Einführung

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EVERHARD HOLTMANN
5
Die Krise des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung
Einführung
Die Weimarer Reichsverfassung hatte die Verteilung von Macht und Zuständigkeiten zwischen
Reich, Ländern und Gemeinden in einer Weise geregelt, die im Verhältnis zwischen diesen drei
Gebietskörperschaften von Beginn an Spannungen und Konflikte erzeugte. Die Strukturmängel
und die Reformbedürftigkeit dieses "labilen Föderalismus" (Richard Thoma) der Weimarer
Verfassungskonstruktion traten bald deutlich zutage. Schon der territoriale Zuschnitt der neuen
(alten) Länder war extrem ungleichgewichtig: Preußen hatte rund 37 Millionen Einwohner und
umfasste allein etwa drei Siebtel des gesamten Reichsgebiets; das kleinste Land SchaumburgLippe zählte hingegen nicht einreal 50 000 Einwohner. Im Reichsrat, der Ländervertretung, war
Preußen nach Zahl und Wahlmodus seiner Vertreter dennoch doppelt benachteiligt; denn 13 von
26, später 27 Stimmen entfielen auf Provinzialvertreter, welche häufig anders als die Vertreter des
preußischen Staatsministeriums stimmten, so dass auf Grund dieses abweichenden
Stimmverhaltens beispielsweise zwischen Juli 1921 und August 1928 Preußen nur bei etwa jeder
fünften namentlichen Abstimmung das Gewicht seines Stimmblocks geschlossen einsetzen
konnte.
Zum anderen blieb das Verhältnis zwischen den Kompetenzen des Zentralstaates und originären
Länderrechten unausgewogen. Eine durchdacht dezentrale Verteilung der Staatsaufgaben
zwischen Reich und Ländern hatte, wie der Staatsrechtler Richard Thoma 1930 bemängelte, nicht
stattgefunden. So wurden einerseits innerhalb Preußens die Geschäfte der Landesverwaltung und
Landespolitik faktisch rezentralisiert. Andererseits sahen sich die Kleinstaaten infolge ihrer
unzureichenden Verwaltungs- und Finanzkraft zur Erfüllung der ihnen zufallenden öffentlichen
Aufgaben sichtlich überfordert. Überdies waren in die Verfassung keine wirksamen
föderalistischen Hemmungen gegen das Vordrängen zentralistischer Bestrebungen der
Reichsgewalt eingebaut worden.
Zumal im Bereich der Finanzverfassung fehlten echte und unantastbare bundesstaatliche
Mitwirkungs- und Verteilungsgarantien. Die Folge war, dass die Steuergesetzgebung und der
Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und kommunalen Organen seit 1920 einseitig nach den
gesetzlichen Vorgaben der Reichspolitik aus- und umgestaltet worden sind. Dieser
unitarisierenden Entwicklungstendenz konnte sich der Reichsrat nicht wirkungsvoll widersetzen.
Die Ländervertretung hatte im Gesetzgebungsverfahren keine wirkliche Vetomacht. Somit
ermangelte es eines Einigungszwangs zwischen Zentralstaat und Ländern, wie er für den
kooperativen Föderalismus der nachmaligen Bundesrepublik kennzeichnend und stilbildend
geworden ist. Dennoch kam es 1928 von Seiten des Reiches und der Länder zu einem ernsthaften
Versuch, die bei der Verfassungsgebung versäumte Reichsreform nachzuholen. Der
171
von der Länderkonferenz im Juli 1930 mit großer Mehrheit (einschließlich der Vertreter Preußens)
verabschiedete Neugliederungsplan zielte im Kern darauf ab, den Dualismus zwischen Reich und
Preußen durch die Zerlegung des mit Abstand größten Landes in "neue" Länder aufzulösen; im
Gegenzug sollte die Position der "alten" Länder dadurch aufgewertet werden, dass ihnen
erweiterte Zuständigkeiten vom Reich übertragen wurden.
Das Zustandekommen dieses Vorschlags für eine "differenzierte Gesamtlösung" der
Reichsreform, dem - mit Ausnahme Bayerns - alle größeren Länder zustimmten, bezeugt, dass auf
der zweiten staatlichen Ebene der Weimarer Republik die bestimmenden politischen Kräfte
durchaus willens und imstande waren, eine heikle und komplizierte Konfliktregelung schiedlichfriedlich auszuhandeln. Die Reichsreform ist denn auch letztlich nicht an etwa mangelnder
föderalistischer Kompromissbereitschaft der Länder gescheitert (auch der hinhaltende Widerstand
Bayerns allein hätte sie wohl nicht verhindert), sondern weil sich die innenpolitischen
Bedingungen für staatliche Reformen mit der 1930 aufbrechenden und durch die Wirtschaftskrise
beschleunigten allgemeinen Systemkrise jäh verschlechterten. Brünings Notverordnungs-Regime
führte einen autoritären Zentralismus ein, welcher die Länder in ihrer Haushaltspolitik wie auch
als Organe der vollziehenden Ordnungsgewalt enger denn je den Anweisungen des Reiches
unterwarf. Für die Präsidialkabinette waren die mit dem Konzept Reichsreform verbundenen Pläne
einer Verfassungs- und Verwaltungsreform nur mehr ein machtpolitischer Hebel, um die
Fundamente der parlamentarischen Demokratie zu unterhöhlen und das noch von einer Weimarer
Koalition regierte Preußen als Machtfaktor auszuschalten. Umgekehrt waren die republiktreuen
Kräfte in dieser Situation nicht willens, das Bollwerk Preußen" einfach preiszugeben. Der
Preußenschlag" Papens vom 20. Juli 1932 war der spektakuläre Höhepunkt in der schrittweise
verwirklichten kalten politischen Gleichschaltung der Länder, wie sie mit den BrüningNotverordnungen 1930 eingeleitet worden war.
Mehr noch als die Länder waren die Städte und Gemeinden im Fortgang der 20er Jahre vor allem
finanziell zunehmend in die Abhängigkeit des Reiches geraten. Eine dem Artikel 28,2 des
Grundgesetzes vergleichbare institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung kannte die
Weimarer Reichsverfassung nicht. Der Zentralstaat wies den Gemeinden gleichwohl fortwährend
neue Pflichtaufgaben zu, ohne die dadurch entstehenden Mehrkosten ausreichend zu
kompensieren (was eine Überdehnung der örtlichen Gewerbesteuer zur Folge hatte), und er
regierte zugleich über den Umweg zweckgebundener Zuweisungen (Fondswirtschaft) zunehmend
in den Kernbereich kommunaler Angelegenheiten hinein.
Als die Arbeitslosenzahlen infolge der einbrechenden Großen Depression ab 1930 in die Höhe
schnellten, erreichte die Finanznot der Gemeinden und insbesondere der großen Städte ein
dramatisches Ausmaß. Die prekäre Haushaltslage bot der konservativen Rechten willkommenen
Anlass, um mit intellektueller Schützenhilfe prominenter Staatsrechtslehrer einen Frontalangriff
gegen die demokratische Kommunalverfassung zu eröffnen. Speziell die als Folge der
Demokratisierung des Gemeindewahlrechts beklagte "pluralistische Zersetzung" der
Gemeindepolitik war diesen Kreisen ein Dorn im Auge. In Wahrheit aber ist die in der
ideologischen Krisenliteratur der Carl Schmitt, Ernst Forsthoff und Arnold Koettgen stilisierte
"Krise der kommunalen Selbstverwaltung" Ausdruck der auch das Gemeindeleben
durchdringenden politischen Radikalisierung gewesen und zum anderen als Ergebnis des autoritärstaatlichen Notverordnungskurses erst wesentlich mit herbeigeführt worden. So wurden die
direkten staatlichen Eingriffsrechte auf dem Verordnungswege beträchtlich ausgeweitet, wurde die
faktische Reichszuständigkeit für gemeindliche Angelegenheiten ausgedehnt. Ferner erzwangen
die staatlicherseits verfügten Einspargebote, Steuerregelungen und Anleihekontrollen eine
empfindliche Einschränkung kommunaler Investitionen und Daseinsfürsorgeleistungen.
Den finanziell, machtstaatlich und auch durch die Radikalisierung des öffentlichen Lebens
bewirkten
Lähmungszustand
der
Selbstverwaltung
spiegelte
die
gemeinde-
172
interne Politikentwicklung ab 1930 wider. Ratsvertreter der extremen Flügelparteien NSDAP und
KPD, wenngleich der Zahl nach noch zu wenig, um eine Verhinderungskoalition zu bilden,
nutzten ihr Mandat zu demagogischen Auftritten. Die formal rechtswidrige Weigerung zahlreicher
Ratsvertretungen, die Steuerverordnungen des Reiches in gemeindliche Beschlüsse umzusetzen,
dokumentiert nicht nur die Selbstblockade kommunaler Parteipolitik, sondern zog auch die
staatliche Pfändung von Gemeindesteueranteilen sowie die Einsetzung von Staatskommissaren
nach sich. Somit war schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung im Januar und März
1933 die Verstaatlichung und innere Auflösung demokratischer kommunaler Selbstverwaltung
weit fortgeschritten.
Chronik
27. April 1926
18. November 1927
16.-18. Januar 1928
27./28. September 1929
17. November 1929
21. Juni 1930
1. Dezember 1930
3. Dezember 1930
4. Februar 1931
5. Juni 1931
5. August 1931
9. August 1931
24. August 1931
24. April 1932
3. Finanzausgleichsgesetz: Neuregelung der
Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und
Ländern hinsichtlich der Steuerquellen und
Steuererträge sowie deren Unterverteilung
Bochumer Rede Hjalmar Schachts: Polemik gegen
anleihefinanzierte "Luxusausgaben" der Gemeinden
Von Reichskanzler Marx einberufene
Länderkonferenz in Berlin: Einsetzung eines
paritätischen Verfassungsausschusses zur
Vorbereitung einer Verfassungs-, Finanz- und
Verwaltungsreform
Jahresversammlung des Deutschen und des
Preußischen Städtetages in Frankfurt am Main
Gemeindewahlen in Preußen
Annahme zweier Gutachten zur
Zuständigkeitsabgrenzung und
Verwaltungsorganisation durch den
Verfassungsausschuss der Länderkonferenz
("differenzierte Gesamtlösung")
Notverordnung (NotV0): Gehaltskürzungen für
Angestellte und Beamte in Reich, Ländern und
Gemeinden; Senkung der kommunalen Realsteuern
Reich-Länder-Richtlinien für das Schuldenwesen
der Gemeinden
Volksbegehren des "Stahlhelm" zur Auflösung des
Preußischen Landtags
NotVO: Gehaltskürzungen auch für
Gemeindearbeiter; Haushaltssicherungsvorschriften,
u. a. durch verschärfte staatliche Kommunalaufsicht
NotVO über kommunale Sparkassen und
Giroverbände
Volksentscheid zur Auflösung des Preußischen
Landtags mit 37 Prozent Ja-Stimmen gescheitert
NotVO: Regelungsermächtigung an die Länder
hinsichtlich kommunaler Haushaltswirtschaft
Landtagswahlen in Preußen, Bayern und weiteren
Ländern; Preußische Staatsregierung nach Rücktritt
nurmehr geschäftsführend im Amt
173
20. Juli 1932
25. Oktober 1932
12. März 1933
"Preußenschlag" Papens: Absetzung der preußischen
Staatsregierung und der Schutzpolizeiführung;
Einsetzung einer kommissarischen Regierung
Entscheidung des Preußischen Staatsgerichtshofes in
der Sache "Preußen kontra Reich"
Gemeindewahlen in Preußen
174
Stiller Verfassungswandel durch vordringende Reichsgewalt
Seit 1920 hatte sich im Ergebnis der Bemühungen, die enormen finanziellen und
sozialen Folgelasten des Krieges und der Stabilisierungskrise zu bewältigen, die
Aufgabenverteilung zwischen Reich und Ländern erheblich verschoben.
Ausgangs der 20er Jahre konstatierte der Verfassungsrechtler Gerhard Lassar
einen Verfassungswandel, der sich als "Vordringen der Reichsmacht" äußere.
Lassar nannte als Gründe bzw. Erscheinungsformen dieser stillen
Machtverschiebung: das Übergewicht der Zentralorganisationen, insbesondere der
Reichstagsfraktionen, im Parteiensystem; die eingeübte Praxis der
wirtschaftlichen und kulturellen Interessenverbände, bevorzugt das
Spitzengespräch mit Reichsstellen zu suchen; die mangelnde Ausgewogenheit der
Ländergliederung; die Entschlossenheit des Reiches, die ihm in Art. 14 WRV
eingeräumten
Möglichkeiten
auszunutzen,
reichseigene
Verwaltungseinrichtungen zu schaffen; die den Zentralinstanzen im Bereich der
Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik übertragenen selbständigen
Entscheidungsund
Verordnungs-Befugnisse
(Kartellaufsicht,
Schlichtungswesen, Steuerverbund u. a. m.); schließlich das Entstehen einer
öffentlichen Nebenverwaltung durch privatwirtschaftliche Aktivitäten des
Reiches.(1)
Von allen diesen hier aufgezählten Schritten hin zum Einheitsstaat war die
"Verreichlichung" der Steuer- und Finanzhoheit sowie die damit verbundene
Übergabe des Finanzverwaltungsapparats an das Reich der wohl folgenreichste.
Die Erzbergersche Finanzreform von 1920 hatte die innerstaatlichen Gewichte
"zugunsten einer starken Zentralgewalt und zu Lasten der Kompetenzen der
Einzelstaaten und Gemeinden" entscheidend verrückt."(2) Der Aufbau einer
Reichsfinanzverwaltung durchbrach, freilich gedeckt durch Art. 14 WRV, die
Regel, dass Reichsgesetze durch Landesbehörden ausgeführt werden.
