratie, der 1918 („La dictaturer du prolétariat“, p. 255) schrieb: „Was da drüben geschieht, ist nicht die erste sozialistische, sondern die letzte 72 Wenig zuvor hatte er eine Anspielung auf die antibolschewistische Revolte von Kronstadt gemacht; er sprach von „Funken ausser Kontrolle innerhalb der gigantischen Konfrontation zwischen Produktionsweisen“; Zuhörer und Leser erfahren da nichts Weiteres. Man kann also für die Sache der Revolution lügen, genau wie schon Netschajew und Lenin das sagten (ja man kann sogar sein Wort brechen, doch Bordiga geht nicht so weit, anders als die Bolschewiki, die sich nicht genierten, das zu tun 65). bürgerliche Revolution.“ Sicher, man kann dagegen aber anführen, dass es richtiger gewesen wäre, von einer kapitalistischen Revolution zu sprechen (letztlich ist eine kapitalistische Revolution schnell antibürgerlich!); zudem war das nicht die letzte Revolution, denn das Kapital ist die permanente Revolution. Courtois erinnert, nach Werth, dass während des Bürgerkrieges Grausamkeiten ohne Namen auf beiden Seiten begangen wurden (man kreuzigte, pfählte, häutete bei lebendigem Leibe, verbrannte lebendig), dass aber nur die Bolschewiki den Terror guthiessen und für sich forderten (sie waren weniger heuchlerisch als die Kapitalisten, sagte wohl Bordiga). 65 In seinem Artikel von 1968: „Nota elementare sugli studenti ed il marxismo autentico di sinistra“ (in: „il programma comunista“, Nr. 8, 1-15. Mai 1968) kommt Bordiga auf seine Jugend zu sprechen und nennt dabei den „übergrossen Trotzki“ und die „grossartige Opposition von Trotzki“ gegenüber Stalin (worin „grossartig“? das sagt Bordiga nicht). Wir ergreifen die Gelegenheit, um auf die Ungerechtigkeit dieses erwähnten Artikels von Bordiga zu weisen. Bordiga greift die Studenten an, die zu revoltieren begannen und vergleicht sie mit den Studenten, welche 1915 für den Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten Frankreichs demonstrierten. Da steckt böser Wille dahinter, denn einer der Auslöser der grundsätzlich friedlichen Protestwelle der Jugend im Westen war der Vietnamkrieg; dies mindestens so sehr wie die Forderung nach sexueller Freiheit, welche Bordiga zu recht kritisierte, die aber nicht lächerlich zu machen war (wenn auch D. Cohn-Bendit grotesk daneben griff, als er einen gaullistischen Minister, Missoffe, zum National- Sozialisten erklärte, da dieser keinen Grund sah, die sexuelle Frage bei den Studenten näher zu untersuchen). Es hat etwas für sich, historische Invarianten zu untersuchen (etwa das soziale Verhalten der Studenten); man darf dabei aber nicht neue Phänomene übersehen und à tout prix versuchen, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu identifizieren, wie das Bordiga im vorliegenden Fall tat. [. . .] Die Bewegung vom Mai-Juni 1968 hinterfragte den Antifaschismus nicht. Die Wütenden von Nanterre nannten den Dekan der Universität Nazi und die Situationistische Internationale brach keineswegs mit diesem Konformismus (man denke etwa an die Durruti entgegengebrachte Verehrung). Miguel Amoros zitiert aber einen Text der Wütenden, der nie veröffentlicht worden ist: „Der Schimpf, der allen Mitgliedern der ‚Résistance’ zukommt, ist die Befreiung. Leute, welche die Gedichte von Aragon ertrugen, die Erklärungen von Thorez in Ivry, Leclerc in Indochina, die Oder-Neisse-Grenze (in Europa, wie in Palästina 73 Eine Schlussbemerkung zum Beitrag von Werth: Ein eigenes Kapitel wären die gewaltigen Zerstörungen an der wilden Natur, Folgen der russischen (und auch chinesischen und aller anderen) Revolutionen, Folgen der szientistischen und progressiven Ideologien der Führer und Akteure der besagten Revolutionen 66. Die Natur sollte gebeugt werden 67. oder Indien) und dazu noch einen General De Gaulle, bei solchen Leuten kann man sich fragen, wogegen sie denn eigentlich Widerstand leisteten.