Die Steuerverteilung zwischen Reich, Ländern und Gemeinden wurde durch das
Finanzausgleichsgesetz vom 27. April 1926 sowie dessen nachfolgende
Novellierungen (3) grundlegend neu gestaltet. Da die ertragreichsten vormaligen
Landessteuern (Einkommensteuer, Vermögensteuer) auf das Reich übergegangen
waren und dieses auch die Umsatzsteuer als Steuerquelle in starkem Maße
erschloss, wurde es notwendig, die Länder für den Einnahmeausfall durch
entsprechende Überweisungen aus dem Steueraufkommen des Reiches zu
entschädigen. Die im Rahmen dieses Steuerverbunds vorgenommene
Umverteilung war beträchtlich: Im Rechnungsjahr 1929 etwa waren von rund
9,33 Mrd. RM Einnahmen an Besitz-, Verkehrs- und Verbrauchssteuern sowie
Zöllen rund 3,27 Mrd. RM an die Länder und Gemeinden zu überweisen(4) (vgl.
Tab. 1).
Die Aufteilung erfolgte nach' dem Aufkommensprinzip, d. h.
Bemessungsgrundlage der Verteilung war nicht die Bevölkerungszahl, sondern
das Steueraufkommen der einzelnen Länder. Dies verursachte ein
Steuerkraftgefälle; überwiegend agrarische Länder wie Bayern oder
Mecklenburg-Schwerin erhielten Zuweisungen unterhalb des Reichsdurchschnitts.
(5) (vgl. Tab. 2).
Das Finanzausgleichsgesetz enthielt eine sogenannte Arme-Länder-Klausel (§
35). Sofern ein Land bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer-Zuteilung den
Reichsdurchschnitt um mehr als 20 Prozent unterschritt, war der Fehlbetrag bis
auf 80 Prozent des Gesamtmittels auszugleichen. Hierfür stellte das Reich z. B.
175
Tabelle 1: Steuereinnahmen der Länder und Gemeinden (Ertragsziffern in Mio.
RM)
Entnommen aus: Anschütz/Thoma, HB. des Dt. Staatsrechts Bd. I, Tübingen
1930, S. 331
176
Tabelle 2: Verteilung der Überweisungssteuern auf die Länder nach dem
Aufkommensprinzip
Entnommen aus: Anschütz/Thoma, HB. des Dt. Staatsrechts Bd. I, Tübingen
1930, S. 338
1926 insgesamt 16,5 Mio. RM bereit, die u. a. an Anhalt, Mecklenburg-Schwerin,
Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold, aber auch an Bayern ausgezahlt wurden.(6)
Die Weiterverteilung innerhalb der Einzelstaaten war landesgesetzlich geregelt. In
Preußen z. B. behielt das Land 55 Prozent der Verbundmasse für sich selbst und
reichte 38 Prozent an die Gemeinden sowie je 2(1)/Z Prozent an die Provinzen
und Kreise weiter (2 % flossen in die Landesschulkasse). In Bayern betrug der
Selbstbehalt des Landes 60 Prozent, in Württemberg 66 2/3 Prozent, in Sachsen
hingegen 47 Prozent. Auch für die Unterverteilung an die kommunalen
Gebietskörperschaften war in erster Linie deren Steueraufkommen maßgebend.(7)
Das Weimarer System des Steuerverbunds und Finanzausgleichs trug also
durchaus moderne Züge. Dennoch bewirkte es unter der gegebenen
Verfassungslage einen spürbaren Souveränitäts- und Machtverlust der Länder.
Das Reich regelte und veränderte die Steuergesetze, und es war dabei weder
durch konkrete Verfassungsbestimmungen, welche die Aufteilung wichtiger
Steuern
verbindlich
vorschrieben,
noch
durch
einen,
generellen
Zustimmungsvorbehalt seitens der Ländervertretung (vergleichbar dem heute für
das Bund-Länder-Verhältnis wichtigen Institut zustimmungspflichtiger
Bundesgesetze) gebunden. Folglich ordnete das Reich auch "die Landessteuern in
ihren Einzelheiten, bestimmt ihre Höhe und geht dazu über, einen Lastenausgleich
zwischen den Ländern zu entwickeln sowie den Landesfinanzausgleich und den
interkommunalen Lastenausgleich zu regeln"(8) Die Länder büßten somit, wie
Lassar schreibt, bis zum Ende der 20er Jahre im wesentlichen die Möglichkeit ein,
"über ihre Einnahmen und Ausgaben selbst Entschließungen zu treffen und sind
daher nicht imstande, von den ihnen verbliebenen Zuständigkeiten nach eigenem
Ermessen Gebrauch zu machen. Sie sind hierzu nur noch fähig in den schmalen
Grenzen, die ihnen zur Finanzierung eigener Aufgaben verbleiben, nachdem die
zwangsläufigen Ausgaben geleistet sind". Gleiches gelte für die Gemeinden; auf
177
deren Steuer-. und Haushaltszuständigkeit wirke das Reich durch die
Finanzverfassung indirekt "stärkstens" ein.(9) Dies war insoweit zutreffend, als
die den Gemeinden zufließenden staatlichen Steueranteile weder durch
Verfassung noch Einzelgesetze des Reiches quotiert waren. Die Höhe der
Beteiligung blieb den Ländern überlassen.
Die zentralistische Regelung der Steuer- und Finanzfragen wurde aus Ländersicht
auch deshalb als finanzielle Belastung spürbar und als Machteinbuße zunehmend
- schwerer erträglich, weil die öffentlichen Aufgaben und Ausgaben im Zuge des
Ausbaus sozialstaatlicher Leistungen im Vergleich zur Vorkriegszeit stark
ausgeweitet worden waren, zugleich aber der aus dem alten Reich übernommene
Grundsatz fortbestand, dass die Länder Leistungsgesetze des Reiches zu
vollziehen haben. Insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren waren die
Ausgaben sämtlicher Gebietskörperschaften sprunghaft gewachsen; dabei
entfielen, neben den unmittelbaren Kriegsfolgelasten (v. a. Reparationen) die
größten Zuwächse auf die soziale Fürsorge und den Bildungssektor. (10) (vgl.
Tab. 3).
Weil, so beschrieb Ottmar Bühler 1930 die Auswirkungen der gewachsenen
Staatsintervention auf das bundesstaatliche Machtgefüge, die Pflicht der Länder
zum Vollzug von Reichsgesetzen gerade auch im Bereich der Wohlfahrtspflege
fortgalt (bei der Erwerbslosenfürsorge ab 1927 allerdings an die Gemeinden
weitergereicht wurde), seien "tatsächlich auf dem Wege der Lastenzuweisung
seitens des Reichs die Finanzen der Länder und mittelbar damit ihr Verhältnis
zum Reiche mindestens ebenso beeinflusst worden wie durch die Regelung der
Steuerquellen"(11) Zwar schrieb das Finanzausgleichsgesetz in § 54 vor, dass das
Reich Ländern oder Gemeinden und Kreisen neue Aufgaben nur dann zuweisen
dürfe, wenn es gleichzeitig für die Bereitstellung der erforderlichen Mittel Sorge
178
Schaubild
1:
Verwaltungsaufbau
in
Preußen
(7
östliche
Provinzen)
179
Schaubild
2:
Verwaltungsaufbau
in
Bayern
180
trug.(12) Dieser Vorbehalt stellte indes nach einem zeitgenössischen Urteil "nicht
viel mehr als eigen guten Vorsatz" dar.(13)
Unter solchen Bedingungen sind nicht nur die Finanz- und Verwaltungskraft der
kleinen Länder, die ja sämtlich einen eigenständigen Behördenapparat
unterhielten (vgl. Schaubilder 1-3), hoffnungslos überfordert gewesen, sondern
spätestens mit Einbruch der Großen Wirtschaftskrise auch Mittelstaaten zu
Kostgängern des Reiches geworden. Carl Moser von Filseck, Gesandter
Württembergs in München, vermerkt in einem Bericht von Februar 1931,
"dass der Hessische Finanzminister wegen Kassenschwierigkeiten auf den 1. Januar in Berlin
gewesen sei, dort fünf Tage bei Ministerialbeamten habe antichambrieren müssen, von denen er
nur die Bemerkung zu hören bekommen habe, dass Hessen besser täte, sich mit Preußen zu
vereinigen, denn als Einzelstaat ein kümmerliches Dasein zu fristen. Dabei habe es sich um den
geringfügigen Betrag von 1,6 Millionen gehandelt, die Mitte Januar schon wieder hätten
zurückbezahlt werden können. Das habe ihn [den Bayrischen Ministerpräsidenten Held - d. Verf.]
auf den Gedanken gebracht, ob sich nicht die vier süddeutschen Staaten in solchen Fällen unter
sich aushelfen könnten. Sie könnten sich gegenseitig Konten eröffnen, z. B. hier bei der
Staatsbank, und dann gegen Schatzanweisungen auf die Domänen im Notfall Kredit in Anspruch
nehmen. Dies würde um so weniger Schwierigkeiten begegnen, als solche Kassenschwierigkeiten
doch nicht bei allen vier Ländern zugleich auftreten würden".(14)
Schaubild 3 (Verwaltungsorganisation der Kleinstaaten)
181
Etwa zum gleichen Zeitpunkt arbeitete der Staatsrechtler Carl Schmitt, einer der
intellektuell einflussreichsten Kritiker der parlamentarischen Demokratie von
rechts, mit der ihm eigenen analytischen Schärfe die das Reich-Länder-Verhältnis
betreffenden Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung heraus:
"Man hat in der Weimarer Nationalversammlung die Frage nach dem Verhältnis von
Parlamentarismus und Föderalismus ignoriert und doch eine bundesstaatliche Organisation
beibehalten. Man hat die Hegemonie Preußens in der geschriebenen Verfassung beseitigt, und
doch Preußen unverändert mit dem ganzen faktischen Übergewicht seines Umfanges bestehen
lassen, so dass die Inkongruenz zwischen verfassungsgesetzlichem und tatsächlichem Einfluss
geradezu phantastisch werden musste. Man hat, als man die preußische Hegemonie beseitigte,
nicht etwa das einzig noch mögliche andere bundesstaatliche Konstruktionsprinzip übernommen,
nämlich ein Gleichgewichtssystem ungefähr gleich großer und gleich einflussreicher Länder,
sondern, weil man sich aus guten Gründen nicht entschließen konnte, Preußen aufzuteilen, von
den beiden allein möglichen Systemen - hegemonischer oder Gleichgewichtsstaat - keins gewählt
und trotzdem die bundesstaatliche Organisation beibehalten. Man hat endlich ein allgemeines
Grundgesetz aller bundesstaatlichen Organisationen, nämlich das richtige Verhältnis von Freiheit
und Einfluss der Einzelstaaten [... ], anscheinend ahnungslos verkannt und die Zuständigkeit des
Reiches außerordentlich ausgedehnt, andererseits aber auch die Länder, obwohl man sie mit ihrem
Umfang und dem Kern ihrer staatlichen Macht, der Executive, unverändert weiterbestehen ließ,
trotzdem nicht durch einen größeren Einfluss auf die Bildung des Reichswillens entschädigt,
sondern auch noch die verfassungsmäßigen Rechte des Reichsrates möglichst bescheiden gehalten
mit dem Erfolg, dass sich nunmehr die Länder ihren oft sehr großen Einfluss auf ganz anderen
Wegen verschaffen, als man aus dem Text der Reichsverfassung ablesen könnte."(15)
Das "unharmonische Durcheinander unitarischer und betont föderalistischer
Organisationsprinzipien"(16) ließ zwar eine Reichsreform als Finanz- und
Verwaltungsreform in und zwischen Reich und Ländern dringlich erscheinen. Es
hat aber bis zum Ende der 20er Jahre nicht zu unheilbaren Funktionsstörungen im
Verhältnis zwischen Reich und Ländern geführt. Dazu trug entscheidend bei, dass
bis zur Wende des Jahrzehnts zwei politische Voraussetzungen erfüllt blieben:
Einmal bestand beiderseits doch eine hinreichend große Bereitschaft zu
"bundesfreundlichem" Verhalten. Zum anderen ist das parlamentarische System
auf Länderebene bis 1930 leidlich in Takt geblieben, und dies wiederum
garantierte eine demokratische Kontrolle der Länderexekutiven, die trotz der
geschilderten Aushöhlung ihrer Kompetenzen einen wichtigen Machtfaktor
darstellten: Den Ländern waren die Aufgaben der Wohlfahrtspflege, des Schulund Bildungswesens sowie der Polizei zu selbständiger Erledigung überantwortet.
Die allgemeine innere Verwaltung blieb, hob etwa Lassar hervor, "als solche
Landessache". Und: "Da die allgemeine innere Verwaltung das stärkste
verwaltungsmäßige Mittel zur politischen Durchsetzung ist, so ist in ihrem Fehlen
eine immanente Schwäche des Reichs und zugleich eine Stärke der
Landesbureaukratien, besonders der preußischen, begründet, die sie zu einer
geschlossenen Ausübung der den Ländern verbliebenen Zuständigkeiten
befähigt."(17) Auch deshalb blieb in den Bürokratien zumindest der größeren
Länder das Bewusstsein einer legitimen Eigenstaatlichkeit gegenwärtig.(18)
182
Die Tätigkeit des Reichsrates ist ein Gradmesser für die bis 1930 nutzbaren
föderativ-staatlichen Handlungsspielräume wie auch für deren in der Konstruktion
dieses Verfassungsorgans angelegten Beschränkungen. Obgleich mit einem nur
mittelbaren Gesetzesinitiativrecht ausgestattet (lt. Art. 69,2 WRV konnte der
Reichsrat Gesetzesvorlagen beschließen", die dann von der Reichsregierung im
Reichstag einzubringen waren) und gegenüber dem Parlament über eine
vergleichsweise schwache Einspruchsmöglichkeit verfügend, an welcher
Reichsgesetze bis 1930 nur sehr selten gescheitert sind,(19) hatte sich
beispielsweise der preußische Stimmenblock, trotz häufig gespaltenen
Stimmverhaltens, doch "zuweilen auch stark genug erwiesen, um eine Opposition
des Reichsrats gegen die unitarische Regierung zu führen"(20) Dass sich mitunter
ein "erfolgreicher partikularistischer Widerstand aus der Sphäre des Reichsrats"
formierte, hat konservativen Befürwortern eines Einheitsstaats ebenso wenig
gefallen wie andererseits die ersichtliche Neigung der Ländervertreter, nach
parteibzw.
koalitionspolitischen
Erwägungen
abzustimmen,
dem
vordemokratischen Bild eines homogenen Staatswillens entsprach.(21) Und doch
mag gerade diese "Parteipolitisierung" der Ländervertretung, in Kombination mit
dem stabilisierenden Element der Beschlüsse sachkundig vorbereitenden
Reichsbürokratie(22), den so mühsamen Prozess parlamentarischer geleiteter
Staatswillensbildung integrierend gestützt haben.
Unvollendete Reichsreform
Die vom 16.-18. Januar 1928 von Reichskanzler Marx nach Berlin einberufene
Länderkonferenz ist ein Beleg dafür, dass auf beiden staatlichen Ebenen ein
gemeinsamer Wille erkennbar vorhanden war, die das Verhältnis zwischen Reich
und Ländern belastenden Probleme auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Die
Konferenz, an welcher Mitglieder des Reichskabinetts und sämtliche
Ministerpräsidenten der Länder teilnahmen, erbrachte in der Sache noch kein
Ergebnis. Eine gemeinsame Entschließung begnügte sich mit der diplomatischen
Einigungsformel, dass "die Weimarer Regelung des Verhältnisses zwischen Reich
und Ländern unbefriedigend ist und einer grundsätzlichen Reform bedarf" und
ferner "eine starke Reichsgewalt notwendig ist".(23) Doch wurde ein
achtzehnköpfiger, paritätischer Verfassungsausschuss (unter Vorsitz des
Reichskanzlers) eingesetzt, mit dem Auftrag, praktikable Vorschläge für eine
Verfassungs- und Verwaltungsreform sowie für eine sparsame Finanzwirtschaft
zu erarbeiten .(24)
Nach langwierigen Beratungen wurden am 21. Juni 1930 die beiden vom
Unterausschuss vorgelegten Gutachten zur Abgrenzung der Zuständigkeiten
zwischen Reich und Ländern und zur Neuorganisation der Länder im
Verfassungsausschuss mit 15 gegen 3 Stimmen (bei 2 Enthaltungen)
angenommen (vgl. Dok.1 und 2). Die zentralen Punkte fasste Arnold Brecht, als
Ministerialdirektor der preußischen Staatskanzlei einer der Architekten des
Reformplans, hernach wie folgt zusammen:
"1. Die Zentralverwaltung der preußischen Staatsregierung wird mit der
Zentralverwaltung der Reichsregierung vereinigt.
2. Die regionalen und örtlichen preußischen Behörden werden mit denen des
Reiches vereinigt.
183
3. Infolgedessen wird Preußen als Staat oder Land vollständig beseitigt.
4. Die dreizehn preußischen Provinzen einschließlich Berlins werden neue Länder
unmittelbar unter der Reichsregierung. Ihre Verfassung wird durch einfaches
Reichsgesetz geregelt.
5. Alle Aufgaben, die nicht notwendigerweise dem Reiche vorbehalten bleiben
müssen, werden durch einfache Reichsgesetze auf die alten und neuen Länder
übertragen. . . .
6. Die Grenzen der neuen Länder werden durch einfache Reichsgesetze
baldmöglichst neu festgelegt, wie es praktischen Bedürfnissen in wirtschaftlicher
und verwaltungsmäßiger Beziehung am besten entspricht.
o 7. Zu kleine Länder sowie Enklaven werden mit den neuen Ländern durch
einfaches Reichsgesetz vereinigt nach vorherigen Verhandlungen der beteiligten
Stellen.
8. Der Status der größeren Länder- Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden bleibt im wesentlichen der gleiche wie nach der Weimarer Verfassung. Sie
genießen daher eine etwas größere Unabhängigkeit als die neuen Länder; z. B.
haben sie das Recht, ihre eigenen Verfassungen innerhalb der durch die Weimarer
Verfassung gezogenen Grenzen zu bestimmen, ihr altes Gebiet zu behalten und
innerhalb der ihnen durch die Weimarer Verfassung gewährten Zuständigkeit
Gesetze zu erlassen. Dieser Status soll ihnen verfassungsmäßig garantiert werden,
so
dass
Änderungen
nicht
durch
einfaches
Reichs-
184
gesetz, sondern nur durch Verfassungsänderung herbeigeführt werden können; ...
9. Der preußische Stimmenblock im Reichsrat verschwindet. Die Stimmen im
Reichsrat werden unter allen Ländern, alten und neuen, im Verhältnis ihrer
Einwohnerzahl verteilt.
10. Reichsgesetze, die nur die neuen Länder angehen (vgl.Nr.4 und 6), sollen
entweder durch Reichstag und Reichsrat genau wie alle übrigen Reichsgesetze
verabschiedet werden, oder aber so, dass an der Beratung und Abstimmung nur
diejenigen Mitglieder teilnehmen, welche die neuen Länder vertreten ... "(25)
Wichtigstes Ergebnis war, so Brecht rückblickend, "die Beseitigung Preußens als
selbständiger Staat" und die Erhebung der bisherigen preußischen Provinzen zu
reichsunmittelbaren Ländern (26) die im Reichsrat mit voller Stimmenzahl
vertreten sein sollten. Zwar entfiel dem Plan zufolge eine eigene preußische
Zentralregierung; doch blieb durch die beabsichtigte Personalunion zwischen den
Regierungen der neuen Länder und den für die Landesverwaltung jeweils
zuständigen Reichsbeamten die preußische allgemeine Landesverwaltung "in
ihrem Wesen erhalten".(27) Dies wie auch die Übertragung der gemeinsamen
Gesetzesbefugnis für die neuen Länder an ein aus Reichstagsabgeordneten und
Reichsratsvertretern dieser Länder zusammengesetztes Reichsorgan hätte der
Reform einen unübersehbar rezentralisierenden Zug verliehen, der durch
erweiterte Reichszuständigkeiten für die alten Länder nur teilweise ausbalanciert
worden wäre.
Die Bayrische Landesregierung hegte die Befürchtung, ein in Länder aufgeteiltes
Preußen werde die süddeutschen Länder majorisieren. Sie hat sich deshalb
beharrlich, wenngleich vergeblich den Plänen einer Auflösung Preußens und der
Verschmelzung seiner Verwaltung mit Reichsstellen widersetzt. Im November
1929 legte Ministerpräsident Dr. Held dem Unterausschuss der Länderkonferenz
einen Entschließungsantrag vor, der den abweichenden Münchner Standpunkt
zusammenfasste:
"Der Unterausschuss wolle sich dahin entschließen:
Der sogenannte Dualismus zwischen Preußen und Reich wird in seinen Ursachen und
Auswirkungen übertrieben. Die Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten sind nicht so tiefgreifend,
dass eine grundstürzende Änderung des Verfassungsbaues notwendig wäre. Ihre Beseitigung ist
durch jene Änderungen der Reichsverfassung möglich, die Bayern zur Herbeiführung klarer und
verfassungsmäßig dauernd gesicherter Rechtszustände vorgeschlagen hat. Die sogenannte
differenzierte Gesamtlösung ist staatsrechtlich weder notwendig noch zweckmäßig. Sie ist
politisch gefährlich, weil sie unter Beseitigung des bundesstaatlichen Grundsatzes der rechtlichen
Gleichheit aller Reichsteile das Reich in zwei rechtlich und politisch ungleiche Teile spalten
würde. Der Dualismus würde nicht beseitigt, sondern nur verlagert werden. Ein neuer Dualismus
zwischen dem Norden und dem Süden mit ungleich größeren Schwierigkeiten und Gefahren
würde entstehen. Die differenzierte Gesamtlösung wäre auch keine Endlösung. Sie würde den
Verfassungsfrieden nicht herbeiführen, sondern verschärfte Verfassungskämpfe im Gefolge haben
und schließlich, da für das reichsunmittelbare Gebiete das zentralistische System in der
Hauptsache aufrechterhalten bleiben soll, auf den zentralisierten Einheitsstaat hintreiben, der für
Deutschland untragbar ist."(28)
Mit dieser betont föderalistischen Position, die von Befürwortern eines
dezentralen Einheitsstaates gelegentlich als "partikularistisch kritisiert
185
wurde",(29) hat sich Bayern nicht durchsetzen können. Am 24. Juni 1930
beschloss der Reichstag, "die Regierung zu ersuchen, dem Reichstag einen
Gesetzentwurf über eine umfassende Reichsreform, insbesondere mit- dem Ziele
der Beseitigung des Dualismus zwischen Reich und Preußen und einer
zweckmäßigen Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern
vorzulegen".(30)
Dieser Parlamentsauftrag blieb unerledigt. Die finanziellen Auswirkungen von
wirtschaftlicher Depression und des 1931er Bankenkrachs, das sprunghafte
Anwachsen der republikfeindlichen extremen Flügelparteien bei Reichstags- und
Landtagswahlen sowie die autoritäre Wendung vom parlamentarischen
Regierungssystem zum Notverordnungskurs der Präsidialkabinette zogen auch die
Länderpolitik und das bundesstaatliche Machtgefüge in den Sog der allgemeinen
Systemkrise. Der Weimarer Föderalismus denaturierte zu einem
Exekutivföderalismus geschäftsführender Landesregierungen, die, ihrer
parlamentarischen Mehrheiten verlustig, mehr und mehr zu bloßen
Vollzugsorganen einer mit Notverordnungen regierenden Reichsgewalt wurden.
Unter diesen Vorzeichen war an eine normale parlamentarische Erledigung der
Reichsreform nicht mehr zu denken. Kernstücke des Reformpakets, etwa die
Aufhebung der Eigenstaatlichkeit Preußens, wurden vielmehr im innenpolitischen
Machtkampf hinfort gezielt instrumentalisiert.
Die Lähmung des parlamentarischen Regierungssystems in den Ländern
Bei der Serie der Landtagswahlen vom Sommer 1930 bis zum Spätherbst 1932
erzielten die extremen Flügelparteien der Kommunisten und Nationalsozialisten
in ununterbrochener Folge z. T. erdrutschartige Stimmengewinne. Dies machte
die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten in den Landtagen unmöglich und führte
zur Lähmung des parlamentarischen Regierungssystems in fast allen größeren und
mittleren Ländern. Im Sog des Reichstags-Wahlerfolgs vom 14. September 1930
steigerte die NSDAP bei den am gleichen Tag stattfindenden Braunschweiger
Landtagswahlen ihren Stimmenanteil von 3,7 Prozent auf 22,2 Prozent. Dieser
Trend setzte sich von da ab fort: 23,4 Prozent am 30. November 1930 bei den
Bürgerschaftswahlen in Bremen, 27 Prozent am 3. Mai 1931 in SchaumburgLippe, 37,2 Prozent 14 Tage später in Oldenburg, 26,2 Prozent am 27. September
1931 in Hamburg, 37,1 Prozent am 15. November 1931 in Hessen. Nach den
Aprilwahlen 1932 war die NSDAP auch in Preußen (von 1,8 % auf 43,2 %) und
in Anhalt (von 2,1 % auf 40,9 %) zur mit Abstand stärksten Partei vorgerückt
(vgl. Tab. 4). Im preußischen Landtag verfügten Nationalsozialisten und
Kommunisten (12,8 %) hernach über eine negative Majorität, wie zuvor bereits in
Hessen.(31)
Dem zeitlichen Rhythmus der Landtagswahlen und der dabei zutage tretenden
Radikalisierung des Wählerverhaltens folgend, hat sich die Erosion der
parlamentarischen Demokratie auf Länderebene in mehreren Schritten vollzogen:
Geschäftsführende Landesregierungen waren seit Sommer 1930 in Sachsen (22.
Juni), in Bayern (26. August), in Hamburg (Oktober 1931), Hessen (Dezember
186
1931) und Württemberg (März 1932) im Amt. Ausnahmslos hatten hier zuvor
bürgerliche Regierungsbündnisse oder die Parteien der Weimarer Koalition ihre
Mehrheit verloren. In Bayern, wo nach dem Regierungsaustritt des Bauernbunds
eine BVP-SPD-Koalition rechnerisch möglich gewesen wäre, scheiterte diese am
machtpolitischen Durchhaltewillen der stärksten Landespartei:
"Man gewöhnt sich allmählich an den Zustand, dass die zurückgetretene Regierung Held als
geschäftsführende Regierung auch weiterhin die Geschicke Bayerns leitet. Wenn auch anerkannt
wird, dass dieser Zustand auf die Dauer unhaltbar ist, so hat man doch gesehen, dass eine
Änderung desselben ohne Neuwahlen nicht möglich ist. Die Sozialdemokraten haben es nicht
vermocht, eine Regierung zu bilden, und die Bayerische Volkspartei zeigt keine Neigung, ehe
nicht Neuwahlen ein Bild von dem tatsächlichen Kräfteverhältnis gegeben haben, eine neue
Koalition einzugehen, für die fast nur die Sozialdemokraten in Betracht kommen könnten, die ja
durch ihre Mitwirkung bei der Etatsabgleichung sich stark dafür empfohlen haben.