“ Diese Kritik bleibt recht schwach und liegt im Bereich der Textproduktion der Situationistischen Internationalen. Vor allem wurden die Mythen des Zweiten Weltkriegs überhaupt nicht in Frage gestellt. Die Situationistische Internationale hat auch nie mit dem Mythos vom Proletariat gebrochen, ja verteidigte ihn ganz orthodox gegenüber mehreren Theoretikern, welche ihn zurückwiesen. Die amerikanische Sektion der S.I. [. . .] hat nur eine Nummer der Zeitschrift ihres Namens herausgegeben, worin ein anonymer Artikel (in der Tat von Robert Chasse geschrieben) Marcuse kritisiert: „Ein Doktor der Spekulation“. Da finden sich richtige Beobachtungen zu Reformismen von Marcuse, doch der Autor stellt nicht die Frage: Und das Proletariat? Hat es die historische Rolle aufgegeben oder nicht? Ist der Klassenkampf am Ende? Gibt es noch eine revolutionäre Klasse? Das hätte ein tieferes Nachdenken erfordert, das den Autor selbst sicher verunsichert hätte; er hat es vorgezogen, mit Beleidigungen und Frechheiten aufzuwarten. Nicht anders übrigens auch gegenüber dem S.D.S. und dem Anarchisten Murray Bookchin („Epitaph auf den Bookchinismus“). Der Artikel weicht auch nicht von der Vergötzung der Technologie ab, (sowenig wie Marcuse) und spricht von der potenziell befreienden Dimension des Kapitalismus. Das macht verständlich, dass die Situationisten in den USA Bookchin und seiner „Ökologie“ nur verächtlich gegenübertreten konnten. Bookchin leugnete nämlich den Klassenkampf bzw. dessen Bedeutsamkeit. 66 Eine Frage stellt sich: Wenn die Bolschewiki ungeheuerliche Mittel gebraucht haben, um zu einem ungeheuerlichen Mittel zu gelangen, wäre es richtig, ungeheure Mittel, z. B. die Tötung von Menschen, für ein edles Ziel (die Beseitigung dieser alptraumhaften Welt von heute) anzuwenden? Bordiga hat dieses Problem schon diskutiert, als er von der notwendigen Diktatur sprach, um das Proletariat von seinen Giften und Drogen zu befreien; er wusste aber noch nichts vom Mobiltelefon und dem Internet. Diese Dinge sind den Menschen, insbesondere der Jugend, nicht mehr wegzunehmen. Sie empfänden das als ultimative Enteignung. 67 Die Bordigisten haben keinesfalls alle Elemente des denkerischen Werkes von Bordiga bewahrt. Sie wiederholen seine Position zum Zweiten Weltkrieg: Es gibt zwischen den zwei gegenwärtigen Lagern keine Wahl (einige seltene andere Revolutionäre sind zu demselben Schluss gekommen). Schon weniger 74 geneigt sind sie, an das Wort Bordigas erinnert zu werden: Der Sieg des national-sozialistischen Deutschland wäre für die kommunistische Revolution die beste Voraussetzung, da sie die Niederlage der kapitalistischen Zentren, die angelsächsischen Länder, die seit 1815 nie mehr eine Niederlage erlebt haben, bedeutet hätte. Dieselbe Position vertrat er auch im Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR. Über diesen machtpolitischen Aspekt hinaus ist aus den in „Sul filo del Tempo“ erschienen (nicht signierten) Artikeln von Bordiga zu spüren, dass es Bordiga auch um die ideologische Seite der Konflikte ging. Natürlich ging es um imperiale Vorherrschaft, darüber hinaus aber auch um Demokratie und Diktatur. Und da sickert der tiefe Hass Bordigas gegen die Demokratie, gegen den Parlamentarismus und tutti quanti immer wieder durch. So hätte er sich denn gefreut, die Angelsachsen wären gedemütigt worden. 75