Wie ich schon früher hervorhob, befindet sich die Bayerische Volkspartei in dieser Situation ganz
wohl und es eilt ihr mit Neuwahlen gar nicht, da sie hofft, dass, wenn dieselben möglichst
hinausgezögert werden, sich inzwischen wieder eine andere politische Situation ergibt, dass
namentlich bis dahin die Nationalsozialisten abgewirtschaftet haben werden, indem viele
enttäuschte Wähler von ihnen abrücken werden."(32)
Für die Abstützung der auf Reichs- und Länderebene bröckelnden
parlamentarischen Fundamente der Weimarer Republik kam dem Fortbestand der
von einer Weimarer Koalition im Landtag gestützten preußischen Regierung eine
Schlüsselstellung zu. Die Regierung Braun-Severing war als bremsendes Element
gegenüber einer ungehemmten autoritären Transformation des demokratischen
Verfassungsstaates doppelt wirksam: Sie stützte mit der ganzen Macht einer noch
republikloyalen Landesexekutive das Kabinett Brüning und trug so dazu bei, eine
reine Rechtsregierung auf Reichsebene vorerst zu verhindern. Umgekehrt sah sich
187
Brüning, um nicht Preußens Unterstützung für sein Krisenregiment aufs Spiel zu
setzen, genötigt, seine weiterreichenden Pläne für eine Gleichschaltung und
Entparlamentarisierung des Landes Preußen aufzuschieben.(33)
Das um Weihnachten 1930 angekündigte, am 4. Februar 1931 vom "Stahlhelm"
förmlich eingereichte Volksbegehren zur Auflösung des Preußischen Landtags
einte die antidemokratischen und republikfeindlichen Parteirichtungen
unterschiedlicher Couleur zu einem konzentrischen Angriff auf die preußische
Koalition. Dem Volksbegehren schloss sich neben Parteien und Verbänden der
Rechten sowie partikularistischen Kräften wie der Hannoverschen Landespartei
auch die DVP an. Diese spielte insoweit eine die Regierungsachse Reich-Preußen
demontierende Doppelrolle, als sie im Preußischen Landtag in scharfer
Opposition stand und die Unterstützung Brünings im Reichstag mit der Forderung
verknüpfte, Preußen der präsidentiellen Macht zu unterstellen.(34) Im Juni 1931
forderte der DVP-Vorsitzende Dingeldey, die fälligen innenpolitischen
Kurskorrekturen, "die in der Loslösung vom Sozialismus bestehen", müssten auch
"zu neuen Verhältnissen in Preußen führen". Vom Kanzler und seinen ZentrumsParteifreunden in Preußen erwarte die DVP, dass der Preußische Landtag sich
noch im laufenden Jahre freiwillig auflöse.(35)
Der Volksentscheid, an dem sich die KPD und, besonders intensiv agitierend,
auch die NSDAP beteiligten, verfehlte zwar am 9. August 1931 die notwendige
Mehrheit. Doch bedeuteten die 37 Prozent Ja-Stimmen für die vereinigten
Republikgegner einen beträchtlichen Propagandaerfolg. Die der Weimarer
Koalition verschaffte politische Atempause währte jedoch nur bis zu den
regulären Landtagswahlen im April 1932. Mit Ausnahme Bayerns, wo die BVP
ihre führende Stellung hauchdünn um 0,1 Prozent behauptete, rückte die NSDAP
überall zur stärksten Landespartei auf. In Preußen erreichten die
Nationalsozialisten 43,2 Prozent, die Kommunisten verbesserten sich auf 12,8
Prozent. Das Landtagswahlergebnis vom 24. April 1932 bedeutete, wie Karl
Dietrich Bracher schreibt, "eine Machtverschiebung in den Parlamenten der
größten, über Dreiviertel der deutschen Bevölkerung umfassenden Länder". Dort
hatte bislang die demokratische Mehrheit von 1928 eine Stütze für die
Durchhaltepolitik der Reichsregierung gebildet und darüber hinaus dem
widerstrebenden Reichsinnenminister schärfere Maßnahmen zum Schutz der
Republik direkt auferlegt. (36) Zwar gelang der NSDAP die
Regierungsbeteiligung vorerst nur in kleineren Ländern wie Mecklenburg-Strelitz,
Anhalt und Thüringen (allein regierte sie in Oldenburg und MecklenburgSchwerin). Aber infolge der Verluste der Mittelparteien und der SPD war in den
neugewählten Landtagen keine konstruktive Mehrheitsbildung mehr möglich. In
Bayern und Baden amtierten die geschäftsführenden Landesregierungen weiter,
und auch in Preußen blieb, nach dem Rücktritt des resignierenden
Ministerpräsidenten Otto Braun, dessen Regierung nurmehr geschäftsführend im
Amt. So war denn auch dieses Landesparlament "in den lähmenden Bann einer
negativen "Sperrmehrheit" koalitionsunfähiger Rechts- und Linksblöcke
geraten".(37) Ihrer parlamentarischen Legitimation verlustig, hatte die Preußische
Regierung fortan ihren verbliebenen politischen Handlungsspielraum gegenüber
autoritären Verordnungen des Reiches eingebüßt. Eigentlich ging es nurmehr
darum, die - freilich schon nationalsozialistisch durchsetzte - Schutzpolizei und
Ministerialverwaltung des Landes dem Zugriff der antirepublikanischen Rechten
nicht
preiszugeben.
188
Aushöhlung des Föderalismus durch das Notverordnungs-Regime der
Präsidialkabinette
Während durch die Wahlerfolge extremer Parteien dem Länderparlamentarismus
seit 1930 der Aktionsboden wegbrach, griff die Notverordnungspolitik der
Reichsregierung unter Brüning und insbesondere unter Papen in Parlaments- und
Exekutivrechte der Länder - ebenso der Gemeinden - von oben massiv ein. Die
Finanzkrise der öffentlichen Haushalte, ausgelöst durch exorbitant steigende
Ausgaben für die Erwerbslosenfürsorge und die im Gefolge der
Bankenzusammenbrüche
von
Mai/Juni
1931
eintretenden
Zahlungsschwierigkeiten, sowie der Zwang zu einschneidenden Sparmaßnahmen,
die auch nötig wurden, um das Vertrauen der Auslandsgläubiger
zurückzugewinnen, boten den Anlass zu einschneidenden Eingriffen in
Parlaments- und Länderrechte.
Zweifellos waren die Finanznöte speziell der "Zwergländer" (A: Brecht)
nachgerade dramatisch. Am 28. Februar 1931 notierte die Vossische Zeitung:
"Die Rede, mit der Minister v. Reibnitz im Landtag von Mecklenburg-Strelitz die
Haushaltsberatung einleitete, gab einen betrüblichen Einblick in die Finanznöte des Landes. Der
Haushaltsplan weist, wiewohl er um 20 v. H. in den Ausgaben eingeschränkt wurde, ein Defizit
von 2,4 Mio. auf. Da die Abstriche im Etat nicht mehr zu verantworten seien, so erklärte der
Minister, ergebe sich die zwingende Folgerung, dass Mecklenburg-Strelitz nicht mehr lebensfähig
und deshalb der Anschluss an Preußen so bald als möglich vorzunehmen sei."(38)
Ende März 1931 beschloss der Braunschweigische Landtag mit den Stimmen der
bürgerlichen Parteien und der Nationalsozialisten, die Geschäfte der
Steuerverwaltung aus Ersparnisgründen auf das Reich zu übertragen.
Die Regierung Brüning griff auf das Instrument der Notverordnungen zurück. Auf
diese Weise wurden mit Wirkung vom 28. März, 7. Oktober und 9. Dezember
1931 die Bezüge der Reichsbeamten und Reichsversorgungsempfänger sowie im
gleichen Umfang auch der Landes- und Gemeindebediensteten zum Zwecke der
Haushaltssanierung schrittweise abgesenkt (zu den prozentualen Kürzungen vgl.
Tab. 5). Mit der sogenannten Dietramzeller Notverordnung (24. August 1931)
wurden die Landesregierungen ermächtigt, abweichend von geltendem
Landesrecht "alle Maßnahmen, die zum Ausgleich der Haushalte von Ländern
und Gemeinden (Gemeindeverbänden), erforderlich sind, im Verordnungswege
vorzuschreiben"; dies schloss die Minderung von Personalausgaben ausdrücklich
ein (vgl. Dok. 3).
Die psychologische wie verfassungspolitische Tragweite dieser Notverordnungen,
die mit dem finanziellen Notstand allein nicht zu begründen waren, kann
schwerlich überschätzt werden. Hans Mommsen vertritt die These, "dass die
kontinuierliche Senkung der Beamtengehälter, die von der Beamtenschaft,
zusammen mit den Abbaumaßnahmen der Länder, als schleichende Gefährdung
ihrer beruflichen und materiellen Existenz aufgefasst wurde, die Widerstandskraft
der Bürokratie in Reich, Ländern und Gemeinden gegen die
nationalsozialistischen
Diktaturpläne
gelähmt
hat"(39)
Die
den
Länderregierungen per Verordnung übertragene Ermächtigung, Gehaltssenkungen
und andere Sparmaßnahmen an den Landtagen - und Gemeindevertretungen vorbei zu verordnen, zementierte den Machtverlust der Landes- und
189
Kommunalparlamente. Nochmals Mommsen: "Diese Bestimmung, die mit der
verheerenden Kassenlage begründet wurde, verstärkte das autoritäre Element auf
der Länderebene."(40)
Das präsidentiell gedeckte Vorgehen der Reichsregierung hat nicht nur im ReichLänder-Verhältnis den Zentralismus verschärft, sondern auch auf der Ebene der
Landespolitik die Gewaltenteilung zwischen gewählter Volksvertretung und
verantwortlicher Regierung zugunsten einer selbstherrlichen Exekutivmacht
aufgehoben. Die damit einhergehende Rückbildung des demokratischen
Bundesstaates in einen obrigkeitlichen "Regierungsföderalismus" (so Thomas
190
Nipperdeys Kennzeichnung der Wilhelminischen Verfassungspraxis) wird
deutlich an der informellen Aufwertung des Reichsrates. Es gibt Hinweise dafür,
dass sich das Kabinett Brüning angesichts wachsender Schwierigkeiten, im
Reichstag für das Sparprogramm eine Mehrheit zu gewinnen, verstärkt um
politische Rückendeckung der Ländervertretung bemüht hat.(41)
Die Länder haben sich dem Kurs einer gouvernementalen Krisenlösung ohne,
ernsthaften Widerstand angepasst. So wurde die Klage der Bayrischen Regierung
beim Staatsgerichtshof gegen die zunächst als schweren Eingriff in Länderrechte
kritisierte Steuervereinheitlichungs-Verordnung von Dezember 1930 nach einigen
Zugeständnissen Brünings Mitte 1931 zurückgezogen. Im Reichsrat gelegentlich
vorgebrachte Proteste gegen die Praxis der Reichsregierung, die Länder mit
Notverordnungen vor vollendete Tatsachen zu stellen und sie auf diese Weise zu
"bloßen Vollzugsorganen der Reichsregierung" zu degradieren (so der sächsische
Ministerpräsident Schieck in der Reichsratssitzung Anfang Oktober 1931), sind
wirkungslos verpufft. Für diese Anpassungshaltung gab es unterschiedliche
Beweggründe. Einmal war innerhalb der die konservativen Landesregierungen
stützenden
politischen
Kräfte
die
geistige
Entfremdung
vom
Verfassungsgedanken der parlamentarischen Demokratie inzwischen weit
vorangeschritten. Exemplarisch dokumentiert wird dies durch einen Wahlaufruf
der Bayrischen Volkspartei von April 4932, in dem diese das Bekenntnis
formuliert, Bayern freizuhalten von Parteiherrschaft und von "Auswüchsen
parlamentarischer Regierungsweise.(42)
Zum
anderen hegten
auch
verfassungsloyale Länderrepräsentanten die Überzeugung, dass eine gestärkte
Regierungsgewalt und deren entschiedener Einsatz gegen umstürzlerische
Bewegungen der einzige Ausweg seien, um die Auslieferung der Macht im Staate
an die Feinde der Republik zu verhindern. Von solchen Erwägungen geleitet,
unternahm Otto Braun im Spätsommer 1931 einen letzten - von Bayern
opponierten und von Brüning zurückgewiesenen - Vorstoß zur Reichsreform, als
er
vorschlug,
ohne
Verfassungsänderung
Teile
der
preußischen
Verwaltungsbehörden (u. a. das Innen- und Justizressort) mit Reichsministerien in
einer "Verwaltungsgemeinschaft" zu verschmelzen.(43)
Die den Ländern aufgenötigte, aber von ihnen auch akzeptierte Kooperation mit
der Reichsregierung unter den Vorgaben des Notverordnungs-Regimes hat die
Aushöhlung des Weimarer Föderalismus im Endeffekt beschleunigt. Zwar gelang
es am 5. April 1932, das von mehreren Ländern ultimativ geforderte SA-Verbot in
einer von Preußen und Bayern angeregten Konferenz der Landesinnenminister
mit Reichsminister Groener durchzusetzen.(44) Doch erwies sich die Hoffnung
auf ein, eigenständiges Machtgewicht und die Verfassung schützendes Korrektiv
der Länder spätestens mit Papens Notverordnungen vom 18. und 28. Juni als
trügerisch, als das Versammlungs- und Uniformverbot unter Missachtung der
Polizeihoheit der Länder wieder aufgehoben wurde.
Der "Preußenschlag" Papens am 20. Juli 1932 besiegelte die "politische
Scheinexistenz"(45) nicht nur der Preußischen Regierung Braun-Severing,
sondern auch des Weimarer Föderalismus insgesamt Der Staatsgerichtshof, von
der für abgesetzt erklärten Regierung und auch von Baden und Bayern angerufen,
fällte am 25. Oktober 1932 ein Urteil von "grotesker Zwiespältigkeit" (Bracher):
Einerseits wurde die Absetzung der preußischen Minister für ungültig erklärt und
der Reichsregierung das Recht abgesprochen, dem preußischen Staatsministerium
191
die Vertretung im Reichsrat zu entziehen.(46) Somit wurde die "formelle
Verreichlichung Preußens" vorerst blockiert.(47) Andererseits befand das Gericht
die Einsetzung eines Reichskommissars für das Land Preußen und dessen
Ermächtigung, preußischen Ministern vorübergehend Amtsbefugnisse zu
entziehen und diese Befugnisse selbst zu übernehmen oder anderen Personen als
Kommissaren des Reiches zu übertragen", als mit der Verfassung vereinbar.
Damit waren nicht nur die von Papen machtpolitisch geschaffenen Fakten
nachträglich legalisiert worden. Es zeichnete sich vielmehr auch, so Bracher,
"zugleich eine verfassungsrechtliche Konsequenz von größter Bedeutung ab:
Wenn die Präsidialregierung, selbst nur außerparlamentarisch sanktioniert, eine
geschäftsführende Landesregierung durch präsidialen Akt ablösen konnte, nur
weil der zuständige Landtag dazu nicht in der Lage war, dann musste dies für fast
alle größeren Länder, ja für die ganze politische Struktur der Weimarer Republik
sogleich
von
unabsehbarer
Bedeutung
werden".(48)
192
Die "Krise der kommunalen Selbstverwaltung" - Ideologie und Wirklichkeit
In einem im Dezember 1931 vorgelegten Gutachten bezeichnete Staatssekretär a.
D. Johannes Popitz die Finanzwirtschaft der Gemeinden als das eigentliche
Kernproblem des künftigen Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und
Gemeinden.(49) Diese Aussage bezog Popitz ausdrücklich auf beide Seiten der
Doppelfunktion, welche von Gemeinden und Gemeindeverbänden im politischen
System Weimars - wenngleich noch ohne eine verfassungsrechtlich verbürgte
institutionelle Garantie(50) - als Unterbau des staatlichen Gefüges bereits
wahrgenommen wurde: Im Sektor eigenverantwortlicher kommunaler
Selbstverwaltung sei das Finanzgebahren seit 1918 allgemein unsparsam"
gewesen; die nach dem Krieg eingetretene "Politisierung im Sinne eines
bestimmenden Einflusses des Parteibetriebes" habe wesentlich zu jenen
Zuständen geführt, die "eine sparsame, rationelle und sachliche Verwaltung
erschwerten und die Finanznot steigerten". Diese sei zudem durch eine allgemein
extensive Ausdehnung öffentlicher Aufgaben, die den Gemeinden zusätzliche
Verpflichtungen und Ausgaben brachte, noch verschärft worden.(51)
Damit stützte Popitz, wenngleich um moderate Formulierungen bemüht, jene sich
um die Jahrzehntwende ausbreitende konservative Zeitkritik, welche die
vorgeblichen "Luxusausgaben" und die wirtschaftliche Eigenbetätigung von
(großstädtischen) Kommunen zu wesentlichen Ursachen einer "Krise der
Selbstverwaltung" hochspielte. Die restaurative Stoßrichtung solcher
Argumentation war offenkundig. Sie zielte im Kern gegen die
Gemeindedemokratie des 1919 eingeführten allgemeinen Wahlrechts; dieses habe
die kommunale Willensbildung dem hergebrachten, bewährten Grundsatz
"sachlicher" Entscheidung entfremdet und einer kostspieligen Interessenpolitik
geöffnet.
Diese Kritik, die zum Standardrepertoire der aufgeregten Antiparteienpolemik
mittelständischer Rathausparteien, Hausbesitzerlisten und auch der 1929 in
zahlreiche Gemeinderäte einrückenden Wirtschaftspartei gehörte, erhielt durch
die fachliche Autorität von "überparteilichen" Finanzexperten wie Popitz sowie
die intellektuelle Schützenhilfe prominenter Staatsrechtslehrer wie Arnold
Koettgen und Ernst Forsthoff öffentliches Gewicht. Koettgen zufolge ließ' sich
die "Krise der heutigen Kommunalverwaltung" nicht aus ihren zeitbedingten
Wirtschartsund Finanzproblemen, sondern ursächlich allein "unmittelbar aus dem
Wesen der Gemeinde selbst erklären". Ursprünglich sei die Gemeinde in
genossenschaftlicher Verband, "raumbezogene Heimatgemeinschaft", und als
solche "gegenüber jedweden sonstigen sozialen Gruppierungen wesensgemäß
neutral" gewesen. Die im Zuge der Entwicklung zur Industriegesellschaft
eingetretene Wandlung der Bürger- zur Einwohnergemeinde habe alte
"gemeinschaftsmässige Bindungen zersetzt", zumal in der anonymen Gestalt
großer Städte. Die Gemeinde sei in ein "Instrument rationalen
Interessenausgleichs" ökonomistisch umgedeutet worden, sie widme sich, ihrem
genossenschaftlichen Zweck wesensfremd, der Regelung wirtschaftlicher
Interessen der Gemeindebewohner und betreibe "die funktionelle Expansion der
Kommunalverwaltung auf bislang von der Privatwirtschaft betreute Gebiete".(52)
193
Die antipluralistische Tendenz des vorgeblichen Gegensatzes zwischen
"eigentlicher" und "entarteter" Gemeindeselbstverwaltung wird in Koettgens
Ablehnung der "eigenartigen Zwischenschaltungen zwischen Großstadt und
Bürger in Gestalt wirtschaftlicher und politischer Organisationen" sichtbar. Als
Träger eines neuen bürgerschaftlichen Gemeinschaftsbewusstseins seien diese
Organisationen schon deswegen ungeeignet, "weil genossenschaftliche
Verbindungen unter allen Umständen unmittelbarer Natur" sein müssten. Wohl
aber drohten diese "heute überaus bedeutsamen Zwischenträger die Einheit der
Kommune pluralistisch zu sprengen, wie insbesondere das Beispiel der
politischen Parteien schon heute lehrt" (53)
Solchen Tendenzen müsse der Staat unter allen Umständen wehren, solle "sich
die Großstadt nicht zu einem pluralistischen Sprengkörper im Gefüge des Staates
entwickeln". Nicht die Demokratie habe die Krise der Selbstverwaltung
heraufbeschworen, sondern "die Denaturierung der Demokratie in dem
Parteienstaat"; dessen besonderes Kennzeichen sei der "Mangel jeglicher
repräsentativer Bindungen dieser Parteien an das Ganze der Volksgemeinschaft".
Parteienstaat bedeute "die herrschaftsmässige Handhabung des Staatsapparates im
isolierten Interesse der jeweils an der Macht befindlichen Gruppen". Die Lage der
kommunalen Selbstverwaltung sei deswegen "hoffnungslos", weil sie sich
entweder "freiwillig dem Einfluss der den Staat zur Zeit beherrschenden Partei
erschließen" ließe, oder aber "Zuflucht bei der Opposition" suche, die, ihrerseits
unter dem Gebot des Parteienstaates stehend, die jeweilige Gemeinde "in eine
parteipolitische `Zelle` zu verwandeln" bemüht sein werde.(54)
Ähnlich Koettgen stellte Ernst Forsthoff "das Entfallen der geistig-politischen
Voraussetzungen der Selbstverwaltung" fest, wandelte aber die Pluralismuskritik
ab. Auch Forsthoff geißelte die "Politisierung" des Gemeindelebens, weil diese
die "Gefahr einer pluralistischen Zersetzung des Staates" in sich schließe. Diese
Gefahr gehe aber nicht vorrangig von Parteien aus, sondern von der
"Gemeindebürokratie": Kommunale Ämter würden "vielfach nach dem
`Beutesystem` unter die Anwärter verteilt, die von den `Regierungsparteien`
vorgeschoben werden". Den Staat gefährde diese Entwicklung, "indem sie
einerseits die politische Substanz an die Gemeinden bindet, andererseits in den
zentralen gemeindlichen Organen das Bestreben erweckt, Einfluss zu gewinnen
auf die politische Gestaltung, und sie damit in die Träger politischer Bestrebungen
einreiht ".(55)
Diese Kritik war deshalb wirkungsvoll, weil sie unterschwellige
Großstadtfeindschaft und populäre Antiparteienaffekte aufgriff und diesen die
kommunale Zielscheibe gleichsam präparierte. Das von Koettgen, Forsthoff und
anderen in Anlehnung an Carl Schmitt entworfene Idealbild einer "Einheit der
Bürgerschaft im kleinen" - verfasst als genossenschaftlicher Lokalverband,
welcher die "Einheit der Nation im großen" widerspiegele und, den souveränen
Staatswillen von unten nicht antastend, sinnvoll ergänze - war eine ideologische
Konstruktion und letztlich metaphysisch begründet. Das Bild kam jedoch einem
weit verbreiteten, diffusen Harmoniebedürfnis und einer ebenso ausgeprägten
Sehnsucht nach dem starken, vom "Parteigeist" nicht angekränkelten Staat
entgegen. Für die kommunale Protestbewegung des Besitzmittelstandes aus
Handwerk, Hausbesitz und Gewerbe, die sich ausgangs der 20er Jahre gegen die
194
"Verschwendungssucht" und "Futterkrippenpolitik" der Gemeindeverwaltungen
formierte,(56) lieferte es einen theoretischen Überbau.
Gleich den akademischen Hütern einer konservativen Staatslehre und
Gemeindeauffassung mochten sich die mittelständischen Protestwähler nicht
damit abfinden, dass die Demokratisierung des Wahlrechts die
Geschäftsgrundlagen der Kommunalpolitik verändert hatte - zumal sie ihre
materiellen Interessen unmittelbar berührt sahen. Das bis 1918 von einem
plutokratischen Klassenwahlrecht geschützte Vertretungsprivileg der vormaligen
Hausbesitzerparlamente
war
gebrochen.
Stattdessen
hatten
breite
Bevölkerungsschichten, die zuvor in Gemeindevertretungen unterrepräsentiert
gewesen waren, hinfort an der Verteilung und Aushandlung kommunaler
Einnahmen, Ausgaben und Personalentscheidungen erstmals gleichberechtigt
Anteil. Vor allem Mehrheitsbeschlüsse über die Erhöhung der Gemeindesteuern
riefen regelmäßig den erbitterten Widerstand der bürgerlichen "Mitte" hervor.
Blind für die Einsicht, dass ja erst die verbandsförmige Organisierung
unterschiedlicher Interessen deren Konfliktaustrag berechenbar und
durchsichtiger macht, erschien selbst im nüchternen Fachverstand eines Johannes
Popitz kommunale Parteipolitik als Inbegriff unsachgemäßer und unheilvoller
Politisierung:
"Abstimmung
nach
Fraktionen
auch
über
reine
Zweckmäßigkeitsfragen, Hineintragung der großen Parteigegensätze in rein lokale
und regionale Angelegenheiten, offenes Hervortreten der Bestimmung der
Beschlüsse durch Abwägung nach den Interessen sozialer Größen statt nach dem
Gemeindewohl, vielfach auch Unfähigkeit, die Verantwortung für unpopuläre,
aber notwendige Maßnahmen zu übernehmen. "(57)
Die Gemeinden und ihre berufenen Vertreter bei den kommunalen
Spitzenverbänden, etwa des Deutschen Städtetages, haben auf diese
Krisendiskussion, in der Forderungen nach sparsamer Haushaltspolitik und
Demokratiekritik wirkungsvoll vermischt wurden, auffallend defensiv reagiert.
Dies erklärt sich einmal damit, dass die Oberbürgermeister der wegen ihrer
aktiven Investitions- und Wirtschaftstätigkeit besonders heftig attackierten
Großstädte, von Ausnahmen abgesehen, ihrerseits nicht selten ein distanziertes
Verhältnis zu kommunaler Parteipolitik pflegten. Hans Luther z. B., zunächst
hauptamtlicher Geschäftsführer des Deutschen Städtetages und hernach
Stadtoberhaupt in Essen, hat sich rückblickend einen "Politiker ohne Partei"
genannt.(58) Und über Richard Rive, von 1906-1933 Oberbürgermeister in Halle,
schreibt sein Biograph:
"Er fand auch in den besseren Jahren von 1925-1928 kein gutes Verhältnis zu diesem
pluralistischen, von heftigem politischen Streit gekennzeichneten Weimarer Parteienstaat. So wie
er meinte, dass überhaupt das Prinzip der Auslese dem der Wahl überlegen sei, so fand er, dass die
Politisierung seitdem Umsturz von 1918 den Ruin und die Entartung der Kommunalverwaltung
heraufbeschwöre und die Steinsche Organisation der Selbstverwaltung nun von demokratischen
und kommunistischen Anschauungen ausgehöhlt werde."(59)
Selbst beim Präsidenten des Städtetages, Oskar Mulert, an sich ein entschiedener
Anwalt des politischen Primats der gewählten Gemeindevertretung, zeigte die
anhaltende Entpolitisierungskampagne Wirkung. Im Januar 1932 äußerte er, die
Verwaltung einer Gemeinde sei "keine politische Regierung, sondern eine nach
wirtschaftlichen
und
gerechten
Gesichtspunkten".(60)
195
196
Zum anderen waren die kommunalen Haushaltsprobleme zu Beginn der 30er
Jahre eine unübersehbare Tatsache geworden. Die akuten Finanznöte verliehen
spätestens jetzt den seit Jahren erhobenen Vorwürfen der Verschwendung und
einer durch "Größenwahn" ehrgeiziger Lokalpolitiker verursachten
Überschuldung scheinbar Glaubwürdigkeit. Im September 1924 hatte Hjalmar
Schacht, seinerzeit Reichsbankpräsident, im Reichsministerium des Innern
erstmals seine Bedenken gegen kommunale Auslandsanleihen vorgetragen. Diese
würden in der Regel für "unproduktive Zwecke wie Straßen- und Wohnungsbau"
verwendet.(61) Im Oktober 1927 verschärfte Schacht die Polemik. Öffentlich
erhob er in Bochum gegenüber den Gemeinden den Vorwurf, mit kommunalen
Anleihen "Luxusausgaben" zu finanzieren. "Ich stelle hiermit fest, dass wir ohne
die Luxusausgaben der Städte nicht eine einzige kommunale Auslandsanleihe
aufzunehmen brauchten." Die Gemeinden hätten u. a. "Paläste" gebaut und
"Rittergüter" erworben.(62)
In der Rückschau stellt sich mithin die Frage nach den tatsächlichen
Bestimmungsgründen der kommunalen Haushaltskrise: Inwieweit war diese
hausgemacht, inwieweit extern verursacht?
Gab es zwischen gemeindlicher Investitionstätigkeit - insonderheit den
vielgeschmähten "Luxusausgaben" -und übermäßiger Verschuldung einen
nachweislichen Zusammenhang?
Klärend für die Beantwortung dieser Frage ist die genauere Betrachtung der
Entwicklung der Gemeindefinanzen und deren zahlenmäßiger Unterteilung nach
wesentlichen Einnahme- und Ausgabenpositionen. Das Rechnungsjahr 1929
hatten Gemeinden und Kreise mit einem Fehlbetrag von rund 260 Mio. RM abge-
197
schlossen. Trotz diverser Sparmaßnahmen erweiterte sich die Deckungslücke
1931 auf rund 400 Mio. RM (vgl. Tab. 7). Sinkenden Einnahmen (durch
konjunkturbedingte Steuerausfälle) standen steigende Mehrausgaben durch
höhere Unterstützungsleistungen für die sogenannten Wohlfahrtserwerbslosen
sowie für die Verzinsung und Tilgung von Schulden gegenüber. Obwohl die
Gemeinden bereits 1929 mit Hilfe der Sparkassen und Girozentralen eine
Umschuldung mittel- und kurzfristiger in langfristige Schulden eingeleitet hatten,
brachte die Konsolidierungsaktion, wie Berechnungen des Städtetags über
Veränderungen im Schuldenstand von 1929 auf 1931 zeigen, nur begrenzten
Erfolg (vgl. Tab. 8). Zwar zeigte die Auslandsverschuldung eine rückläufige
Tendenz. Aber die Summe der Gesamtverbindlichkeiten, und darunter auch der
Anteil mittel- und kurzfristiger Inlandskredite, schwoll binnen zweier Jahre von
rund 6,5 Mrd. RM (März 1929) auf rund 8,4 Mrd. RM (März 1931) deutlich an.
Schlüsselt man die Ursachen systematisch auf, so lässt sich feststellen: Die
Finanznot der Gemeinden war verursacht durch langfristig wirksame,
strukturbedingte Faktoren, die sich im Zusammentreffen mit kurzfristig
wirksamen, konjunkturbedingten Faktoren um die Jahrzehntwende zur
eigentlichen Haushaltskrise verdichtet haben. Bei den strukturellen Problemen
lassen sich wiederum externe, d. h. von den Gemeinden nicht selbst steuerbare
und interne, d. h. durch eigenständige kommunale Aktivitäten (im Bereich
freiwilliger Leistungen) hervorgerufene Wirkungen unterscheiden. Zu den
externen Wirkungen sind die im Zuge der Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher
Leistungen den Gemeinden übertragenen gesetzlichen Pflichtaufgaben (u. a.
insbesondere die Fürsorge für ausgesteuerte Erwerbslose) sowie die die
Gemeinden benachteiligende Konstruktion des innerstaatlichen Finanzausgleichs
zu rechnen. Interne Wirkungen gingen aus vom Ausbau der kommunalen
Infrastruktur und der sozialen Dienste sowie der wirtschaftlichen Tätigkeit der
kommunalen Eigenbetriebe. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Gesamtlage ab
1929 deckte die strukturellen Probleme der kommunalen Finanzwirtschaft dann
fühlbar auf: Der Konjunktureinbruch führte zu geringeren Zuweisungen aus der
198
Steuerverbundmasse und ließ andererseits die Aufwendungen für die
Arbeitslosenhilfe sprunghaft ansteigen. Die Bankenkrise von Mai/Juni 1931 und
der Abfluss kurzfristiger Auslandsanleihen verschärften überdies die Liquiditätsund Deckungsschwierigkeiten der gemeindlichen Etats.
Im März 1931 listete der Preußische Städtetag in einer Denkschrift den für die
kommunale Finanzwirtschaft folgenreichen Wirkungszusammenhang auf. Die
Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen in den preußischen Gemeinden und Kreisen
stieg von 225 000 bei Jahresbeginn 1930 auf 665 100 am 1. März 1931.
Entsprechend verdoppelte sich der Unterstützungsaufwand binnen eines Jahres
auf rund 345 Mio. RM. Da sich die Einnahmen nicht in gleichem Umfang
steigern ließen, mussten die Ausgaben gedrosselt werden, und dies hauptsächlich
zu Lasten der Personal- und Sachkosten im Verwaltungshaushalt der Gemeinden.
Beförderungs- und Einstellungssperren reduzierten die Personalausgaben, weitere
Einsparungen im Tiefbau, im Schul-, Bildungs- und Gesundheitswesen, bei
städtischen Anstalten und in der allgemeinen Verwaltung summierten sich für das
Jahr 1930 in Gemeinden mit mehr als 25 000 Einwohnern auf rund -80 Mio. RM.
Trotz der rigorosen Sparbeschlüsse ergab sich auf Grund des Mehraufwands für
die Wohlfahrtserwerbslosen und Mindereinnahmen ein effektiver Fehlbetrag von
ca. 225 Mio. RM. Angesichts dieser Situation wiederholte der Städtetag seinen
Vorschlag, die Krisenunterstützung und die Wohlfahrtsfürsorge für Erwerbslose
zusammenzuführen und die Gesamtlasten auf Reich, Länder und Gemeinden im
Verhältnis 2:1:1 neu zu verteilen.(63)
Am Problem der Erwerbslosenfürsorge wird das Missverhältnis der Verteilung
öffentlicher Aufgaben und Lasten auf Reich, Länder und Gemeinden sowie im
innerstaatlichen Finanzausgleich besonders deutlich. Die enorme Steigerung der
öffentlichen Ausgaben war angesichts der Kriegsfolgelasten und sozialen Nöte
der Zeit unausweichlich. Das räumten auch konservative Finanzsachverständige
wie Popitz ein, auch wenn sie ansonsten mit Unbehagen "die übermäßige
Ausdehnung der Staatstätigkeit, die längst auf dem Wege vom Verwaltungsstaat
mit seinem Gegenstück, dem Steuerstaat, schon die Stufe des Wohlfahrtsstaats
überwunden hat und die Entwicklung zum Versorgungsstaat schlechthin zu
nehmen droht(64), registrierten. Das seit 1927 geltende dreiteilige System der
unterstützenden Arbeitslosenhilfe sah vor, dass Erwerbslose nach Auslaufen der
Versicherungsleistungen und der Aussteuerung aus der sogenannten
Krisenfürsorge (deren Kosten zu 4/5 vom Reich, zu 1/5 von Gemeinden getragen
wurden) der voll kommunal finanzierten Wohlfahrtsfürsorge überstellt wurden.
Die Logik des Systems führte dazu, dass mit steigenden Arbeitslosenraten und
gekürzten Leistungszeiten immer mehr Hilfsbedürftige auf gemeindliche
Zuschüsse angewiesen waren (vgl. Tab. 9). Städtetagspräsident Mulert rechnete
1932 vor:
"Sondert man den kommunalen Finanzbedarf nach Ausgabenzwecken, so zeigt sich, dass das
Steigen der Ausgaben für die Arbeitslosen zu einem völligen Strukturwandel im
Gemeindehaushalt geführt hat. Die Ausgeben der Gemeinden für die Erwerbslosenfürsorge
einschließlich des Gemeindeanteils an der Krisenfürsorge, die 1928 160 Mill. RM erforderten,
sind 1929 auf 270 Mill. RM und 1930 auf 605 Mill. RM angeschwollen, um 1931 den gewaltigen
Betrag von 1,1 Millrd. RM zu erreichen, obgleich die Unterstützungssätze seit 1930 wiederholt
herabgesetzt worden sind."(65)
199
Um die kommunale Erwerbslosenfürsorge aufrechterhalten zu können, waren die
Gemeinden gezwungen, neue, auch kurzfristige Kredite aufzunehmen. Dadurch
geriet die Ende 1929 eingeleitete Konsolidierungsaktion neuerlich ins
Stocken.(66) Für die Gemeinden war dies der Anlass, wiederholt auf eine
grundlegende Korrektur der Lasten- und Steuerverteilung zwischen den
öffentlichen Gebietskörperschaften zu dringen. Anlässlich der Vorstellung eines
vom Deutschen Städtetag erarbeiteten Sanierungsprogramms im August 1931
mahnte Mulert: Ohne Bereinigung des Problems von Reich und Preußen, ohne
Neuordnung des Verhältnisses der Gemeinden zum Reich werde man die
bestehenden Schwierigkeiten nicht bewältigen. Die Reichsreform müsse auch den
Finanzausgleich bringen.(67)
Reformbedürftig war aus Gemeindesicht sowohl die Größenordnung als auch der
Modus der Steuerverteilung. Auf der Jahresversammlung des Deutschen
Städtetages am 27. September 1929 in Frankfurt/Main führte Präsident Mulert
hierzu
aus:
200
"Eine systematische Regelung des Finanzausgleichs - mehrmals versucht - musste immer wieder
hinausgeschoben werden. Die unzusammenhängenden Teilregelungen brachten den Gemeinden
als den politisch schwächsten regelmäßig weitere Verschlechterungen ihrer finanziellen Lage. Die
Reichsfinanzstatistik lässt klar erkennen, dass infolgedessen die Finanzlage der Gemeinden heute
ungünstiger ist als vor 5 Jahren. Trotz des Anwachsens der Steuererträge, insbesondere aus den
Überweisungssteuern, reichten die Mehreinnahmen nicht aus, um das sehr viel stärkere
Anwachsen des Zuschussbedarfs auszugleichen. Die finanzielle Bedrängnis der Gemeinden tritt
noch stärker hervor, wenn man sie mit den Länderfinanzen vergleicht, die eine weit weniger
ungünstige Entwicklung genommen haben. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die
große Entlastung, die die Länderfinanzen durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung
erfahren haben, während die gleiche Maßnahme den Gemeinden im Gefolge keine Erleichterung
brachte. Wir unterwerfen uns dabei durchaus nicht blindlings dem sogenannten Gesetz des
zwangsläufigen Wachsens der öffentlichen Ausgaben. Für die Gemeinden aber sind diese
gesteigerten Mehrausgaben, sei es durch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, sei es in
besonderem Maße durch die Reichsund Landesgesetzgebung, zum allergrößten Teil zwangsläufig
geworden. Man spricht zwar viel von einem Lastenausgleich; gehandelt hat man aber in den
letzten Jahren umgekehrt."(68)
Die Neuverteilung des Steueraufkommens war für die kommunalen
Repräsentanten mit dem Problem des im Bereich der Finanzpolitik
fortgeschrittenen Zustands zentralstaatlicher Regelung eng verknüpft. Man hatte
sehr aufmerksam das Bestreben des Staates registriert, beispielsweise über Fonds
einen indirekten Weg des "Mitregierens" zu erschließen sowie für eine
einheitliche Durchführung erlassener Gesetze und Vorschriften gegenüber
Ländern und Gemeinden gleich selbst zu sorgen.(69) Interessant ist nun, dass sich
die Interessenvertreter der Gemeinden nicht, wie die um ihre föderalistischen
Kompetenzen besorgten Länder, prinzipiell gegen den Gesetzeszentralismus
wandten, sondern sich dem Reich als direkte Partner, gleichsam in einem
vorweggenommenen dezentralen Einheitsstaat, empfahlen: Das Reich solle,
forderte Mulert bereits auf dem 7. Städtetag 1927, die Verteilung der
Steuerquellen und Steueranteile nicht mehr, wie bis dahin, für Länder und
Gemeinden gemeinsam ausweisen, sondern die Steuerverteilung zwischen
Ländern und Gemeinden präzise abgrenzen. 1929 beklagte Mulert vor dem
gleichen Forum, wie nachteilig sich das Fehlen einer engeren Verbindung
zwischen Reich und Gemeinden auswirke. Die vom Städtetag geforderte
Einrichtung einer Kommunalabteilung im Reichsinnenministerium erscheine
dringlicher denn je.(70)
Diese Perspektive einer direkten Verständigung zwischen Reich und
Selbstverwaltungsorganen kollidierte freilich mit dem (noch ungeschriebenen)
Verfassungsgrundsatz, dass die Regelung von Gemeindeangelegenheiten
Ländersache ist. Die Perspektive erwies sich spätestens mit Beginn der
Notverordnungspolitik, durch die der Staat massiv in den Kernbereich
kommunaler Zuständigkeiten eingriff, als überholt.
Angesichts leerer Gemeindekassen und hektischer Sparmaßnahmen fand der
Vorwurf, an der Finanzmisere seien in hohem Maße "Luxusausgaben" schuld, in
der Öffentlichkeit bereitwillig Aufnahme. Die Stoßrichtung und Qualität der
Argumentation war durchaus verschieden. Während Hjalmar Schacht unter
Luxusausgaben neben den erwähnten " Rittergütern a und "Palästen- auch
Stadien, Schwimmbäder, Hotels, Flughäfen, Messegelände, Museen und
201
Grünanlagen einordnete(71) und damit weite Bereiche kommunaler Kulturpflege
und Wirtschaftsförderung attackierte, war für den Finanzpolitiker Popitz das
Hauptärgernis die "ungeregelte, mangelhaft kontrollierte Kreditpolitik", die das
Ausgabeverhalten der öffentlichen Hände leite und eine solide Haushaltsführung
gefährde:
"Denken Sie an die Wohnungspolitik! Ich glaube, wir sind uns doch wohl heute darüber klar, dass
es mit das Verhängnisvollste in unserer Wirtschaftspolitik gewesen ist, dass wir gerade diese
Wohnungspolitik einheitlicher Leitung entzogen haben, dass wir sie einer Fülle von
Willensträgern überlassen haben, die sich nun je nach ihrer politischen Struktur in eigener Regie
oder durch Kreditgewährung aus öffentlichen Mitteln auf diesem gewaltigen Gebiet betätigt
haben, das doch der Bedarfswirtschaft der freien Wirtschaft abgenommen worden ist und
deswegen, seiner automatischen Regulierung beraubt, besonders sorgfältig behandelt werden
mußte."(72)
Auch die Personalpolitik der Gemeinden wurde zur Zielscheibe der Kritik. Popitz
rechnete vor, dass die Zahl der Beamten, Arbeiter und Angestellten in Gemeinden
und Gemeindeverbänden (ohne Bedienstete der selbständigen Werke) Ende Mai
1928 insgesamt rund 390 000 betrug. Der dafür erforderliche Kostenaufwand
belief sich auf 1,9 Mrd. RM. Dabei habe sich die gerade in den Gemeinden
beobachtbare Politisierung "besonders schlimm" ausgewirkt, weil aus Proporz
gründen überflüssige Stellen nicht eingespart, vielmehr neu geschaffen
würden.(73) Die Städte haben sich gegen den unterstellten Kausalzusammenhang
zwischen Verschuldungskrise und leichtfertiger Ausgabenfreudigkeit entschieden
gewehrt und - zu Recht - darauf verwiesen, dass die beanstandete kommunale
Investitionstätigkeit die Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten
verbessert habe und folglich dem Gemeinwohl diene. Auf der
Städtetagsversammlung 1927 in Magdeburg bezog Mulert dies ausdrücklich auch
auf den kommunalen Wohnungsbau:
"Gerade die jüngste Entwicklung hat nur zu anschaulich gezeigt, dass der private Kapitalmarkt
leider noch viel zu schwach ist, um dem Wohnungsbau die erforderlichen Kapitalien zur
Überwindung der Wohnungsnot zuzuführen. Die Ergebnisse der Reichswohnungszählung haben
erneut den Nachweis geliefert, dass die Wohnungsnot in den Städten noch immer erschreckend
groß ist. Würden die Städte nicht gegen ihre elementarste Pflicht verstoßen, wenn sie die
Behebung dieser gegenwärtig vielleicht sozialpolitisch dringendsten Frage dem freien Spiel der
Kräfte überlassen wollten? Die Kapitalien, welche die Gemeinden für den Bau von gesunden und
wohlfeilen Heimstätten für die breiten Schichten der Bevölkerung verwenden, kommen der
Wirtschaft ebenso zugute, wie die Aufwendungen für irgend einen anderen produktiven
Zweck."(74)
In der Tat waren jedenfalls die Großstädte zu großen Arbeitgebern geworden.
Allein die Stadtverwaltung Berlin beschäftigte Ende der 20er Jahre gegen 23 000
Beamte und Angestellte, ferner 6 100 kfm. Hilfskräfte und 18 000 Arbeiter, die
Bediensteten der städtischen Betriebe nicht eingerechnet .(75) Die Ausweitung
der kommunalen Stellenpläne in den 20er Jahren ist jedoch der Vermehrung des
Angebots öffentlicher Leistungen im eigenen und übertragenen Wirkungskreis der
Gemeinden gefolgt.
Die Städte räumten durchaus ein, dass die Kreditfinanzierung ihrer
Investitionstätigkeit eine Konsolidierung der kommunalen Haushalte erschwere.
Aber, so konterten sie den Luxusausgaben-Vorwurf, die Anleihen würden
durchwegs zu produktiven Zwecken verwendet (vgl. Tab. 10):
202
"Die Versuche, die Ausnahmen, die es wie überall im Leben auch hier gibt, zu verallgemeinern,
müssen geradezu als eine Irreführung der öffentlichen Meinung bezeichnet werden. Wie die
Feststellungen des Statistischen Reichsamtes ergeben, sind von den gesamten Inlands- und
Auslandskrediten der Kommunen für Unternehmungen, Betriebe und Vermögensverwaltung 39,3
v. H., für Wohnungs- und Siedlungswesen und die dazu gehörigen Aufwendungen für Straßenbau,
Kanalisation und dergl. 36,3 v. H. aufgenommen worden; der Rest ist im wesentlichen für
dringliche soziale und kulturelle Zwecke, wie Krankenhäuser, Schulen usw. verbraucht
worden."(76)
Dass ein erklecklicher Teil der aufgenommenen Kredite als Anlagekapital in die von den Verbänden der privaten Wirtschaft heftig kritisierten(77)- kommunalen
Wirtschaftsbetriebe floss, hatte aus Sicht der Gemeinden gerade etatentlastende
Effekte. Die Eigenbetriebe, erläuterte der Duisburger Oberbürgermeister Jarres
1929, hätten einen wesentlichen Rückhalt in den Gemeindehaushalten gebildet,
wobei es gelungen sei, die Tarife für Strom, Gas und Wasser durchweg auf und
sogar unter dem Preisniveau privater bzw. gemischtwirtschaftlicher Werke zu
halten.(78) Auch das Popitz-Gutachten von Ende 1931 enthält den Hinweis, dass
1927/28 insgesamt 8 Prozent des Finanzbedarfs und 12 Prozent des
Zuschussbedarfs der kommunalen Haushalte aus Überschüssen der Eigenbetriebe
gedeckt worden seien.(79)
203
Finanzausgleich als "Notreform"
Im Zuge des Notverordnungskurses leitete das Reich eine "Notreform" der
Gemeindefinanzen ein und erweiterte auf diesem Wege seine
finanzwirtschaftlichen Kompetenzen zu Lasten der Länder und Gemeinden
beträchtlich. Durch die Notverordnung vom 26. Juli 1930 wurde den Gemeinden
auferlegt, sogenannte Notsteuern - Biersteuer, Getränkesteuer und eine
Bürgersteuer - zu erheben. Letztere war eine nach Jahreseinkommen gestaffelte
Kopfsteuer, die auch Ehegatten und Dienstboten einbezog.(80) Das Reich setzte
weitgehend die Erhebungs-Richtlinien selbst fest. Eine weitere Notverordnung
vom 1. Dezember 1930 brachte u. a. eine mehrjährige Ausgabenbegrenzung für
die Gemeindeverwaltungen. Ferner wurden die Gemeinden auf eine
Gehaltskürzung für ihre Bediensteten gemäß der Reichsregelung festgelegt.
Gleichzeitig wurden die Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer) gesenkt und
vereinheitlicht.
Für die kommunale Selbstverwaltung brachte insbesondere die Notverordnung
vom 5. Juni 1931 eine tiefe Zäsur. Abermals wurden die Gehälter der
kommunalen Beamten und Angestellten abgesenkt. Die Ausdehnung der
Kürzungsauflagen auch auf die Gemeindearbeiter griff in die Tarifautonomie der
Länder und Gemeinden direkt ein. Zur Sicherung der Haushaltsführung wurden in
die Verordnung außerdem Bestimmungen aufgenommen, die dem Reich die
Möglichkeit eröffneten, in das bis dahin in ausschließlicher Länderhoheit liegende
Kommunalverfassungsrecht hineinzuwirken. Der Reichsfinanzminister sicherte
sich zur Überprüfung der korrekten Verwendung der den Kommunen zur
Erleichterung ihrer Wohlfahrtslasten zur Verfügung gestellten Mittel eine
unmittelbare staatliche Rechtsaufsichtsbefugnis.
Mit einer weiteren Notverordnung am 5. August 1931 wurde kommunalen
Sparkassen und Giroverbänden untersagt, Anleihen, Darlehen und sogar
Kassenkredite an Gemeinden und Gemeindeverbände auszureichen. Ab 7.
Oktober d. J. unterlag die Aufnahme von Anleihen, Darlehen und Bürgschaften
durch Gemeinden und Kreise der Genehmigung der Landesregierung oder von
dieser beauftragten Behörden. Ab demselben Datum wurden Neubauten für
öffentliche Verwaltungsgebäude bis Ende März 1934 untersagt. Am 24. August
wurden die Landesregierungen ermächtigt, gegebenenfalls abweichend vom
Landesrecht per Verordnung alle Maßnahmen zu treffen, die zum Ausgleich der
Länder- und Gemeindehaushalte erforderlich seien. Auf diese Weise konnten
Personalausgaben und andere Ausgaben der Gemeinden von Staats wegen gekürzt
werden. In einem Rundschreiben an die Landesregierungen wies das
Reichsfinanzministerium auf die damit geschaffene Möglichkeit hin, unmittelbar
in das Gemeinderecht einzugreifen und beispielsweise die Kommunalaufsicht zu
verschärfen. Hinfort konnten die Gemeindevorsteher durch die Landesbehörde
ermächtigt werden, auch gegen den Widerstand ihrer gewählten
Vertretungskörperschaften Sparmaßnahmen anzuordnen.(81)
Die Gemeindepolitiker reagierten auf die Maßnahmen der Reichsregierung
zwiespältig. Einesteils wurde anerkannt, dass etwa die neuen Notsteuern den
Gemeinden pro Jahr rund 220 Mio. RM an Mehreinnahmen brachten und auch
sonst die Gemeindehaushalte nicht unerheblich entlastet wurden. "Das Reich hat
hiermit die Dringlichkeit der Gemeindeaufgaben anerkannt."(82) Auch lag die
204
fortschreitende
Ausdehnung
der
Reichszuständigkeiten
auf
Gemeindeangelegenheiten durchaus auf der Linie einer Tendenz hin zum
Einheitsstaat, wie sie seitens kommunaler Spitzenvertreter seit längerem
befürwortet wurde. Andererseits war unverkennbar, dass insbesondere durch die
reichsseitige Regelung der Gemeindesteuern, durch die Verschärfung der
Staatsaufsicht und Eingriffe in kommunales Tarifvertragsrecht die
Selbstverwaltung massiv eingeschränkt worden ist. Auf der Ebene der
Gemeindevertretungen rief diese staatlich verfügte Entmündigung, wie im
folgenden letzten Abschnitt dargestellt wird, heftige Reaktionen und passiven
Widerstand hervor.
Radikalisierung und Selbstlähmung der Kommunalpolitik
Die aus der Sicht einer vordemokratischen Gemeindeideologie so beredt beklagte
"Politisierung" des Gemeindelebens trat Ende der 20er Jahre tatsächlich ein.
Allerdings nicht als eine Folge von Parteipatronage und pluralistischer
"Zersetzung". Ursächlich lag dies vielmehr daran, dass, wie Wilhelm Külz 1931
schrieb, die "Politik von Reich und Staat immer mehr ihre letzten und fühlbarsten
Auswirkungen in den Gemeinden und deren Verwaltung fand"(83) Die infolge
der dramatisch verschlechterten Kassenlage der Kommunen verschärften
finanziellen Verteilungskämpfe, die weltanschaulichen Positionskämpfe, die von
rechts- und linksextremistischen Rathausfraktionen geschürt wurden, schließlich
die dirigistischen Eingriffe vonseiten der Reichsregierung veränderten die
Bedingungen und die Atmosphäre der Kommunalpolitik sichtlich.
Die Auswirkungen der autoritären Notverordnungspolitik beschnitten die
Selbstverwaltungsrechte der gewählten und der hauptamtlichen kommunalen
Organe, und sie machte, den Konflikt zwischen Rat und Gemeindeverwaltung
anheizend, die Hauptverwaltungsbeamten teilweise zu kommissarischen
verlängerten Armen des Staates. Sie wurden beauftragt, die Haushaltskürzungen
und neuen Notsteuern auch gegen das Votum bzw. die Weigerung der
Ratsversammlungen zwangsweise durchzusetzen. Anfang 1932 ordnete der
preußische Innenminister per Erlass an, in den Regierungsbezirken der
Rheinprovinz staatliche Kommissare zu bestellen, welche in Gemeinden, die mit
Zinszahlungen für staatliche Kredite bzw. mit der erhöhten Provinzialumlage in
Rückstand waren, die Aufbringung der Gelder sicherzustellen hatten gegebenenfalls sollten den Gemeinden zustehende Reichssteuerüberweisungen
einbehalten werden (dieses widerfuhr im Januar 1932 beispielsweise den
Gemeinden des Landkreises Wetzlar).(84)
Hinzu kamen, die Handlungsfähigkeit der Gemeindeparlamente zusätzlich
einengend, die Auswirkungen der parteipolitischen Polarisierung. Zwar blieben
die Kräfteverhältnisse in Gemeinderäten und Kreistagen in den größten Ländern
(Preußen, Bayern) bis März 1933 auf dem Stand der Novemberwahlen von 1929
gleichsam eingefroren. Aber bereits 1929 hatte sich das Ratsklima deutlich
verändert: neben der Wirtschaftspartei und Bürgerlisten, die in zahlreichen
Kleinund Mittelstädten aus dem radikalisierten Besitzmittelstand Zulauf erhielten,
stellte die KPD insbesondere in Berlin und den Großstädten der Industrieregionen
205
stärkere Fraktionen. Die NSDAP war vorläufig noch auf den Status einer
kommunalen Splittergruppe verwiesen (vgl. Tab. 11).
Die nach den 1929er Kommunalwahlen überwiegend gestärkte Position der
Kommunisten sowie die Präsenz herausfordernd auftretender NS-Ratsmitglieder
haben die Grundlage für eine konstruktive und sachbezogene Ratsarbeit, die unter
den Bedingungen rigider Sparmaßnahmen und autoritärer Krisensteuerung von
oben ohnedies einer Gratwanderung gleichkam, zusätzlich untergraben. Die
Nationalsozialisten nutzten die Ratsversammlungen als Bühne für demagogische
206
und rassistische Forderungen: gegen "Bonzentum" und neue Anleihen, gegen den
"jüdisch-marxistischen Kapitalismus" und die "Erfüllungspolitik" auch in den
Gemeinden. Eine bürgerliche Einheitsfront wurde von ihnen strikt abgelehnt.(85)
Die kommunistischen Ratsfraktionen wiederum wurden kraft zentraler
Parteianleitung ab Ende 1928 auf kompromisslose Opposition und schroffe
Abgrenzung gegenüber der SPD verpflichtet: Ablehnung der Gemeindehaushalte
(gerade
auch
in
SPD-geführten
Verwaltungen)
und
Ablehnung
sozialdemokratischer Bewerber bei Personalwahlen; Absprachen oder
Arbeitsgemeinschaften mit anderen Parteien wurden als "kleinbürgerliche"
Abweichung zurückgewiesen. Auf der Sitzung des KPD-Zentralkomitees im
August 1929 gab Wilhelm Koenen den Kurs vor. "Wir müssen überhaupt den
Feind innerhalb der Gemeinde schärfer anprangern als bisher. Es herrscht bei
unseren Genossen noch zu sehr das Gefühl, dass schließlich in der
Selbstverwaltung doch so eine Art von Vertretung der allgemeinen
Gemeindeinteressen vorhanden wäre. Diese Vorstellung muss vernichtet
werden."(86)
Das staatliche Notverordnungsregime erzeugte darüber hinaus eine weitere
Variante kommunaler Obstruktionspolitik. Häufig weigerten sich Ratsmehrheiten,
die unpopulären neuen Notsteuern bzw. Sparmaßnahmen durch entsprechende
Beschlüsse umzusetzen. Auch die Parteien, schreibt Bernhard Blühen im
kommunalen Jahrbuch 1932, die "im Reichstag sich für die Notverordnungen
notgedrungen einsetzten, konnten nicht verhindern, dass in den
Gemeindeparlamenten, wenn es sich um die Einführung unpopulärer Steuern
handelte, ihre Parteifreunde anders stimmten. Die Erhöhung der Biersteuer, die
Einführung der Getränkesteuer, die Einführung und Erhöhung der Bürgersteuer
wurden in der Mehrzahl der Gemeindeparlamente abgelehnt. Die Kürzung der
Beamtengehälter wurde in den Gemeindeparlamenten vielfach bekämpft, wenn
auch naturgemäß dieser Kampf ergebnislos war. Die mehr oder minder negativen
Beschlüsse der Gemeindeparlamente, die vielfach die Haushaltspläne ablehnten
und die zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Haushaltsplan
erforderlichen Steuern verweigerten, führten zu einem verstärkten Eingreifen der
Staatsaufsicht" (87)
Allein in Preußen schritt die - noch republikanische - Staatsregierung zur
Ernennung von nahezu 500 Staatskommissaren, die, ungeachtet des hinhaltenden
Widerstands der Gemeindeparlamente und auf zunächst unsicherer rechtlicher
Grundlage, zur Ersatzvornahme der staatlicherseits verfügten Zwangsmaßnahmen
ermächtigt waren. Die Einsetzung von Staatskommissaren ist ein Symbol für die
spätestens 1932 sichtbar werdende, weitgehende Selbstlähmung des
Gemeindeparlamentarismus. Bedenkt man außerdem das Ausmaß der von der
Regierung Papen/Gayl nach dem "Preußenschlag" eingeleiteten personellen
Säuberungsaktion gegen republiktreue hohe Beamte, die auch zahlreiche Landräte
erfasste, so hatte schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung im
Januar/März 1933 die faktische staatliche Gleichschaltung unübersehbar ein
fortgeschrittenes
Stadium
erreicht.
207
Anmerkungen
1 Gerhard Lassar: Gegenwärtiger Stand der Aufgabenverteilung zwischen Reich
und Ländern, in: Anschütz/Thoma, HbI)StR I, Tübingen 1930, S. 320, 312f.
2 Dietmar Petzina: Soziale und wirtschaftliche Entwicklung, in: Jeserich/Pohl/v.
Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 56
3 RGBI. 1926/I, S. 203 und RGBI. 1927/I, S. 91
4 Ottmar Bühler: Die Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiete des
Finanzwesens, in: Anschütz/Thoma (wie Anm. 1), S. 330f.
5 Ebenda, S. 338
6 Ebenda, S. 337
7 Ebenda, S. 338
8 Lassar (wie Anm. 1), S. 318
9 Ebenda, S. 315
10 Petzina (wie Anm. 2), S. 58
11 Bühler (wie Anm. 4), S. 339
12 Verwaltungsaufbau, Steuerverteilung und Lastenverteilung im Deutschen
Reich (Einzelschriften zur Statistik des Dt. Reiches Nr. 6), Berlin 1929, S. 126
13 Bühler (wie Anm. 4), S. 339
14 Politik in Bayern 1919-1933, Berichte des Württemb. Gesandten Carl Moser v.
Filseck, Stuttgart 1971, S. 244
15 Reichsreform. Mitteilungen des Bundes zur Erneuerung des Reiches, Jg.:
3/1931, H. 1, S. 16 f.
16 Carl Bilfinger: Der Reichsrat, in: Anschütz/Thoma (wie Anm. 1), S. 549
17 Lassar (wie Anm. 1), S. 318 f.
18 Richard Thoma: Das Reich als Bundesstaat, in: Anschütz/Thoma (wie Anm.
1), S. 175
19 Bilfinger (wie Anm. 16), S. 561
20 Ebenda, S. 557
21 Ebenda, S. 558f
22 Theodor Eschenburg: Bundesrat - Reichsrat - Bundesrat, in: Der Bundesrat als
Verfassungsorgan und politische Kraft, Bad Honnef/Darmstadt 1974, S. 45; auch
Bilfinger, a. a. O.
23 zit. nach Franz Albrecht Medicus: Reichsreform und Länderkonferenz, Berlin
1930, S. 5 f.
24 Siehe Thoma (wie Anm. 18), S. 185
25 Arnold Brecht: Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preußens, Bonn
1949, S. 135 f.
26 Ebenda, S. 137
27 Medicus (wie Anm. 23), S. 56 f., 61
28 Abdr. in: Medicus (wie Anm. 23), S. 42; vgl. auch Politik in Bayern (wie
Anm. 14), S. 219
29 Auf der Staatsrechtslehrertagung in Jena 1924 führte Gerhard Anschütz aus:
"Bayern war stets und ist noch heute das Hauptverbreitungsgebiet einer
Reichsansicht, für die das Verhältnis Bayerns zum Reich kein
Unterordnungsverhältnis, sondern ein Bundesverhältnis unter Gleichen bedeutet,
..: gerade von diesem bayerischen Föderalismus, der zumindestens fünfzig
Prozent Partikularismus ist, gilt, was ich vorhin bemerkte: er dient nicht
gemeinsamen Interessen aller oder vieler Länder, vielmehr Sonderinteressen, . . ."
(VVdt.StRL 1, S. 23)
208
30 Medicus (wie Anm. 23), S. 75
31 Zahlenangaben nach Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann:
Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 89 ff.
32 Politik in Bayern (wie. Anm. 14), S. 241
33 Vergl. hierzu Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik,
Villingen 1971, S. 495 ff:; Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit,
Frankfurt/M./Berlin 1990, S.403
34 Bracher (wie Anm.= 33), S. 342 ff.
35 Deutsche Allgemeine Zeitung Berlin vom 4. 6.1931, zit. in Reichsreform H.
6/1931, S.114
36 Bracher (wie Anm. 33), S. 440
37 Ebenda, S. 443
38 zit. in Reichsreform H. 3/1931, S. 53
39 H. Mommsen. Die Stellung der Beamtenschaft in Reich, Ländern und
Gemeinden in der Ära Brüning, in: VZG 21. Jg./1973, H. 2, S. 165
40 Mommsen (wie Anm. 33), S. 401
41 So mit Bezug auf Presseberichte in Reichsreform, H. 1/1931, S. 19 42
42 zit. in: Politik in Bayern (wie Anm. 14), S. 254
43 Siehe Reichsreform H. 7/1931, S. 144; auch H. Mommsen (wie Anm. 33), S.
417
44 Bracher (wie Anm. 33), S. 428 ff.
45 H. Mommsen (wie Anm. 33), S. 457
46 Kernpassagen des Urteils zit. bei Bracher (wie Anm. 33), S. 510
47 H. Mommsen (wie Anm. 33), S. 457
48 Bracher (wie Anm. 33) S. 510
49 Johannes Popitz: Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und
Gemeinden, Berlin 1932, S. 1, auch 322
50 Art. 127 WRV gewährte "das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der
Schranken der Gesetze" und schrieb damit die Gemeinde-Autonomie nach
herkömmlicher Lehre als Grundrecht im bzw. gegenüber dem Staat fest. Vgl.
Heiko Faber: Art. 28, 2, Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. I,2 1989, S.
1708; ferner Wilhelm Ribhegge: Die Systemfunktion der Gemeinden, in: APUZ
B47/73, S. 8
51 Popitz (wie Anm. 49), S. 7 f.
52 Arnold Koettgen: Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung [1931], in:
ders., Kommunale Selbstverwaltung zwischen Krise und Reform, Stuttgart usw.
1968, in der Reihenfolge der Zitate S. 1-20
53 Ebenda, S. 16, Anm. 40
54 Ebenda, S. 32 f.
55 Ernst Forsthoff. Die Krise der Gemeindeverwaltung im heutigen Staat, Berlin
1932, S. 57 ff.
56 Dazu exemplarisch Everhard Holtmann: Politik und Nichtpolitik, Opladen
1989, S. 97 ff.
57 Popitz (wie Anm. 49), S. 8
58 Wolfgang Haus: Biographien deutscher Oberbürgermeister, in: Archiv für
Kommunalwissenschaft 1965/I,, S. 132
59 Ebenda, S. 133
60 Zitat nach Reichsreform H. 1/1932, S. 6
61 Karl-Heinrich Hansmeyer (Hrsg.): Kommunale Finanzpolitik in der Weimarer
Republik, Stuttgart usw. 1973, S. 160
209
62 Ebenda, S. 167f.; vgl. auch Ruth Wimmert Charakteristika der Berliner
Kommunalpolitik in den Jahren der Weimarer Republik, in: Jahrbuch für
Wirtschaftsgeschichte 1969/I, S. 97
63 Reichsreform H. 4/1931, S.72 f.
64 Popitz (wie Anm. 49), S. 3
65 Kommunales Jahrbuch 1932, S. 49
66 Ebenda, S. 89, 329
67 Reichsreform H. 7/1931, S. 145
68 Jahresversammlung des Deutschen Städtetages 1929, S. 35 f.
69 So Mulert auf der Versammlung des 7. Deutschen Städtetages am 23.
September 1927 in Magdeburg, S. 49 f.
70 Jahresversammlung 1929 (wie Anm. 68), S. 20 f.
71 Siehe Hansmeyer (wie Anm. 61), S. 167 f.
72 Johannes Popitz: Der Finanzausgleich und seine Bedeutung für die Finanzlage
des Reichs, der Länder und Gemeinden, Berlin 1930, S. 6
73 Ebenda, S. 8
74 Jahresversammlung 1927 (wie Anm. 69), S. 39
75 Wimmer (wie Anm. 62), S. 88
76 Jahresversammlung 1929 (wie Anm. 68), S. 37
77 Siehe Carl Böhret: Aktionen gegen die "Kalte Sozialisierung" 1926-1930,
Berlin 1966
78 Jahresversammlung des Preußischen Städtetages, 1929, S. 29
79 Popitz (wie Anm. 49), S. 46
80 Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 1932, S. 369 ff.
81 Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung in Kommunales Jahrbuch
1932, S. 2 ff.
82 Kommunales Jahrbuch 1931, S. 60
83 Ebenda, S. 47
84 Reichsreform H. 1/1932, S. 4
85 Vgl. Kommunales Jahrbuch 1931, S. 49, und 1932, S. 44 f.
86 Volker Wünderich: Arbeiterbewegung und Selbstverwaltung. KPD und
Kommunalpolitik in der Weimarer Republik, Wuppertal 1980, zit. S.179; vgl.
auch Kommunales Jahrbuch 1931, S. 44 ff., und 1932, S. 48
87 Kommunales Jahrbuch 1932, S. 46 f.
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